427 44. Der Lotse. (Ludwig Giesebrecht, Dichter und Schulmann, geb. am 5. Juni 1792 zu Mirow in Mecklenburg-Strclitz, gest. am 18 März 1873 in Jasenttz bei Stettin. Seine Gedichte erschienen zu Leipzig 1836 [2. Ausg.. Stettin 1867, 2 Bände.s) 1. „Siehst du die Brigg dort auf den Wellen? Sie steuert falsch, sie treibt herein Und muß am Vorgebirg' zerschellen, Lenkt sie nicht augenblicklich ein. 2. Ich muß hinaus, daß ich sie leite!" „Gehst du ins offne Wasser vor. So legt dein Boot sich auf die Seite Und richtet nimmer sich empor." 3. „Allein ich sinke nicht vergebens, Wenn sie mein letzter Ruf belehrt; Ein ganzes Schiff voll jungen Lebens Ist wohl ein altes Leben wert. 4. Gib mir das Sprachrohr. Schiff¬ lein, eile! Es ist die letzte, höchste Not!" Vor fliegendem Sturme gleich dem Pfeile Hin durch die Schären eilt das Boot. 5. Jetzt schießt es aus dem Klippen¬ rande: „ Links müßt ihr steuern!" hallt einSchrei. Kiel oben treibt das Boot zu Lande. Und sicher fährt die Brigg vorbei. 45. Aroleid. 1. Im Wallis liegt ein stiller Ort, Geheißen Aroleid; Es seufzt ein Gram im Namen fort Seit lang entschwundner Zeit. 2. Ein Berghirt hing in Todsgefahr Am steilen Firnenrand, Ihn stieß hinunter dort ein Aar, Wo keiner mehr ihn fand. 3. Auf grüner Matte saß sein Weib; Das Kind ins Gras gelegt, Saß sie und starrt mit starrem Leib Hinüber unbewegt; 4. Hinüber, wo im Dämmerblau Der Berg zur Tiefe schwand Und mit des Gipfels Silberau So still am Himmel stand. 5. Voll bittrer Sehnsucht sprang sie auf Und ging im Mattengrün Mit schwankem Schritt und irrem Lauf Und heißem Augenglühn — 6. Da schreit ein Kind, ein Flügel saust Wohl über ihrem Haupt — Mit ihrem Kind zur Höhe braust Der Aar. der es geraubt! 7. Noch sieht das Wickelband sie wehn In der kristallnen Lust, Dann sieht sie's wie ein Pünktlein stehn Im ferneblauen Duft. 8. Dann nichts mehr, nie, solang sie lebt! — Sie nahm kein Trauerkleid; Doch von dem Leid, das dort noch webt, Der Ort heißt Aroleid. <G. Kea-r., 46. Ist der Mensch nicht wie die Schwalbe? (Peter Rosegger wurde am 31. Juli 1843 zu Mzl bei Krieglach in Obersteiermark geboren. Von mehreren Grazer Bürgern, die den Naturdichter kennen und lieben gelernt hatten, unterstützt, konnte er die Handelsakademie in Graz besuchen und sich so weiter ausbtlven. Er lebt und webt mit all seinem Sinnen und Denken in seiner Heimat.) 1. Ist der Mensch nicht wie die Schwalbe? Mit dem Lenze fliegt er an Und verjubelt einen Frühling; — Heißer Sommer quält den Mann. 2. Wie die Schwalbe an dem Neste Baut er flink an seinem Glück, Muß um seine Reiser, Blätter Ringen mit dem Mißgeschick! —