Rosegger. 253 steigt die Angst um seine Waldlilie. Es ist ein schwaches, zwölfjähriges Mädchen; es kennt zwar die Waldsteige und Abgründe, aber die Steige verdeckt der Schnee, den Ab¬ grund die Finsternis. Endlich verläßt der Mann das Haus, um sein Kind zu suchen. Stundenlang irrt und ruft er in der sturmbewegten Wildnis; der Wind bläst ihm Augen und Mund voll Schnee; seine ganze Kraft muß er an¬ strengen, um wieder zurück zur Hütte gelangen zu können. Und nun vergehen zwei Tage; der Schneefall hält an, die Hütte des Berthold wird fast verschneit. Sie trösten sich überlaut, die Lili werde wohl bei dem Klausner sein. Diese Hoffnung wird zunichte am dritten Tag, als der Berthold nach einem stundenlangen Ringen im verschneiten Gelände die Klause vermag zu erreichen. Lili sei vor drei Tagen wohl bei dem Klausner gewesen und habe sich dann bei¬ zeiten wohl mit dem Milchtopf auf den Heimweg gemacht. „So liegt meine Waldlilie im Schnee begraben", sagt der Berthold. Dann geht er zu anderen Holzern und bittet, wie diesen Mann kein Mensch noch so hat bitten gesehen, daß man komme und ihm das tote Kind suchen helfe. Am Abend desselben Tages haben sie die Waldlilie ge¬ sunden. Abseits in einer Waldschlucht, im finsteren, wild¬ verflochtenen Dickichte junger Fichten und Gezirme *), durch das keine Schneeflocke vermag zu dringen, und über dem die Schneelasten sich wölben und stauen, daß das junge Ge- stämme darunter ächzt, in diesem Dickichte, auf den dürren Fichtennadeln des Bodens, inmitten einer Rehsamilie von sechs Köpfen ist die liebliche, blasse Waldlilie gesessen. Es ist ein sehr wunderbares Ereignis. Das Kind hat sich auf dem Rückweg in die Waldschlucht verirrt, und da es die Schneemassen nicht mehr hat überwinden können, sich zur Rast unter das trockene Dickicht verkrochen. Und da ist es nicht lange allein geblieben. Kaum ihm die Augen an- *) D. h. Knieholz, Legföhren, wie solche auf höheren Almen wachsen, dort Zirm, Zerben genannt (Erklärung des Verfassers.) Hessel, Lesebuch 5. 10. Ausl. M. 17