48 [II] Fromme!. Grimm. Die Liturgie hindurch, die keineswegs kurze, stand der Kaiser, was manchem Badegast recht ungewohnt war. Als ich den Kaiser bat, sich zu setzen, um sich nicht zu ermüden — sagte er: „Das wäre noch schöner/ mein seliger Vater ist sein Lebetage die ganze Liturgie durch gestanden." Wie teilnehmend und zartsühlend der Kaiser war, davon haben viele die leuchtendsten Beweise erfahren, unter andern auch ein kranker Badegast. Noch ehe das Badeschloß zum Hotel ein¬ gerichtet war, wohnten unten die Badegäste, während oben der Kaiser die Zimmer innehatte. Da gabs, wie so manchmal, einen Tag, an welchem es mit Kübeln goß, so daß an ein Ausgehen nicht zu denken war. Und doch sollte der hohe Herr sich Bewegung machen. Da benutzte er die ganze Flucht von Zimmern zum Auf- und Abgehen. Als der Kammerdiener ihn nicht mehr pro¬ menieren hörte, ging er herein, etwas zu bringen. Aber wie fand er seinen Herrn? Einen Bodenteppich auf den andern legend im Schweiß des Angesichts. „Aber, Majestät, was thun Sie da, warum lassen Sie mich nicht das thun?" Lächelnd sagte der Kaiser: „Ja, das hab ich mal selber gemacht. Da unten liegt ein schwerkranker Badegast, der zu Bett liegt und wenig schlafen kann. Wenn ich nun da oben herumpromeniere über seinem Kopfe, da hat ja der arme Mann gar keine Ruhe. Damit ers nicht hört, habe ich die Teppiche da oben alle zusammengesucht uud aneinander gelegt. Da geht sichs doch leiser. Man macht so was immer tim besten selbst." Das ist der ganze Kaiser Wilhelm. Er war eben da oben in Gastein wie immer: ein echter Mensch, ein echter König. Nie konnte man bei dem Kaiser den Menschen, nie über dem Menschen den Kaiser vergessen. Die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm. *31. Der Zaunkönig nnd der Bär. Zur Sommerszeit gingen einmal der Bür und der Wolf im Wald spazieren, da hörte der Bär so schönen Gesang von einem Vogel nnd sprach: „Bruder Wolf, was ist das für ein Vogel,