Becker: Odysseus erzählt den Phäaken seine Abenteuer. 105 verrammelte Thür? Keiner als der Riese selbst war ja vermögend, den gewaltigen Stein von der Stelle zu schieben. Der Anschlag wäre also nicht klug ersonnen gewesen; wir hätten uns selbst den jämmerlichsten Hungertod in ewigem Gefängnisse bereitet. Wir mußten etwas Besseres ersinnen und erwarteten unter Furcht und Zweifeln den Anbruch des Tages. Mit der Morgenröte erwachte auch der Cyklop und ging an die gewöhnlichen Verrichtungen. Er legte frisches Holz ans Feuer, melkte seine Herde Stück für Stück und legte die Säuglinge an die Euter der Alten. Dann trat er ohne Umstände, als müßte es fo sein, an uns heran, packte wieder zwei von meinen lieben Gefährten und tötete und verzehrte sie wie am gestrigen Tage. Hierauf stieß er den Stein von der Thür zurück, trieb die Herde hinaus, und schob den ungeheuern Fels wieder vor, wie man etwa einen Deckel auf den Köcher setzt. Da waren wir also wieder eingesperrt, und zwar diesmal allein, den langen Tag. Jetzt ersann ich einen Anschlag uns zu befreien und zugleich die erschlagenen Gefährten zu rächen. Sein großes Auge wollte ich ihm ausbohren, und zwar nicht mit dem Schwerte, sondern mit einem glühenden Pfahle. Dazu erblickte ich in der Höhle ein herrliches Werk¬ zeug, des Riesen eigene Keule aus grünem Olivenholz, so lang und dick wie ein Mastbaum. Die legte ich mir zurecht und hieb ein Ende von der Spitze ab, etwa ein paar Ellen lang. Meine Gefährten mußten mir's glätten, dann spitzte ich selbst den Pfahl oben zu und härtete die Spitze in der lodernden Flamme des Feuers. Jetzt war meine Waffe fertig, und sorgfältig verbarg ich sie unter dem Miste, womit der Fu߬ boden dicht belegt war. Darauf losten meine Gefährten, wer mit dem Pfahl ins Auge des schlafenden Riesen stoßen sollte, und so erwarteten wir unruhig den Abend und des Cyklopen Rückkehr. Endlich kam er mit seinen gemästeten Herden und trieb sie wieder zu uns herein. Diesmal ließ er keine Tiere in dem Vorhofe zurück, sondern brachte die ganze Herde in die Höhle, mochte dies sein aus Argwohn, oder weil ein Gott es so fügte. Dann fetzte er den gewaltigen Stein vor, melkte seine Schafe und Ziegen, fraß wieder zwei von meinen armen Gefährten auf und legte frisches Holz an, das Feuer zu unter¬ halten. Jetzt holte ich den versteckten Weinschlauch hervor und ging mit einer hölzernen Kanne Weins dreist auf ihn zu. Sieh da, Cyklop, sprach ich, hier hab' ich zu trinken. Versuche einmal! Auf Menschen¬ fleisch schmeckt der Wein gut. Nimm, damit du doch siehst, was für einen köstlichen Trunk wir auf unserm gestrandeten Schiffe gehabt haben. Ich hatte den Wein für dich zum Opfer mitgebracht, wenn du mir die Bitte gewährt hättest, gastfreundlich meine Heimfahrt zu fördern. Aber wahrlich, du machst es zu arg. Böser Mann, wer wird dich künftig wieder besuchen, wenn du so mit deinen Gästen verfährst! Er nahm den Krug und trank. Hei! das behagte gewaltig. Un¬ versehens erheiterten sich seine Mienen, und als er den liefen Krug ge¬ leert hatte, sprach er mit Schmunzeln: Schenk' doch noch einmal ein aus deinem Schlauche da und sage mir auch, wie du heißest, damit ich