122 Prosa. B. Märchen. daß dergleichen Sonntagskinder zu besonderen Dingen bestimmt sind und seltene Gaben besitzen. Dies verriet sich bei Johannes nicht gerade in be¬ sonderer Art. Allerdings hatte er ein hübsches Aussehen und schönes, gold¬ gelbes Haar, allein sonst zeigte er keine auffallende Begabung und ward von den anderen Knaben im Dorfe oftmals wegen seines träumerischen Wesens verspottet. Sein Vater war oft viele Tage lang vom Hause entfernt, da er in anderen Dörfern zum Tanz aufspielte, unb dann trieb sich Johannes ein¬ sam in der Umgegend umher und hing seinen Gedanken nach. Er konnte stundenlang am Bache liegen und dem unablässigen Glitzerspiel der Wellen zuschauen oder in die Wolken blicken und die wechselnden Gestalten verfolgen, zu denen sie sich auf dem blauen Grunde des Himmels ruhelos bildeten. Sein Lieblingsplatz war eine alte Kopfweide, die am Anfang des großen Wiesentales hart am Ufer des Baches stand. Im Laufe der Jahre hatte das unablässig fließende Wasser ihr Wurzelgeflecht freigespült, und sie war schräg über den Bach hingesunken, so daß ihr dicker, spärlich mit Zweigen bewachsener Kopf mitten über dem Wasser schwebte. Was ihr jedoch an eigenem Grün abging, das ward durch fremdes Wachstum reichlich ersetzt; denn aus dem hohlen Stamm hing mannigfaches Rankenwerk hernieder, und auf ihrem geräumigen Haupte war eine ganze Kolonie fremder Pflanzen aufgeschossen. Diese Weide war gleichsam ein Obstgarten für Johannes, denn von diesem wunderbaren Baum hatte er schon Himbeeren, Johannisbeeren und Brom- beeren gegessen, und manche freundliche Blume zierte im Sommer den alten, grauen, vermorschten Stamm. Hier saß er eines Morgens zwischen den Zweigen und spähte nach den: nahen Walde hinüber, der schon immer ein Gegenstand unheimlicher Anziehung für ihn gewesen war. Heute bemerkte er dort ein merkwürdiges Leben und Treiben, das er sich nicht zu erklären vermochte. Unter den Büschen am Waldrand huschte und bewegte sich etwas, von dem er nicht ganz genau zu erkennen vermochte, ob es Zwerge oder Tiere waren. Als er so spähte und seine Augen umherschweifen ließ, bemerkte er, daß es auch auf der Wiese nicht richtig war, denn zwischen dem hohen, blumendurchwirkten Grase sah er hier und da etwas hervorschauen und schnell wieder verschwinden, und an der Bewegung der Halme merkte er, daß sich ihm verschiedene lebende Ge¬ schöpfe nähern mußten. Zudem ging ein seltsames Schüttern und Beben durch die alte Weide, und an ihren Wurzeln knirschte es, als ob jemand daran eifrig nage. Auf einmal senkte sich der Baum sanft auf den Wasserspiegel nieder, und einige Hamster wurden sichtbar, die eifrig die letzten Wurzelfasern zerbissen und sich dann an die Stümpfe anklammerten. Zugleich war die alte Weide mit dem Kopfe gegen den Strom gedreht und schwamm langsam bachaufwärts. Johannes sah nun, daß eine Anzahl Fischottern die Zweige mit den Zähnen erfaßt hatten und den Baum schwimmend hinter sich herzogen. Der Bach war nicht breit, und das Ufer war mit einem tüchtigen Sprunge zu erreichen;