Prosa. D. Fabeln und Gleichnisse. 205 Viole der Nacht herauf zur Kühlung dem leidenden Gottessöhne, und die Iris sprach zur Schwester Zypresse: „In Trauer will ich mich kleiden von nun an", — „und ich", erwiderte die Zypresse, „will wohnen an den Gräbern, zum Denkmal dieser Stunde." Da erhob sich ein leises Wehen durch die schwüle Dämmerung. Es war der Todesengel Astaroth, der daherzog am Kreuze. Und als es nun von da herabstöhnte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!" zitterten alle Zweige, alle Blätter und alle Blumen. Nur die Espe, ein stolzer, hoher, kalter Baum, stand ungerührt am Golgatha. „Was kümmert uns", sprach sie, „dein Leiden? Sind wir doch rein, wir Bäume, Blumen und Pflanzen, und haben nicht gesündigt!" Aber Astaroth, der Todesengel, nahm die schwarze Schale mit des Erlösers Blute und goß sie aus an der Wurzel der stolzen Espe. Da erstarrte der unglückliche Baum. — Seine Blätter senkten sich. Nimmer¬ mehr fam Ruhe wieder in seine Zweige, und wenn alles still ist, selig und ruhig, zagt und zittert sie und heißt Zitterpappel bis ans den heu¬ tigen Tag. I). Fabeln und Gleichnisse. 44. Fünf Fabeln. Aus Äsop. Verdeutscht von M. Luther. Herausgeg. v. E. Thiele. Halle 1888. Haß. n. Mom Wolf und Lämmkein. Ein Wolf und ein Lämmlein kamen ungefähr beide an einen Bach, zu trinken; der Wolf trank oben am Bach, das Lämmlein aber fern unten. Da der Wolf des Lämmleins gewahr ward, lief er zu ihm und sprach: nWarum trübest du mir das Wasser, daß ich nicht trinken kann?" Das Lämmlein antwortete: „Wie kann ich dir 's Wasser trüben? Trinkst du doch über mir und möchtest es mir wohl trüben." Der Wolf sprach: „Wie? Fluchest du mir noch dazu?" Das Lämmlein antwortete: „Ich stuche dir nicht." Der Wolf sprach: „Ja, dein Vater tat mir- vor sechs Monden nuch ein solches." Das Lämmlein antwortete: „Bin ich doch dazumal nicht geboren gewesen, wie soll ich meines Vaters entgelten?" Der Wolf sprach: "So hast du mir aber meine Wiesen und Äcker abgenaget und verderbet." Das Lämmlein antwortete: „Wie ist das möglich? Hab' ich doch noch keine Zähne." — „Ei," sprach der Wolf, „und wenn du gleich viel aus¬ reden und schwatzen kannst, will ich dich dennoch heut' nicht nngefressen lassen", und würgete also das unschuldige Lämmlein und fraß es.