Prosa. 1). Fabeln und Gleichnisse. 211 5. „Wäre ich nicht so alt!" knirschte der Wolf. „Aber ich muß mich leider in die Zeit schicken." Und so kam er zu dem fünften Schäfer. — „Kennst du mich, Schäfer?" fragte der Wolf. — „Deinesgleichen wenigstens kenne ich", versetzte der Schäfer. — „Meinesgleichen? Daran zweifle ich sehr. Ich bin ein so sonderbarer Wolf, daß ich deiner und aller Schäfer Freundschaft wohl wert bin." — „Und wie sonderbar bist du denn?" — „Ich könnte kein lebendiges Schaf würgen und fressen, und wenn es mir das Leben kosten sollte. Ich nähre mich bloß von toten Schafen. Ist das nicht löblich? Erlaube mir also immer, daß ich mich dann und wann bei deiner Herde einfinden und nachfragen darf, ob dir nicht . — „Spare der Worte!" sagte der Schäfer. „Dn müßtest gar keine Schafe fressen, auch nicht einmal tote, wenn ich dein Feind nicht sein sollte. Ein Tier, das mir schon tote Schafe frißt, lernt leicht aus Hunger kranke Schafe für tot und gesunde Schafe für krank ansehen. Mache ans meine Freundschaft also keine Rechnung und geh!" 6. „Ich muß nun schon mein liebstes daran tuenden, um zu meinem Zwecke zu gelangen", dachte der Wolf und kam zu dem sechsten Schäfer. „Schäfer, wie gefällt dir mein Pelz?" fragte der Wolf. — „Dein Pelz?" sagte der Schäfer. „Laß sehen! er ist schön, die Hunde müssen dich nicht oft untergehabt haben." — „Nun, so höre, Schäfer; ich bin alt und werde es so nicht mehr lange treiben. Füttere mich zu Tode, und ich vermache dir meinen Pelz." — „Ei, sieh doch!" sagte der Schäfer. „Kommst dn auch hinter die Schliche der alten Geizhülse? Nein, nein, dein Pelz würde mich am Ende siebenmal mehr kosten, als er wert wäre. Ist es dir aber ein Ernst, mir ein Geschenk zu machen, so gib mir ihn gleich jetzt." — Hiermit griff der Schäfer nach der Keule, und der Wolf floh. 7. „£ die Unbarmherzigen!" schrie der Wolf und geriet in die äußerste Wut. „So tvill ich auch als ihr Feind sterben, ehe mich der Hunger tötet; denn sie wollen es nicht besser!" — Er lief, brach in die Wohnungen der Schäfer ein, riß ihre Kinder nieder und ward nicht ohne große Mühe von den Schäfern erschlagen. — Da sprach der Weiseste von ihnen: „Wir taten doch wohl unrecht, daß wir den alten Räuber auf das Äußerste brachten und ihm alle Mittel zur Besserung, so spät und erzwungen sie auch war, benahmen!" 46. Der Schneeball. Bon Chr. Lcriver. „Juwelen für qläubiqe Seelen." Barmen o. I. Etliche Knaben hatten bei gelinden! Winterwetter einen Schneeball ge- uracht und denselben so lange herumgewälzt, daß er endlich sehr groß und ihnen zum Weiterfortbringen zu schwer geworden war. „Hier habe ich", sagte Gotthold, „ein artiges Bild der menschlichen Sorgen; die sind oft gering und klein, aber durch Ungeduld und Unglauben machen wir sie groß, so daß >uir sie endlich nicht weiterbringen können. Mancher wälzet sein Anliegen bei Tag und Nacht in seinen Gedanken umher, und wie diese Knaben von 14*