Poesie. 2. Epische Gedichte. 199 Als sie mit schärferem Blick in des Schnees umnebelnde Wirbel Spähete, siehe, da kam's mit verdecktem Gestühl wie ein Schlitten, Welcher vom Berg in das Dorf herklingelte. Schnell von der Leiter Stieg sie herab und brachte der emsigen Mutter die Botschaft, 170 Welche der Milch abschöpfte den Rahm zu festlichem Kaffee: „Mutter, es kommt wie ein Schlitten: ich weis; nicht sicher, doch glaub' ich!" Also Marie. Da verlor die erschrockene Mutter den Löffel, Unter ihr bebten die Knie; und sie lief mit klopfendem Herzen, Atemlos; ihr entflog im hastigen Lauf der Pantoffel. 175 Jene lief zu der Pfort' und öffnete. Näher und näher Kam das Gekling' und das Klatschen der Peitsch' und der Pferde Getrampel. Nun, nun lenkten herein die mutigen Ross' in den Hofraum, Blank geschirrt; und der Schlitten mit halb schon offnem Verdeckstuhl Hielt an der Tür, und es schnoben, beschneit und dampfend, die Renner. 180 Mütterchen rief: „Willkommen" daher, „willkommen, ihr Kindlein! Lebt ihr auch noch?" und reichte die Händ' in den schönen Verdeckstuhl; „Lebt in dem grimmigen Ost mein Töchterchen?" Dann von den Kindern Selbst sich zu schonen ermahnt, „Laßt, Kinderchen!" rief sie, „dem Sturmwind Wehret das Haus. Ich bin ja vom eisernen Kerne der Vorwelt! 185 Stets war unser Geschlecht steinalt und Verächter des Wetters; Aber die jüngere Welt ist zart und scheuet die Zugluft." Sprach's, und den Sohn, der dem Schlitten entsprang, umarmte sie eilig, Hüllte das Töchterchen dann aus bärenzottigem Fußsack Und liebkosete viel mit Kuß und bedauerndem Streicheln, 190 Zog dann beid', in der Linken den Sohn, in der Rechten die Tochter, Rasch in das Haus, dem Gesinde dès Fahrzeugs Sorge vertrauend. „Aber wo bleibt mein Vater? Er ist doch gesund am Geburtstag?" Fragte der'Sohn. Schnell tuschte mit winkendem Haupte die Mutter: „Still! Das* Väterchen hält noch Mittagsschlummer im Lehnstuhl! 195 Laß mit kindlichem Kuß dein junges Gemahl ihn erwecken; Dann wird wahr, daß Gott im Schlafe die Seinigen segnet!" Sprach's und führte sie leis in der Schule gesäubertes Zimmer, Voll von Tisch und Gestühl, Schreibzeug und bezifferten Tafeln, Wo sie an Pflöck' aufhängte die nordische Wintervermummung, 200 Mäntel, mit Flocken geweißt, und der Tochter bewunderten Leibpelz, Auch den Flor, der die Wangen geschirmt,' und das seidene Halstuch. Und sie umschloß die Enthüllten mit strömender Träne der Inbrunst: „Tochter und Sohn willkommen! Ans Herz! Willkommen noch einmal! Ihr, uns Altenden Freud', in Freud' auch altet und greifet, 205 Stets einmütiges Sinns und umwohnt von gedeihenden Kindern! Nun mag brechen das Auge, da dich wir gesehen im Amtsrock, Sohn, und dich ihm vermählt, du frisch aufblühendes Herzblatt! Armes Kind, wie das ganze Gesicht rot glühet vom Ostwind! O du Seelengesicht! Denn ich duze dich, weil du es forderst!