Aus der Vorrede zur ersten Auflage des zweiten Teils. Während im Mittelpunkte des ersten Bandes unsres Lesebuchs das deutsche Märchen stand, bilden die schönsten Sagen des deutschen Volkes den Kern des zweiten, den wir hiermit - der Öffentlichkeit übergeben. Unsere allgemeinen Grundsätze sür Auswahl und Anordnung des Ztoffes sind dieselben geblieben; wir brauchen also darauf nicht zurück¬ zukommen. Im besondern aber sei hervorgehoben, daß wir unsre Sagen wesentlich in der Fassung bringen, die sie durch die Brüder Grimm erhalten haben; denn niemand hat das Leben und Weben unsres Volks¬ geistes, wie es hier zu Tage tritt, tiefer erfaßt und der Nachwelt reiner überliefert als sie: und mit der größeren Ursprünglichkeit und Reinheit der Sage wächst nicht nur ihr eigentümlicher innerer Wert, sondern auch ihre pädagogische Bedeutuug. Die echte Sage wie das Märchen wird aus dem naiven dichterischen Drange der Volksseele geboren; sie wurzelt in jenem unverfälschten lebendigen Glauben, der allen gemein ist; sie zieht ihre höchste Kraft aus der tiefinnerlichen Sittlichkeit eines ganzen Volkes, und so hat sie von allem Anfang an nicht nur die Herzen erfreut, erhoben und gerührt: sie war auch Trösterin, Warnerin, Lehrerin, wie sie denn auch mit der Spruchdichtung des Mittelalters fast überall Hand in Hand geht. Was also können wir Besseres thun, um der heranwachsenden Jugend Liebe und Verständnis sür das eigene Volkstum ins Herz zu pflanzen und sie in deutscher Art empfinden zu lehren, als daß wir sie einführen in die kerndeutsche Welt unsres Märchens und — auf höherer Stufe — unsrer Sage. Gewiß, ein poetisierender Erzähler würde manchen Zug schöner führen, Licht und Schatten wirk¬ samer verteilen können — aber dann hätten wir Kunstwerke, nicht mehr Volks werke, die wir uns doch um alles in der Welt erhalten wollen! Man wird vielleicht sagen: die Sprache, in der uns die Brüder Grimm erzählen, ist oft hart und nicht selten dem heutigen Sprach- gebrauche zuwider. Zugegeben! Aber ist denn unser heutiger Sprach¬ gebrauch so über die Maßen trefflich, daß wir ihn ängstlich hüten müßten? Wir meinen im Gegenteil, es thut gut, wenn die kräftige, scharf und eigenartig geprägte Sprache jener Männer, die sie nicht aus Büchern gelernt, sondern aus dem frischen Borne deutschen Lebens geschöpft haben — wenn sie für unsre Kinder ein Gegengewicht bildet gegen den oft gekünstelten und farblosen, zerflossenen Stil der heutigen Zeit.