22 I. Der Jüngling als Staatsbürger. bis ihm nichts mehr übrig blieb; aber er hatte dafür die große Freude, seinen Kameraden durch seine Pflege wiederhergestellt zu sehen. Dieser konnte ihm die Treue, die er ihm bewiesen hatte, nicht genug danken und weinte manchmal an seinem Halse aus Bekümmernis, daß er ihm seine verkauften Kleidungsstücke nicht wieder ersetzen könne. Aber der Schneider tröstete ihn darüber und sagte, Gott werde es ihn wohl nicht vermissen lassen, ein Mensch sei dem andern einen solchen Liebesdienst wohl schuldig, und besonders in der Fremde müsse keiner den andern verlassen. Sie reisten darauf noch miteinander bis nach Warschau, der Hauptstadt in Polen, wo der Schmied Arbeit bekam, der Schneider aber nicht. Beide Freunde mußten sich also hier trennen. Als der Schneider wieder fortwanderte, gab ihm der Schmied eine Stunde weit das Geleit, und unter Vergießung häufiger Tränen schieden sie, als wenn sie leibliche Brüder gewesen wären, voneinander, ohne eben hoffen zu können, daß sie sich in dieser Welt jemals wiedersehen würden. R 42 3 Der Schneider wanderte darauf durch Böhmen, Sachsen, Hessen, Lothringen bis nach Frankreich, wo er beinahe zehn Jahre blieb und bald in dieser, bald in jener Stadt arbeitete, ohne irgend— wo sein Glück zu finden. Endlich kehrte er nach Deutschland zurück und geriet in Frankfurt am Main unter die Werber, welche ihn überredeten, kaiserliche Dienste zu nehmen, und ihn nach Wien transportierten. Da er aber schwächlich und fast beständig krank war, so ließ man ihn nach einigen Jahren wieder laufen, wohin er wollte. Fast nackt und bloß kam er nach Sachsen, um daselbst wieder Arbeit zu suchen; allein da ihn in seinem elenden Anzuge niemand zur Arbeit annehmen wollte, so mußte er endlich betteln. 3 Eines Abends spät sprach er in einem Dorfe (es war gerade an einem Sonnabende) bei einer Schmiede auch um einen Zehr— pfennig an. Da dünkte dem Meister, welcher mit vier Gesellen vor der Esse arbeitete, daß die Stimme des Ansprechenden ihm sehr bekannt sei. Er nahm die Hängelampe in die Hand, schaute dem Bettler ins Gesicht, und — „Je Bruder, bist du's, oder bist du's nicht?“ riefen beide fast zu gleicher Zeit; und in der Tat waren es die beiden Kameraden, die seit der Trennung in Warschau nichts mehr voneinander gehört hatten. Der Schmied welcher unter— dessen in dieser Schmiede in Arbeit gestanden und durch die Heirat mit der Witwe, der sie gehörte, reich geworden war, war ganz