71 — 568 II. Der Jüngling bei der Arbeit. gekleideter Mensch, der ihn immer sehr freundlich begrüßte. Herr Müller erwiderte den Gruß zwar gern; aber da er sich nicht er— innerte, den jungen Menschen je zuvor gesehen zu haben, so glaubte er, daß dieser ihn mit einem anderen verwechsele. 2. Eines Tages nun war Herr Müller zu einem Freunde eingeladen, und als er zur bestimmten Zeit in dessen Haus ein— traf, fand er den jungen Mann schon mit dem Hausherrn im Gespräch. Der Wirt wollte nun seine beiden Freunde miteinander bekannt machen; aber der jüngere sagte: „Das ist nicht nötig; wir kennen uns schon viele Jahre.“ — „Ich glaube, Sie sind im Irrtum,“ erwiderte Herr Müller, „ich habe allerdings seit einiger Zeit manchen freundlichen Gruß von Ihnen bekommen; aber sonst sind Sie mir ganz fremd.“ — „Und doch kenne ich Sie lange“, antwortete der junge Mann, „und freue mich, Ihnen heute herzlich danken zu können.“ — „Wofür wollen Sie mir danken?“ fragte Herr Müller. „Das ist allerdings eine alte Geschichte,“ versetzte jener; „aber wenn Sie mir einige Augenblicke zuhören wollen, so werden Sie sich meiner doch vielleicht noch erinnern. 3. Eines Morgens ging ich in die Schule. Ich war damals neun Jahre alt. Als ich über den Marktplatz kam, waren dort viele Körbe voll der schönsten Apfel zu sehen. Ich bekam nur selten Obst und betrachtete daher recht lüstern die herrlichen Apfel. Die Eigentümerin sprach mit ihrer Nachbarin und hatte deshalb ihrer Ware den Rücken zugekehrt. Da kam mir der Gedanke, einen einzigen Apfel heimlich zu nehmen; ich dachte, die Frau behielte ja doch noch eine große Menge. Leise streckte ich meine Hand aus und wollte eben ganz vorsichtig meine Beute in die Tasche stecken; da bekam ich eine derbe Ohrfeige, so daß ich vor Schrecken den Apfel fallen ließ. ‚,Junge! sagte zugleich der Mann, der mir die Ohrfeige gegeben hatte, ‚wie heißt das siebente Gebot? Nun, ich hoffe, daß du zum erstenmal dagegen sündigst; laß es zu— gleich das letztemal sein! Vor Scham wagte ich kaum die Augen aufzuschlagen; aber doch ist mir das Antlitz jenes Mannes un— vergeßlich geblieben. Immer von neuem glaubte ich die Worte zu hören: ‚Laß es das letztemal sein! Ich nahm mir fest vor: Ja, es soll gewiß das erste- und letztemal gewesen sein! Aber auch lange nachher, wenn ich in der Schule das siebente Gebot aufsagen sollte, dachte ich mit heftigem Herzklopfen an jenen Morgen. Als ich nach einigen Jahren die Schule verließ, wurde ich Lehrling bei einem Kaufmann in Bremen; von dort ging ich später nach Südamerika. Hier kam ich wohl manchmal in Ver— suchung, in Kaufmannsgeschäften andere zu betrügen und so die Hand nach fremdem Gute auszustrecken; aber dann war es mir