23. Eine Stunde der Versuchung. 81 es ist jetzt Winter und ist Nacht, und ich liege da und kann mich nicht rühren, aber wenn ich mich jener Stunde erinnere, ist Sommer, ist heller, schoner Abend, und ich stehe noch in den besten Jahren und höre ganz deutlich den Kupferschmied neben dem Hause des Stotz einen Kessel klopfen . . . Es war ein paar Tage nach dem Tode des Holhhändlers Eloh. Er war ein kluger Kopf; er hat nicht bloß Stamme nach Holland geschickt; er hat auch zwei Sägemühlen an— gelegt, den größten Teil der Stämme zersägen lassen und damit viel an Arbeitslohn verdient. Er war ein harter Mann, und Sie wissen ja, wie er gestorben ist: von einem Baume am Rockertsberg im Ge⸗ witter erschlagen. Ich gehe also nach seinem Hause und trete in die Schreibstube, gleich rechter Hand, wenn man zur Tür hineinkommt. Wie ich eintrete, steht der Buchhalter — ich nenne keinen Namen, und bitte, forschen Sie auch nicht nach — der Buchhalter steht also an dem eichenen Pulte, hat beide Ellenbogen auf das Pult aufgelegt und hält den Kopf in den Händen. Der Buchhalter schaut auf, wie ich eintrete, und sagt: „Ei! Herr Stuber, Sie erwarte ich schon.“ „Ich will eigentlich zur Witwe des Stotz“, erwidere ich, „aber ich kann doch nicht da vorbeigehen und will zuerst mit Ihnen reden. Sie wissen, ich bin dem Verstorbenen Geld schuldig.“ „1187 Gulden und 20 Kreuzer“, sagt der Buchhalter und greift nach einem Papier, „hier ist Ihr Schuldschein; ich habe ihn beiseile gelegt: er ist noch nicht ins Buch eingetragen.“ „Ja, ja! und da woll ich eben der Witwe sagen . ..“ „Sie weiß nichts davon, und sonst niemand als wir.“ „Ich will nur gleich hinaufgehen; ich komme bald wieder.“ „Bleiben Sie doch eine Weile. Reden wir doch zuerst ein wenig allein miteinander“, sagte der Buchhalter gegen die Wand gekehrt, ohne mich anzusehen. Auch ich kann nicht aufschauen, und es ist mir, als ob mich ein Schuß ins Herz getroffen hätte. Der Buchhalter ist gar wohlgemut; er hält den zusammengefalteten Schuld⸗ schein vor den Mund und pfeift darauf ein lustig Lied, ein ganz lusti⸗ ges, und es ist, wie wenn zwei Menschen pfeifen würden, so zerschneidet das Papier den Ton. Mir wirbelt's im Kopf; ich weiß nicht mehr, wo ich bin, und was ich mein Lebtag nicht gewagt hätte, tu' ich doch: ich sehe mich rittlings auf den lederbesetzten, hohen, dreibeinigen Stuhl, der vor dem Pulte des Stotz steht. Da hat er immer gesessen und hat markten können, daß er einem das Blut unter den Nägeln heraus⸗ gedrüdt. Jetzt ist der Stuhl leer, und auf dem Pulte liegt kein Papier und wartel auf die Unterschrift. „Darf man nicht von dem Blut⸗ gelde wieder holen, was man kriegen kann?“ So geht mir's durch den Kopf; aber ich kann kein Wort reden. dDer Buchhalter wendet sich auf seinem Drehstuhl um und Raydt und Rößger, Deutsches Lesebuch 6