347 169. Von der Verfassung und Verwaltung des Deutschen Reiches. Seit 1871 haben wir wieder ein grotzes, einiges Deutsches Reich. Die Kaiserwürde ist erblich und steht allemal dem König von Preußen zu. Gottlob, daß sie erblich ist! Denn im alten Deutschen Reiche vererbte sich die kaiserliche Würde nicht; nach dem Tode eines Kaisers mubte jedesmal der neue Kaiser gewählt werden. Das gab fast bei jeder Wahl unendlichen Streit, und wenn sich die wählenden Fürsten gar nicht einigen konnten, kam wohl gar eine „kaiserlose, schreckliche Zeit“. Titel und Wũürden können leer und inhaltslos sein. Das war der Titel des Deutschen Kaisers, als der alte „Deutsche Buncd noch bestand. Man weiß heute gar nicht mehr, was für ein elendes, kraft- loses Ding das war, dieser Deutsche Bund, und wie damals jeder Deutsche, besonders im Ausland, über die Achseln angesehen wurde. So sehr war er mibachtet, daß er zehnmal lieber sagte: „Ich bin Reub- Greizer“ als: „Ieh bin ein Deutscher.“ Hinter der Würde des heutigen Deutschen Kaisers aber sssteht die wirkliche Macht des einigen Reiches. Der Kaiser allein vertritt das ganze Reich dem Auslande gegenüber. Er ist der oberste Kriegsherr; erfolgt ein Angriff auf das Vaterland, so kann er dem Feinde den Krieg erklären; ihm unterstehen Heer und Flotte. Die einzelnen Staaten bestehen im Reiche selbssständig fort. Die Fürsten haben einen Teil ihrer Rechte an den Kaiser und das Reich abgetreten, wofür ihren Staaten ein dauernder Anteil an der Reichs- regierung eingeräumt ist. Jeder Einzelstaat entsendet nämlich zur Beratung der Reichsangelegenheiten Bevollmächtigte nach der Haupt- stadt des Reiches Berlin, und diese bilden zusammen den Bundesrat. Wie alle deutschen Staaten ihre Landesvertretungen haben, so besitzt auch das Deutsche Reich eine Körperschaft, welche die Aufgabe hat, an der Gesetzgebung und an der Feststellung der Einnahmen und Ausgaben des Reiches mitzuwirken; das ist der Reichstag. Wir wollen uns nun einmal an einem Beispiel klarmachen, wie Kaiser, Bundesrat und Reichstag zusammenwirken: Vor nicht langer Zeit war man im Reiche mit einer hochwichtigen Frage beschäftigt. Die deutsche Flotte sollte verstärkt werden, was selbstverständlich sehr viel Geld kostet. Nachdem der Kaiser und seine Berater die Not- wendigkeit einer stärkeren Flotte erkannt hatten, setzte er sich mit den verbündeten Regierungen der Einzelstaaten in Verbindung. Den Vertretern der Einzelstaaten, also dem Bundesrat, wurde dann der Plan vorgelegt, wie die Verstärkung durehgeführt werden sollte. Die Bevollmãchtigten zum Bundesrat berieten die Angelegenheit, sie kamen auch zu dem Entschluß: „Ja, wir müssen eine gröbere Hlotte