52 Erster Teil. In haus und hof. hielt sie zwei Sekunden lang aufwärts gestreckt, so daß des Ertrunkenen Brustkasten ausgedehnt und die Lunge mit Luft erfüllt wurde. Dann führte der Feldhüter die Arme unseres Freundes abwärts und drückte sie zwei Sekunden lang gegen dessen Brustseiten, so daß die Lungen aus— atmeten. Diese Bewegungen setzte der Feldhüter ganz gleichmäßig fort, und einige von meinen Kameraden mußten die Fußsohlen und die Beine Wilhelms beständig reiben. Als über unserer aufregenden Arbeit ungefähr eine halbe Stunde*) verflossen war, bemerkten wir plötzlich, daß die blasse Gesichtsfarbe unseres Freundes einer Röte wich, und der gute Kamerad die Augen öffnete! Welch eine Freude uns alle erfüllte, da wir den Scheintoten lebendig sahen, kann ich Dir nicht beschreiben. Mir standen vor Rüh— rung die Tränen in den Augen. Während wir den wiedergewonnenen Freund aufrichteten und beglückwünschten, erschien sein Vater mit dem krzt und dankte dem Feldhüter und uns allen aufs herzlichste. Der Arzt gab Wilhelm einen stärkenden Trank und ließ ihn dann schleunigst ankleiden und nach hause führen. hier legte sich der Gerettete zu Bett und war nach einigen Stunden wieder kräftig wie früher. Der Feldhüter, der bei uns Knaben sonst sehr wenig beliebt war, hat jetzt unser herz gewonnen. Sein verständiges Eingreifen rettete uns einen lieben Kameraden vom Tode und gab uns zugleich die Mahnung, alles zu lernen, was zur Rettung in Gefahren nötig ist. Daß wir künftig beim Baden etwas vorsichtiger sein wollen, brauche ich jedenfalls nicht erst zu versichern. Lebe wohl! Dein treuer Freund Friedrich Schöller. H. Solger. 38. Wie ein Briefträger zum Doktornamen gekommen ist. 1. An jedem Morgen, den Gott kommen läßt, pilgert ein rüstiges Männlein aus einem kleinen Dorfe des Münsterlandes in die zer— streut liegenden Bauernschaften der Umgegend. Es ist der Brief— träger Anton Schwager. Er bringt den Leuten am liebsten frohe Nachrichten und hübsche Geschenke. Die Bauern und Tagelöhner haben ihn gern, und wenn sie auch nur von weitem die bunte Kappe und die große Ledertasche sehen, so rufen sie scherzhaft: „Guten Tag, herr Doktor!“ Die Kinder wissen gar nicht einmal, daß der dienst— eifrige Bote in Wirklichkeit Anton Schwager heißt. Aber wie mag doch der freundliche Alte zu dem Ehrennamen Doktor gekommen sein? 2. Als unser Postbote an einem Sommermorgen durch die ge— segneten Fluren schritt, hörte er aus dem nahen Kornfelde klägliches Jammern und hilferufen. Er eilte sofort hinzu und fand einen nNicht selten müssen die hilfeleistungen bei Scheintoten, z. B. bei Er— trunkenen, Erfrorenen, Erstickten usw., mehrere Stunden lang mit hoffnung und Ausdauer fortgesetzt werden, ehe der Erfolg sich zeigt oder das betrübende Gegenteil zweifellos erscheint.