316 Leben zu diesem Bau einen Heller beisteuern nach des Königs aus¬ drücklichem Gebot, sondern er wollte es ganz aus dem eignen Schatz erbauen. Und so geschah es auch; und das Münster war vollendet, schön und würdig mit aller Pracht und aller Zier. Da ließ der König eine große marmorne Tafel aufrichten und darein mit goldnen Buchstaben eine Schrift graben, daß er, der König, allein den Dom erbaut habe, und niemand habe dazu beigesteuert. Aber als die Tafel einen Tag und eine Nacht lang aufgerichtet war, war in der Nacht die Schrift verändert, und an der Stelle stand ein andrer Name, nämlich der einer alten Frau, sodaß es nun lautete, als habe sie das ganze prächtige Münster erbaut. Das verdroß den König höchlich. Er ließ den Namen aus¬ tilgen und den seinigen wieder einschreiben. Aber über Nacht stand wieder der armen Frau Name auf der Tafel, und jedermann las, daß sie des Münsters Stifterin sei. Und zum drittenmal ward des Königs Name auf die Tafel geschrieben, und zum drittenmal ver¬ schwand er, und jener kam zum Vorschein. Da merkte der König, daß hier Gottes Finger schreibe, demütigte sich und ließ nach der Frau forschen und sie vor seinen Thron heischen. Voll Angst und Schrecken trat sie vor den König. Der sprach zu ihr: „Frau, es be¬ geben sich wunderliche Dinge. Sage mir bei Gott und deinem Leben die Wahrheit. Hast du mein Gebot nicht vernommen, daß niemand zu dem Münster geben solle? Oder hast du doch dazu gegeben?" Da siel das Weib dem Könige zu Füßen und sprach: „Gnade, mein Herr und König! Ich will alles auf deine Gnade bekennen. Ich bin ein ganz armes Weib; ich muß mich kümmerlich mit Spinnen ernähren, daß mich der Hunger nicht tötet. Und da hatte ich doch ein Hellerlein erübrigt, das möcht' ich gar zu gern darbringen zu deinem Tempel¬ bau und Gott zu Ehren. Aber ich fürchtete, o Herr, deinen Bann und deine harte Bedräuung, und da kaufte ich um das Hellerlein ein Bündlein Heu; das streute ich ans die Straße den Ochsen hin, welche die Steine zu deinem Münster zogen, und sie fraßen es. So that ich nach meinem Willen und ohne dein Gebot zu verletzen." Da ward der König mächtig bewegt von der Frauen Rede und sah, wie Gott der Herr ihren reinen Sinn gewürdigt und ihn als höheres Opfer