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hauerleihgabe von:
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qüsche forschung (01PfF), frankfurt Main
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Lesebuch
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für ———
gewerbliche Fortbildungsschulen.
Herausgegeben
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G. 4. Marschall. M
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A 3
leineAusgabe
München, 1880.
Im königl. Zentral-Schulbücher-Verlage.
In Kommission
bei R.Oldenbourg in München.
Gon
Zu des Wissens Erweiterung,
Zu des Lebens Erheiterung,
Deutscher Jugend zur Lehre,
Deutscher TCugend zur Ehre,
Gott, dem Höchsten, zum Preise
Mach dich frisch auf die Reise.
Guido Görres.)
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Hochechule
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brankfurt / Main
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D Druck vonnee Oldenbourg in München
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Inhaltsübersicht.
I. Dichtlungen.
. Epische Dichtungen.
a) Geschichtliche Stoffe.
Nr. Seite Nr. Seite
1. Kaiser Karls Wanderung. . 1 10. Ludwig der Bayer und Friedrich
2. Herzog Luitpolds Tod in der der Schöne 7
Schlacht an der Ennsburg. 2 11. Das Mahl zu Heidelberg. 8
3. Kaiser Otto II. und König Lothar 12. Die Fuggerei
von Frankreich Prinz Eugen, der edle Ritter 19
4. Des deutschen Kaisers Leiche. Der Schmied von Solingen 11
bWilher Andreas Hofer n
6. Barbarossas Rettung 13. Belle Alliance 12
1. Von des Kaisers Bart 17. Barbaxossa 192
8. Der beiden Löwen Grab 13. Deutsche Siege. ——3
9. Habsburgs Mauern 19. Die Rosse von Gravelotte 14
b) Sonstige epische Dichtungen.
20. Das taube Mütterlein Graf Richard ohne Furcht 18
21. Der güldene Ring Die rechte Schmiede 13
22. Der Handwerksbursche Der Glockenguß in Breslau 20
23. Der rechte Barbier. 24. Erlkönige. 21
c) Episch-lyrische und episch-didaktische Gedichte.
28. Sommernacht. . 31. Der Hunflin 24
29. Der König und der Landmann 32. Der grüne Esel 24
30. Die Kinder der Armuiu
2. Lyrische Dichtungen.
33. Gen Maien Komm mit! 27
34 Frühlingslied Müllers Wanderlied 28
36. Hinausl veimtehr 28
36. Sommerstille 25 6. Schmiedeliede. 29
37. Herbstlied Heerbannlied. 29
38. Morgens im Walde 9. Zu Pferd! zu Pferd! 30
39. Morgenwanderung 46. Deutschland über alles 30
Inhaltsübersicht.
3. Didaktische Dichtungen.
Nr. Seite Nr. Seite
47. Zimmerspruch 165. Spruche 37
48. Ein Meistergesang 56. Der Vater an seinen Sohn. GBei
49. Unterschied der Stände der Übergabe einer Uhr) 358
50. Der Wegweiser 1 51. Abschiedsworte eines Vaters an
51a. Thätigkeit 35 seinen Sohn 38
51b. Was not thut 35 5658. Rutjel 38
52. Versuche dich 36 59 Sprüche in Reimen. 39
53. Die Hoffnung. 36 60. Sprichwörter . 40
54. Aus, Weisheit des Brahmanen“ 36
II. Erzʒãhlungen.
61. Die drei Hausrüte 38. Kannitverstan .. 50
62. Nichts und etwas. 39. Herzog Thassilo in Lorsch. 652
63. Zwei Meister 70. Das Uhrwerk im Münster zu
64. Mut über Gut Straßburg 653
65. Was aus einem braven Hand— 71. Vom glücklichen Schustermeister 55
werker werden kann .. 72. Meister Pfrien 56
66. Die Pfeife 73. Zeus und das Pferd 58
67. Ein geringer Mann oder die 74. Zeus und das Schaf H9
Bürgschaft 48 15, Die Wanderschaft. 60
III. Aus der Geschichte.
76. Das Gewerbe im Altertum. 60 8s, Albrecht Dürer
77. Der Handel der alten Welt 54 389. Hans Sachs 94
78. Chlodwig, der Gründer des 90. Reichtum, Kunstfleiß u. Handel
Frankenreichs 537 der deutschen Städte im 14. und
79. Karls des Großen Wirksamkeit 15. Jahrhundert 95
für Rechtspflege und Volks— 91. Erfindungen im Mittelalter 97
bildung 68 92. Kaiser Maximilian J. . 101
80. Der bayrische Volksstamm und 93. Der Reichstag zu Worms 103
sein ältestes Herrscherhaus, die 94. Gustav Adolf und Wallenstein
Agilolfinger —70 vor Nürnberg (1632) 105
81. Wiederherstellung der abend⸗ 95. Die deutschen Dörfer vor dem
ländischen Kaisermacht durch dreißigjährigen Kriege · 108
Otto L. den Großen 75 96. Der Verfall der deutschen
82. Die Anfänge des Gewerbs-⸗ und Reichsstädte . 109
Studtewesens in Deutschland. 76 97. Frankreichs Raub an Deutsch⸗
83. Die Pflege der Kunst im Kloster land 111
Tegernsere 79 98. Friedrichs d. Großen Privatleben 114
84. Zünfte u. Innungen im Mittel⸗ 99. Kaiser Joseph I. 116
lter 4 100. Maximilian III. Joseph von
85. Die Kreuzzüge Bayern 116
86. Die deutsche Hansa Die französische Revolution und
87. Columbus 36 ihre Folgen 120
15*
J. Dichtungen.
.Epische Dichtungen.
a) Geschichtliche Stoffe.
1. Kaiser Karls Wanderung.
1. Um Mitternacht in Aachen 7. Der wandelt immer weiter,
Im Dome, unterm Chor, Geht bis nach Ingelheim.
Da steigt aus seinem Grabe Da weilt der alte Kaiser;
Der Kaiser Karl empor. Da war er einst daheim.
2. Ein Schimmer bleicher Kerzen 8. Er fragt die neuen Häuser
Ergießt sich übers Grab; Nach seinem Kaiserthron;
Des Leuchters Kerzen brennen, Die schütteln die steinernen Häupter
Den Kaiser Rotbart gab. Und wissen nichts davon.
3. Der Kaiser Karl steht sinnend, 9. Und über die Feste von Mainz hin
Sucht seinen alten Platz, Und Frankfurt auch hindurch
Blickt um sich und vermisset Geht er nach Worms und Speier,
Manch güldnen Kirchenschatz. Nach Bamberg und Regensburg.
4. Erx fragt nach sieben Fürsten; 10. Hat all' die Kaiserstädte
Doch keiner tritt herfür; Nach seinem Reich gefragt;
Drauf hat er das Haupt geschüttelt, Doch keine von all' den Städten
Ist gangen zur Kirchentür. Hat Antwort ihm gesagt.
3. Die dreht sich, schwer und knarrend. 11. Und wie mit ersten Schlage
Und aus dem Gotteshaus Die Morgenglocke ruft,
Bei Mondschein auf die Straße Da steht er wieder in Aachen,
Tritt Kaiser Karl hinaus. Im Doͤm an seiner Gruft.
6. Er wandelt fort und wandert, 12. Er wirft den purpurnen Mantel
Geht bis zu Köln am Rhein Hernieder in das Grab,
Da schultert die preußische Wache Legt sich die Krone zu Haupte,
Und läßt den Kaiser ein. Zu Füßen den Herrscherstab
13. Und ruft: „Ich sucht mein Deutschland
Und find' es nirgend mehr!“
Drauf legt er wieder ins Grab sich
Und träumt von Sorgen schwer.
Wich. Beer, geb. 1800 zu Berlin, f 22. März 1838 zu München. Er hat mehrere gute
Dramen verfaßt.)
Marschall, Lesebuch für gewerbl. Fortbildungsschulen. Kl. Ausg.
2. Herzog Luitpolds Tod in der Schlacht an der Ennsburg.
2. Herzog Tuitpolds Tod in der Schlacht an der Ennsburg. (907.)
1. Die Völker des Ostens, sie dringen heran;
Sie zeichnen mit Flammen und Blut die Bahn
Sie brausen einher wie Sturmeswind.
Weh', Deutschland dir, dich leitet ein Kind!
2. Und Ludwig bebt: „Wer schützt mir die Mark?
Auf! Bayerns Herzog, so kühn und stark!“
Der spricht: „Ich wahre dir treuen Sinn,
Und willst du mein Leben, ich geb' es dir hin!“
3. Sie rüsten die Waffen, die spiegelnde Wehr;
An der Ennsburg schart sich der Deutschen Heer.
Wo die Donau strömet vorbei mit Macht,
Da lagern im Feld' sie bei dunkler Nacht.
4. Ermattet vom Zuge, wie schlafen sie tief!
Doch warnend die Stimme des Wächters rief:
„Die Feinde stürmen!“ Er rief es in Eil';
Schon stürzt er, getroffen vom Todespfeil.
5. Und im Flusse, so schaurig, da rauscht es und schäumt.
„Erwacht, ihr Getreuen! Nicht länger gesäumt;
Dort schwimmt es und klimmt es am Uferrand;
Schnell greifet zum Schwerte zum Eisengewand.“
6. Unholden vergleichbar im nächtlichen Traum,
Umschwammen die Heiden des Lagers Raum;
Mit funkelndem Blick in die Christenschar
Stürzt, gierig des Mordes, der Magyar.
7. Rings schallt es von Hieben, Geschrei und Stoß,
Aus tiefen Wunden das Blut entfloß,
Und wie sich die Ebne vom Morgen erhellt,
Deckt manche Leiche das Würgefeld.
8. Und als sich nun Freund und Feind erkannt,
Ist heller am Tage ihr Zorn entbrannt:
Sie ringen in grauser Vertilgungsschlacht, —
Da dunkelt aufs neue hernieder die Nacht.
9. Doch stündlich mehrt sich des Feindes Wut,
Und Hord um Horde, sie lechzt nach Blut;
Nicht wanken die Deutschen am zweiten Tag;
Am dritten endlich die Kraft erlag.
10. Da stürzt entseelt manch tapfrer Abt,
Manch' h edel und mutbegabt;
Der Markgraf teilte der Seinen Not
Und sank mit ihnen im Heldentod.
11. Herr Luitpold war es, der Schyren Ahn,
Der erste auf Wittelsbachs Ehrenbahn.
Er gab sein Leben dem Vaterland.
Drum bleibe sein Name mit Preis genannt.
Friedr. Bed. geb. 1806 zu Ebersberg Bayernl, lebt als vens. Prof. zu München.)
3 Kaiser Otto II. u. König Lothar v. Frankreich. — 4. Des deutschen Kaisers Leiche. 3
3. Kaiser Otto II. und König Lothar von Frankreieh. (978.)
Das alte Lotharingen — ein gottgesegnet Land;
Schiffreiche Strõme netzen der reichen Fluren Rand.
Schõn zieren schlanke Reben sein sanftes Berggefild,
Und seine Wälder hegen viel schmuckes Vieh und Wild.
Einst trug Lothar der Franke Gelüste nach dem Land
Und brach in seine Auen, das Schwert in frecher Haud.
Er sass beim Siegesmahle, wo deutscher Wein ihm floss,
Zu Aachen in dem Saale auf Karls des Grossen Schloss.
Und mit berauschtem Sinne gebot er seiner Schar:
„Kehrt auf des Turmes Zinne nach Westen zu den Aar!
Das sei hinfort das Zeichen, dass Lotharingen mein,
Dass Frankreichs Grenzen reichen bis an den breiten Rhein!?
As drauf dies Wort vernommen Ottos des Grolsen Sohn,
Da Lless er schleunig kommen die Fürsten vor den Thron.
Er sprach: „Aut, lasst uns rächen, die man uns bot, die Schmach,
Scheut nieht die Macht des Frechen. der deutsches Recht zerbrach.“
Sie kämpften tapfer, schlugen den Feind aus deutschem Land,
Verfolgten ihn und trugen den Sieg zum geinestrand,
Dort bei der Hauptstadt Flammen, die sie im Zorn geschürt,
Riet Otto sie zusammen und sprach zum Heer gerührt:
„Nie trenn' euech Stammgenossen der Zwietracht Fackelbrand,
Leieht seid ihr sonst umschlossen von fremder Knechtschaft Band.
In Eintracht fest verbunden, ein Volk bei vielen Herrn,
Bleibt jihr unüberwunden, bleibt fremder Herrsehsucht fern.“
Ihim Beifall jauchzend schlossen sich traulich W
Da stellte der Besiegte mit blosssem Haupt sich dar.
Und Otto spraeh mit Milde und fasst' ihn an der Hand:
„Führt Bhr wohl noch im Schilde, zu rauben deutsches Land?
Wollt Ihr ein Opfer bringen, zu enden sehnell den Streit,
8o schwöret: „Lotharingen sei deutseh in Puwigkeit!“
Da sahn ihn alle schwören mit hocherhobner Hand:
„Stets soll es zugehören dem deutschen Reichsverband“
(Adolt Bube, geb. 1802 zu Gotha, lobt daselbst als herzogl. Beamter)
4. Des deutschen Kaisers Teiche. (1106.)
1. Auf der dunklen Rheinesinsel, 3. Liegt von allen da verlassen,
Vah dem altergrauen Speier, Wo er stolz und stark gerichtet,
Qlingt's so seltfam, still und traurig, Ein im Tode noch Verbannter
Läutet leis so bange Feier. Schwer vom Bannesstrahl bernichtet
2. Auf der dunklen enet 4. Stolzer Kaiser, armer Heinrich,
Liegt die scharfgefällte Eiche, Ist denn alles dir genommen?
Liegt bei heil'ger Kerzen Schimmer Ist zum alten, toten Kaiser
Unsers vierten Leiche Denn nicht einer noch gekommen?
5. Wikher. — 6. Barbarossas Rettung.
5. Horch, es tönt wie leises Beten. 7. Seh' von welker Hand die Kerzen
Tief aus Mannesbrust entquollen, Ernst uünd still besorgt, gelichtet;
Und am heil'gen Kranz die Kugeln Seh' ein Antlitz bleich und edel,
Leise, leise niederrollen. Auf des Kaisers Haupt gerichtet.
6 Und ein Aug', ein Aug' in Thränen 8. Freundesliebe! Priesterliebe!
Seh' ich hell im Lichte glühen, An des armen Heinrichs Bahre
Und zu Kaisers Haupt und Füßen Hat der Mönch gewacht, gebetet
Dunkle, frische Blumen blühen. Fünf der bangen, schweren Jahre.
Adolf Schlönbach, geb. 1817 zu Missen im Rheinland. 17. September 1866 zu Koburg.)
5. Wikher. (1099.)
Feru von des Rheines Heimatstrand Es springt an den Schild mit der Krallen
Zog ins gelobte heil'ge Land tarteze.
it gottfried Bouilon schlecht und recht „Ei, ; xiet der Knecht, „verfluchte Katzel“
Wikher, ein deutscher Lanzenknecht. Und rüstig spaltet er sogleich
Durch Palästinas Berg' und LThale Des Tiereès Daupt mit einem Streich.
Vade e beib im Sonnenstrable. Voll Schmerzen brüllt's zum letztenmal,
Die Rũüstung, die der Recke trug, Und röchelud stürzt es dann zu Lhal.
Drückt' Ihn und seinen Gaul genug; Der Deutsche sieht's mit kaltem Blut,
Da dacht' er an den grünen Rhein Da scheint der Pelz ihm gar so gut;
ud dinen kühlen, göldnen Wein, 10 Er trennt ihn sauber mit dem Schwert
Und wie er dachte, wie er trãäumte, Und legt ihn hinten auf sein Pferd. 40
am's, dass er hinter dem Zuge saumte. Der Ahend kam indes heran,
Er sprach: „Die Hitze drückt zu sehr; Dnd weiter zog der deutsche Mann
Zur Naqizeit bo ich ein das Heer.“ so kam er in ein Dort geritten;
Und legt sieh in die hobe Heide; Da liefen dieé Leute aus den Hütten
Da phrd labt' bien auf der Weide. Und staunten an die zottige Haut,
hun il bo baun der Sehlaf um- Riefen ihm zu und jubelten laut,
hüllen, Sagten, nun vare die Gegend frei,
Da störet ihn ein furchtbhar Brüllen, Er hab' erlegt den grossen Leu.
Und sieh, es sstürzt ein mächtig Tier Als er die Manner höret sagen,
is Roclein aus dem Waldrevier. 20 Dass er der Tiere König erschlagen, 50
Der wackre Deutsche war nicht faul, Von dessen Mut und vilder Stärke
Er liebte seinen treuen Gaul, Man ihm erzählt viel Wunderwerke,
Var gleieh bereit mit Sehild und Sehwert Da wendet sieh der Knecht fürbals,
Zu kãmpfen fũr das gute Pferd. Der längst den harten Strauss vergals,
aun eit das Tiet den kecken Mann, Besieht die Haut sieh für und für:
ãssst es das Ross und fallt ihn an. „Eine gelbe Katze schien es mir.
h4 elt er veln die langen Mähnen, Längst hätt' ich gern den Leu gesehn;
ba chen den veiten Rachen gahnen; Vun ists mir schier jm Traum geschehn,
Die Augen blitzen wie Feuer hell, Dass ich gar einen hab' erschlagen!“ —
har es t a die lusse schnell; 30 Und ritt voran mit gutem Behagen. 60
MWollg. Muüller, geb. 1816 2u Königswinter. * 29. Juli 1873 als Arzt zu Köln)
6. Barbarossas Rettung. (1168.
. Der Kaiser Barbarossa, als er in Welschland war,
Sah sich umstellt zu Susa von Mord und von Gefahr.
3. Zu spät ist's dich zu retten!“ so sprach des Hauses Wirt:
„Wie hast du, edler Kaiser, dich hieher doch verirrt?“
3. Von Barbarossas Rittern war einer ihm genaht,
Der, ihm zu Füßen sinkend, um eine Gnade bat.
4. Da blickte ernst und düster der KNaiser vor sich hin:
Wie koönnt' ich dir versagen, da ich bald nicht mehr bin!“
7. Von des Kaisers Bart.
5. „So hast du,“ sprach der Ritter, mir mein Gesuch gewährt?
O Berr, für dich zu sterben, das ist's, was ich begehrt.“
6. Den Purpurmantel hatte der Ritter umgethan;
Des Ritters Kleider legte der Kaiser selber an.
7. So schritt er aus dem Hause; die Wächter hielten ihn
Für Barbarossas Diener und ließen frei ihn ziehn.
8. Sie eilten zu dem Ritter, der in dem Hause schlief,
Und stießen ihre Schwerter ihm in das Herz so tief.
9. Vun fahre hin zur Bölle!“ so rief die rohe Schar;
Sie hielt ihn für den Kaiser, der längst gerettet war.
0. Gab's eine treu're Seele wohl jemals in der Welt!
Hhartmann von Siebeneichen, so hieß der edle Held.
Heinr. Döring, geb. 1789 zu Danzig, fzu Jena 4. Dez. 1862. Er ist besonders als Biogravh
deutscher Dichter und Schriftsteller belannt.)
7. Von des Kaisers Bart.
1. Am Schank zur goldnen Traube,. 8. Auch ich hab' ihn gesehen
Da saßen im Monat Mai Auf seiner Burg im Harz;
In blühender Rosenlaube Am Söller thät er stehen,
Guter Gesellen drei. Sein Bart, sein Bart war schwarz!“
2. Ein frischer Bursch war jeder, 9. Da fuhr vom Sitz der dritte,
Der eine am Gurt das Horn. Der Mann mit Koller und Sporn,
Der zweit' am Hut die Feder, Und in der Zänker Mitte
Der dritte mit Koller und Sporn. Rief er in hellem Zorn:
3. Es trug in funkelnden Kannen 10. „So geht mir doch zur Höllen,
er Win den Wein auf den Tisch; Ihr Lügner! Glück zur Reis'!
Lustige Reden sie spannen Ich sah den Kaiser zu Köllen;
Und fangen und tranken frisch. Sein Bart war welß, war weiß!“
4. Da war auch einer drunter, 11. Das gab ein grimmes Zanken
Der grüne Jägersmann, Um Weiß und Schwarz und Braun;
Vom Kaiser Rotbart munter Es sprangen die Klingen, die blanken,
Zu sprechen hub er an: Und wurde scharf gehau'n.
5. „Ich habe den Herrn gesehen 12. Verschüttet aus den Kannen,
Am Rebengestade des Rheins; Floß der viel edle Wein;
Zur Messe wollt' er gehen Blutige Tropfen rannen
Wohl in den Dom nach Mainz. Aus leichten Wunden drein.
6. Das war ein Bild, der Alte, 13. Und als es kam zum Wandern,
Fürwahr von Kaiserart! Ging jeder in zornigem Mut,
Bis auf die Brust ihm wallte Sah keiner nach dem andern,
Der lange braune Bart.“ Und waren sich jüngst so gut.—
C. Ins Wort fiel ihm der zweite, 14. Ihr Brüder, lernt das eine
Der mit dem Federhut: Aus dieser schlimmen Fahrt:
Ei, Freund, bist du gescheide? Zankt, wenn ihr sitzt beim Weine,
Dein Märlein ist nicht gut. Nicht um des Kaisers Bart..
Emanuel Geibel, geb. 1815 zu Lübed, lebt dortselbst als Schriftsteller; ist einer der herdorragend⸗
sten lyrischen und epischen Dichter der Gegenwart.)
8. Der beiden Löwen Grab. — 9. Habsburgs Mauern.
8. Der beiden Löwen Grab. (1195.)
1. Im Dom zu Braunschweig ruhet 5. Wo auch der Welfe wandelt,
Der alte Welfe aus; Der Löwe ziehet mit,
Heinrich der Löwe ruhet Zieht mit n wie sein Schatten
Nach manchem harten Strauß. Auf jedem Tritt und Schritt.
2. Es liegt auf Heinrichs Grabe, 6. Doch als des Herzogs Auge
Gleichwie auf einem Schild, In Todesnöten brach,
Ein treuer Totenwächter — Der Löwe still und traurig
Des Löwen eh'rnes Bild. Bei seinem Freunde lag.
3. Der Löwe konnt' nicht weichen 7. Vergebens fing den Löwen
Von seines Herzogs Seit', Man in den Käfig ein;
Von ihm, der aus den Krallen Er brach die Eisenstäbe:
Des Lindwurms ihn befreit. Beim Herren mußt' er sein!
4. Sie zogen mit einander 8. Beim Herzog ruht der Löwe,
Durch Syriens öden Sand; Hält jeden andern fern;
Sie zogen mit einander Doch nach drei Tagen fand man
Nach Braunschweig in das Land. Tot ihn beim toten Herrn.
9. Drum mit des Herzogs Namen
Geht stolz Jahrhundert' lang
Der Löwe, wie beim Leben,
Noch immer seinen Gang.
(Julius Mosen, geb. 1803 zu Mardenez im süchs. Vogtlande, 10. Oltober 1867 zu Oldenburg.)
9. Habsburgs Mauern. (1020.)
1. Im Aargau steht ein hohes Schloß; 6. „Wohl hast du Recht; ich räum
Vom Thal erreicht es kein Geschoß es ein,
Wer hat's gebaut, Ja Wall und Mauern müssen sein
Das wie aus Wolken niederschaut? Gib morgen acht,
R
2. Der Bischof Werner gab das Geld; Ich baue sie in einer Nacht!
n e sie hingestellt, 7. Und Boten schickt der ne
al;
Die Habichtsburg, das Felsennest. Die Mannen nahn im Möorgen—
3. Der Bischof kam und sah den Bau; strahl,
Da schüttelt er der Locken Grau, Und scharenweis
Zum Bruder spricht: Umstellen sie die Burg im Kreis.
Die Burg hat Wall und Mauern nicht.“
4. Versetzt der Graf: v ucht 8. Frohlockend stößt ins v er
as aus?
In Straßburg steht ein Gotteshaus, Und weckt den Bischof Wlanenr
rien u dazu.⸗ „Die Mauern stehn;
och Wall und Mauer nicht dazu. — Wer hat so schnellen Bau gesehn ?“ —
5.,Das Münster baut' ich Gott dem
Herrn, 9. Das Wunder dünkt dem Bischof
Dem bleiben die Zerstörer fern; fremd;
Vor Feindessturm Zum Erker springt er hin im Hemd
Beschützt ein Schloß nur Wall und Und sieht gereiht
Turm.“ Der Helden viel im Eisenkleid.
10. Ludwig der Bayer und Friedrich der Schöne.
10. Mit blankem Schilde, Mann an 11. Da spricht der Bischof: „Sicher—
Mann, lich
Steht mauergleich des Grafen Bann, An solche Mauern halte dich!
Und hoch zu Ro Nichts ist so fest
Hebt mancher Turm sich aus dem Troß. Als Treue, die nicht von dir läßt.“
12. So schütze Habsburg fort und fort
Lebend'ger Mauer starker Hort,
Und herrlich schau'n
Wird's über alle deutschen Gaun.
Karl Simroct, geb. 1802 zu Bonn, daselbst als Prof. 18. Juli 1876; hat sich um die
deutsche Sagenforschung und besonders um die Erforschung der älteren deutschen Dichtung
unsterbliche Verdienste erworben.)
10. Cudwig der Bayer und Friedrich der Schöne. (1325.)
1. Hoch wie Glockenklang ertöne Lied von alter deutscher Treue,
Daß der alten gold'nen Zeiten Angedenken sich erneue,
Vo das deuische Herz noch bieder und voll Brudersinnes schlug
Und der Mann dem Worte traute ohne Falsch und ohne Trug.
2. Vvon dem Bayer überwunden saß auf Trausnitz' festem Schlosse,
In dem engen Kerker schmachtend, Friedrich, Habsburgs edler Sprosse;
Schon drei Jahre von der Heimat und den Seinen fern gebannt,
Schon drei Jahre lechzt der Herzog nach dem lieben Vaterland.
3Z. Und der Bayernfürst, gerühret, kommt zu enden seine Klage,
Bietet ihm die gold'ne ien daß er neuem Zwist entsage.
Wohl, ich schwoͤr' es,“ ruft der Herzog, „schwör es treu mit diesem Eid!“
Nun so sei zu dieser Stunde von des Kerkers Haft befreit!“
4. Und wie wenn vom Hauch des Maien aufgeweckt mit hellem Klingen
Sich zum erstenmal die Lerchen jubelnd in die Lufte schwingen,
Also fliegt der edle Herzog von der Freiheit süßer Lust
Wonneirunken nach der Heimat an des Bruders teure Brust.
5. Doch wie flammet Glut der Rache bei des Wiedersehns Entzücken
Mãchtig auf in Leupolds Herzen, zürnet aus dem wilden Blick:
Was dem Bruder widerfahren, ist es nicht des Bruders Hohn?
Auf gen Bayern! mit dem Schwerte zahlen wir des Frevels Lohn!“
6. Doch ihn mahnet Friedrich milde: „Meines Wortes heil'ge Bande
hab' ich CLudwig hinterlassen zu des Friedens Unterpfande;
Willst du Rachẽ üben, Bruder, nun so wisse denn;: aufs neu'
Leg' ich an die alten Fesseln, meinem Ehrenworte treu.“
7. Da beginnen Pflicht und Liebe einen heißen Kampf zu kämpfen,
Doch kein Bitten und Beschwören kann des Herzogs Willen dämpfen,
Und nach München fliegt sein Rappe mit des Sturmes Eile fort,
Und zu Cudwig tritt er, lösend däs gegeb'ne deutsche Wort.
8. ,Nicht vermag ich es, o König! dir zu halten und Treue,
Also fleh' ich, frei und willig dein Gefang ner, hier aufs neue.“
Wie der Baper das vernommen, faßt ihn tiefer Rührung Schmerz,
Und er drückt den lreuen Jüngling liebend an das deutsche Herz.
9 „Sei mein Bruder und Genosse, herrsche mit auf einem Throne,
Eme Siuns und eines Herzens tragen wir vereint die Krone!“
Also schlossen deutsche Männer einen wunderbaren Bund
Deutscher Tugend, deutscher Ehre, wie kein andrer je bestund.
10. Hoch wie Glockenklang ertöne Lied von alter deutscher Treue,
Daß der alten gold'nen Zeiten Angedenken sich erneue,
Wo das deutsche Herz so bieder und voll Brudersinnes schlug
Und der Mann dem Worte traute, ohne Falsch und ohne Trug.
Alex. Schöppner, geb. in Unterfranten, war Professor am Gymnasium zu Münnerstadt, zu München.)
11. Das Mahl zu Heidelberg.
11. Das Mahl zu Heidelberg.
1. Von Württemberg und Baden 7. „Herauf, ihr Herrn, gestiegen
Die Herren zogen aus; In meinen hellen Saal!
Von Metz des Bischofs Gnaden Ihr sollt nicht fürder liegen
Vergaß das Gotteshaus; In Finsternis und Qual.
Sie zogen aus zu kriegen Ein Mahl ist euch gerüstet,
Wohl in die Pfalz am Rhein; Die Tafel ist gedeckt;
Sie sahen da sie liegen Drum, wenn es euch gelüstet,
Im Sommersonnenschein. Versucht, ob es euch schmeckt!“
2. Umsonst die Rebenblüte 8. Sie lauschen mit Gefallen,
Sie tränkt mit mildem Dust; Wie er so lächelnd spricht;
Umsonst des Himmels Güte Sie wandeln durch die Hallen
Aus Ahrenfeldern ruft: Ans goldne Tageslicht.
Sie brannten Hof und Scheuer, Und in dem Saale winket
Daß heulte groß und klein; Ein herrliches Gelag;
Da leuchtete vom Feuer Es dampfet und es blinket,
Der Neckar und der Rhein. Was nur das Land vermag.
3. Mit Gram von seinem Schlosse 9. Es setzten sich die Fürsten.
Sieht es der Pfälzer Fritz, Da mocht' es seltsam sein!
Heißt springen auf die Rosse Sie hungern und sie dürsten
Zwei Mann auf einen Sitz. Beim Braten und beim Wein.
Mit enggedrängtem Volke „Nun, will's euch nicht behagen?
Sprengt er durch Feld und Wald; Es fehlt doch, däucht mir, nichts.
Doch ward die kleine Wolke Worüber ist zu klagen?
Zum Wetterhimmel bald. An was, ihr Herrn, gebricht's?
4. Sie wollen seiner spotten; 10. Es schickt zu meinem Tische
Da sind sie schon umringt, Der Odenwald das Schwein,
Und über ihren Rotten Der Neckar seine Fische,
Sein Schwert der Sieger schwingt. Den frommen Trank der Rhein.
Vom Hügel sieht man prangen Ihr habt ja sonst erfahren,
Das Heidelberger Schloß; Was meine Pfalz beschert;
Dahin führt er gefangen Was wollt ihr heute sparen,
Die Fürsten samt dem Troß. Wo keiner es euch wehrt?“
5. Zu hinterst an der Mauer, 11. Die Fürsten sahn verlegen
Da ragt ein Turm so fest; Den andern jeder an;
Das ist ein Sitz der Trauer, Am Ende doch verwegen
Der Schlang' und Eule Nest; Der Ulrich da begann:
Dort sollen sie ihm büßen „Herr, fürstlich ist dein Bissen;
Im Kerker, trüb' und kalt;“ Doch eines thut ihm not,
Es gähnt zu ihren Füßen Das mag kein Knecht vermissen:
Ein Schlund und finstrer Wald. Wo ließest du das Brot?“
6. Hier lernt vom Grimme rasten 12. „Wo ich das Brot gelassen?“
Der Württemberger Utz; Sprach da der Pfälzer Fritz;
Der Bischof hält ein Fasten, Er traf, die bei ihm saßen,
Der Markgraf läßt vom Trutz. Mit seiner Augen Blitz;
Sie mochten schon in Sorgen Er that die Fensterpforten
Um Leib und Leben sein, Weit auf im hohen Saal;
Da trat am andern Morgen Da sah man aller Orten
Der stolze Pfälzer ein. Ins offne Neckarthal.
12. Die Fuggerei. 9
13. Sie sprangen von den Stühlen 14.,Nun sprecht, von wessen Schulden
Und blickten in das Land, Ist so mein Mahl bestellt?
Da rauchten alle Mühlen Ihr müßt euch wol gedulden,
Rings von des Krieges Brand; Bis ihr besät mein Feld,
Kein Hof ist da zu schauen, Bis in des Sommers Schwüle
Wo nicht die Scheune dampft; Mir reifet eure Saat,
Von Roͤsses Huf und Klauen Und bis mir in der Mühle
Ist alles Feld zerstampft. Sich wieder dreht ein Rad.
15. Ihr seht, der Westwind fächelt
In Stoppeln und Gesträuch;
Ihr seht, die Sonne lächelt,
Sie wartet nur auf euch.
Drum sendet flugs die Schlüssel
Und öffnet euren Schatz,
So findet bei der Schüssel
Das Brot den rechten Platz!“
Gustav Schwab, geb. 1792 zu Stuttgart, Fdaselbst als Konsistorialrat 4. November 1850.)
Anmerkung. Die Schlacht bei Seckenheim, fand statt am 30. Juni 1462. In
derselben hatte der Pfälzer Kurfürst Friedrich den Grafen Ulrich v. Württemberg, den
Markgrafen Karl v. Baden und den Bischof v. Metz gefangen genommen. Bis zum
weißen Sonntage d. J. 1463 währte deren Gefangenschaft, bis nämlich das Lösegeld
— für die beiden ersten je 100 000, für den letzten 50 000 Gulden — erlegt war.
12. Die Fuggerei. (1519.)
Das Glück dreht sich im Kreise,
Es kommt und geht vorbei.
Nur was in Gott begründet,
Das bleibet ewig neu.
1. Zu Augsburg war ein Weber, 6. Drei Brüder waren ihrer,
Hans Fugger zugenannt, Die reichten sich die Hand,
Der war mit seinen Söhnen Ulrich, Georg und Jakob,
Als Weber wohl bekannt. So waren sie genannt.
2. Er und die Söhne woben 7. Die sprachen zu einander:
Bei Tag und auch bei Nacht; „Die Güter dieser Zeit,
Daß gleich und rein die Fäden, Die müssen wir verrechnen
Des hatten sie wohl acht. Einst in der Ewigkeit.
3. Drum kaufte jeder gerne 8. So laßt ein Werk uns gründen
Von ihrem Tuch so fein; Hier mit vereinter Kraft,
Sie woben goldne Sterne Womit wir mögen geben
Der Treue ja hinein, Gott einstens Rechenschaft!“
4. Der Treue und des Glaubens 9. Zu Augsburg bei Santt Jakob
Und frommen Bürgersinn, Da hub ein Graben an,
Barmherzigkeit und Liebe; Ein Zimmern und ein Mauern
Das mehrte den Gewinn. Von manchem Handwerksmann.
5. Da ward an Gold und Ehren 10. Mit hundert kleinen Häusern
Gar reich und groß ihr Haus; Ein Städtlein stieg empor,
Der Kaiser und die Fürsten, Mit Brunnen und mit Straßen
Die gingen ein und aus. Und seinem eig'nen Thor.
10 13. Prinz Eugen, der edle Ritter.
11. Und als das Werk vollendet, 16. Und was die drei gesprochen,
Da weihten es die drei, Das schrieben sie auf Stein;
Daß armen, frommen Bürgern Den Söhnen und den Enkeln
Es eine Wohnung sei. Sollt' es ein Vorbild sein.
12. Die Weber wurden Grafen; 17. Sie bauten für sich selber
Ihr Wort galt weit und breit, Ein Häuslein auch dazu;
Sie woben mit den Fürsten Das lieget bei Sankt Anna,
Am Webestuhl der Zeit. Dort ist der Fugger Ruh'.
13. Doch bei den hohen Ehren, 18. Wohl kamen arge Zeiten,
Die ihnen Gott verlieh, Sankt Anna ward zerstört;
Vergaßen auch die Grafen Nun wird auf ihrem Grabe
Den armen Weber nie. Die Mess' nicht mehr gehört.
14. Was hilft uns unser Weben? — 19. Doch in dem Herz der Armen
So dachte stets ihr Herz — Wird ihrer noch gedacht,
Es kommt ja doch der Segen Im Städtlein, das sie milde
Dazu erst himmelwärts. Dem Herren dargebracht.
15. Drum nahmen sie ins Schilde 20. Das Glück dreht sich im Kreise,
Die Lilien von dem Feld, Es kommt und geht vorbei;
Die spinnen nicht noch weben, Der Fugger Namen preiset
Und die doch Gott erhält. Noch heut die Fuggerei.
Aus dem Festkalender von Pocci und Görres. Graf Franz v. Poeci, geb. 1807 zu München,
aus einem italienischen Adelsgeschlecht, trefflicher gZeichner, Musiker und Dichter, 7. Mai 1876
als Oberstkämmerer zu München. Guido Gürres, Sohn des bedeutenden Schriftstellers
Joseph v. Görres, geb. 1805 zu Koblenz, 14. Juli 1852 zu München.)
13. Vrin; Eugen, der edle Ritter. (1717.)
L. Zelte, Posten, Werda-Rufer! 4. Vor acht Tagen die Affaire
Lust'ge Nacht am Donau-Ufer! Hab' ich zu nutz' dem ganzen Heere
Pferde stehn im Kreis umher In gehör'gen Reim ;
Angebunden an den Pflöcken; Selber auch gesetzt die Noten;
An den engen Sattelböcken Drum ihr Weißen und ihr Roten
Hangen Karabiner schwer. Merket auf und gebet acht!“
5 Er 5. Und er singt die neue Weise
an een eerde inub zweimal, dreimal leise
Neht das blreich she Nlet. enen Reitersleuten vor;
33 s Und wie er zum letztenmale
Auf dem Mantel liegt ein jeder; sh
Von den Tschakos de die Feder; Ine u m e 8
Sieutenant würfelt und Cornet. os der volle, kräft'ge Chor.
6. „Prinz Eugen der edle Ritter!“
3. Neben seinem müden Schecken Hei, das klang wie Ungewitter
Ruht auf einer wollnen Decken Weit ins Türkenlager hin
Der Trompeter ganz allein: Der Trompeter thät den Schnurrbart
„Laßt die Knöchel, laßt die Karten! streichen
Kaiserliche Feldstandarten Und sich auf die Seite schleichen
Wird ein Reiterlied erfreu'n! Zu der Marketenderin.
Ferd. Freiligrath, geb. 1810 zu Detmold. 18. März 1876 zu Cannstadt bei Stuttgart.)
14. Der Schmied von Solingen. — 15. Andreas Hofer. 11
14. Der Schmied von Solingen. (1757.)
1. Zu Solingen sprach ein Schmied 7. Das däucht' ihm nicht genug,
Bei jedem Bajonette, Viel schlimmre Feinde dräuten;
Das seinem Fleiß geriet: Er ließ nicht ab und schlug
„Ach, daß der Fritz es hätte!“ Mit Ziethen noch bei Leuthen.
2. Wenn er die Zeitung las 8. Da ging es herrlich her;
Von seinem Lieblingshelden Zu ganzen Bataillonen
Da schien ihm schlecht der Spaß, Ergab sich Ostreichs Heer
Nicht lauter Sieg zu melden. Mit Fahnen und Kanonen.
3. Einst aber hat es sich 9. „Und somit wär' vollbracht,“
Viel anders zugetragen; Gedacht' er, „meine Sendung;
Da hieß es, Friederich Es nimmt nach solcher Schlacht
Sei bei Collin geschlagen. Von selber andre Wendung.“
4. Der Schmied, betroffen, rief: 10. Mit Urlaub kehrt er um,
„Hier muß geholfen werden Für Weib und Kind zu sorgen,
Sonst geht die Sache schief!“ Und hämmerte sich krumm
Und riß den Schurz zur Erden. Vom Abend oft zum Morgen.
5. Ihm waren Weib und Kind 11. Der Krieg ging seinen Gang;
Wohl auch ans Herz gewachsen; Man schlug noch viele Schlachten,
Doch lief er hin geschwind Die oft ihm angst und bang
Zu Friedrichs Heer in Sachsen. In seiner Seele machten.
6. Und eh' man sich's versah, 12. Als endlich Friede war:
Begann die Schlacht zu tosen; „Fritz!“ rief er, „laß dich küssen;
Mit Seidlitz schlug er da Ich hätte dir fürwahr
Bei Roßbach die Franzosen. Sonst wieder helfen müssen.“
(Karl Simrock.)
15. Andreas Hofer.
(13. April 1809)
1. Als der Sandwirt von Passeier 3. Kniet bei euren Rosenkränzen!
Innsbruck hat mit Sturm genommen, Dies sind meine frohsten Geigen;
Die Studenten ihm zur Feier Wenn die Augen betend glänzen,
Mit den Geigen mittags kommen, Wird sich Gott der Herx drin zeigen.
Laufen alle aus der Lehre, Betet leise für mich Armen,
Ihm ein Hoch-Vivat zu bringen, Betet laut für unsern Kaiser;
Wollen ihm zu seiner Ehre Dies ist mir das liebste Karmen:
Seine Heldenthaten singen. Gott schütz' edle Fürstenhäuser!
2. Doch der Held gebietet Stille, 4. Ich hab' keine it an Beten,
Spricht dann ernst: „Legt hin die Sagt dem Herrn der Welt, wie's
Geigen! stehe:
Ernst ist Gottes Kriegeswille; Wie viel Leichen wir hier säten
Wir sind all' dem Tode eigen! In dem Thal und auf der Höhe;
Ich ließ nicht um lust'ge Spiele Wie wir huͤngern, wie wir wachen,
Weib und Kind in Thränen liegen; Und wie viele brave Schützen
Weil ich nach dem Himmel ziele, Nicht mehr schießen, nicht mehr lachen:
Kann ich ird'schen Feind besiegen. Gott allein kann uns beschützen!“
(Griedr. Max v. Schenkendorf, geb. 1784 zu Tilsit, begeisterter Sänger der Befreiungskriege (1813)
4 11. Dezember 1817 zu Koblenz. — Vgl. Nr 102.)
12
16. Belle Alliance. — 17. Barbarossa,
16. Belle Alliance. (18. Juni 1815.)
Der Blüch er war so lahm und wund,
Daß kaum im Bett er liegen kunnt;
Doch stand er auf, rief nach dem Pferd
Und schnallte um sein schart'ges Schwert.
Da kam, um ihn erst einzureiben,
Der Feldscher; doch der greise Held
Rief: „Narr, laß heut dein Schmieren bleiben;
Denn geht's in eine andre Welt,
Ist's unserm Herrgott einerlei,
Ob ich einbalsamieret sei.“
Rief's, stieg aufs Pferd und kommandiert:
„Vorwärts ihr Kinder, nicht geziert!
Vorwärts! Laßt hoch die Fahnen wehn,
Was gehen soll, das muß auch gehn!
Ich hab's dem Wellington versprochen
Ünd hab' noch nie mein Wort gebrochen.
Vorwuärts! und wenn zu dick die Reihn
Der Feinde, schlagt mit Kolben drein!
Und fort ging's, mutig drauf und dran;
Da ging ein lust'ges Tanzen an,
Die Deutschen nahmen mit den Briten
Viel tausend Franzen in die Mitten
Und ließen sie nicht früher los,
Als bis sie endlich atemlos
Vom blutbedeckten Kampfplatz flohn,
Voran ihr Held Napoleon.
Und als der Tanz vorüber war,
Umarmte sich das Heldenpaar
Und teilte ohne Neid den Kranz
Des Sieges bei Belle Alliance.
(Julius Sturm, geb. 1816 zu Köstritz Reußl, lebt daselbst als Pfarrer.)
17. Barbarossa. (1870.)
Der Kaiser winkt dem Knaben: ‚Geh, lug ins Land, o Zwerg,
Ob immer noch die Raben umkreisen meinen Berg.“
Er sprach's. Gar seltsam leuchtet sein flammenroter Bart;
Das Auge strahlt befeuchtet von Thränen eigner Art. —
Der Knaͤbe war entsprungen, gehorsam, flink, gewandt
Schon ist sein Ruf erklungen: „Ich luge tief ins Land
Ünd meine Blicke haben, so weit die Wolken gehn,
Nicht mehr die alten Raben den Berg umkreisen sehn.
Es a der Himmel heiter ob allen deutschen Gau'n!
Doch Scharen tapfrer Streiter sind rings umher zu schau'n.
Von Süden wie von Norden in starker Einigung
An deines Rheines Borden wallt Völkerwanderung.
Im Winde wehn die Fahnen, die Deutschen Mann für Mann
Gehn auf der Ehre Bahnen, und Fürsten ziehn voran.
Du sahst wohl keinen vollern Heerbann bereit zum Sieg:
Wilhelm von Hohenzollern führt Deutschland in den Krieg!“
18. Deutsche Siege. — 19. Die Rosse von Gravelotte.
Da kracht es im Kyffhäuser, da loht es himmelan.
Erlösung ward dem Kaiser, gebrochen ist der Bann.
Aus fremder Herrschaft Banden ist Land und Volk befreit
Und wieder auferstanden des Reiches Herrlichkeit.
Es senkt die deutsche Krone, mit Lorbeer frisch umlaubt,
Luisens Heldensohne sich auf das teure Haupt!
E. st. Aegidi, geb. 1825 zu Tilsit, lebt als Professor zu Berlin.)
18. Deutsche Siege.
1870. 4, 6. und 7. August.)
1. Habt ihr in hohen Lüften 4. Und die ihr todverwegen,
Den Donnerton gehört Von Leichen rings umtürmt,
Von Forbach aus den Klüften, Im dichten Eisenregen
Von Weißenburg und Wörth? Den roten Fels erstürmt,
Wie Gottesengel jagen Wo blieb vor euch das Pochen
Die Boten her vom Krieg: Auf Frankreichs Waffenruhm?
Drei n n sind geschlagen, Sein Zauber ist gebrochen,
Und jede Schlacht war Sieg. Nach bricht das Kaisertum.
2. Preis euch, ihr treuen Bayern, 5. So sitzt denn auf, ihr Reiter!
Stahlhart und wetterbraun, Den Rossen gebt den Sporn
Die ihr den Wüstengeiern Und tragt die Losung weiter:
Zuerst gestutzt die Klau'Rn! „Hie Gott und deutscher Zorn!“
Mit Preußens Aar zusammen Schon ließ der Wolf im Garne
Wie trutztet ihm dem Tod, Das beste Stück vom Vließ;
Hoch über euch in Flammen Die Maas hindurch, die Marne,
Des Reiches Morgenrot! Auf, hetzt ihn bis Paris!
3. Und ihr vom Gau der Katten, 6. Und ob die wunden Glieder
Und ihr vom Neckarstrand, Mit der Verzweiflung Kraft
Und die aus Waldesschatten Er dort noch einmal wieder
Thüringens Höh'n gesandt, Empor zum Schwunge rafft:
Ihr bracht, zum Keil gegliedert, Dich schreckt sein Dräu'n und Rasen
Der Prachtgeschwader Stoß! Nicht mehr, o Heldenfürst!
Traun, was sich so verbrüdert, Laß die Posaunen blasen
Das läßt sich nimmer los! Und Babels Feste birst.
Der feigen Welt zum Neide
Dann sei dein Win vollführt,
Und du, nur du entscheide
Den Preis, der uns gebührt!
Es stritt mit uns im Gliede
Kein Freund als Gott allein;
So soll denn der Friede
Ein deutscher Friede sein! Emanuel Geibel.)
19. Die Rosse von Gravelotte.
(18. August 1870.)
1. Heiss war der Tag und blutig die Schlacht;
Kühl wird der Abend und ruhig die Nacht.
2. Droben vom Waldsaum nieder ins Thal
Dreimal schmettert Trompetensignal,
3. Ladet so laut und schmettert so hell,
Rust die Dragoner zurũck zum Appell.
15
20. Das taube Mütterlein.
4. Truppweis, in Rotten zu dreien und zwei'n.
Stellen die tapseren Reiter sich ein.
5. Aber nicht alle kehren zurück;
Mancher liegt da mit gebrochenem Blick,
6. Kam zur Reveille frisch noch und rot,
Liegt beim Appell bleich, blutig und tot.
7. Ledige Rosse, den Sattel leer,
Lren verwaist auf der Walstatt umher.
8. Doch der Trompete schmetternd Signal
Ruft aus der Ferne zum drittenmal.
9. Schau, und der Rappe, dort spitzt er das Ohr;
Wiehernd wirft er die Nüstern empor.
10. Sieh, und der Braune gesellt sich ihm bei,
Trabt ihm zur Seite, wie sonst in der Reih.
11. Selber der blutige Schimmel, so müd,
Hinkt auf drei Beinen und stellt sich ins Glied.
12. Truppweis, in Rotten zu dreien und zwei'n,
Stellen die ledigen Rosse sich ein.
13. Rosse wie Reiter verstenn den Appell;
Ruft dié Trompete, so sind sie zur Stell.
14. Wber dreihundert hat man ge⸗ãblt,
Rosse, zu denen der Reitersmann sehlt.
15. Uber dreihundert, o blutige Schlacht,
Die so viel Sãttel hat ledig gemacht!
16. Uber dreihundert, o tapsere Schar,
Wo bei vier Mann ein gesallener war!
17. Vber dreihundert, o ritterlich Tier,
Ohne den Reiter noch treu dem Panier!
18. Wenn ihr die Tapsfern von Gravelotte nennt,
Denkt auch der Rosse om Leibregiment!
(Karl Gerok. geb. 1815 zu Stuttgart, Prälat daselbst.)
b) Bonstige epische Dichtungen.
20. Das taube NMütterlein.
. Wer õffnet leise Schloss und ũr? 3. Und wie er spricht, so blickt sie auf,
Wer schleicht ins Haus herein? Und — wundervoll Geschick —
Es ist der Sohn der wiederkehrt Sie ist nicht taub dem milden Wort;
Zum tauben Mütterlein. Sie hört ibn mit dem Blick!
2. Er tritt herein! Sie hört ihn nicht, 4. Sie thut die Arme weit ihm auf,
Sie sass am Herd und spann; Und er drũckt sie hinein;
Da tritt er grũüsssend vor sie hin Da hõrte seines Herzens Schlag
Und spricht sie „Mutter!“ an. Das taube Mũtterlein.
5. Und wie sie nun beim Sohne sitzt,
So selig, so verklärt
Ich wette, dass taub Mütterlein
Die Englein singen hört.
Eriedr. Halni leigentl. Pranz Joseph Freiherr von Mũneh-Bellinghausen], geb. 1806 zu Krakau,
4 20. Mai 1871 2u Wien.)
21. Der güldene Ring 3
21. Der güldene Ring.
Der Herberg mancher Gilden, der Burschen Burg und Ruh,
Der wanderte spät abends ein Corps Gesellen zu.
Der Drang war groß, die Thür war klein,
Und jeder will der erste sein
Im Haus
Der Herbergsvater guckt hinaus
Und spricht den Gruüß: „Woher zu wandern?
Könnt ihr nicht alle Mann der erste sein,
So sei es einer nach dem andern.
Wie's Handwerk folgt, so sprechet ein!“
Nun will erst recht ein jeder erster sein.
Der Schuster spricht: „Wenn ich nicht wär',
Wo kämen Stiefel zum Wanderu her?“
„Vom Leder!“ fiel der Gerber ein —
„Nein, von der Haut!“ schlug Metzger drein.
„Was Stiefel! backe ich kein Brot,
So seid ihr auch in Stiefeln tot.“
„Und mahl' ich nicht, so bäckst du Stroh;
Dann mein' ich, wär' es auch noch so.“
„Und schmied' ich keinen Pflug,
So mahlt der Müller Wind;
Dann sind wir just so klug.“ —
„Klug hin klug her — der Maurer muß voraus!
Wo wär' die Herberg hier, bau' ich kein Haus!“
„Wie aber, Bruder, willst ins Haus hinein,
Bringt nicht der Schlosser erst den Schlüssel rein?“
Fahl! ohne Schlüssel bau' ich erst' und letztes Haus!“
Fuhr, wie sein Hobelspan, der Schreiner raus
„Und, Bruder, hast dein letztes fertig du,
Dann, komm' ich, Nagelschmied, und schließe zu!“
Allein, ganz fix, nähnadelfein
Bügelt der Schneider hinterdrein
„Ist Leut' begraben eine Kunst?
Nein, Leute machen, das ist ein'.“
„Du machst doch keine, kleiner Schneider?“
„Nein, ich nicht, aber meine Kleider.“
Mit Gunst!
Der kleine Schneider war hinein.
Doch fest, als thät' er einen Balken fassen,
So griff der lange Zimmermann mal aus:
„Für'n Schneider hab' ich just das Loch gelassen.
Kopf weg!“ und warf den Schneider wieder naus
2
16 22. Der Handwerksbursche.
„Sacht, Kinder, immer sacht!“ —
Ruft Herbergsvater steuernd jetzt hinaus:
„Den Fehler hier hab' ich gemacht!“
Und hebt die Thüre samt der Angel aus:
„So wahr mein Haus hier steht in Gottes Hand
Und ist zum güldnen Ringe zubenannt,
So sollet ihr herein mitsammen wandern;
Habt ihr doch Wert erst einer durch den andern!
Denn alle Gilden sind ein güldner Kranz,
Drin jedes Blatt hat seinen Wert und Glanz.
Jedwedes Reis, wo es auch Platz genommen,
Zum güldnen Ringe ist es gleich willkommen
Drum kommt mir, alle Mann, zugleich herein,
Soll keiner erster oder letzter sein.“
(GChrist. Friedr. Schereuberg, geb. 1798 zu Stettin, lebt als Beamter in Berlin.)
22. Der Handwerksbursche.
Ein Handwerksbursche ging von Thür' zu Thür',
Fechtend nach altem Brauche dort und hier.
Nun steht er auch vor einer Thüre dort;
Doch zeigt sich niemand, und er hört kein Wort.
Er tritt hinein; krank, einsam schmachtend lag
Drin eine arme Witwe manchen Tag.
Im Hause fast an allem ihr gebricht's;
Matt spricht sie: „Seht, ich habe selber nichts!“
Doch nach drei Stunden ist er wieder da:
„Ach, leider nichts Euch geben kann ich ja!“ —
Er aber tritt vor ihren kleinen Tisch,
Was zieht er aus den beiden Taschen frisch?
Viel Stücke Brotes legt er ihr zu Hauf,
Viel Münz', indes erbettelte, darauf.
„Euch arme, kranke Frau, gehört das hier“,
So spricht er freundlich lächelnd nun zu ihr.
Dann geht er schnell hinaus in guter Ruh',
Zieht leise hinter sich die Thüre zu.
Sie kann nicht danken mehr; doch himmelwärts
Hebt sich für ihn still segnend Aug' und Herz.
Ein Engel, auf Goldwolken schwebend, sah,
Was in der armen Hütte dort geschah.
Des Handwerksburschen That als Edelstein
Trägt er dann in das Buch des Lebens ein.
(Julius Krais, geb. 1807 zu Bielstein in Württemberg, Pfarrer zu Sondelfingen bei Reutlingen.
10
23. Der rechte Barbier. 17
23. Der rechte Barbier.
L. Und soll ich nach Philisterart 6. Einhundert Batzen mein Gebot,
Mir Kinn und Wange putzen, Falls du die Kunst besitzest;
So will ich meinen langen Bart Doch merk es dir, dich stech ich tot,
Den letzten Tag noch nutzen. So du die Haut mir ritzest. —
Ja, ärgerlich wie ich nun bin, Und der Gesell: Den Teufel auch,
Vor meinem Groll, vor meinem Kinn Das ist des Landes nicht der Brauch. —
Soll mancher noch erzittern. Er läuft und schickt den Jungen.
2 Holla! Herr Wirt, mein Pferd! Macht 7. Bist du der rechte, kleiner Molch?
fort! Frisch auf! fang an zu schaben!
Ihm wird der Hafer frommen. Hier ist das Geld hier ist der Dolch,
Habt ihr Barbiere hier im Ort? Das beides ist zu haben;
Laßt gleich den rechten kommen! Und schneidest, — ritzest du mich bloß,
Waldaus, waldein, — verfluchtes Land! — So geb ich dir den Gnadenstoß,
Ich ritt die Kreuz und Quer und fand Du wärest nicht der erste.
Doch nirgends noch den rechten. —
3. Tritt her, Bartputzer, aufgeschaut! 8. Der Junge denkt der Batzen, druckst
Du sollst den Bart mir kratzen! Nicht lang und ruft verwegen:
Doch kitzlich sehr ist meine Haut, Nur still gesepen, nicht gemuchst!
Ih biete hundert Batzen; Gott geb Euch seinen Segen!
Nun machst du nicht die Sache gut, Er seift ihn ein ganz unverdutzt,
Und fueßt ein einz'ges Tröpflein Blut, — Er wetzt, er stutzt, er kratzt, er putzt. —
Fährt dir mein Dolch ins Herze. Gottlob, nun seid Ihr fertig!
4. Das spitze, kalte Eisen sah 9. Nimm kleiner Knirps, dein Geld nur hin,
Man auf dem Tische blitzen, Du bist ein wahrer Teufel!
Und dem verwünschten Ding gar nah Kein and'rer mochte den Gewinn,
Auf seinem Schemel sitzen Du hegtest keinen Zweifel;
Den grimm'gen, schwarzbehaarten Mann Es kam das Zittern dich nicht an,
Im schwarzen, kurzen Wams, woran Und wenn ein Tröpflein Blutes rann,
Noch schwärz're Troddeln hingen. So stach ich dich doch nieder! —
z. Dem Meister wirds zu grausig fast, 10. Ei! guter Herr, so stand es nicht;
Er will die Messer wetzen, — Ich hielt Euch an der Kehle;
Er sieht den Dolch, er sieht den Gast, Verzucktet Ihr nur das Gesicht,
Es packt ihn das Entsetzen. Und ging der Schnitt mir fehle,
Er zittert wie ein Espenlaub, So ließ ich Euch dazu nicht Zeit,
Er macht sich plötzlich aus dem Staub Entschlossen war ich und bereit,
Und sendet den Gesellen. Die Kehl' Euch abzuscheiden.
11. So so! Ein ganz verwünschter Spaß!
Dem Herrn ward's unbehäglich!
Er wurd' auf einmal leichenblaß,
Und zitterte nachträglich.
So sol das hatt' ich nicht bedacht;
Doch hat es Gott noch gut gemacht;
Ich will's mir aber merken.
(Udalb. v. Chamisso, geb. 1781 auf loß Bonconrt lhrantkreich 21. August 1888 zu Berlin.)
Marsch all, Lesebuch für gewerbl. Fortbildungsschulen. Kl. Ausg.
*
8 24. Graf Richard ohne Furcht. — 25 Die rechte Schmiede.
24. Graf Richard ohne Furcht.
Graf Richard von der Vormandie Der Leichnam sich auf dem Gestelle.
Erschrak in seinem Leben nie. Der Graf sah um und rief: „Geselle,
Er schweifte Nacht wie Tag umher, Du seist ein guter oder schlimmer,
Manchem Gespenst begegnet' er, CLeg' dich aufs Ohr und rühr' dich
Doch nie hat ihm was Grau'n gemacht nimmer!“
Bei CTage, noch um Mitternacht. Dann erst er sein Gebet beschloß,
Weil er so viel bei Nacht thät reiten, Weiß nicht, ob's klein war oder groß.
So ging die Sage bei den Leuten, Sprach dann sich segnend: „Herr, mein'
Er seh' in tiefer Nacht so licht, Seel'
Als mancher wohl am Tage nicht. Zu deinen Händen ich empfehl.“
Er pflegte, wenn er schweift' im Land, Sein Schwert er faßt und wollte gehen,
So oft er wo ein Münster fand, Da sah er das Gespenst aufstehen,
Wenn's offen war, hineinzutreten, Sich drohend ihm entgegenrecken,
Wo nicht, doch außerhalb zu beten Die Arme in die Weite strecken,
So traf er in der Nacht einmal Als wollt' es mit Gewalt ihn fassen
Ein Münster an im öden Thal; Und nicht mehr aus der Kirche lassen.
Da ging er fern von seinen Leuten Richard besann sich kurze Weile,
Nachdenklich, ließ sie fürbaß reiten. Er schlug das Haupt ihm in zwei Teile.
Sein Pferd er an die Pforte band, Ich weiß nicht, ob es wehgeschrien,
Im Innern einen Leichnam fand. Doch mußt's den Grafeu lassen zieh'n.
Er ging vorbei hart an der Bahre Er fand sein Pferd am rechten Orte;
Und kniete nieder am Altare, Schon ist er aus des Kirchhofs Pforte,
Warf auf 'nen Stuhl die Handschuh eilig, Als er der Handschuh' erst gedenkt.
Den Boden küßt' er, der ihm heilig. Er läßt sie nicht; zurück er lenkt,
Noch hatt' er nicht gebetet lange, Hat sie vom Stuhle weggenommen.
Da rührte hinter ihm im Gange Wohl mancher war' nicht wieder kommen.
Eudw. Uhland, einer der größten deutschen Dichter der Neuzeit, geb. 1787 zu Tübingen, daselbst
13. November 1862.)
25. Die rechte Schmiede.
1.„Gottlob, dort lichtet sich der Wald;
Die hellen Sterne funkeln,
Und dort ein Licht! Horch, und was schallt
Vom Thal herauf, dem dunkeln?
Pang, ping, pang! Süß wie Lautenklang
HKlingt mir der Hämmer Wechselschlag.
Komm, Rapp, baͤlld sind wir aus dem Hag
Hinab den Bergeshang!“
2. „Was wieherst du, mein treues Tier?
Meinst wohl, dort bei den Schmieden
Sei ein behaglich Nachtquartier
So wie daheim beschieden?
Holla! habt Ihr ein Lager, Wirt
Für einen Weidmann und sein Roß?
Wir kamen ab vom Jägertroß
Und sind im Wald verirrt.“
*
25. Die rechte Schmiede. 9
3. „Willkommen! Nun, da trinkt und eßt,
So gut es Arme haben;
Dann sucht im Heu ein warmes Nest,
Den Müden wird es laben.
Da ruht Euch aus, und gute Nacht!“
Der Jäger streckt sich auf das Heu
Und denkt; das Bett ist meiner Treu
Für Müde wie gemacht!
4. Doch findet er nicht Schlaf noch Ruh;
Die Bälge knarrend stöhnen;
Die Hütte schüttert immerzu
Von schwerer Hämmer Dröhnen.
Und hat der Blasbalg ausgeknarrt,
Da schlägt der Schmied den roten Stahl
Und ruft bei jedem Streich zumal:
„O Landgraf, werde hart!“
5. Und seufzend der Geselle spricht:
„Wohl könnt' uns der erretten;
Doch hört er unser Klagen nicht,
Er fühlt nicht unsere Ketten!“
Da ruft der Schmied im grauen Bart:
„Getrost, getrost, Gott ist gerecht;
Des Grafen Schrot und Korn ist echt;
O Landgraf, werde hart!“
6. Der Jäger lauscht und horcht; kein Schlaf
Will noch sein Aug' umdämmern;
Rot wie das Eisen glüht der Graf.
Und seine Pulse hämmern.
Er hört, was nie er inne ward,
Von seines Volkes bittrer Not,
Dazu des Schmiedes Aufgebot:
„O Landgraf, werde hart!“
7. Er hört, wie schlimm der Adel haust
Und seine Bauern kränket,
Da ballt sich krampfhaft seine Faust;
Gott hat sein Herz gelenket.
Bald kräht der Hahn, der rrt
Der Gast drückt seines Wirtes Hand:
„Euch Meister, dank' es einst das Land,
Wie Euer Graf wird hart.“
8. Ein Wort, ein Mann. Sein Manneswort,
Der Graf hat's treu gehalten.
Er ward der Schwachen Schirm und Hort
Und brach der Frevler Schalten.
Seitdem im Land gesungen ward:
„Zur rechten Schmiede kam der Graf,
Das freie Wort macht Fürsten brav;
Gottlob, der Graf ist hart!“
Berthold d5* geb. 1819 im Weimarischen, als Professor der Realschule zu
NMNudolstadt 1864)
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26. Der Glockenguß zu Breslau.
26. Der Glockenguß in Breslau.
1. War einst ein Glockengießer zu Breslau in der Stadt,
Ein ehrenwerter Meister, gewandt in Rat und That.
2. Er hatte schon gegossen viel Glocken, gelb und weiß,
Für Kirchen und Kapellen zu Gottes Lob und Preis.
3. Und seine Glocken klangen so voll, so hell, so rein:
Er goß auch Lieb' und Glauben mit in die Form hinein.
4. Doch aller Glocken Krone, die er gegossen hat,
Das ist die Sünderglocke zu Breslau in der Stadt.
5. Im Magdalenenturme, da hängt das Meisterstück,
Rief schon manch starres Herze zu seinem Gott zurück.
6. Wie hat der gute Meister so treu das Werk bedacht!
Wie hat er seine Hände gerührt bei Tag und Nacht!
7. Und als die Stunde kommen, daß alles fertig war,
Die Form ist eingemauert, die Speise gut und gar:
8. Da ruft er seinen Buben zur Feuerwacht herein:
„Ich lass' auf kurze Weile beim Kessel dich allein.
. Will mich mit einem Trunke noch stärken zu dem Guß;
Das gibt der zähen Speise erst einen vollen Fluß.
10. Doch hüte dich und rühre den Hahn mir nimmer an;
Sonst wäri es um dein Leben, Fürwitziger gethan!“
11. Der Bube steht am Kessel, schaut in die Glut hinein;
Das wogt und wallt und wirbelt und will entfesselt sein,
12. Und zischt ihm in die Ohren, und zuckt ihm durch den Sinn;
Und zieht an aällen Fingern ihn nach dem Hahne hin.
13. Er fühlt ihn in den Händen, er hat ihn ;
Da wird ihnm angst und bange, er weiß nicht, was er thät,
14. Und läuft hinein zum Meister, die Schuld ihm zu gestehn,
Will seine Knie umfassen und ihn um Gnade flehn.
15. Doch wie der nur vernommen des Knaben erstes Wort,
Da reißt die kluge Rechte der jähe Zorn ihm fort.
6. Er stößt sein scharfes Messer dem Knaben in die Brust;
Dann stürzt er nach dem Kessel, sein selber nicht bewußt.
17. Vielleicht, daß er noch retten, den Strom noch hemmen kann:
Doch sieh! der Guß ist fertig; es fehlt kein Tropfen dran.
18. Da eilt er, abzuräumen, und sieht, und will's nicht sehn,
Ganz ohne Fleck und Makel die Glocke vor sich stehn.
19. Der Knabe liegt am Boden, er schaut sein Werk nicht mehr;
Ach, Meister, wilder Meister, du stießest gar zu sehr!
20. Er stellt sich dem Gerichte, er klagt sich selber an;
Es thut den Richtern wehe woͤhl um den wackern Mann.
21. Doch kann ihn keiner retten, und Blut will wieder Blut:
Er hört sein Todesurtel mit ungebeugtem Mut.
22. Und als der Tag gekommen, daß man ihn führt hinaus,
Da wird ihm angeboten der letzte Gnadenschmaus
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27. Erlkönig. 1
23. „Ich dank' euch,“ spricht der Meister, „ihr Herren lieb und wert;
Doch eine andre Gnade mein Herz von euch begehrt:
24. Laßt mich nur einmal hören der neuen Glocke Klang!
Ich hab' sie ja bereitet; möcht' wissen, ob's gelang.“
25. Die Bitte ward gewährt; sie schien den Herrn gering;
Die Glocke ward geläutet, als er zum Tode ging.
26. Der Meister hört sie klingen, so voll, so hell, so rein;
Die Augen gehn ihm über, es muß vor Freude sein.
27. Und seine Blicke leuchten, als wären sie verklärt;
Er hat in ihrem Klange wohl mehr als Klang gehört.
28. Hat auch geneigt den Nacken zum Streich voll Zuversicht,
Und was der Tod versprochen, das bricht das Leben nicht.
29. Das ist der Glocken Krone, die er gegossen hat,
Die Magdalenenglocke zu Breslau in der Stadt.
30. Die ward zur Sünderglocke seit jenem Tag geweiht;
Weiß nicht, ob's anders worden in dieser neuen Zeit.
Wilh. Müller, geb. 1794 zu Dessau, ꝓdaselbst 30. September 1827.)
27. Erlkönig.
1. Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm;
Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.
2. ‚Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht!“ —
„Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron' und Schweif?“ —
„Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.“ —
3. „Du liebes KNind, komm, geh mit mir:
Gar schöne Spiele spiel' ich mit dir;
Manch' bunte Blumen sind an dem Strand;
Meine Mutter hat manch' gülden Gewand.“ —
4. ‚Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht?“ —
„Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind.“ —
5. „Willst, feiner Knabe, du mit mir gehnd
Meine Cöchter sollen dich warten schön;
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.“
6. „Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort?“ —
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh' es genau;
Es scheinen die alten Weiden so grau.“ —
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28 Sommernacht. — 29. Der König und der Landmann.
7. Ich liebe dich; mich reizt deine schöne Gestalt,
Und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt.“ —
„Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids gethan!“ —
8. Dem Vater grauset's, er reitet geschwind;
Er hält in den Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
In seinen Armen das Kind war tot.
(Joh. Wolfg. v. Goethe, neben Schiller der größte Dichter der deutschen Nation, geb. 28. August 1749
zu Frankfurt a. M., 22. März 1832 zu Weimar.)
c) Episch-lyrische und episch-didaktische Gedichte.
28. Sommernacht.
1 Es wallt das Korn weit in die 3. Das sind die Bursche, jung und
Runde, wacker,
Und wie ein Meer dehnt es sich aus; Sie sammeln sich im Feld vn Hauf'
Doch liegt auf seinem stillen Grunde Und suchen den gereiften Acker
Nicht Seegewürm, noch andrer Graus: Der Witwe oder Waise auf,
Da träumen Blumen nur von Kränzen Die keines Vaters, keiner Brüder
Und trinken der Gestirne Schein; Und keines Knechtes Hilfe weiß —
O, goldnes Meer, dein friedlich Glänzen Ihr schneiden sie den Segen nieder;
Saugt meine Seele gierig ein. Die reinste Lust ziert ihren Fleiß.
2. In meiner Heimat grünen Thalen. 4.Schon sind die Garben festgebunden
Da herrscht ein alter, schöner Brauch: Und schon in einen Kranz gebracht.
Wann hell die Sommersterne strahlen, Wie lieblich flohn die stillen Stunden
Der Glühwurm schimmert durch den Es war ein Spiel in kühler Nacht.
Strauch, Nun wird geschwärmt und hell ge—
Dann geht ein Flüstern und ein Winken, sungen
Das sich dem Vneld naht, Im Garbenkreis, bis Morgenduft
Da geht ein nächtlich Silberblinken Die nimmermüden braunen Jungen
Von Sicheln durch die goldne Saat. Zur eignen schweren Arbeit ruft.
Gottfr. Keller, geb. 1819 zu Glattfelden bei Zürich, lebt als Schriftsteller zu Zürich.)
29. Der König und der Landmann.
1. Der Landmann lehnt in der Hütt' allein
Und blickt hinaus in den Mondenschein
Und schaut empor zu des Königs Palast;
Er weiß nicht, welch ein Gefühl ihn faßt.
2. „Ach wär' ich ein König nur eine Nacht,
Wie wollt' ich schalten mit meiner Macht!
Wie ging ich umher von Haus zu Haus
Und teilte den Schlummernden Segen aus!
30. Die Kinder der Armut.
3. Wie strahlte dann morgens so mancher Blick
Die Sonne zum erstenmal hell zurück!
Wie staunten einander die Glücklichen an
Und meinten, das hab' ein Engel gethan! —“
4. Der König lehnt im Palast allein
Und blickt hinaus in den Mondenschein,
Und schaut hinab in des Landmanns Haus
Und seufzt in das weite Schweigen hinaus
5. „Ach wär' ich ein Landmann nur eine Nacht,
Wie gern entriet ich der drückenden Macht!
Wie lehrt' ich mich selber die schwere Kunst,
Nicht irr' zu gehen mit meiner Gunst!
6. Wie wollt' ich ins eigne Herze mir sehn,
Um wieder es offen mir selbst zu gestehn!
Was tausend Hände mir nicht vollbracht,
Das wollt' ich gewinnen in einer Nacht!“
7. So schaun sie sinnend beim Sternenlauf,
Der König hinunter, der Landmann hinauf;
Dann schließen beide den müden Blick
Und träumen beide von fremdem Glück.
(Joh. Gabr. Seidl, geb. 1804 in Wien, daselbst 18. Juli 1875 als kaiserl. Beamter.)
30. Die Kinder der Armut.
L1. Es wohnt ein armer Mann in einer niedern Hütte;
Der dachte schweigend nachts auf seiner harten Schütte:
2. Ich sehe Müh' und Fleiß mit Reichtum nie belohnt,
Weil unsichtbar bei mir im Haus die Armut wohnt.
3. Ich wollte, daß einmal sie zu Gesicht mir käme,
So bät' ich sie, daß sie wo anders Wohnung nähme.
4. Da füllte sich der Raum mit einem mäß'gen Schimmer,
Und in bescheidnem Schmuck ein Weib trat in das Zimmer.
5. Ein rüstig Mädchen ging ihr an der einen Hand,
Indes ein holdes Kind sich schmiegt' an ihr Gewand.
6. Sie sprach zum Staunenden: Ich bin, die du verfluchest,
Die Armut, die du aus dem Haus zu bannen suchest.
7. Das rüst'ge Mädchen hier ist Arbeit, mein Geleit,
Und dieses liebe Kind ist die Zufriedenheit.
8. Das Mädchen schafft, was ich bedarf; es ist nicht viel,
Und dieses liebe Kind ist meines Alters Spiel.
9. Leb wohl, wir wollen nun bei dir nicht länger säumen;
Weit werde dir dein Haus, das enge, wenn wir's räumen.
10. Da ruft der Mann: Halt an! geh nicht, mein lieber Gast!
Ich dachte nicht, daß du solch ein Gefolge hast.
10. Der Armut will ich gern den Platz im Hause schenken,
Um der Zufriedenheit bei Arbeit zu gedenken. Griedr. Rücert.)
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31. Der Hänfling. — 32. Der grüne Esel.
31. Der Hänfling.
GFabel.)
. Ein Hänfling, den der erste Flug 4. Mit umgekehrtem Eigensinn
Aus seiner Eltern Neste trug, Begab er sich zur Erde hin
hub an, die Wälder zu beschauen, Und baut' in niedriges Gesträuche,
Und kriegte Lust, sich anzubauen, So scheu macht ihn der Fall der Eiche.
Ein edler Trieb; denn eigner Herd DochstaubundWürmerzwangen ihn,
ist, sagt das Sprichwort, Goldes wert. Zum andernmal davon zu zieh'n.
2. Die stolze Glut der jungen Brust 5. Da baut' er sich das dritte Haus
Macht' ihm zu einem Eichbaum Lust. Und las ein dunkles Büschchen aus,
hier wohn' ich, sprach er wie ein König; Wo er den Wolken nicht so nahe,
Dergleichen Nester gibt es wenig. Doch nicht die Erde vor sich sahe,
Kaum stund das Nest, so wards ver- Ein Ort, der in der Buhe liegt.
heeret Da lebt er noch, und lebt vergnügt.
Und durch den Donnerstrahl verzehret.
6. Vergnügte Tage findet man,
3. Es war ein Glück bei der Gefahr, Woferne man sie finden kann,
Daß unser Hänfling auswärts war. Nicht auf dem Thron und nicht in
Er kam, nachdem es ausgewittert, Hütten.
Und fand die Eiche halb zersplittert. Kannst du vom Himmel es erbitten,
Da sah er mit Bestürzung ein, So sei dein eigner Herr und Knecht;
Er könne hier nicht sicher sein. Das bleibt des Mittelstandes Recht
(Magnus Gottfried Lichtwer, geb. 1719 zu Wurzen [Sachsen]), 1783 zu Halberstadt als Kon⸗
sistorialrat ꝛc.)
32. Der grüne Esel.
(Fabel.)
Wie oft weiß nicht ein Narr durch thöricht' Unternehmen
Viel tausend Thoren zu beschämen!
Neran, ein kluger Narr, färbt einen Esel grün,
Am Leibe grün, rot an den Beinen,
Fängt an, mit ihm die Gassen durchzuziehn;
Er zieht, und jung und alt erscheinen.
Welch' Wunder! rief die ganze Stadt,
Ein Esel, zeisiggrün, der rote Füße hat;
Das muß die Chronik einst den Enkeln noch erzählen,
Was es zu unsrer Zeit für Wunderdinge gab!
Die Gassen wimmelten von Millionen Seelen;
Man hebt die Fenster aus, man deckt die Dächer ab;
Denn alles will den grünen Esel sehn,
Und alle konnten doch nicht mit dem Esel gehn.
Man lief die beiden ersten Tage
Dem Esel mit Bewunderung nach.
Der Kranke selbst vergaß der Krankheit Plage,
Wenn man vom grünen Esel sprach.
Die Kinder in den Schlaf zu bringen,
Sang keine Wärt'rin mehr von dem schwarzen Schaf;
Vom grünen Esel hört man singen,
Und so gerät das Kind in Schlaf.
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33. Gen Maien.
Drei Tage waren kaum vergangen,
So war es um den Wert des armen Tiers geschehn;
Das Volk bezeigte kein Verlangen,
Den grünen Esel mehr zu sehn,
Und so bewundernswert er anfangs allen schien,
So dacht' jetzt doch kein Mensch mit einer Silb' an ihn.
Ein Ding mag noch so närrisch sein,
Es sei nur neu, so nimmt's den Pöbel ein:
Er sieht, und er erstaunt; kein Kluger darf ihm wehren.
Drauf kömmt die Zeit und denkt an ihre Pflicht;
Denn sie versteht die Kunst, die Narren zu bekehren,
Sie mögen wollen oder nicht.
Christ. Fürchtegott Gellert, geb. 1715 zu Hainichen [Sachsen]), 5als Professor zu Leipzig
13. Dezember 1769.)
II. Cyrische Dichtungen.
33. Gen Maien.
Gen Maien blüht der Tag herein Das ist kein arges Sorgenkraut,
Mit Liedergruß und Freudenschein, Was dir im Herzen grünt und taut,
Die Erde feiert „hohe Zeit“ Das Blümlein, was da sproßt und blüht,
In Kränzen Duft und Taugeschmeid; Es ist der Glauben im Gemüt,
In Lüften jauchzt der Sänger Heer Das will hinaus auf grünen Plan
Dem Unerforschten Preis und Ehr; Und Gott den Vater beten an,
Voll grüner Noten hängt der Strauch, Der seiner Liebe ew'gen Bund,
Der Sänger ist der Frühlingshauch; Mit Sternen schrieb auf Himmels—
In Feld und Wald, auf Berg und grund —
See Sein heil'ges Wort, den lichten Brief,
Kein Räumlein, das noch trüb und Voll tausend Bildern hehr und tief.
weh! — Die Wunder drängen sich zu Hauf'; —
Wo fang' ich an, — wo hör' ich auf? —
Wie nun so wunderlicht, so gut, Ein Blättlein buchstabier' ich laut:
Du, liebe Seele, steht dein Mut! „Die Erde ist des Himmels Braut!“ —
Was du gesorgt noch im April, Und dorthin schrieb sein Finger lind:
Du weißt es nimmer, — alles „Du, Mensch, bist ew'ger Liebe
still! Kind!“
So leise wie das Abendrot, Mir wachsen Schwingen an das
So leis entschlief die alte Not; Herz;
So selig wie der Morgenhauch, Ihr Lerchen auf- und himmelswärts,
So frisch erstand dein Sinnen auch, Bis wo die Englein wohnen schier,
Und unbegriffen, unbewußt Dort stimmt mit mir in heller Zier:
Ist's wieder Lenz in deiner Brust. „Herr, unser Gott, dich loben wir!“
Gg. Scheurlin, geb. zu Mainbernheim [Unterfranken] 1802, 4 als Ministerialsekretär zu München
10. Juni 1872.)
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34. Frühlingslied. — 37. Herhbstlied.
34. Frühlingslied.
L. Gruss Gott, du lieber Frublingsvind! 3. Und sag den Vöglein im ganzen
Du darfst bei mir nicht sãumen. Wald,
hlieg fort, flieg fort in den Wald Der Winter sei zerronnen,
geschwind; Dass jeder Busch und Wipfel schallt,
Da liegt noch alles in Träumen. Und heisse rieseln die Bronnen!
2. Die Blätter in den Knospen weck; 4. Und wo ein trauerndes Herze sinnt,
Sie sollen sauselnd spriessen! Das sollst du ins Freie locken,
Und hilt den Veilchen im Dornenversteck Und wo eine stille Thräne rinnt,
Die Auglein aufzuschliessen. Da weil' und küsse sie trocken!
(Osk. v. Redwitz, geb. 1823 z2u Lichtenau bei Ansbach, lebt in München.)
35. Hinaus!
I. Der Lenz erwacht, es schimmern grau 2. Hinaus, hinaus ins grüne Ried,
Die Kätzchen an der Weide; Wo hoch die Lerchen schwirren!
Die Lust ist lau, der Ather blau Lass deine Seel' im Wonnelied
Wie Veilchen auf der Heide. Durch alle Himmel irren!
(Adolf Böttger, geb. 1815 zu Leipzig, 13. Nov. 1870 zu Gohlis.)
36. Sommerstille.
1. Die Sonne brennt, — des Him— 3. So weit, so weit das Auge reicht
mels Blau Herrscht stiller Gottesfrieden,
Erglänzt so hell dort oben! Und alles ruht und alles schweigt,
Voll goldner Saaten glänzt die Au, Als wandelt' Gott hienieden.
Mit Wiesengrün durchwoben.
2. So feierlich darüber geht 4. Wie zum Gebete neigen sich
Geheimnisvolles Wehen! Die goldnen Halme nieder
Es rauscht kein Blatt, kein Lüftchen weht, Und wogen still und feierlich
Kein Vogellied will schallen! Voll Andacht hin und wieder!
5. O, hohe, heil'ge Himmelsruh!
Geheimnisvolles Wallen!
Ich muß vor dir, du Vater du,
Anbetend niederfallen!
G. Ch. Dieffenbach, geb. 1822 zu Schlitz [Hessen], Pfarrer dortselbst.)
37. Herbsllied.
1. Des Sommers Fäden weben 2. Die Herden auf der Weide
Durchs Feld wie weißer Duft, Gehn heim zur Winterruh!
Die muntern Schwalben schweben Die Blümlein auf der Heide
In hoher, blauer Luft. Thun ihre Auglein zu.
Sie üben die Flügel zur fröhlichen Es wehen und streicheln die spielenden
Reise, Winde,
Denn über die Hügel, da säuselt es Und wehen und schmeicheln und singen
leise: o linde
Lieb Vöglein mein Lieb Blümlein mein —
Der Winter zieht ins Land hinein. Der böse Winter kommt, schlaf ein!
Des Knaben Wunderhorn.)
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38. Morgens im Walde. — 39. Morgenwanderung. — 40. Komm mit! 27—
38. Morgens im Walde.
1. Ein sanfter Morgenwind durch-⸗ 3. Und wie ich so schreit' im lustigen
zieht Wald
Des Forstes grüne Hallen; Und alle Bäum' erklingen
Hell wirbelt der Vögel muntres Rings um mich alles singet und
Lied;
Die jungen Birken wallen. Wie sollt' ich allein nicht singen?
2. Das Eichhorn schwingt sich von 4. Ich singe mit starkem, freudigem
Baum zu Baum; Laut
Das Reh durchschlüpft die Büsche; Dem, der die Wälder säet,
Viel hundert Käfer im schattigen Der droben die luftige Kuppel ge—
Raum baut
Erfreu'n sich der Morgenfrische. Und Wärm' und Kühlung wehet.
(Ktarl Egon Ebert, geb. 1801 zu Prag, wo er noch lebt.)
39. Worgenwanderung.
1.Wer recht in Freuden wandern will, 3. Da zieht die Andacht wie ein Hauch
Der geh' der Sonn' entgegen; Durch alle Sinnen leise,
Da ist der Wald so kirchenstill, Da pocht ans Herz die Liebe auch
Kein Lüftchen mag sich regen; In ihrer stillen Weise,
Noch sind nicht die Lerchen wach, Pocht und pocht bis sich's erschließt,
Nur im hohen Gras der Bach Und die Lippe überfließt
Singt leise den Morgensegen. Von lautem, jubelndem Preise.
2. Die ganze Welt ist wie ein Buch,. 4. Und plötzlich läßt die Nachtigall
Darin uns aufgeschrieben Im Busch ihr Lied erklingen,
In bunten Zeilen manch ein Spruch, In Berg und Thal erwacht der Schall
Wie Gott uns treu geblieben; Und will sich aufwärts schwingen,
Wald und Blumen nah und fern Und der Morgenröthe Schein
Und der helle Morgenstern Stimmt in lichter Glut mit ein
Sind Zeugen von seinem Lieben. Laßt uns dem Herrn lobsingen!
E. Geibel.)
40. Komm mit!
. Komm mit, verlass das Markt- 4. Wir gehn hinab zum Felsenborn,
geschrei! Wo schaumgeboren, goldbeschwingt,
Verlass den Qualm, der sich dir ballt Wie aus des Knaben Wunderhorn,
Ums Herz, und atme wieder frei; Pin Maärchen aus der Liese dringt,
Komm mit mir in den grünen Wald! . Und in der Tiere Lustrevier,
2. Wir gehn auf taubeperltem Pfad Draus unverkünstelt, unverstellt,
Durch schlankes Gras, durch dust'ges Moos, In wechselnden Symbolen dir
Durch frischer Lüste stärkend Bad Entgegentritt die eigne Welt.
Dem grünen Dickicht in den Schols; 6. Koum mit verlass das Markl⸗
3. Gehn in der Hallen weite Pracht, geschrei
Wo endlos Sãul' an Sãule steht Verlass den Qualm, der sich dir ballt
Und durch der Schatten hehre Nacht Ums Herz, und atme wieder sfrei;
Des Unsichtbaren Schauer weht; Komm mit mir in den grünen Wald!
(Gust. Plarrius, geb. 1800 zꝛu Reddersheim bei Kreuznach, lebt als pens. Professor in Kõln.)
41. Müllers Wanderlied. — 42. Heimkehr.
41. Müllers Wanderlied.
1. Das Wandern ist des Müllers Lust, 3. Das sehn wir auch den Rädern ab,
das Wandern! den Rädern,
Das muß ein schlechter Müller sein, Die gar nicht gerne stille stehn
Dem niemals siel das Wandern ein, Und sich mein Tag nicht müde drehn,
das Wandern. die Räder.
2. Vom Wasser haben wir's gelernt. 4. Die Steine selbst, so schwer sie sind,
vom Wasser! die Steine;
Das hat nicht Rast bei Tag und Nacht, Sie tanzen mit den muntern Reihn
Ist stets auf Wanderschaft bedacht, Und wollen gar noch schneller sein,
das Wasser. die Steine.
5. O Wandern, Wandern, meine Lust,
o Wandern!
Herr Meister und Frau Meisterin,
Laßt mich im Frieden weiter ziehn
und wandern!
(Wilh. Müller.)
12. Heimkehr.
1. Ich zog wohl durch die Lande 3. Ich dacht', das wär' das schönste,
Zur schönen Sommerzeit Zu reisen sein lebenlang
Und schaute Gottes Wunder, Und unter'm freien Himmel
So herrlich weit und breit. Zu sterben am Bergeshang.
Wie's Vöglein mußt ich singen Und doch, gar bald ein Sehnen
In meinem hellen Mut: Zog heimwärts mich mit Macht;
O reisen, reisen, reisen, O Heimat, liebe Heimat,
Wie machst du alles gut! Dein dacht' ich Tag und Nacht!
2. Auf hoher Berge Gipfel, 4. Und ohne Rast und Ruhe
Da fühlt' ich Gottes Näh' Bin heimwärts ich gewallt,
Und sah hinab mit Staunen Vor meiner trauten Hütte
In manchen blauen See, Stund' ich in Freuden bald,
In Feld und Wald und Fluren, Und als ich ruhte drinnen,
Wohin ich wandt den Fuß, Ein müder Wand'rer, aus,
Hört' meine trunk'ne Seele Wie wohl ward mir, wie selig
Von Gott den Freudengruß. In meinem stillen Haus.
5. So meinst du wohl zu trinken
Des jungen Lebens Lust;
Das wär' dein einzig Sehnen,
O Herz in meiner Brust!
Hab acht! es kommt die Stunde,
's ist um die Lust gethan;
An Gottes Vaterhause
Klopfst du so gerne an.
(Friedr. Oeser, geb. 1820 zu Basel, Prediger allda.)
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43. Schmiedelied. — 4. Heerbannlied. 2
43. Schmiedelied.
1. Mit Gunst zum ersten! Eisen in Not, 2. Mit Gunst zum zweiten! Eisen in Not,
Füge dich, krümme dich meinem Gebot, Füge dich, krümme dich meinem Gebot,
Biege dich, schmiege dich, Eisen so rot! Biege dich, schmiege dich, Eisen so rot!
Unter dem Pfluge als stählerne Hand Sollst einem Roß an den klingenden Huf,
Brich die Scholle mir wacker; Daß es den Reiter in Wettern
Rode die Wurzeln, zieh' Furchen im Land,. Trage dahin, wenn des Heerhorns Ruf
Stürze den dampfenden Acker. Bläst zum Sturme mit Schmettern.
Sause, brause, Wind in Flammen, Sause, brause, Wind in Flammen,
Eisen glühe, Funken sprühe, Eisen glühe, Funken sprühe,
Hammer, Hammer, schweiß zusammen! Hammer, Hammer, schweiß zusammen!
Schmied, schlage hieher! Schmied, schlage hieher!
3. Mit Gunst zum dritten! Eisen in Not,
Füge dich, krümme dich meinem Gebot,
Biege dich, schmiege dich, Eisen so rot!
Werde zur Spitze an Lanze und Speer,
Fordre den Feind in die Schranken,
Schlage ihm Wunden, blutig und schwer,
Ohne im Sattel zu wanken
Sause, brause, Wind in Flammen,
Eisen glühe, Funken sprühe,
Hammer, Hammer, schweiß zusammen!
Schmied, schlage hieher!
Aus „Der Rattenfänger von Hameln“ von Jul. Wolff. Dieser ist geb. zu Quedlinburg 1834;
er lebt in Berlin.)
44. Heerbannlied.
1. Ernst ist mein Sinn und schlicht und recht,
Mein Bart ist gleich dem Flachse,
In Dün' und Wald blüht mein Geschlecht,
Daß übers Meer es hs S
Ich bin der Sachse.
2. Mein Bart ist rot, der Berg mein Schloß,
Mir blüht des Liedes Gabe;
Die Sturmfahn' schwing' ich; Schwert und Roß
Sie gehn mit mir zu Grabe —
Ich bin der Schwabe.
3. Mein Mark ist stark, ist Löwenmaͤrk,
Kein andrer Stamm ist freier.
Komm her, kein Teufel ist so starkf,
Noch 3 ein Herz getreuer —
Ich bin der Bayer.
4. Ein blanker Stahl ist meine Brust,
Doch fröhlich mein Gedanke,
Am Reigen hab' ich meine Lust
Und einem feinem Tranke —
Ich bin der Franke.
—2*
15. Zu Pferd! zu Pferd! — 46. Deutschland über alles.
5. Nach Süd, Ost, West, Nord stehn wir hier
Zum Schutz der deutschen Eiche,
Und rauscht Sankt Michaels Panier,
Sind unsre Schwerterstreiche
Ein Hort dem Reiche.
6. Die Feinde schicken wir nachhaus,
Bedeckt mit Blut und Schrammen;
Und kommt die Hölle selbst zum Strauß,
Wir lachen ihrer Flammen
Und stehn zusammen.
Germann Lingg, geb. 1820 zu Lindau, lebt in München.)
45. Zu Bferd! zu Mferd!
1. Zu Pferd! zu Pferd! Es saust der Wind!
Schneewolken, düstre, jagen!
Die schütten nun den Winter aus!
Zu Pferd! zu Pferd! durch Saus und Braus
Die heiße Brust zu tragen!
2. Mit krausen VNüstern prüft das Roß
Die Luft, dann wiehert's mutig;
Nur wie ich herrsche, dient das Tier;
Ein Druck — von dannen fliegt's mit mir,
Als wär' mein Sporn schon blutig.
3. In meinem Mantel wühlt der Wind,
Er raubt mir fast die Mütze;
Ich hab' ihn gern auf meiner Spur;
An seiner Wut erprob' ich's nur,
Wie fest ich oben sitze.
Friedrich Sebbel, geb. 1813 in Dithmarschen, 713. Dez. 1863 zu Wien, bedeutender dramatischer Dichter.)
16. Deutschland über alles.
1. Deutschland, Deutschland über alles, 3. Schlaue Netze sind gewoben,
Nur für Deutschland in den Streit. Manchem ward der Sinn berückt,
Feinde freu'n sich unsers Falles, Doch der Trug ist bald zerstoben,
Sehn sie Fürst und Volk entzweit. Wenn ihr rasch die Schwerter zückt.
Greift zur Wehr und laut erschall' es: Greift zur Wehr und laut erschall' es:
Deutschland, Deutschland über alles! Deutschland, Deutschland über alles!
ZSelbst der Freiheit bleicht der Glanz, Selbst der Freiheit bleicht der Glanz,
Darben wir des Vaterlands. Darben wir des Vaterlands.
2. Neider drohen unsern Marken, 4. Ist der äußre Feind geschlagen,
Deutscher Macht und Herrlichkeit; Ward uns 3 und Siegesruhm,
Ungern sehn sie uns erstarken, Weh dann allen, die sich wagen
Stiften Zwietracht, Haß und Neid. An des Volkes Eigentum.
Greift zur Wehr und laut erschall' es: Greift zur Wehr und laut erschall' es
Deutschland, Deutschland über alles! Deutschland, un über alles!
Selbst der Freiheit bleicht der Glanz, Selbst der Freiheit bleicht der Glanz,
Darben wir des Vaterlands. Darben wir des Vaterlands.
5. Deutschland, Deutschland über alles
Schönes, altgesprochnes Wort!
Tief im Herzen widerhall' es,
Tön' in Thaten fort und fort.
Greift zur Wehr und laut erschall' es
Deutschland, Deutschland über alles!
Selbst der Freiheit bleicht der Glanz,
Darben wir des Vaterlands. Marl Sinroch)
30
47. Zimmerspruch. — 48. Ein Meistergesang 1
III. Didaktische Dichtungen.
17. Zimmerspruch.
Das neue Haus ist aufgericht't, In die Stube Fleiß und Frömmigkeit,
Gedeckt, gemauert ist es nicht; In die Küche Maß und Reinlichkeit,
Noch können Regen und Sonnenschein In den Stall Gesundheit allermeist,
Von oben und überall herein; In den Keller dem Wein einen guten Geist;
Drum rufen wir zum Meister der Welt,. Die Fenster und Pforten woll' er weih'n,
Er wolle von dem Himmelszelt Daß nichts Unsel ges komm' herein,
Nur Heil und Segen gießen aus Und daß aus dieser neuen Thür
Hier über dieses off'ne Haus. Bald fromme Kindlein springen für.
Zuoberst woll' er gut Gedeih'n Nun, Maurer, deckt und mauert aus;
In die Kornböden uns verleih'n Der Segen Gottes ist im Haus.
Cudw. Uhland.)
18. Ein Aeistergesang.
Hans Sachs.
Ihr Freunde, sagt mir, wenn ihr wißt,
Wer der künstlichste Werkmann ist?
Peter Vischer).
Das ist fürwahr der Zimmermann:
Wer hat's ihm jemals gleich gethan?
Durch Schnur und Richtscheit wird ihm kund
Die höchste Zier, der tiefste Grund;
Ihn loben stattliche Lustgemächer;
Hoch strebt sein Ruhm, sowie seine Dächer.
Reich an Erfindungen ist sein Geist,
Mühlwerk und Wasserbau ihn preist,
Er schützt durch Bollwerk dich und Schanz.
Die heil'ge Schrift weiht ihm den Kranz:
Er zimmerte die starke Arch',
Drin Noah war, der Patriarch:
Wie rings auch brausete die Flut,
Er ruht' in ihr in n Hut,
Gerettet mit all den Seinen er ward,
Mit allen Tieren aller Art;
Er zimmerte u weisem Rat
Jerusalem, die Gottesstadt;
Des weisen Salomo Königshaus,
Das führt er gar mächtig und prächtig aus.
) Peter Vischer der ältere, Nürnbergs berühmtester Erzgießer, geb. um 1455,
gest. 1529, Zeitgenosse des Hans Sachs. Sein Hauptwerk ist das Sebaldusgrab in
der Sebalduskirche zu Nürnberg.
48. Ein Meistergesang.
Denkt an das Labyrinth) zum Schluß;
Wer ist geschickt wie Dädalüs)?
Michael Behaim?).
Das Holz verfault, der Stein bleibt Stein,
Der Steinmetz muß drum der erste sein.
Ringmauern baut er, kühne Türme,
Basteien auch zu Schutz und Schirme,
Gewölbe pflanzt er, die sich kühn
Aufrankend in die Lüfte ziehn,
Schwindliche Gänge, durchsichtig und fest,
Mit Säulen und Bildwerk geschmücket aufs best.
Den schiefen Turm von Pisa schaut,
Den Wilhelm von Nürnberg?) hat aufgebaut;
Zu Jerusalem der hohe Tempel,
Der trug der höchsten Vollendung Stempel.
Der Turm zu Babel,
Das Grab des Mausolus)) ist keine Fabel,
Die Pyramiden, die künstlichen Berg',
Sie überragen weit alle Werk'.
Hans Sachs.
Vermag auch Beil und Meißel viel,
Schwach sind sie gegen den Pinselkiel.
Er bringt nicht nur Häuser und Städte hervor,
Türmt Schlösser und schwindliche Warten empor —
Nein, was im Anfange Gott erschuf
Durch seines göttlichen Wortes Ruf,
Das schafft der Maler zu aller Zeit:
Gras, Laubwerk, Blumen auf Feld und Heid',
Den Vogel, wie in der Luft er schwebt,
Des Menschen Antlitz, als ob er lebt,
Labyrinth — ein verwickelter Bau mit verschlungenen und sich durchkreuzenden
Gängen, aus denen man sich schwer heraus findet. Das berühmteste ist das ägyptische
mit 3000 Gemächern, die Hälfte über, die andere Hälfte unter der Erde. Außer—
dem sind noch merkenswerth das kretische und das lemnische (auf der Insel
Samos,).
) Dädalus, eine mythische Persönlichkeit, wird als der größte Baumeister,
Bildhauer und Techniker des Altertums gepriesen. Er fertigte für sich und seinen
Sohn Ikarus künstliche Flügel, um von Kreta zu entfliehen. Ikarus stürzte ins Meer,
Dädalus entkam nach Sieilien.
3) Mich. Behaim ist ein berühmter Meistersänger; er ist geb. 1416 bei Weins—
berg WWürttemberg) und war an vielen Fürstenhöfen, zuletzt am pfälzischen zu Heidel—
berg bis 1474, von wo an über sein Leben nichts mehr bekannt ist. Er lebte also
vor Hans Sachs.
) Der schiefe Turm steht abgesondert beim Dom zu Pisa; als dessen Baumeister
gelten der Italiener Pisano und Wilhelm von Innsbruck.
5) Mausolus, König von Karien. Das demselben von seiner Gemahlin er—
richtete Grabmal (Mausoleum) zählte man unter die sieben Weltwunder.
32
48. Ein Meistergesang.
Die Elemente beherrscht er all,
Des Feuers Wut, des Meeres Schwall,
Den Teufel malt er, die Höll und den Tod,
Das Paradies, die Engel und Gott.
Das macht er durch Farben dunkel und klar,
Mit geheimen Künsten euch offenbar.
Das hebt sich mächtig durch die Schattierung
Nach einer schön entworfenen Visierung.
Er kann euch alles vor Augen stellen,
Nicht deutlicher könnt ihr es je erzählen.
Drauf muß er brüten Tag und Nacht,
In Traumgebilden sein Geist stets wacht.
Er ist an Phantasien reich
Und fast dem kühnen Dichter gleich;
Um alle Dinge weiß er wohl,
Weil er sie alle bilden soll.
Wer zu allen Dingen hat Schöpferkraft,
Den rühmt die höchste Meisterschaft.
Michael Behaim.
Du lobst den Maler mir zu hoch,
Nützlicher bleibt der Steinmetz doch.
Des Malers können wir entraten,
Er schafft von jedem Ding nur den Schatten.
Sein gemaltes Feuer wärmt uns nicht,
Seine Sonne spendet nicht Schein und Licht,
Sein Obst hat weder Schmack noch Saft,
Seine Kräuter nicht Duft und Heilungskraft,
Seine Tiere haben nicht Fleisch und Blut,
Sein Wein verleihet nicht Freud' und Mut.
Hans Sachs.
Das Sprichwort immerdar noch gilt,
Daß, wer die Kunst nicht hat, sie schilt.
Wie nützlich auch ist die Malerei,
So nenn' ich euch nur der Dinge drei.
Was uns die Geschicht als teures Vermächtnis
Bewahrte, prägt sie üns ins Gedächtnis:
Wie der Nürnberger Heer unter Schweppermann glänzte,
Wie den Dichter hier Kaiser Friedrich bekränzte; )
Wer sich auch nicht auf die Schrift versteht,
Des Malers Schrift ihm nicht entgeht:
Er lehrt, wie Bosheit uns Mißgeschick,
Wie Frömmigkeit bringt Ehr' und Glück.
Zum andern verscheuchet die Malerei
Uns der Einsamkeit Melancholei:
Sie lichtet der düstern Schwermut Schmerz,
Verklärt uns das Auge durch Lust und Scherz.
) Der hier erwähnte Dichter ist Konrad Celtes von Wipfeld (Unterfranken),
geb. 1459, gest. 1508 als Professor zu Wien. Vom Kaiser Friedrich III. wurde er
auf dem Reichstag zu Nürnberg 14807 eigenhändig als Dichter gekrönt
Marschall, Lesebuch für gewerbl. Fortbildungsschulen. Kl. Ausg.
37
49. Unterschied der Stände. — 50. Der Wegweiser
Zum dritten: jegliche Kunst erkennt
In des Malers Kunst ihr Fundament:
Dder Steinmetz, Goldschmied und der Schreiner,
Formschneider, Weber, der Werkmeister keiner
Entbehrt sie je, weshalb die Alten
Sie für die herrlichste Kunst gehalten.
Wie strahlt der Griechen Namen hell,
Zeuxis, Protogönes, Apéll)
Gott hat zum Heil dem deutschen Land
Der Künstller manchen mit hohem Verstand,
Wie Albrecht Dürer, uns gegeben,
Des Kunst verschönernd schmückt das Leben
Was er mit Fleiß gesät, erwachs'
Ihm zu reichem Segen, fleht Hans Sachs.
(Hans Sachs, geb. zu Nürnberg 1494. Schuhmacher dortselbst, 1576, der bedeutendste Meister⸗
sänger S. Nr. 88.
49. Anlterschied der Stände.
1. Bist du Sonnenblume, 3. Ob zu Glanz und Freuden
Blicke hoch hinauf, Du dein Haupt erhebst,
Doch nicht dir zum Ruhme, Ob du tief bescheiden
Nach der Sonne Lauf. Deine Düfte webst;
2. Bist du Veilchen, drück' dich 4. Ob du goldenen Samen
In dein Blättergrün, Sonnest an der Luft,
Halte still und bück' dich, Ob du ohne Namen
Laß die Sterne zieh'n Still verblüh'st in Duft:
5. Wirk' in deinem Kreise
Neidlos, ohne Zwist,
Treu in deiner Weise,
Zei nur was du bist!
Gustab Ktühne, geb. 1806 zu Magdeburg, lebt als Schriftsteller in Dresden.
67. Der Wegweiser.
1.Weilst, wo der Weg zum Mehlfass ist? 3. Weilst, wo der Weg zum LThaler ist?
Zum vollen Fass? — Im Morgenvind Der geht dem Pfennig hinterher;
AmꝑPflug durchs Feld, his Stern' um Sterno Und vwer nicht auf den Pfennig sieht,
Am Himmel aufgegangen sind. Bekommt den Thaler nimmermehr.
2. Man sieht nicht um ubd bleibt nient 4. Wo ist der Weg zur Sonntaglust?
stehn Geh' hübsch dem Werkeltage nach,
ud hackt, so lang der Vag noech da. Die Werkstatt durch, durehs Acker-
Zur Scheune dann, zur Küche dann, feld,
UInd sieb. da haben vir es ja! Der Sonntag kommt von selbst darnach.
) Drei hochberühmte Maler des Altertums. Apelles und Protogenes
lebten z.3. Alexanders d. Gr, Zeuxis (und der gleichberühmte Parrhasius)
etwa 100 Jahre früher.
51a. Thätigkeit. — h. Was not thut. 35
5. Am Samstag ist ex nicht mehr weit, 9. Wo geht der Weg zu Fried und Ehr,
Was deckt er vwohl im Körbehen zu? Zu einem guten Alter hin?
leh denk mir FPleisch zum Sonntagskohl. Grad aus, grad aus in Mälsigkeit,
Vielleicht ein Schöppehen Wein dazu. In Pflicht und Recht mit stillem Sinn!
6. Weilst, vwo der Weg zur Armut 10. Und wenn duan dem Kreuzwegstehst
geht? Und weilst nicht mehr, wo aus noch ein;
Wo Schenken sind, da sieh nur hin, Halt still. frag dein Gewissen erst,
Geh nicht vorbei 's ist guter Wein, 's kann deutsch, Gottlob! drum folg ibm
Sinch nagelneue Karten drin. fein.
7. Im letzten Wirtshaus hängt ein Sack, 11. Wo mag der Weg zum Kirchhbof
Ind gehst du fort, so häng ihn an; sein? —
„Du alter Lump, wie steht dir nicht Was fragst du noch, du liebe Seel'?
Der Bettelsack so zierlich an!“ Geh, wo du villst! zum kühlen Grund
8. Find'st aueh ein Schüsselchen von uhrt joder Won, du gehist nieht fehl.
Holz. 12. Doch wandle du in Gottesfurcht!
Verlier es nicht, und was ich bitt', Das ist mein guter Rat dabei.
Wenn du beim Wasser gebst vorbei Der Ort hat ein geheimes Thor,
Und trinken villsst, so schöpf damit! Dahinter gibt's noch mancherlei!
Gediehtet in alemannischer Mundart von Joh. Pet. Hebel geb. 1760 zu Basel, als
badischer Konsistorialpräsident zu Rarlsruhe auf einer Inspectionsreise am 22. September
1826 in Schwetzingen], hochdeutsch von Rob. Reiniek.)
51 a. Thãtigkeit.
1. Der Strom, sonst reich an vollen Wogen,
Floß träg dahin, um auszuruh'n;
Da kam der strenge Frost gezogen
Und schlägt ihn leicht in Fesseln nun.
2. Wie mancher, der durch träge Schwäche
So glatt, doch kalt und herzlos ward.
Wie mancher gleicht der toten Fläche,
Die warnend mir entgegen starrt!
3. Erstarren kann nur, was verflacht ist,
Die Well' als Welle friert nicht ein;
Wer sich zu rühren stets bedacht ist,
Wird nimmer kalt und fühllos sein.
b. Was not thut.
1. Willst Gutes du und Schönes schaffen,
Das lebensvoll das Leben mehre,
Mußt du dich ernst zusammenraffen
Und darfst nicht scheun der Arbeit Schwere.
2. Da hilft kein Schwärmen bloß und Hoffen,
Kein Traum von künftiger Entfaltung;
Nein, ringen mußt du mit den Stoffen,
Und stark sie zwingen zur Gestaltung.
Julius vammer, geb. 1810 zu Dresden, J25 Aug. 1862 zu Pillnitz.)
36 52. Versuche dich. — 53. Die Hoffnung. — 54 „Aus Weisheit des Brahmanen“.
52. Versuche dich.
Versuche dich mit deinen jungen Kräften.
Was du vermagst und was du kannst,
Zu welchen Werken, welcherlei Geschäften
Du von Natur den Trieb gewannst.
Du bist ein freier Baum;
Sieh wo du stehst, wie weit dein Schatten deckt den Raum!
Nicht schön'res Laub, nicht stärkern Ast
Erhoff', als von Natur
Du Kraft und Trieb in dir hervorzubringen hast.
Miß deine Grenzen mit der Schnur
Und wäge dir die Last
Auf eigner Schulter, nicht mit bloßer Schätzung nur.
Du traägst mit Lust, wirst du bescheiden wagen;
Wagst du zu viel, wirst du mit Mühe tragen.
(Johannes Schrott, lebt als Kanonikus zu St. Cajetan in München.)
53. Die Hoffnung.
. Es reden und träumen die Menschen viel 2. Die Hoffnung führt ihn ins Leben ein,
Von besseren künftigen Tagen; Sie umflattert den fröhlichen Knaben,
Nach einem glücklichen, goldenen Ziel Den Jüngling begeistert ihr Zauberschein
Sieht man sie rennen und jagen. Sie wird mit dem Greis nicht begraben
Die Welt wird alt und wird wieder jung; Denn beschließt er im Grabe den müden Lauf,
Doch der Mensch hofft immer Verbesserung. Noch im Grabe pflanzt er — die Hoffnung auf.
3. Es ist kein leerer, schmeichelnder Wahn,
Erzeugt im Gehirne des Thoren;
Im Herzen kündet es laut sich an:
Zu was Besserem sind wir geboren,
Und was die innere Stimme spricht,
Das täufcht die hoffende Seele nicht.
Friedr. v. Schiller, nächst Goethe der größte Dichter der deutfchen Nation, geb. 10. Nov. 1759
zu Marbach Württembergl, 9. Mai 1805 zu Weimar.
54. „Aus Weisheit des Brahmanen“.
Arbeitsam uillst du sein, doch nieht Erholumq missen,
d beides möchtest du recht ausgeglichen wissen.
Lass dir empfellen, was Erfahrumgq mir empfollen:
Von einer Arbeit dient die andere aum Ersholen.
2.
WVer mn Erholumg recht uweiss Arbeit dusaugleichen,
on rmiding wohl ein rechtes Liel erreichen
Mm Thor ist, wer anstautt Erholumg seiner Krãfte
Z uα, selbst macht Erholung aum Gesclftq.
Ein Weiber ist, wer Schera umnd Ernst æu ναrν α
Ind sieh am heitern Miel neu stärkt au rengem Hleiss.
Noch weiser doch ist, ier sich soloh ein Mieliverst maclit,
Woduroh ein Tageuwerha selbst weiter wird gebracht.
Der erste Lunn eu nichts, der andere weit es bringen,
Docai n dem dritten wird Voreigqliclies gelingen.
55. Sprüche. 7
3.
Geh, wenn du hast am Tag im Hause sptill au thum,
Am Abend aus; das ist der Weg um auseαrν
Die Ruh ermũdete, Bewegumng ruhet dus,
UInd æu der Abendruh' helurst du gestärht nachhanus.
Und einen frischern Strauss, als du mit Runst geschmücht
Danheim, brinqst du nach Haus, auf Gottes Flu gepflũcht.
Thuꝰ wa d ννt, und lass dus andere dem, ders hLamnm;
Z jel gqun erh gehört ein ganger Mann.
Auο Llften mauchen aiur ein Gunes, aber merl:
Aus halb und hulb gethan entstelit hein ganges Werh.
A e vl ist beides ein Verdruss,
S fehl ist uberm Liel wie unterm Ziel ein Scluuss.
A νν vel ist gleich selir unvονm
Im Ernst isst und im Siel das rechte Maso willlommen.
5.
En du ein Werk beginnst, sieli eu, ob auoh die Rrone
Die es verheisst, der Mul, die es erfordert, lohne.
Bist du erst mitten drin und nimmst es dann au Sinn
ZA ũt, α d αα ν, ist dann nur Ongewinn.
Denn wenn du abstehot, hast du dich umsonst geplagt,
Dnd setæest du es fort, so ist noch melir gerut. riedr. Rũokert.
55. Sprüche.
. Schaff, als ob des Lebens Rot nie von deinen Wangen schwände;
Aber leb, als ob der Tod schon vor deiner Thüre stände.
2. Klug zu reden ist oft schwer, klug zu schweigen oft noch mehr.
Wer über andre Schlechtes hört,
Soll es nicht weiter noch verkünden.
Gar leicht wird Menschenglück zerstört;
Doch schwer ist Menschenglück zu gründen.
Es ist ein Wahn, zu glauben, daß Unglück den Menschen besser macht.
Es hat dies ganz den Sinn, als ob der Rost ein scharfes Messer macht,
Der Schmutz die Reinlichkeit befördert, der Schlamm ein klares Gewässer macht.
Hbre, was der Volksmund spricht:
Wer die Wahrheit liebt, der muß schon sein Pferd am Zügel haben;
Wer die Wahrheit denkt, der muß schon den Fuß im Bügel haben;
Wer die Wahrheit spricht, der muß statt der Arme Flügel haben.
Und doch singt Mirza-Schaffy: Wer da lügt, muß Prügel haben.
. Der kluge Mann schweift nicht nach dem Fernen, um Nahes zu finden,
Und seine Hand greift nicht nach den Sternen, um Licht anzuzünden.
7. Wer alles aufs Spiel gesetzt, hat sicher zu viel gesetzt.
Wohl besser ist's, ohn' Anerkennung leben
Und durch Verdienst des Höchsten wert zu sein,
Als unverdient zum Höchsten sich erheben,
Groß vor der Welt und vor sich selber klein.
Fried. Bodenstedt, geb. zu Peine Hannover] 1819, lebt in München.)
3
38
56. Der Vater an seinen Sohn. — 58. Rätsel.
56. Der Vater an seinen Sohn.
(Bei der Übergabe einer Uhr.)
1. Deine Tag' und Stunden flossen, 4. Sohn! der Tag hat Stunden viele
Nicht gemessen, nur gegpyssen, So zur Arbeit wie zum Spiele;
Nicht gezählt nach Schlag und Uhr, Gib das seine jedem nur,
Wie ein Bach durch Wiesenflur. Und du freuest dich der Uhr.
2. Aber ernster wird das Leben, 5. Selber hab' ich mit den Stunden
Und ich will die Uhr dir geben; Mich so weit nun abgefunden,
Trage sie wie ich sie trug, Daß ich ohne Glockenschlag
Unzerbrochen lang genug! Sie nach Notdurft ordnen mag.
3. Daß sie dir mit keinem Schlage 6. Zähle du für mich die Stunden!
Von verlornen Stunden sage! Und auch jene, die geschwunden,
Unersetzlich ist Verlust Kehren schöner mir zurück,
Des Geschäfts und auch der Lust. Wie du sie dir zählst im Glück.
(Friedr. Rückert.)
57. Abschiedsworte eines Vaters an seinen Sohn.
1. Du wanderst in die Welt hinaus 4. Nimm auf die Schultern Last
Auf dir noch fremden Wegen; und Müh'
Doch folgt dir aus dem stillen Haus Mit frohem Gottvertrauen!
Der treusten Liebe Segen. Und lerne, wirkend spät und früh,
Den eignen Herd dir bauen.
2. Ein Ende nahm das leichte Spiel, 5. Halt hoch das Haupt, was dir
Es naht der Ernst des Lebens; auch droht,
Behalt im Auge fest dein Ziel, Und werde nie zum Knechte;
Geh keinen Schritt vergebens. Brich mit dem Armen gern dein Brot
Und wahre seine Rechte.
3. Gerader Weg, gerades Wort, 6. Treib nicht mit heil'gen Dingen Spott
So will's dem Mann gebühren: Und ehre fremden Glauben
Wer Ehre sich erwählt zum Hort, Und laß dir deinen Herrn und Gott
Den kann kein Schalk verführen. Von keinem Zweifler rauben.
7. Und nun, ein letzter Druck der Hand
Und eine letzte Bitte:
Halt dich getreu im fremden Land
Zu deines Volkes Sitte.
(ul. Sturm.)
58. Rätsel.
L.
Ich rede ohne Zunge,
Ich schreie ohne Lunge,
Ich habe auch kein Herz
Und nehm' doch teil an Freud und Schmerz.
59. Sprüche in Reimen. )
2.
Es ist nicht in Spanien, sondern in Oranien;
Es ist nicht in Wien, sondern in Berlin;
Es ist nicht im Main, wohl aber im Rhein;
Es ist nicht in Meißen, wohl aber in Preußen;
Es ist kein Dorf so klein, dies Ding muß drinnen sein
(1u. 2 aus K. Simrocks deutschem Rätselbuch.)
Kennt ihr, von Frost und Sonnenschein
Geschützt, ein Häuschen zart und klein?
Kennt ihr die wundervolle Stadt,
Die tausend solcher Häuser hat?
Sie ist mit Garnison besetzt,
Die täglich ihre Waffen wetzt;
Sonst treibt sie reich Gewerb; es blühen
Weit ihre reichen Kolonien,
Und alle Zölle ein und aus
Führt sie ihr süßes Gut nachhaus
Sie lehret uns, daß edle Triebe,
Daß stiller Fleiß und Ordnungsliebe,
Daß Treu und Ehrfurcht vor dem Throne
Am liebsten unterm Strohdach wohne.
(J. P. Hebel.)
59. Sprüche in Reimen.
.Ein Kranz ist gar viel leichter binden, 8. Nicht größern Vorteil wüßt' ich zu
Als ihm ein würdig Haupt zu finden. nennen,
2. Wenn jemand sich wohl im Kleinen däucht, Als des Feindes Verdienst erkennen.
So denke, der hat ein uben erreicht. 9. Mancherlei hast du verfäumet,
Alles in der Welt läßt sich ertragen, Statt zu handeln, hast geträumet,
Nur nicht eine Reihe von schönen Tagen. Statt zu denken, hast geschwiegen,
Wohl unglückselig ist der Mann, Solltest wandern, bliebest liegen.
Der unterläßt das, was er kann, e2
mcsin sch. wan er nicht ver⸗ 10. Die Welt ist nicht aus Brei und Mus
seht; geschaffen;
Kein Wunder, daß er zu Grunde Deswegen haltet wie Schla⸗
geht. Harte Bissen gibt es zu kauen:
5. Was gibt uns wohl den schönsten Frieden, Wir müssen erwürgen oder sie verdauen.
Als frei am eignen Glück zu schmieden.
Man kann nicht immer zusammenstehn, 11. den ringt.
Am wenigsten mit großen Haufen ge vr
Seine Freunde, die läßt man gehn; nnes und 9a
Die Menge läßt man laufen. Ihm Gott zum Willen gab.
. Entzwei und gebiete! Tüchtig Wort; 12. Habt ihr gelogen in Wort und Schrift,
Verein und leite! Bess'rer Hort. Andern ist es und euch ein Gift.
30
0 60. Sprichwörter.
13. Wer etwas taugt, der schweige still, 16. Jedem redlichen Bemühn
Im Stillen gibt sich's schon; Sei Beharrlichkeit verliehn.
Es gilt, man stelle sich, wie man will,
Doch endlich die Person 17. Wer mit dem Leben spielt,
14 Glaube dich nicht allzu gut gebettet; Kommt nie zurecht;
Ein gewarnter Mann ist halb gerettet. Wer sich nicht selbst befiehlt,
15. Willst du dir ein hübsch Leben zimmern, Bleiht thmer vin VNnbit
Mußt ums Vergangne dich nicht be—
kümmern. 18. Gut verloren — etwas verloren!
Und wäre dir auch was verloren. Mußt rasch dich besinnen
Mußt immer thun wie neu geboren Und neues gewinnen.
Was jeder Tag will, wird er sagen; Ehre verloren — viel verloren!
Mußt dich an eignem Thun ergötzen; Mußt Ruhm gewinnen,
Was andre thun, das wirst du schätzen; Da werden die Leute sich anders besinnen.
Besonders keinen Menschen hassen Mut verloren — alles verloren!
Und das Übrige Gott überlassen. Da wär' es besser nicht geboren.
(Joh. Wolfg. v. Goethe.)
60. Sprichwörter.
1. Arbeit hat allezeit Vorrat
2. Arbeit hat bittere Wurzel, aber süße Frucht.
3. Wo Arbeit das Haus bewacht, darf Armut nicht hinein.
1. Der Jugend Fleiß, des Alters Preis.
5. Dem Fleiße würzt Gott die Speise.
b. Dem Fleißigen guckt zwar der Hunger manchmal zum Fenster hinein, aber ins
Haus kommt er nicht.
7. Müßiggang in der Jugend, Arbeit im Alter.
8. Ordnung ist das halbe Leben.
9. Wer sich im Alter wärmen will, muß in der Jugend einen Ofen bauen.
10. Das Gewissen ist des Menschen Schuldbuch.
11. Jeder ist seines Glückes Schmied.
12. Man spielt sich eher zehnmal arm, als einmal reich.
13. Mit vielem hält man haus; mit wenigem kommt man aus
14. Handwerk hat einen goldnen Boden.
15. Nutzbare Kunst bringt Brot und Gunst.
16. Die Einigkeit baut ein Haus, die Zwietracht reißt es nieder
7. Wer viel anfängt, endet wenig.
18. Die uns lehren, müssen wir ehren.
19. Man muß unicht eher fliegen wollen, als bis einem die Flügel gewachsen sind
20. Machst du's gut, so hast du's gut; machst du's schlecht, geschieht's dir recht.
(6. Serzog, das Sprichwort.)
II. Erzählungen.
61. Die drei Hausräte.
„Möcht' nur wissen, wie Ihr's anfangt, Nachbar, daß Euer Haus—
wesen so wohl bestellt ist, und man findet doch nichts Besonderes an Euch
und an dem, was bei Euch vorgeht? Wir andern arbeiten doch auch und
lassen's uns sauer werden, wenn's an den Mann geht, und doch will's
nicht flecken. Der Nachbar antwortete: „Da wüßt' ich nicht, was schuld
daran sein sollte; es müßten denn gerade meine drei Hausräte sein, denen
ich alles zu verdanken habe!“ — „Eure drei Hausräte? Wer sind denn die?“
„Run — der Haushahn, die Hauskatze und der Haushund. — „Geht
mir, Jor spasset!“ „Nein, nein, s ist purer Ernst. In aller Frühe, wenn
der Tag anbricht, kommt der Haushahn und ruft: „Aufgestanden!“
Darnach kommt die Hauskatz', sitzt hinter den Ofen und putzt sich, die ruft:
„Aufgeputzt!“ Und endlich der Haushund; — der merkt auf jedermanns
Ein-⸗ und Ausgang, keunt Freund und Feind und ruft: „Aufg epaßt!“
Aha! Ich verstehe, Nachbar, was Ihr damit sagen wollt! Ihr meinet,
daß drei Dinge notwendig sind, um ein Hauswesen emporzubringen und in
guten Stand zu halten: Fleiß, Reinlichkeit und Achtsamkeit!“
„Wenn Ihr's so nehmen wollt, ist mir's auch recht; aber meine Hausräte
lob' ich drum, weil sie mich alle Tage gemahnen, was zu thun ist; — ich
könnt's sonst leicht vergessen.“
Karl vseinr. Caspari, geb. 1815 zu Eschau (Unterfr.), 10. Mai 1861 als Pfarrer zu Müuchen)
62. Nichts und etwas.
Von zwei unbemittelten Brüdern hatte der eine keine Lust und keinen
Mut, etwas zu erwerben, weil ihm das Geld niecht zu den Fenstern hinein-
regnete. Er sagte immer: „Wo niehts ist, kommt niebts hin.“
Und so war es auch. Er blieb sein Leben lang der arme Bruder Wonichtsist,
Geil es ihm nie der Mühe wert war, mit einem kleinen Ersparnis den
Anfang zu machen, um nach und nach zu einem grossen Vermögen zu
kommen.
so dachte der jüngere Bruder nieht. Der pflegte zu sagen: „Was
niehbt ist, das kKanun werden.“ Er hielt das Wenige, vas ihm von
der Verlassenschaft seiner Eltern zu teil worden war, zu Rat und ver-
mehrte es naen und nach dureh eigenes Ersparnis, indem er fleilsig
arbeitete und eingezogen lebte. Anfänglieb ging es hart und langsam.
63. Zwei Meister.
Aber sein Sprichwort: „Was nicht ist, kann werden“, gab ihm immer
Mut und Hoffnung. NMit der Zeit ging es besser. Er wurde durch
unverdrossenen Fleiss noch ein reicher Mann und ernährt jetzt die Kinder
des armen Bruders Wonichtsist, der selber nichts zu beilsen und zu
nagen hat. Joh. Peter Hebel.)
63. Zwei Weister.
1. Der Kupferschmied Großkopf sagte mir schon vor 20 Jahren:
„Aus meinen beiden Buben soll's was Rechtes geben: Staatsmann, Doktor
oder Pfarrer. Sie sollen studieren! Zum Handwerker taugen sie nicht;
schwere Arbeit lieben sie nicht; Handwerk bringt nur mäßigen Gewinn. Ich
halte die Knaben fleißig zur Schule an; das ist die Pflicht verständiger
Eltern!“
Meister Großkopf hielt Wort. War freilich ein etwas eitler Mann,
kleidete sich gern zierlich, hatte den Sinn nach hohen Dingen, sprach wie
ein Gelehrter und seufzte manchmal über seinen Vater, der ihm doch ein
schönes Vermögen hinterlassen hatte. „Aber hätte ich studieren dürfen, ich
wäre jetzt ein anderer Mann,“ sagte Meister Großkopf.
Was ist aus seinen Herren Söhnen geworden? Sie hatten wenig
Talent und wenig Fleiß, verstudierten viel Geld und wurden Halbstudierte.
Der eine ist jetzt armer Schreiber oder Kopist auf einer Kanzlei, der andere
Soldat im neapolitanischen Dienst. Meister Großkopf hat falliert und ist
unter hohen Dingen ein niederer Mann geworden, der vom Stadtarmen—
säckel unterstützt wird.
Es leben bei uns noch mehr dergleichen Großköpfe. Ehrliches Hand—
werk ist ihnen zu schlecht. Sie wollen große Herren werden, treiben bald
dies, bald das und nichts recht, weil sie nichts gehörig verstehen. Wird ein
Pöstlein in der Stadt offen, melden sich dieser Leute ein Dutzend. Sie
gehen gern spazieren; ihre Frauen wollen gerne stolzieren. Hochmut führt
zuletzt immer zu anderem Mut, nämlich zu Armut, Demut und Wehmut.
2. Ich wollte, unsere Handwerker machten es insgesamt wie Meister
Wunderlich, der Dreher. Er ist ein eigener Mann in seiner Art. Als er
nach zurückgelegter Wanderzeit aus der Fremde zurückkam, besaß er kaum
soviel, sich das nötige Werkzeug anzuschaffen. Er hatte in London, Paris
und Lyon gearbeitet und sein Geld verthan, aber nicht bei Spiel und Wein,
sondern bei angekauften Zeichnungen, Bildern, Rissen und Büchern.
Er arbeitete Tag und Nacht und arbeitete zierlich, das mußte man
gestehen. Er machte allerlei Waren aus Holz, wie noch nie in Altenkasten
zu sehen gewesen waren. Anfangs besuchte er die Märkte der benachbarten
Städte selbst; dann bekam er von auswärts soviel Bestellungen, daß er
daheim blieb und seine Frau schickte. Diese war eine arme Bürgerstochter,
aber eine der besten, nämlich eine flinke, fleißige Haushälterin.
64 Mut über Gut.
Meister Wunderlich ward nach und nach bemittelt und wohlhabend,
aber er ging in kein Wirtshaus. Wollt er sich gütlich thun, that er's
bei Weib und Kind. Von kostbarem Hausrat, zierlichen Kleidern, von
gutem Tisch wußte man bei ihm nichts, aber von großer Ordnung und
strenger Reinlichkeit.
Und doch legte er Geld an Zins. Man hielt ihn für geizig. Das war
er nicht. Er half mancham armen Meister, sobald der arbeiten wollte, und
seinen Sohn, der ihm lange in der Werkstatt geholfen, schickte er auswärts
in eine Art Gewerbeschule oder Realschule, um noch Mathematik, Zeichnen
u. s. w. zu lernen.
Also wieder ein Hochmutsnarr mehr! dachte mancher und ich selber,
wieder einer, der sich über sein Handwerk erheben will.
Man irrte sich, und ich mich auch. „Mein Sohn muß Handwerker
werden wie ich!“ sagte er. Er, wie sein Sohn, gehören jetzt zu den wohl—
habendsten Bürgern. Der Sohn wohnt in dem hübschen Hause vor dem
beren Thore, wo der Kanal die Räder der Werlstätte treibt. Er hat eine
Menge Arbeiter und baut gegenwärtig zwei große Gebäude für sein Geschäft.
Er ist Mechaniker und verfertigt Maschinen von allerlei Gattungen für
Fabriken, Spinnereien, Bergwerke und Wasserwerke, lebt aber so einfach
wie sein Vater.
Meister Wunderlich spricht nicht viel, aber weiß zu allem, wenn's not
thut, mit Rat und That an die Hand zu gehen. Man wollte ihn schon vor
drei Jahren in unsern Stadtrat wählen. Er schlug das aus und sagte:
„Der Drehstuhl verträgt sich nicht mit dem Ratsherrnstuhl; einer richtet
den andern zugrunde. Gut gehorchen ist leichter, als gut befehlen. Ich
will lieber Meister sein in meinem Fach, als Lehrling in einem andern.“
Geinr. Zscholle, geb. 1771 zu Magdeburg, 1818 zu Aarau.)
64. Mut über Gut.
Es war einmal ein armer Handwerksmann, ein Leinweber, der saß
täglich schon in aller Frühe in seiner Werkstatt und arbeitete. Und wie er
denn allezeit fröhlichen Mutes war, so sang er zum Zeitvertreib nebenbei
manch schönes weltliches oder geistliches Liedlein, je nachdem es ihm just
ums Herz war, und er hatte eine so klare und volle Stimme, daß die
Nachbarn keines Haushahns bedurften, der sie aufweckte.
Ties war aber eben dem reichen Kaufmann nicht recht, der neben ihm
wohnte; denn wenn der vor Mitternacht nicht schlafen konnte wegen Geld—
sorgen, jo mußte er nach Mitternacht noch wach bleiben wegen des ver⸗
maledeiten Singsangs des Nachbars. Er dachte daher ernstlich darauf, dem
Unfug ein Ende zu machen. Verbieten konnte er's ihm nicht; denn das
Singen gehört wie das Beten und Arbeiten zum Hausrecht, darin niemand
gestört werden darf. Also mußte er andere Mittel gebrauchen. Er ließ
den Handwerker kommen und fragte ihn, wie hoch er sein Singen anschlage.
Der meinte, einen Tagelohn sei es sicherlich wert, da es ihm das Tagewerk
65. Was aus einem braven Handwerker werden kann.
selbst so leicht mache. Jener fragte weiter, wie viel das betrage. Der
Handwerksmann antwortete: „So und so viel“, und es war doch noch nicht
viel. Darauf sagte der Kaufherr, er wolle ihn einen Monat lang zum
voraus bezahlen, nicht für das Singen, sondern daß er still sei und das
Maul halte. Und er legte ihm das Geld hin. Der Leinweber dachte bei
sich, leichter könne man sich's nicht verdienen, und er nahm das Geld und
versprach, daß er still sein wolle wie ein Mäuslein in seiner Werkstatt.
Als er mit dem Gelde nach Hause gekommen, überzählte er es voller
Freuden, und es war lauter gute Münze und so viel, als er noch niemals
zugleich beisammen gehabt hatte. Abends ehe er schlafen ging, liebäugelte
er noch ein gutes Stündlein mit seinem Gelde, und nachts legte er es
unter sein Kissen, damit es ihm nicht etwa ein Dieb rauben könnte, und
um Mitternacht hatte er es noch im Kopfe und sann nach, was er damit
anfangen und wieviel er gewinnen könne an Kapital und Zinsen. Bei Tage
war ihm nicht wohl; sein Kopf war wüst von Nachtwachen und Sorgen,
seine Hand schwer und lässig und versagte ihm den Dienst, und er durfte
nicht singen. Die Zeit ging langsam und träg vorüber, so daß er den Tag
kaum erwarten konnte. Inzwischen hatte er es bei sich bedacht, und er war
kurz entschlossen. Denn wer schon um 8 Uhr in des Kaufherrn Laden
stand, das war unser Leinweber. „Herr, mit Vergunst,“ sagte er und warf
das Geld hin, „da habt Ihr Euern Plunder wieder; der Kobold läßt mich
nicht schlafen.“ Und ehe noch der Kaufherr eine Widerrede thun konnte,
war der Weber schon vor der Thür und sang:
Ein frischer, froher Mut
Geht über Geld und Gut
Trilirum, Tralarum.
Ludw. Aurbacher, geb. 1784 zu Türkheim [Schwaben], Benediltinerpater, dann Professor am
Kadettenkorvs zu München, 4 daselbst 28. Mai 1847.)
65. Was aus einem braven Handwerker werden kann.
In dem Dorfe Kippenheim bei Lahr lebten in den sechziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts ein Paar Eheleute, schlichte und rechtliche Leute,
die das Wörtlein des Herrn im Herzen trugen: „Wandle vor mir und sei
fromm.“ Sie hatten ein Söhnlein, krausgliedrig und zart wie ein Nonnen—
zwirn, und wie alle Welt sagte: „Der kann nur ein Schneider werden;
denn der liebe Gott hat ihm das Schneidersiegel aufgedrückt.“ Das wurde
den guten Eheleuten, die Stulz hießen, so oft gesagt, daß sie am Ende
glaubten, wie ans Evangelium, ihr Jörgel müsse ein Schneider werden.
Sie waren arm, konnten aber doch so viel davon bringen, daß sie das Lehr—
geld erschwangen, und Jörgel wurde ein Schneider. Andere Leute meinten
aber wieder, es sei doch schade um den guten Kopf des Jungen, der wohl
zu mehr tauge als zum Schneider.
Diese aber dachten nicht daran, daß auch ein Schneider, wenn er ein
rechter ist und nicht bei dem Schnitt seiner Wanderzeit bleibt, sondern mit
65. Was aus einem braven Handwerker werden kann
der Zeit fortschreitet, etwas werden kann. In dem Jörgel Stulz aber
steckte so einer; denn der Junge hatte viel Verstand, hatte Schönheitssinn
und Gewandtheit. Sein Meister lobte ihn ganz grausam, wie man dort—
herum sich ausdrückt; allein dies Lob galt nicht bloß seiner Gelehrigkeit,
sondern auch seinem Gehorsam, seiner Gefälligkeit und seinen guten Sitten.
Es zeigte sich auch da wieder, daß Redlichkeit und Gefälligkeit gegen jeder—
mann ein Schlüssel ist, der nicht nur alle Thüren, sondern auch alle Herzen
aufschließt.
Als die Lehrzeit aus war, ist unser Stulzchen, dem der Sinn in die
weite Welt stand, auf die Wanderschaft gegangen. Geld hat er wenig mit—
genommen, aber sehr gute Zeugnisse vom Meister, vom Amtmann und
Pfarrer, aber was mehr wert war, auch Frömmigkeit und guter Eltern
Segen. Von dem sagt die Schrift: er baut den Kindern Häuser, und bei
meiner Treu! dem Jörgel Stulz hat er sie gebaut!
Der ist dann nach der Schweiz gewandert, hat überall gearbeitet und
gelernt, war überall gern gesehen und wert gehalten und ist darauf nach
Frankreich gegangen. In Paris hat er erst recht sich einen feinen Geschmack
berschafft. Da er sparsam war und die Kneipen- und Herbergswirtschaft
mied, sparte er sich schon ein schönes Stück Geld, schickte seinen lieben
Eltern regelmäßig Unterstützungen und ließ keinen Armen ohne eine Gabe;
denn er wußte selbst auch, wie das Hungerbrot schmeckt. In Frankreich
behagte ihm die Wirtschaft nicht. Er machte sich daher auf die Beine
und ging nach England — das heißt, er ging ans Meer, und dann fuhr
er hinüber.
überall kann man geschickte Leute brauchen, absonderlich in London,
wo man auf ein schönes Kleid etwas hält und es auch nicht knickerig
bezahr..
Durch seine Geschicklichkeit wurde er Geselle beim Hofschneider und
darauf der Obergeselle, nämlich der, welcher zuschneidet. Er war auch
mittlerwe.. gewachsen und ein hübscher Mensch geworden, der sich nett
kleidete und andere noch netter zu kleiden, besonders aber kleine Naturfehler
herrlige, verstecken verstand. Das zieht bei den vornehmen Leuten, die
den Verorun dsen.
er en Jahren starb sein Meister, der Hofschneider, und er wurde
es wv von England, Georg der Vierte, der auch ein Freund
bon onen „eidern war, gewann ihn erstaunlich lieb.
i „d wie anderwärts drehen sich alle Fahnen nach dem Winde,
der vom Schloß weht. Der reiche englische Adel wollte nun auch nur vom
Meiser Stulz gekleidet sein. Der aber suchte sich fast lauter tüchtige deutsche
Gesellen zu verschaffen; denn die Deutschen sind in England als die besten
Arbeiter bekannt und beliebt. Der Stulz hielt sich gut, hatte die feinste
und beste Ware, arbeitete nach dem besten und neuesten Geschmacke und
nahm Geld ein über die Maßen, obwohl er niemals jemand übernahm.
16 65. Was aus einem braven Handwerker werden kann
So lange seine Eltern lebten, überhäufte er sie mit Wohlthaten, und
gar manche leidende Seele segnete den deutschen Schneider.
Was sagt ihr aber dazu, liebe Leser, wenn ich euch melde, daß der
Georg Stulz aus Kippenheim im Laufe von dreißig Jahren ein Vermögen
erworben hat, das sich auf mehr denn eine Million belief? Aer es ist
wahrhaftig wahr!
Als aber die fünfzig Lebensjahre hinter ihm lagen, und es bergab
ging, fand er, daß die Luft in England, die feucht, dick und nebelig ist,
seiner Gesundheit schlecht bekam. Er hing nun Schere und Bügeleisen an
den Nagel und ließ sich in Hyoeͤres im südlichen Frankreich nieder, wo eine
gar gesunde Luft ist, und Leute, die bei uns schnell an der Auszehrung
sterben würden, noch viele Jahre leben können, weswegen auch viele reiche
Leute hinziehen. Er kaufte sich dort ein fürstliches Landgut und war ein
großer Herr — aber niemals stolz; denn er erzählte seinen Gästen gar gern
von seiner Herkunft, seinem Handwerk, und wie er sich geplagt.
Daß ihr nun wißt, wie ungeheuer reich er war, ist noch nicht alles.
Die Hauptsache ist, wie er seinen Reichtum anwandte. Ich habe euch schon
erzählt, daß Wohlthun sein höchstes Glück war. Es ist aber auch über die
Maßen, wie er Wohlthaten spendete. In Marseille steht eine evangelische
Kirche, die hat er fast allein aus seinen Mitteln erbaut. Die Bibelgesell—
schaft hat er reich begabt; der katholischen Kirche in Hyères ließ er eine
kostbare Orgel bauen, ließ in der Stadt die Brunnen herstellen, neue
graben, stiftete ein Hospital und dergleichen herrliche Anstalten. Und daß
ein solcher Mann seinen Geburtsort nicht vergaß, versteht sich wohl von selbst.
Wenn ihr einmal nach Kippenheim kommt und den Namen Georg Stulz
nennt, so ziehen die Leute die Hüte ab und sagen: „Gott vergelt's ihm,
was er den Armen that!“ Dann zeigen sie auch die Kirche, das Hospital
u. s. w. und sagen: „Das hat er alles erbaut und gestiftet!“
Und kommt ihr nach Karlsruhe, der Haupstadt des schönen Badener
Landes, so wird man euch erzählen, daß er ungeheure Summen schenkte
zur polytechnischen Schule, zum Pfründnerhaus und zum Waisenhaus. Man
hat's ausgerechnet, daß er in allem 300000 Franken und mehr, ja ganz
genau 363400 Franken gestiftet hal! Das war ein edler Mensch. Als
Schneiderlein ist er in die Welt gezogen, blutarm, aber reich am Herzen.
Da hat Gottes Segen Früchte getragen! Der Name Georg Stulz wurde
und wird nicht nur von dankbaren Menschen, sondern von Gottes Engeln
liebend und segnend genannt!
Sein Landesherr, der Großherzog von Baden, der gerne das Verdienst
seines Landeskindes ehren wollte, hat seine Brust mit dem Orden des
Zähringer Löwen geschmückt und ihn hernachmals mit vielen Ehren in den
Freiherrnstand erhoben.
Am 17. November 1832 starb in Hyères im südlichen Frankreich der
Freiherr Georg Stulz von Ortenberg, wie ihn sein Landesherr benannte,
66. Die Pfeife.
und an seinem Grabe flossen reiche Thränen der Liebe; denn er starb als
Vater der Armen und Bedrängten. In Kippenheim steht ein Denkmal;
aber das zerfällt mit der Zeit. Größer und schöner ist dagegen das, welches
er sich gründete durch Wohlthätigkeitsanstalten, die fortdauern zum Segen
der leidenden Menschen.
(W. O. von vorn, eigentl. Fr. Wilb. Oertel, geb. 1798 zu Horn auf dem Hunsrück, prot.
Geistlicher, als Privatmann zu Wiesbaden 14. Okltober 1867.)
6b. Die Bfeisfe.
Als ich ein Knabe von sieben Jahren war, füllten mir einst an einem
Feiertage meine Verwandten die Taschen mit Kupfermünzen. Ich wußte
nun nichts eiliger zu thun, als damit nach einem Kaufladen zu gehen, wo
man Kinderspielzeug verkaufte. Schon auf dem Wege dahin begegnete ich
aber einem andern Knaben mit einer Pfeife, deren Ton mir so wohl gefiel,
daß . im freiweilig all mein Geld dafür bot. Vergnügt über meinen
Handel ente ich wieder nach Hause und durchzog pfeifend das ganze Haus;
denn wane Ffeife machte mir eben so viel Freude, als ich damit die ganze
Familie lästice. Als meine Brüder, Schwestern, Vettern und Basen von
meinem Handel hörten, sagten sie mir, daß ich viermal mehr für die Pfeife
gegeben hätte, als sie wert sei. Dies machte mich nun erst aufmerksam
darauf, wie viel schöne Sachen ich für das übrige Geld hätte kaufen können,
und da sie sich noch über meine Thorheit lustig machten, so fing ich vor
Ärger an zi weinen. Jetzt machte mir die Reue mehr Verdruß, als mir
die Pfeise ergnügen gemacht hatte.
Der Terfall hatte aber das Gute, daß er einen bleibenden Eindruck auf
mich zurückließ, der mir in der Folge sehr nützlich wurde; denn so oft ich
in Lrsuchung geriet, etwas Unnötiges zu kaufen, sagte ich immer zu mir
selble: Gib nic zu viel für die Pfeife, und so sparte ich mein Geld. Als
ich herangewac en war und in die Welt eintrat, wo ich Gelegenheit hatte,
die Handlungen der Menschen zu beobachten, glaubte ich viele, ja sogar sehr
viele Leute zu bemerken, welche zu viel für ihre Pfeife gaben. Sah ich
einen Ehrgeizigen ängstlich nach Hofgunst streben und seine Zeit in Vor—
zimmern verschwenden, seine Ruhe, seine Freiheit, seine Tugend und wohl
auch seine Freunde opfern, um jene zu erlangen, so sagte ich zu mir selbst:
Der gibt zu viel für seine Pfeife!
Sah ich einen andern um Volksgunst buhlen, sich beständig in politische
Händel mischen, seine eigenen Angelegenheiten darüber vernachlässigen und
sich dadurch zugrunde richten, so sagte ich: Er zahlt wahrlich zu viel für
seine Pfeife!
Wenn ich einen Geizhals traf, der sich jede Art von Bequemlichkeit
versagte, sich um das Vergnügen, andern Gutes zu thun, betrog, die Achtung
seiner Mitbürger verscherzte und auf die Genüsse der Freundschaft verzichtete,
nur um Schätze aufzuhäufen, so dachte ich: Armer Mann, du bezahlst in
der That zu viel für deine Pfeife!
6b7. Ein geringer Mann oder die Bürgschaft.
Fand ich einen Mann des Vergnügens, der jede Geistesfreude, jede
Gelegenheit, sein Vermögen zu mehren, bloß sinnlichen Genüssen hintenansetzte,
so sagte ich: Betrogener Mann, du schaffst dir Leiden statt Lust; du gibst
zu viel für deine Pfeife!
Sah ich einen vernarrt in schöne Kleider, schönes Hausgerät und
schöne Equipagen, die all sein Vermögen überstiegen, dafür Schulden machen
und seine Laufbahn im Gefängnisse beschließen, so sagte ich: O wehe, der
hat seine Pfeife teuer, sehr teuer bezahlt! — Kurz, wo ich hinsah, bemerkte
ich, daß die Menschen sich den größten Teil ihres Elendes dadurch selbst
zuziehen, daß sie zu viel für ihre Pfeifen bezahlen.
GBenjamin Franklin, geb. 1706 zu Boston (Nordam.), 1790.)
67. Ein geringer Mann oder die Bürgschaft.
Der Schreiner Krug hatte in der Stadt gearbeitet und machte sich in
seinem Heimatsdorf ansäßig; weder er noch seine arbeitsame Frau hatten
Vermaen; aber Arbeitsamkeit ist das eigentliche Vermögen in der ursprüng—
lichen Nedeutung des Worts, und das ist zugleich das beste, die höchsten
Zinsen tragende Kapital. Unser Schreiner Krug lebte zwar in einer ent—
fernten Waldgegend; dennoch gelang es ihm, sich bald aufzuschwingen und
wenn andere sich zur Ruhe begaben, hörte man in seiner Werkstätte noch
sägen, hobeln und hämmern. Dabei war er sparsam, und der wachstuch—
überz. Jene Hut, den er durch vielerlei Länder getragen hatte, ward noch
mehr als zwanzig Jahre zum Kirchgange aufgesetzt; er war nicht mehr nach
der neuesten Mode, weder in der Form noch in der fuchsigen Farbe, aber
der Kopf darunter war allzeit frisch und wohlgemut. Ein kleiner Acker
und eine gute Wiese, sowie eine Kuh im Stall, waren aus den Brettern
herausgesägt worden. So lebte Meister Krug viele Jahre.
Nun aber fügte es sich, daß seine älteste Tochter einen Sägmüller in
der Nähe heiratete. Unser Meister ließ sich dazu verleiten, sein bischen
Habe zu verkaufen und mit dem Sägmüller gemeinsam ein Wasserwerk zu
kaufen und dazu noch namhaftes Geld aufzunehmen. Bald aber wurde
ihnen durch eine neuerrichtete große Schneidemühle unheilbarer Nachteil
bereitet, und nach wenigen Jahren mußte alles verkauft werden. Die jungen
Leute behielten noch so viel, daß sie mit Not übers Meer auswandern
konnten, und unser Meister Krug kehrte ins Dorf zurück. Ein treuer
Genosse aus der Wanderzeit, der Schuhmacher Grundler, nahm ihn bei
sich auf. Meister Krug wollte nun unverdrossen nochmals anfangen und
von unten auf sich etwas erwerben; er sah aber bald, daß er jetzt weniger
als nichts hatte; denn es gibt ein Etwas in der Welt, das unschätzbar
„ist und sich mit keiner Zahl nennen läßt, es heißt Kredit. Unser Meister
Krug klopfte an verschiedenen Thüren an, ja sogar bei Wucherern, aber
man willfahrte ihm nirgends. Er lief von Haus zu Haus, von Dorf
zu Dorf und wiederum nach der Stadt; immer meinte er, er müsse die
67. Ein geringer Mann oder die Bürgschaft.
Thüre finden, durch die er aus seinem Elende herauskomme, aber sie that
sich n. t auf. Die Not stieg, wie man sagt, bis an den Hals oder vielmehr
noch höher hinauf. Es gab keinen Taglohn mehr, und der gute Kamerad
Grundler half endlich damit aus, daß er sich bei einem reichen Bauern,
bon dem Krug ein Malter Korn auf Borg kaufte, für die Bezahlung ver—
bür? .. Nun war doch mindestens wieder Vrot im Hause. Unser Meister
nahm en ersten Laib davon mit, das andere überließ er seiner Frau, und
jent der vierundsechzigjährige Mann wieder wie ein junger Wander—
burs,, „inaus in die Fremde, um als Handwerksgeselle Arbeit zu finden.
Es g. ang ihm bereits am dritten Tage, und er arbeitete frisch drauf los;
aber »ies, daß er nicht mehr in einer großen Werkstätte arbeiten konnte
und zu sehr anstrengte, oder daß den alten Mann das Heimweh so sehr
pla; oder daß er überhaupt die veränderte Lebensweise nicht mehr ertrug:
gzen; nach nicht zwei Monate waren um, als Meister Krug ins Spital
jebracht wurde. Doch hier genas er zusehends rasch; denn seine Frau war
gekommen, ihn zu pflegen. Als er wiederum gut marschieren konnte, that es
die Frau nicht anders, er mußte mit ihr heim. Daheim angekommen stand
Krug wieder im alten Elend, und was ihm am meisten plagte, war, daß
er nicht einmal so viel erübrigt hatte, um dem treuen Grundler seine Bürg—
schaft abzulösen.
Wieder trat er seine alten Wanderungen an; aber einst auf dem Heim—
wege übermannte ihn das Elend. Bei einer Buche mit niederhängenden
Üsten knüpfte er sein Halstuch los und machte eine Schlinge um den Hals:
„Mach ein End“ sagte er vor sich hin und stampfte auf die Erde, in der
er si ein Grab erzwingen wollte. Aber plötzlich hielt er wieder inne und
sagte laut vor sich hin: „Ja, ja, aber der Grundler, der sich für dich
verb „der treue Mensch, wird um sein Geld betrogen! Kannst du
als aus der Welt gehen! Darfst ou den guten Glauben deines
Kam. el alir ehen? Nein, nein, der Grundler muß sein Geld haben,
und wenn . Hien muß.“ So sprach er fast laut und schaute dann still
vor niebec, indem er daran dachte, daß jemand noch mehr als Geld
für a verbürgr hatte. Jahrzehnte lang hatte seine Frau treu zu ihm ge—
halten, und durfte er ihr dies damit vergelten, daß er ihr das Leid anthue?
Und weiter gedachte er aller Menschen, die ihm je Gutes gethan, und er
rief laut aus: „Es ist ja fürchterlich! Ich bin ja der größte Schuldner
auf der Welt!“ Und jetzt als er sein Halstuch wiederum abknüpfen wollte,
schaute er durch die Blätter hinauf zum Himmel und rief? „Du Himmel
bist noch da, und der über dir auch! Ich warte geduldig, bis ihr ein Ende
macht, ich nicht.“
Ein Wandersmann in grauen Sommerkleidern mit einer neumodischen
sogenannten Bügeltasche hatte nicht fern davon das seltsame Gebahren des
Mannes gesehen und seine Ausrufe gehört. Jetzt trat er auf ihn zu, und
seine Worte, seine Mienen waren so zutraulich, daß ihm Krug sein ganzes
Marschaäll, Lesebuch für gewerbl. Fortbildungsschulen. Kl. Ausg.
50 68. Kannitverstan.
Leben erzählte, besonders aber was in der letzten Stunde mit ihm vor—
gegangen war. Der Fremde öffnete die Bügeltasche und steckte die Hand
in klingende Münze. Krug faßte seinen Arm und rief: „Ich nehme nichts
geschenkt, sonst hätt' ich mich auf die Gemeinde gelegt.“ Der Fremde aber
sagte: „Lieber Mann, ich will Euch nichts schenken. Seht, ich habe mit
diesem Geld eine Reise nach der Schweiz machen wollen; ich bin nicht reich,
aber das habe ich zu meiner Erholung erübrigt, und ich will's Euch nicht
schenken, sondern nur leihen, und zum Beweise nehmt hier diesen Zettel,
darauf steht mein Name und mein Wohnort; ich thue weiter nichts, als ich
kehre geraden Wegs wieder um. Ich schenke Euch nur meine Reisefreude,
habe aber eine andre dafür, könnt mir's glauben. Wenn ich Euch helfen
fann, ist mir's wohler als auf dem höchsten Berge. Ich bitt' Euch, wenn
Ihr könnt, zahlt mich wieder.“ Der Fremde legte fünfzig Gulden vor Krug
hin, und als dieser noch staunend darauf schaute, war jener verschwunden. —
Es gelang Krug, sich wieder herauszuarbeiten, und nach Jahren erhielt der
Frembe ein amtlich besiegeltes Schreiben aus dem Heimatsdorfe Krugs, darin
die Nachricht, daß dieser gestorben sei, daß man aber in seinem Gebetbuche
eine Quittung über ein bezahltes Malter Korn gefunden habe und in
seinem Halstuche, das im Kasten lag, einliegendes Geld und dabei die
eigenhändig geschriebenen Worte Krugs: „Dieses Geld gehört dem N. N.
in N. Er soll nur allezeit an die Menschen glauben, und wenn er auch
einmal betrogen wird.“
Das war der geringe Mann. Sieh zu, du brauchst nicht weit zu suchen,
ob du nicht auch eine solche Lustreise in die weite Welt des Wohlthuns
machen kannst.
(Aus Schatzkästlein von Berthold Auerbach. Dieser ist geb. 1812 zu Nordstetten im württemb.
Schwarzwald:; er lebt als Schriftsteller in Berlin.)
68. Kannitverstan.
Der Mensch hat wohl täglich Gelegenheit, in Emmendingen oder
Gundelsingen so gut als in Amsterdam, Betrachtungen über den Unbestand
aller irdischen Dinge anzustellen, wenn er vill, und zufrieden zu werden
mit seinem Schiceksal, wenn auch nicht viel gebratene Tauben für ihn in
der Laft herumfliegen. Aber auf dem seltsamsten Umwege kam ein
deutschar Handwerksbursche in Amsterdam dureh den Irrtum zur Wahr-
heit und zu ihrer Erkenntnis. Denn als er in diese grosse und reiche
andolsstadt voll prãchtiger Hauser, vogender Schiffe und geschäftiger
Menschen gekommen war, fiel ihmn sogleieh ein grolses und schönes Haus
in die aAugen, wie er auf seiner ganzen Wanderschaft von Tuttlingen bis
Amsterdam noch keines gesehen hatte. Lange betrachtete er mit Ver-
wunderung dies kostbare Gebäude, die sechs Kamine auf dem Dache. die
sehönen Gesimse und die hohen PFenster, grösser als an des Vaters Haus
daheim die Thur. Endlich konnte er sieh nieht enthrechen, einen Vorüber-
gehenden anzureden. „Guter Freund.“ redete er ibn an, „könnt Ibr mir
68. Kannitverstan. 51
nieht sagen, wie der Herr heilst, dem dies vunderschöne Haus gehört
mit den Fenstern voll Tulipanen, Sternenblumen und Leykojen?“ — Der
Mann aber. der vermutlich etwas Wichtigeres zu thun hatte und zum
Unglück gerade so viel von der deutschen Sprache verstand als der
Pragende von der bolläandischen, sagte kurz und sehnauzig: „Kannit-
verstan!“ und schnurrte vorüber. Dies war nun ein holländisches Wort,
oder drei, wenn man's recht betrachtet, und heilst auf deutseh so viel
als: Ieh kann Euch meht verstebhn. Aber der gute Fremdling glaubte,
éês sei der Name des Mannes, nach dem er gefragt hatte. „Das muss
ein grundreicher Mann sein, der Kamnitverstan,“ dachte er und ging
weiter. Gass aus, Gass ein kam er endlich an den Meerbusen, der da
heisst: Het Ey, oder auf deutseh: das Vpsilon. Da stand nun Schiff an
Schiff und Mastbaum an Mastbaum, und er wusste anfänglich nicht, wie
éêr es mit seinen zwei einzigen Augen durchfechten werde, alle diese
Merkwürdigkeiten genau zu sehen und zu betrachten, bis endlich ein
grosses Schiff seine Cufmerksamkeit an siech zog, das vor kurzem aus
Ostindien angelangt var und jetzt eben ausgeladen vurde. Schon standen
ganze Reihen von RKisten und Ballen auf und neben einander am Lande.
Noch immer wurden mehrere herausgewälzt und Fãsser voll Zucker und
Kaffee, voll Reis und Pfeffer und salyeni Mausdreck darunter. Als er
aber i e zugesehen hatte, fragte er endlich einen, der eben eine kiste
auf der Achsel heraustrus, vie der glückliche Mann hiesse, dem das
Meer aue dess VWaren an das Land bringe. „Kannitverstan!“ vwar
die Aptwort dachte er: Haha, schaut's da heraus! Kein Wunder,
Fem 5 Meer solehe Reichtümer an das Land schwemmt, der hat gut
Solehe duser lie Welt stellen und soleherlei Tulipanen vor die Fenster
in ve goldeten merben. Jetzt ging er wieder zurüek und ztellte eine
recht traurig trachtung bei sieh selbst an, was er für ein armer Teufel
gei unter velsen reichen Leuten in der Welt. Aber als er eben dachte:
Wenn ich's doch nur aueh einmal so gut beküme, vwie dieser Herr Kan—
nitverstan es hat, kam er um eine Ecke und erblickte einen grossen
eichenzug. Vier sehwarz vermummte Pferde zogen einen ebenfalls
schwarz überzogenen Leichenwagen langsam und traurig, als ob zie wũssten,
dass sie einen Doten in seine Rube führten. Ein langer Zug von Freunden
und Bekannten Sos Verstorbenen folgte nach, Paar und Paar, verhüllt in
zchwarze Mäntel und stumm. In der Ferne läutete ein einsames Glöck-
lein. Jetæt ergriff unsern Fremdling ein wehmütiges Gefühl, das an keinem
guten Menschen vorübergeht, wenn er eine Leiche sient, und blieb mit
dem Hute in den Händen andächtig stehen, bis alles vorüber war. Doch
machte er sieh an den letzten vom Zug, der eben im Stillen ausrechnete,
wVas er an seiner Baumwolle gewinnen könnte, venn der Zentner um
10 Gulden aufschlũge, ergriff inn sacht am Mantel und bat ihn treuherzig
um Exküse. „Das muss wohl aueh ein guter Freund von Eueh gewesen
gein,“ sagte eêr, „dem das Glöcklein lautet, dass Ihr so betrübt und nach—
52 69 Herzog Thassilo in Lorsch.
denklieh mitgeht?“« „Kannitverstan!l“ var die Antwort. Da fielen
unserm guten Tuttlinger ein paar grosse Thränen aus den Augen, und es
ward ihm auf einmal sebwer und vwieder leicht ums Herz. „Armer
Kannitverstan,“ rief er aus, „vVas hast du nun von all deinem Reichtum?
Was ieh einst von meiner Armut aueh bekomme: ein Totenkleid und
ein Leintuch, und von all deinen schönen Blumen vielleieht einen Ros-
marta auf die kalte Brust oder eine Raute.“ NMit diesen Worten begleitete
er eiche, als venn er dazu gehörte, bis ans Grab, sah den vermeinten
anuitverstan hinabssenken in seine Rubestätte und ward von der
auischen Leichenpredigt, von der er kein Wort verstand, mehr gerũhrt
mancher deutschen, auf die er nicht acht gab. Endlich ging er
icuæn Herzens mit den andern wieder fort, verzehrte in einer Herberge,
3 man Deutsch verstand, mit gutem Appetit ein Stũuck Limburger Räse,
und Genn es ihm einmal schwer fallen wollte, dass so viele Leute in der
Welt so reieh seien und er so arm, so dachte er nur an den Herrn
Kannitverstan in Amsterdam, an sein grosses Haus, an sein reiches Schiff
und an sein enges Grab. (Joh. Pet. HRebel.)
69. Herzog Thassilo in Corsch.
Sage)
Es geschah, daß Kaiser Karl der Große zu streiten kam mit Thassilo,
dem mannlichen Bayerherzog, der sein ganz naher Verwandter war, und
da er großes Unrecht auf Aufreizung der Widersacher Karls verübt, so
ließ Karl ihm eine entsetzliche Strafe zu teil werden. Karl ließ den
Agilolfinger Thassilo blenden, welches dadurch geschah, daß jener gezwungen
ward, auf einen seinen Augen nahe gebrachten, im Feuer glühend gemachten
Schild zu sehen, bis ihm das Licht der Augen dunkel ward und gar verging.
Sein langes Haar wurde vor dem Throne ihm abgeschnitten und er zum
Mönch geschoren; dann sollte er nach des Kaisers Gebot eingethan werden
in ein Kloster, damit er büße und bete sein lebelang.
Darauf nach langen Jahren begab es sich, daß einstmals Kaiser Karl
gen Lauresheim, das ist Lorsch, in das Kloster kam. Er hatte den Herzog
Thass. o längst vergessen. Als er sich nun gedrungen fühlte, zur Nachtzeit
im Nuünster daselbst zu beten, da nahm er mit Staunen wahr, wie ein
Mönch durch den Kreuzgang unsicheren Trittes wandelte. Er war blind
ihm zur Seite aber ging ein lichtumflossener Bote Gottes, der ihn leitete.
Des Greises Züge kamen dem Kaiser bekannt vor; doch konnte er sich dessen
Namens nicht entsinnen. Und der Mönch ward von Altar zu Altar ge—
leitet und betete an jedem und schritt dann mit seinem überirdischen Führer
still zurück. Darauf hat der Kaiser am andern Morgen den Abt des Klosters
Lorsch zu sich entboten und ihn gefragt, welchen Mönch er im Kloster habe,
dem bin Engel diene. Der Abt erstaunte und wußte nichts zu sagen, folgte
ber des Kaisers Gebot, in nächster Nacht mit ihm des Mönchs zu harren.
Da geschah es ganz so wie in der vorigen Nacht, daß der blinde Mönch
*
70. Das Uhrwerk im Münster zu Straßburg. 53
wieder kam und der Engel ihn geleitete. Und der Kaiser, gefolgt von dem
Abte, ging, als der Mönch gebetet hatte, dem Mönch und dessen Führer
nach, und sie trafen den Mönch allein in seiner Zelle. Der Abt kannte den
Mönch aber nur unter seinem Klosternamen und wußte nichts weiter von
ihm. Nun sprach der Abt ihn an, zu sagen, was er vordem in dem welt—
lichen Leben gewesen, und nichts zu verhehlen und zu verschweigen; denn
sein Herr und Kaiser sei es, der vor ihm stehe. Da sank der blinde Mönch
zu des Kaisers Füßen nieder und sprach: „O Herr! viel habe ich gegen dich
gesündigt und meine Buße währet für und für. Thassilo ward ich vordem
geheißen.“ Da hob ihn der Kaiser gnädiglich auf und sprach: „Schwer hast
du gebüßt und härter als mir lieb ist; all deine Schuld sei dir vergeben.“
Da küßte der blinde Greis des Kaisers Hand und sank zur Erde und ver—
schied. Im Kloster Lorsch ruht sein Staub.
Ford. Büßler, geb. 1816 zu Zeitz [Anhalt], Prediger in Neustadt-Magdeburg, 1879 zu Schul⸗
pforta [Preuß. Sachsen)).
70. Das Ahrwerk im Münster zu Straßburg.
(Sage.)
Im Münster zu Straßburg ist ein herrliches Uhrwerk, das in der
ganzen Welt nicht seines gleichen hat, ein großes figurenreiches Gebäude
von unbegreiflicher Kunst und Vorrichtung, den Gang der Zeit und der
himmlischen Lichter darzustellen; aber leider steht es und geht schon längst
nicht meir.
AUn diesem Werke zeigt sich unten der Himmelsglobus und daneben ein
Pelitan; darüber erhebt sich ein Kalendarium, in dessen Mitte die Erdkugel
erscheine zu beiden Seiten stehen der Sonnengott und die Mondgöttin,
welche nat ihren Pfeilen die Tages- und Nachtstunden zeigen. Darüber
fuhren „1 Wagen, von verschiedenen Tiergespannen gezogen, die sieben
Planeren atter als Tagesboten; jeden Tag zeigte sich, sanft vorrückend, ein
anderes Hespann. stand in der Mitte zur Mittagsstunde und gab dann all—
mähliuh dem na. genden Raum. Darüber ein großer Viertelstundenzeiger
und ur Seite varr Gebilde: die Schöpfung, Thal Josaphat, jüngstes Gericht
und Verdammnis Zur Rechten des Beschauers steht ein freier Treppen—
turm am Uhrgebau, zur Linken ein ähnlicher von anderer Form mit Götter—
gestan.n auf der Spitze ein großer Hahn, welcher die Stunden krähte und
mit den Zuͤgeln schlug Am Sockel der Türme zwei große, aufrechtsitzende
Löwen deren einer den Helm mit dem Kleinod, der andere das Wappen⸗
schild dcr Stadt Straßburg hält. Rechts in der Mitte ist das mächtig große,
manchfach verzierte und mit kunstvollem Triebwerk versehene Zifferblatt,
umgeben von den Bildern der vier Jahreszeiten. Den Zeiger bildet ein
geschlängelter Drache, dessen Pfeilzunge auf die Stundenzahl deutet. Über
dem Zifferblatte zeigte ein kleinerer Kreis mit der Mondesscheibe genau des
Mondes wechselnde Zeiten. Darüber waren zwischen Schildhaltern und
Wappenfiguren wändelnde Gestalten der Menschenalter zu sehen, welche an
die offen hängenden Viertelstundenglocken anschlugen; über ihnen hängt die
5 70. Das Uhrwerk im Münster zu Straßburg.
Stundenglocke. Nach jedem Viertelstundenschlage trat der Tod hervor, die
Stunde zu schlagen; aber da begegnete ihm die Gestalt unseres Heilandes
und wehrte ihm; erst wenn die Stunde voll war, durfte der Tod sein
Stundenamt üben. Hoch über allem diesen hob sich noch eine gothische
Krone mit den frei stehenden Gestalten der vier Evangelisten, die Thüre der
Offenbarung neben sich, und über diesen standen zwei musizierende Engel;
dahinter aber barg sich gar ein klangvolles Glockenspiel. Auch ist noch
manch anderes künstliches Bildwerk an der Münsteruhr zu sehen, und sind
viele gedankenvolle Sprüche zu lesen.
Der Meister dieses herrlichen Werkes hieß Isaak Habrecht; er hatte
jahrelang darüber gesonnen und Tag und Nacht daran gearbeitet, bis er
alles glücklich zu Stande gebracht. Alle Welt lief herzu und war ein Jubel,
Rühmen und Preisen in der ganzen Stadt und Landschaft, als das wunder—
volle Meisterstück in voller Bewegung, wie von geheimem Leben beseelt,
sich darstellte, als die Glöcklein ertönten, als der Tod die Stunden schlug,
die Apostel vorbeizogen und vor dem Heiland sich neigten, als die beiden
Löwen, die des Stadtwappens hüteten, zu brüllen anfingen, daß es durch
das ganze Münster hindurch nachtönte und dröhnte, und als gar auch der
Guller droben auf der Spitze die Flügel schlug und zweimal krähte, gleich—
wie der Hahn im Evangelium zur Stunde, als Petrus seinen Herrn und
Meister verleugnete im Vorhofe des Hohenpriesters.
Aber der Ruhm, den der gute Meister davon hatte, schlug ihm zum
Verderben aus. Den Rat zu Straßburg kam die Besorgnis an, der Meister
möchte sonst noch irgendwo ein ähnliches oder gar noch künstlicheres Werk
aufstellen und Straßburg alsdann nichts dergleichen vor allen Städten der
Welt voraushaben. Um dies sicher zu hindern, faßten sie den grausamen
Beschluß, dem Künstler die Augen ausstechen zu lassen, und brachten diesen
teuflischen Rat zur Ausführung.
Als nun der unglückliche Meister in ewiger Nacht dasaß, bat er, daß
man nur einmal noch ihn hinaufführen möge zu seiner Uhr, damit er etwas
an, verbessern könne. Die Bitte wurde gewährt. Da stieg der Meister
hin. zwischen das Räderwerk und schaffte was darin eine kurze Weile,
und stille stand das ganze Uhrwerk von Stunde an. Die Glöcklein hörten
auf zu schlagen; die Apostel, der Tod und die Alter der Menschen wandelten
nicht mehr; der Herr erhob nicht mehr die Rechte zum Segnen beim Vor—
übergehen; der Zeigerdrache zeigte nicht, die Götter fuhren nicht mehr; die
Löwen blieben stumm, und der Hahn vergaß zu krähen.
Der Meister überlebte sein Werk nicht lange, und vergebens sandte der
Rat nach Künstlern umher, die das Uhrwerk wieder in Gang bringen sollten.
Viele kamen, viele probten und bosselten daran herum; keiner bracht's in
Gang, sie verdarben mehr als sie gut machten, und so steht im Münster
das UÜhrwerk heute noch, wunderbar anzuschauen, aber still und tot, ohne
die Seele, welche nur der Meister seinem Werke geben konnte.
Dan. Aug. Stöber, geb. 1808 zu Straßburg, lebt als Amtsbibliothekar zu Mülhausen.)
71. Vom glücklichen Schustermeister. )
71. Vom glücklichen Schustermeister
(Märchen.)
Es war einmal ein Schuster, und der saß auf seinem Dreifuß und
zog lustig seinen Pechdraht und pfiff und sang dazu. Da kam der Herr
Jesus an seinem Hause vorbei und sah den fröhlichen Mann und setzte sich
zu ihm hin und sprach: „Gott grüß Euch, Schustermeister.“ „Schön Dank,
Herr Wandersmann,“ sprach der Schuster; denn er kannte den Herrn Jesum
nicht. „Ihr scheint mir ein recht glücklicher Mann zu sein,“ fuhr Jesus
fort, und der Schuster entgegnete: „Ei, was sollte mir auch fehlen? Gestern
habe ich ein Paar Stiefel verkauft und von dem Gelde neu Leder und frisch
Brot mitgebracht, und morgen sind die Stiefel wieder fertig und da hab'
ich wieder Verdienst; ist das kein glücklich Leben?“ „Doch,“ antwortete
Jesus; „aber hört einmal: ich muß heute noch fort von hier und hätte doch
gern etwas von Eurer Hand gemacht; wollt Ihr mir denn einen fertigen
Schuh verkaufen, ich will Euch so viel dafür geben, daß Ihr Leder für
zwei und ein halb Paar kaufen könnt; seid Ihr das zufrieden? DJa—
varum nicht?“ sprach der Schuster; „ich bin Euch viel Danuk schuldig;
aber was wollt Ihr mit dem einen Schuh? Es ist ein gar wunderlicher
Einfall von Euch.“ „Darum kümmert Euch nicht,“ entgegnete Jesus und
nahm den Schuh und gab dem Schuster sein Geld und ging seines Weges
weiter. Drei Wochen später kam der Herr Jesus desselben Weges, um zu
sehen, was der Schuster mache; aber in dem Schusterhäuschen war es so
stille, so stille wie in einem Mäuseloche. Das wunderte den Herrn Jesum
sehr, und er trat hinein und fragte den Schuster, warum er nicht mehr
sänge „Ei,“ sprach der Schuster ich habe das Geld da liegen, was mir
übrig blieb und was ich durch gewann, und sehe nun, daß meine
Kinder keine Schuh' und Strümp; haben, und ich möchte sie ihnen doch
so gerne kaufen; aber ich habe nicht genug, und liegt das Geld so da; wie
seicht könnte es mir gestohlen werden!“ „Wenn das deine ganze Sorge
ist,“ sprach Jesus, dann will ich dir schon helfen,“ und gab dem Schuster
Geld, um Schuh' und Strümpfe für die Kinder zu kaufen, und wünschte
ihm einen guten Tag und ging seines Weges weiter. Nach drei Wochen
kam der Herr abermals in die Nähe des Schusterhäusleins und freute sich
schon, den Schuster nun recht lustig singen zu hören; aber darin betrog er
sich; denn es war noch stiller in dem Häuslein als vorher. Erstaunt trat
Jesus hinein zu dem Manne und fragte, was denn nun noch fehle; er sänge
ja gar nicht mehr. „Ja, das dank dir der Gott-sei-bei-uns,“ fuhr der
Schuster auf; „dein dummes Geld hättest du nur behalten sollen, das hat
mir nur Mäusenester in den Kopf gesetzt,“ und damit griff er unter das
Kopfkissen von seinem Bette und nahm das Geld und warf es dem Herrn
Jesu vor die Füße, und Jesus wurde böse darob und ging weg. Am andern
Morgen dachte der Herr, er müsse doch einmal zusehen, ob der Schuster
nun glücklicher wäre, und stieg aus dem Himmel nieder; aber er war gewiß
*
90
56 72. Meister Pfriem
noch sechsmal so hoch als der höchste Kirchturm von der Erde, da hörte er
den Schuster schon singen ünd jauchzen: „Juchhei, Juchheisa, Juchhei!“
Da dachte der Herr: „Ach, was wär' es für ein gutes Leben auf der Welt,
wenn alle Menschen so genügsam wären wie der Schustermeister.“
Joh. Wilh. Wolf, geb. 18317, 25. Juni 1855 in Darmstadt.)
72. Meister Mfriem
(Märchen.)
Meister Pfriem war ein kleiner hagerer, aber lebhafter Mann, der
keinen Augenblick Ruhe hatte. Sein Gesicht, auf dem nur die aufgestülpte
Nase vorragte, war pockennarbig und leichenblaß, sein Haar grau und
struppig, seine Augen klein, aber sie blitzten unaufhörlich rechts und links
hin. Er bemerkte alles, tadelte alles, wußte alles besser und hatte in
allem recht.
Ging er auf der Straße, so ruderte er heftig mit beiden Armen, und
einmal schlug er einem Mädchen, das Wasser trug, den Eimer so hoch in
die Luft, daß er selbst davon begossen ward. „Schafskopf,“ rief er ihr zu,
indem er sich schüttelte, „konntest du nicht sehen, daß ich hinter dir herkam?“
Seines Handwerks war er ein Schuster, und wenn er arbeitete, so fuhr er
mit dem Draht so gewaltig aus, daß er jedem, der sich nicht weit genug
in der Ferne hielt, die Faust in den Leib stieß. Kein Geselle blieb länger
als ein Monat bei ihm; denn er hatte an der besten Arbeit immer etwas
auszusetzen. Bald waren die Stiche nicht gleich, bald war ein Schuh länger,
bald ein Absatz höher, als der andere, bald war das Leder nicht hinlänglich
geschlagen. „Warte,“ sagte er zu dem Lehrjungen, „ich will dir schon zeigen,
wie man die Haut weich schlägt,“ holte den Riemen und gab ihm ein paar
Hiebe über den Rücken. Faulenzer nannte er sie alle. Er selber brachte
aber doch nicht viel vor sich, weil er keine Viertelstunde ruhig sitzen blieb.
War seine Frau frühmorgens aufgestanden und hatte Feuer angezündet, so
sprang er aus dem Bett und lief mit bloßen Füßen in die Küche. „Wollt
ihr mir das Haus anzünden?“ schrie er, „das ist ja ein Feuer, daß man
einen Ochsen dabei braten könnte! Oder kostet das Holz etwa kein Geld?“
Standen die Mägde am Waschfaß, lachten und erzählten sich, was sie wußten,
so schalt er sie aus: „Da stehen die Gänse und schnattern und vergessen
über dem Geschwätz ihre Arbeit. Und wozu die frische Seife? Heillose
Verschwendung und obendrein eine schändliche Faulheit: sie wollen die Hände
schonen und das Zeug nicht ordentlich reiben.“ Er sprang fort, stieß aber
einen Eimer voll Lauge um, so daß die ganze Küche überschwemmt ward.
Richtete man ein neues Haus auf, so lief er ans Fenster und sah zu. „Da
bermauern sie wieder den roten Sandstein,“ rief er, „der niemals aus—
trocknet; in dem Hause bleibt kein Mensch gesund. Und seht einmal, wie
schlecht die Gesellen die Steine aufsetzen. Der Mörtel taugt auch nichts;
Kies muß hinein, nicht Sand. Ich erlebe noch, daß den Leuten das Haus
über den Kopf zusammenfällt.“ Er setzte sich und that ein paar Stiche,
72. Meister Pfriem. 57
dann sprang er wieder auf, hakte sein Schurzfell los und rief: „Ich will
nur hinaus und den Menschen ins Gewissen reden.“ Er geriet aber an
die Zimmerleute. ‚Was ist das?“ rief er, „ihr haut ja nicht nach der
Schnur. Meint ihr, die Balken würden gerade stehen? Es weicht einmal
alles aus den Fugen.“ Er riß einem Zimmermann die Art aus der Hand
und wollte ihm zeigen, wie er hauen müßte; als aber ein mit Lehm be—
ladener Wagen herangefehren kam, warf er die Axt weg und sprang zu dem
Bauer, der nebenherging. „Ihr seid nicht recht bei Trost,“ rief er, „wer
spannt junge Pferde vor einen schwer beladenen Wagen? Die armen Tiere
werden Euch auf dem Platze umfallen.“ Der Bauer gab ihm keine Ant—
wort und Pfriem lief vor Ärger in seine Werkstätte zurück. Als er sich
wieder r Arbeit setzen wollte, reichte ihm der Lehrling einen Schuh
„Was das wieder?“ schrie er ihn an, „habe ich euch nicht gesagt, ihr
solltet dꝛe Schuhe nicht so weit ausschneiden? Wer wird einen solchen
Schuh kaufen, an dem fast nichts ist als die Sohle? Ich verlange, daß
meine Vesenle unmangelhaft befolgt werden.“ „Meister,“ antwortete der
Lehrjunge, „Ihr mögt wohl recht haben, daß der Schuh nichts taugt; aber
es ist derselbe, den Ihr zugeschnitten und selbst in Arbeit genommen habt
Als Ihr vorhin aufgesprungen seid, habt Ihr ihn vom Tisch herabgeworfen,
und ich habe ihn nur aufgehoben. Euch aber könnte es ein Engel vom
Himmel nicht recht machen.“
Meister Pfriem träumte in einer Nacht, er wäre gestorben und befände
sich auf dem Wege nach dem Himmel. Als er anlangte, klopfte er heftig
an die Pforte. „Es wundert mich,“ sprach er, „daß sie nicht einen Ring
am Thor haben, man klopft sich die Knöchel wund.“ Der Apostel Petrus
öffnete und wollte sehen, wer so ungestüm Einlaß begehrte. „Ach, Ihr
seid's, Meister sriem,“ sagte er, „ich will Euch wohl einlassen; aber ich
warne Euch, da; Ihr von Eurxer Gewohnheit ablaßt und nichts tadelt, was
Ihr r im immel seht; es könnte Euch übel bekommen.“ „Ihr hättet
Euch e Ermahnung sparen können,“ erwiederte Pfriem; ich weiß schon,
was ziemt, und hier ist Gott sei Dank, alles vollkommen und nichts
zu taveln, wie auf Erden.“ Er trat also ein und ging in den weiten
Räumcen des Himmels auf und ab. Er sah sich um, rechts und links,
schüttelte ader zuweilen mit dem Kopf oder brummte etwas vor sich hin.
Indem erblickte ex zwei Engel, die einen Balken wegtrugen. Es war der
Balken, den einer im Auge gehabt hatte, während er nach dem Splitter in
den Augen anderer suchte. Sie trugen aber den Balken nicht der Länge
nach, sondern quer. „Hat man je einen solchen Unverstand gesehen?“ dachte
Meister Pfriem; doch schwieg er ünd gab sich zufrieden. „Es im Grunde
einerlei, wie man den Balken trägt, geradeaus oder quer, wenn man nur
damit durchkommt, und wahrhaftig, ich sehe, sie stoßen nirgend an.“ Bald
hernach erblickte er zwei Engel, welche Wasser aus einem Brunnen in ein
Faß schöpften; zugleich bemerkte er, daß das Faß durchlöchert war und das
Wasser von allen Seiten herauslief: sie tränkten die Erde mit Regen. „Alle
73. Zeus und das Pferd.
Hagel!“ platzte er heraus, besann sich aber glücklicherweise und dachte:
Vielleicht ist's bloßer Zeitvertreib; macht's einem Spaß, so kann man der—
gleichen unnütze Dinge thun, zumal hier im Himmel, wo man, wie ich schon
bemerkt habe, doch nur faulenzt.“ Er ging weiter und sah einen Wagen,
der in einem tiefen Loche stecken geblieben war. „Kein Wunder,“ sprach
er zu dem Mann, der dabei stand, „wer wird so unvernünftig aufladen?
Was habt Ihr da?“ „Fromme Wünsche,“ antwortete der Mann, „ich konnte
damit nicht auf den rechten Weg kommen; aber ich habe den Wagen noch
glücklich hinauf geschoben, und hier werden sie mich nicht stecken lassen.“
Wirklich kam ein Engel und spannte zwei Pferde vor. „Ganz gut,“ meinte
Pfriem, „aber zwei Pferde bringen den Wagen nicht heraus, viere müssen
davor.“ Ein anderer Engel kam und führte noch zwei Pferde herbei,
spannte sie aber nicht vorn, sondern hinten an. Das war dem Meister
Pfriem zu viel. „Tolpatsch,“ brach er los, ‚„was machst du? Hat man je,
so lange die Welt steht, auf diese Weise einen Wagen herausgezogen? Da
meinen sie aber in ihrem dünkelhaften Übermut alles besser zu wissen.“ —
Er wollte weiter reden; aber einer von den Himmelsbewohnern hatte ihn
am Kragen gepackt und schob ihn mit unwiderstehlicher Gewalt hinaus.
Unter der Pforte drehte der Meister noch einmal den Kopf nach dem Wagen
und sah, wie er von den vier Flügelpferden in die Höhe gehoben ward.
In diesem Augenblick erwachte Meister Pfriem. „Es geht freilich im
Himmel etwas anders her als auf Erden,“ sprach er zu sich selbst, „und da
läßt sich manches entschuldigen; aber wer kann geduldig mit ansehen, daß
man die Pferde zugleich hinten und vorn anspannt? Freilich, sie hatten
Flügel, aber wer kann das wissen? Es ist übrigens eine gewaltige Dumm—
heit, Pferden, die vier Beine zum Laufen haben, noch ein Paar Flügel an—
zuheften. Aber ich muß aufstehen, sonst machen sie mir im Hause lauter
verkehrtes Zeug. Es ist nur ein Glück, daß ich nicht gestorben bin.“
Wilh. Grimm, geb. 1786 zu Hanau, 3 16. Dez. 1859 als Prof. in Berlin, Dichter und Sprach—
forscher. Noch bedeutender ist dessen Bruder Jakob Grimm, geb. zu Hanau 1785, au Berlin
20. Sept. 1863.
73. Zeus und das Nferd.
(Fabel)
„Vater der Tiere und Menschen,“ so sprach das Pferd und nahte sich
dem Throne des Zeus, „man will, ich sei eines der schönsten Geschöpfe,
womit du die Welt gezieret, und meine Eigenliebe heißt es mich glauben.
Aber sollte gleichwol nicht noch verschiedenes an mir zu bessern sein?“ —
„Und was meinst du denn, das an dir zu bessern sei? Rede! ich nehme
Lehre an,“ sprach der gute Gott und lächelte.
„Vielleicht,“ sprach das Pferd weiter, „würde ich flüchtiger sein, wenn
meine Beine höher und schmächtiger wären; ein langer Schwanenhals würde
mich nicht entstellen; eine breitere Brust würde meine Stärke vermehren,
und da du mich doch einmal bestimmt hast, deinen Liebling, den Menschen,
58—
74. Zeus und das Schaf. 59
zu tragen, so könnte mir ja wohl der Sattel anerschaffen sein, den mir der
wohlthätige Reiter auflegt.“
„Gut,“ versetzte Zeus; „gedulde dich einen Augenblick!“ Zeus, mit
ernstem Gesichte, sprach das Wort der Schöpfung. Da quoll Leben in den
Staub; da verband sich organisierter Stoff, und plötzlich stand vor dem
Throne — das häßliche Kamel.
Das Pferd sab, schauderte und zitterte vor entsetzendem Abscheu.
„Hier sind höhere und schmächtigere Beine,“ sprach Zeus; hier ist ein
langer Schwanenhals; hier ist eine breitere Brust; hier ist der anerschaffene
Sattel! Willst du, Pferd, daß ich dich so umbilden soll ?“
Das Pferd zitterte noch.
„Geh,“ fuhr Zeus fort; diesesmal sei belehrt, ohne bestraft zu werden.
Dich deiner Vermessenheit aber dann und wann reuend zu erinnern, so
daure du fort neues Geschöpf!“ — Zeus warf einen erhaltenden Blick auf
das Kamel — — und das Pferd erblicke dich nie, ohne zu schaudern.
Gotthold Ephraim Lessing, geb. 1729 zu Kamenz Causiß), 5als Bibliothekar von Wolfenbüttel
zu Braunschweig 15. Februar 1781.)
A. Zeus und das Schaf.
(Fabel)
Das Schaf mußte von allen Tieren vieles leiden. Da trat es vor den
Zeus und bat, sein Elend zu mindern.
Zeus schien willig und sprach zu dem Schafe: „Ich sehe wohl, mein
frommes Geschöpf, ich habe dich allzu wehrlos erschaffen. Nun wähle, wie
ich diesem Fehler am besten abhelfen soll. Soll ich deinen Mund mit
schrecklichen Zähnen und deine Füße mit Krallen rüsten?“
„O nein,“ sagte das Schaf, „ich will nichts mit den reißenden Tieren
gemein haben.“
„Oder,“ fuhr Zeus fort, „soll ich Gift in deinen Speichel legen?“
„Ach!“ versetzte das Schaf, „die giftigen Schlangen werden ja so sehr
gehaßt.“
„Nun, was soll ich denn? Ich will Hörner auf deine Stirn pflanzen
und Stärke deinem Nacken geben.“
„Auch nicht, gütiger Vater; ich könnte leicht so stößig werden als der
Bock.“
„Und gleichwohl,“ sprach Zeus, „mußt du selbst schaden können, wenn
sich andere dir zu schaden hüten sollen.“
„Müßt' ich das!“ seufzte das Schaf. „O, so laß mich, gütiger Vater,
wie ich bin. Denn das Vermögen, schaden zu können, erweckt, fürchte ich,
die Lust, schaden zu wollen, und es ist besser, Unrecht leiden als Unrecht
thun.
Zeus segnete das fromme Schaf, und es vergaß von Stund an, zu
klagen. G. E. Lessing)
75. Die Wanderschaft. — 76. Das Gewerbe im Alterthum.
75. Die Wanderschaft.
Parabel)
Ein Vater sendete seinen Sohn, einen Maler, in die Fremde, daß
er reisen möchte auf seine Kunst, Kenntnisse zu sammeln nach alter
deutscher Weise. Als nun der Tag des Abschiedes nahete, führte der
Vater den Jüngling in den Garten und benannte ihm alle berühmten
Städte und Länder, so er durchwandeln sollte. Da erschrak die Mutter,
die mit hinausgegangen war, als sie solches hörte, und sie sprach: „Ach,
wer wird ihn leiten und schirmen auf solcher weiten Wanderschaft, daß
er nicht auf Irrwege gerate und ihm Unheil begegne!‘“ Der Vater
aber antwortete und sprach: „Dessen bekümmere dich nicht; Gott und
sein Herz werden ihn wohl geleiten.“ Darauf führte er den Sohn
samt der Mutter zu einem Bienenstand und sprach: „Siehe die ein—
fache Gestalt und Weise dieses Völkleins. Sein Beruf ist, draußen der
Blüten Saft und Staub zu sammeln und beides zu Honig und Wachs
zu bilden. So zeucht es aus, eingedenk seiner Heimat und seiner Be—
stimmung. Und Gott weiset dem Tierlein den Weg, daß es sich nimmer
verirrt, und schaffet ihm Blumen und Blüten die Fülle.“ Darauf wandte
sich der Vater zu seinem Weibe und sprach: „Ist nicht unser Sohn mehr
denn viele Bienen? Und trägt er nicht ein Kleinod in seinem Herzen,
das die Bienen nicht keunen?“ Da war die Mutter getröstet.
(Friedr. Adolf Krummacher, geb. 1768 zu Tecklenburg (Westfalen), 4als Prediger zu Barmen
4. Avril 1845.)
III. Aus der Geschichte.
76. Das Gewerbe im Altertum.
1. So lange der Menseh nur für sich allein lebte, ohne staatliche Ver-
hindung mit andern, so lange musste er die verschiedenen Bedũrfnisse,
die das Leben fordert, ganz allein bereiten. Erst als die Menschen zu
Völkern herangewachsen waren und Staaten sich gebildet hatten, konnten
besondere Gewerbe entsteben; erst dann var es für den einzelnen möglich,
Alle anderen Bedũrfnisse des Lebens zu erhalten, venn aueh er selbst seine
ganze Zeit auf die Bereitung eines einzigen verwendete. Und so sehen
vir aueln sogleich bei den ältesten Vöolkern, denen wir in der Geschichte
begegnen, eine Gewerbsthätigkeit, die gan⸗ notwendig auf einen besondern
fandwerksstand bei ihnen sebliessen lässt. venn auch gerade keine be—
timmten Nachrichten davon auf uns gekommen sind. Am weitesten
reichen in dieser Beziehung unter allen Ländern im Altertum zurück die
LAnder am Euphrat und Tigris. Babylonien und Assyrien, und das
land am Nil. gypten. Dort ist die Urbeimat aller menschlichen
30
76. Das Gewerbe im Altertum. 31
Künste und Gewerbe, von wo sie sieh dann in alle Weltgegenden, nament-
li aer nach dem Abendlande, verbreiteten. Die Geschichte von Baby-
lonien und Assyrien geht bis ins dritte Jahrtausend vor unserer christ-
lichen Zcitrechnung zurück. Hier treffen wir bereits eine Kultur, welche
nur xrzeugnis von mehreren tausend Jahren rückwärts sein konnte.
C a fruehtbaren Lande selbst lagen hunderte von Städten, darunter
. astũdte wie Babylon und Munive; hier erhoben sieh Bauwerke, wie
zie die Menschen zuerst aus sich selbst heraus geschaffen hatten, ohne
corher von andern es gelernt zu haben. In diesen Städten, sowie über-
haupt den Ufern des Euphrat und Tigris entlang, lagen ungeheure Paläste,
oft von mehr als einer Meile im Umfang, reich geschmückt mit prächtigen
VFebengebäuden und Parkanlagen. Und diese Gebäude waren bereits mit
solehen Kunsterzeugnissen ausgeschmückt und mit allen Bedũrfnissen des
gewöhnlichen Lebens so reich versehen, dass auf eine ausgezeichnete
Blũte aller Gewerbe notwendig geschlossen vwerden muss. Den Bünstlern,
namentlich den Bildbauern, waren bereits die meisten Geheimnisse ihrer
Kuns? bekannt; die Steinmeêtzen und Maurer handhabten Steine und
Backsteine mit höchster Geschicklichkeit, und Portale, Marmortreppen,
marmorbekleideté Saalwände gingen aus ihrer Hand hervor. Dazu fer-
tigten Dspfer Gefälse in allen Grössen und Formen, so Krüge von
2m LEius, MNetallarbeiter Erzgefässe der verschiedensten Art, Ressel,
Sschüsseln, Glocken, Becher, die letztern kunstreich mit Menschen- und
LTierfiguren geziert; ferner arbeiteten Steinschneider, Juwelieére und Gold-
zchmiede in Marmor, Achat, Karneol und andern Stoffen mit einer
Kunst, deren sich unsere Juweliere niceht gehämen dürfen; man kannte
NXadeln, Haken, Obrgehänge und andere Ringe, künstliche Gegenstände
von Kupfer, Knöpfe von Perlmutter und Elfenbein mit metallenen Rosetten,
und endlieb kamen aus den Werkstätten der Färber und Weber die herr—
lichsten Teppiche und Gewänder bervor.
Aber noch weiter in das Alter der Menschheit führt uns die Geschichte
Agyptens zurũck. Im Nilthale war bereits im vierten Jahrtausend vor
Qhristus eine Bildung, der ebenfalls mehr als ein Jahrtausend hatte vor-
angehen müssen, ehe sie so weit gekommen war. Sebr früh erboben sieh
zchon dort jene Pyramiden, Obelisken, Tempel und Paläste, die heute
noch ibren Ruinen unsere Bewunderung auf sieh ziehen, und die nieht
pnur auf eine hohbe Ausbildung in Kunst und Wissenschaft, sondern auch
auf einen zahlreichen und geschickten Handwerksstand sehliessen lassen.
Und wirklich wird uns auch hier von einem solehen berichtet; Das ganze
agyptische Volk war in sieben Kasten eingeteilt, und die dritte derselben
war die der Handwerker, Künstler, Krämer und Kaufleute. Und dieser
Handwerker waren bereits so verschiedene und viele, als es die Bedũrf-
nisse des Lebens selber sind. So gab es die verschiedenen Gattungen
gon Schmieden, 2. B. Goldschmiede, die mit dem Blaserohr und der Zange
arbeiteten und Goldschmuek aller Art verfertigten, als Stirn- und Ohren—
3 76. Das Gewerbe im Altertum.
etten und Reife, Halsbänder, Obrenringe und andere Zierate. Sie kannten
bereits die Ausdehnung des Goldes und wulsten hölzerne Geräte zu ver—
golden; sie verstanden besonders die Kunst, Bronze stahlhart zu machen,
und man verfertigte aus derselben Geräte, Gefasse, Verkzeuge und Waffen.
Perner gab es Spinner und Weber, veiler, Gerber, Lischler, Wagner,
Zimmerleute, Steinmetzen, Ziegelbrenner, Töpfer, Glaser, Bäcker, Köche,
leischer, Sandalen- und Korbflechter und Färber mit allen den Hand—
werkszeugen, deren sieh unsere Handwerker heute noch bedienen, als
8pindeln, Webestühle, Axte, Meilsel, Hacken, Sägen. Auch vurden die
Wobnungen und ihre innere Einrichtung, die Kleider und überhaupt alle
Bedũrfnisse des Lebens bereits von einer Güte, Schönheit und Zweckmälsig-
keit gefertigt, vie sie nur der Menseh zu einem angenehmen Leben braucbt.
2 Von diesen beiden Punkten, von den Ufern des Euphrat und Tigris
und és Nils, als den Ursitzen aller menschlichen Bildung, hat sich nun
dieseoe weiter gen Westen verbreitet, wozu die Phönizier die Ver-
mit waren, jenes merkwürdige Volk, bei dem vwir zuerst einen grossen
an treffen') PEin soleh grossartiger Handel kann aber bekanntlich nur
bhei einer gleich grossartigen Gewerbsthätigkeit bestehen. Wir haben Nach—
richten davon, welche Waren in die beiden Hauptstädte Phöniziens, Sidon
und Lyrus, gebracht vurden, die uns zeigen, vie weit man damals im
Oriente mit der Verfertigung menschlicher Bedürfnisse gekommen war und
weleb ein bedeutender Handwerksstand bereits vorbanden sein musste. In
Tyrus aber selbst befanden sich bedeutende Glasfabriken und Webereien
für Baumwolle, Seide und Leinen; die schön gefärbten tyrischen Gewänder
waren dureh das ganze Altertum berühmt, besonders der tyrische Purpur.
Endlich fertigte man da aueh Gefässe von Metallen, Putzsachen, als Schleier,
Gurtel, Spangen, Metallspiegel, Ringe und Kopfbänder. Die Blüte dieser
phõnizischen Gewerbsthätiekeit, sowie die des Handels, finden vir bereits
1000 Jahre vor Christi Geburt zu den Zeiten der Könige David und Salomon,
wie denn der letztere zur Erbauung des Tempels in Jerusalem phönizische
Werkleute genommen hat.
Unter allen Völkern des Altertums hat sich das Volk der Griechen
zur höchsten Bildung emporgeschwungen. In den griechischen Städten,
wie in Korinth und Athen, gab es eine Menge von Tempeln, Gymnasien,
Akademien, Galerien, die alle voll der herrlichsten Kunstschätze waren,
und Périkles allein soll für solehe öffentliche Werke nach unserm Gelde
125 Millionen Mark ausgegeben haben. Solches aber väre durch Kunstler
allein nicht mögliech gewesen, wenn es nicht viele und geschickte Hand-
werker gegeben hätte. Diese bestanden zwar meistenteils aus Sklaven,
aber doch aueh, wie in Athen, aus freien Bürgern. welche zu den höchsten
Ehrenstellen im Staate gelangen konnten. So gab es denn bei den
Griechen Bäcker. Köche, Fleischer und Küper, VNollarbeiter, VWalker,
VVerel. Ne. T77.
9
2
76. Das Gewerbe im Altertum.
Lederbereiter, Gerber, Schuster, Maurer, Zimmerleute, Schlosser und
Sehmie, Tisehbler, Seiler, Riemer, Wagner und Schiffhauer. Besonders
geschiekt waren die Steinmetzen, Erzarbeiter und Tõpfer. Griechenland
Far reieh an herrlichem Marmor, an bildsamem Thon und aueh nicht
rm an Metallen. Auch hier arbeitete man vorzugsweise in Bronze und
certce e aus derselben niebht nur Waffen, Schmuck, Gefälse und Statuen,
zond rn aueh sstühle und Bettgestelle. Aus Thon aber machte man Ge—
fäs kKunstreichsten Formen. Die griechischen Tischler machten zier—
li stelle zu Tischen, Sophas und Sitzen, aueh RKästen zur Auf—
bewe ru g von Kleidern und Schmuck, sie fertigten Fourniere und ein—
Wbheiten, vozu man auch fremde Hölzer namentlich Zedernhol—
Jen. Man arbeitete in Buchsbaum, Cypresse, Esche, Birnbaum, Ahorn,
Meint und Obaum und konnte die kostbaren fremden Hölzer, wie das
Ebenl, aufs feinste zuschneiden, um damit die gemeinen einheimischen
Hõlzer zu ũüberzieben. Uberhaupt wurden alle handwerklächen Gegen-—
stande mit einem eigentümlichen Schönbeitssinne, wie er eben dem
griechischen Volke angeboren war, und mit hoher Vollkommenheit ver—
kertigt. Nie höchste Blüte dieser griechischen Gewerbthätigkeit war imn
5. und 4. Jahrhundert vor Christus.
Wenn es aber Griechenland zur höchsten Vollkommenheit in allen
menschlichen Dingen gebracht hat, so Rom zum höchsten Reichtum, zur
höchsten Pracht und Herrljehkeit. Rom vwar unter Augustus eine Stadt
on 42 000 Hausern und fast anderthalb Millionen Einvwohnern, und in
ihr, als der Beherrscherin und Hauptstadt der damaligen MWeoelt, ztrömten
die Schatze aller Lander zusammen. Natürlich muss auch hier ein grofser
und bedeuténder Handwerksstand vorhanden gewesen sein, aus dessen
Handen und Werkstätten alles dies hervorgegangen ist. Zwar bestand
aueh hĩer ein grossor Teil aus Sklaven, wie denn die vornehmen Bömer
nur von solchen ihre Bedürfnisse sieh verfertigen lielsen, aber es varen
aueh freie Bürger darunter. Schon von den äaltesten Zeiten an varen
liese ia Zünfte geteilt, als in Goldarbeiter, Holzarbeiter, Farber, Leder-
arbe Jerber, Eisenarbeiter, Töpfer und andere. Sie hatten lange Zeit
mit atriziern zu kämpfen, weil ihnen diese nicht gleiche Bürger—
reche „mräumen wollten; aber zuletzt trugen sie den sieg davon, und
der Sebstand hatte, so lange venigstens Rom eine Republik war, in
den entlichen Angelegenheiten ein grosßes Gewicht. Als nun in Rom
ifolge seiner Welteroberung und Weltregierung ein ungeheurer Reichtum
zusammenfloss, so mulste sieh natürlieh derselbe auch auf den Hand-
Gerker- und Gewerbestand verteilen, und es gab Gewerbsleute, die s0
reich waren, dass sie dem Volke öffentliche Spiele geben konnten, vwie
man denn von einem solehen, Namens Cacilius Isidorus berichtet, dass er
über 4000 8klaven besessen habe. Der Geschmack jedoch und die ganze
Art, in der die römisehen Handwerker arbeiteten, var durcehaus griechisch,
uind der Unterschied bestand nur in grölserer Pracht und Kostbarkeit.
4 77. Der Handel der alten Welt.
Roms Bildung aber, und also aueh die seines Handwerkerstandes, ver-
hreitete sich über die ganze damalige Welt, auch über die Alpen hinüber
bis an die Ufer der Seine, des Rheins, des Neckars und der Donau.
Nun ist es aus der Geschichte bekannt, wie diese ganze alte Welt
mit en ihren Herrliebkeiten, das kunstreiche Grichenland und das
m Rom, von Schyarmen germanischer Völker, die aus dem Norden
ärmt waren, im 5. Jahrhunderte nach Christi Geburt erobert
enommen wurde. Da wvurden die schönen grossen Städte mit
sehtigen Tempeln, Theatern und Palästen zerstört, der Kern des
ötet, die übrigen zu Slaven gemacht, und die Erfahrungen und
n.ze und die Erfindungen und Entdeckungen früherer Jahrtausende
gingen zum grosfsen Teile verloren. Die Zerstörer waren vwilde Söhne der
atur, 2. für Kunst und Wissenschaften und für die höheren Schön—
heiten und Annehmliechkeiten des Lebens noch keinen Sinn hatten, die
aber nun auf den Ruinen der alten Welt neue Staaten errichteten, aus
denen eine neue Kultur hervorgehen sollte.
(C. G. Rehlen, Geschichte der Gewerbe.)
77. Der Handel der alten Welt.
Der ursprüngliche Handel der alten Welt war Landhandel und blieb
es der Hauptsache nach bis zur Entdeckung Amerikas. Das Mittelmeer
von den Säulen des Herkules bis an das Ende des schwarzen Meeres ist
der vornehmste Schauplatz der alten Handelsthätigkeit Nur etwa noch
ienseits des ägyptischen Isthmus im arabischen, desgleichen im persischen
Meerbusen bis zu den Küsten Vorderindiens kann von einem Seehandel
die Rede sein; ein Blick auf die Karte aber lehrt, daß er auch dort nur
Küstenschiffahrt sein konnte.
Europa, welches heutzutage den Welthandel beherrscht, erscheint in
dieser Periode sehr untergeordnet. Nur etwa Spanien macht davon eine
Ausn. me, dessen edle Metalle ihren Markt überall fanden. Auch ist der
zer. Amfang zu beachten, welchen das damals bekannte Europa hatte.
den näen- und Alpenkette bildete so ziemlich die Grenze, über welche
hin Kultur aufhörte. Bernstein und englisches Zinn ist die
. von dorther, die in einem karthagischen oder griechischen
vcrʒeichnet ist. Bedürfnisse hatten jene barbarischen Völker,
—er und Nomaden lebten, so gut wie keine. Ein irgend er—
heb.. Verkehr mit ihnen konnte also auch nicht stattfinden. Der euro—
bäisujge „carkt war auf die Küstenländer und Inseln des Mittelmeeres be—
schränl.. Die Lebensbedürfnisse der Massen waren damals einfach. Man
dergesse auch nicht, wie eng gezogen in der alten Welt der Kreis der Handels—
artikel warr Thee, Kaffee, Zucker, Tabak, Baumwolle, Kartoffeln, Butter,
Bier und Spirituosen, Gegenstände, worin mehr als die Hälfte der heutigen
Warengeschäfte gemacht werden, waren den Alten unbekannt. Brot, Fleisch,
Fische. Gemüse, Ol, Wein, Käse, Milch und Honig bildeten fast den ganzen
77. Der Handel der alten Welt. 655
Bestand ihrer Kost, — alles Nahrungsmittel, die jedes Land, besser oder
schlech er hervorbrachte. Nur ein Artikel, das Getreide, diente dem großen
Verkehr. So wurde die Proviantierung Roms, zumal unter der Kaiserzeit,
wo es 2 Millionen Einwohner zählte, eines der wichtigsten Handels- und
Rhedereigeschäfte Da die Zufuhren hauptsächlich aus Sizilien und Nordafrika
kamen, so erhielten beide Länder den Namen der römischen Kornkammern.
In demselben Maßals der Kreis der im alten Welthandel vorkommen—
den Waren beschränkt war, war es auch der Kreis der Konsumenten. Wir
brauchen zu diesem Behuf nur Einsicht zu nehmen von einer Liste fremder
Wareneinfuhr nach Athen, Rom oder wo sonst. Wir finden darin Metalle
und Edelsteine, Gewürze, Rauchwerk und Spezereien, gewebte Stoffe aus
Seide, Baumwolle und Wolle feinster Qualität, Pelzwerk, Elfenbein, Deli—
katessen der Tafel, Sklaven, wilde Tiere für den Zirkus, Kunstwerke aus
Erz und Stein, mit einem Worte alles weniger oder mehr Gegenstände
des Luxus und Wohllebens und nur den Klassen der Reichen und Vor—
nehmen zugänglich. Jene Importe von Rohstoffen und Fabrikmaterialien,
wie wir sie jetzt aus fernen Ländern zu einheimischer Verarbeitung beziehen,
fehlen ganz. Asien zunächst und sodann Afrika sind es, welche die im Altertum
hochgeschätzten und teuer bezahlten Waren erzeugen. Beide Weltteile genossen
dazumal einer verhältnismäßig größeren Kultur als in der Gegenwart, und
sie lieferten die kostbarsten Gegenstände, Gold, Perlen, Diamanten, Zimmt
und Seide.
Die Phönizier und später die Agypter erscheinen als diejenigen Kauf—
leute, welche für den europäischen Markt den indisch-arabischen Zwischen—
handel in Händen hatten. Tyrus, später Alexandrien, war das große
Emporium desselben; von daher wurde der ganze Westen, zumal Rom,
versorgt.
Doch wie bedeutend auch zu gewissen Zeiten dieser Seeverkehr Asiens
mit Asrika und Europa war, so steht er doch weit zurück gegen den Betrag
des anatischen Landhandels. West- und zumal Kleinasien genossen dazumal
eine Zivilisation, wie sie solche auf kurze Zeit und nur zum Teil unter den
Arabern wieder erreichten; eine Menge blühender und bevölkerter Staaten
und Städte drängte sich von den Küsten des Mittelmeeres bis zum Euphrat
und Tigris und hinab zum Meerbusen, in den sie sich ergießen. Die erste
große Weltstadt, Babylon, tritt an ihren Ufern hervor aus der Dämmerung
der Geschichte. Schon der Prophet Ezechiel nennt sie die „große Kaufmann—
stadt, in der der Handel blüht“. Die Perser, obgleich selbst ein kriegerisches
Volk und nur mit der Waffenführung beschäftigt, liebten doch Glanz und
Luxus und ließen daher Handel und Industrie ungestört für ihre Befriedigung
sorgen. Bei der ungeheuren Ausdehnung zumal Mittelasiens und den
nomadisierenden Räubervölkern, die dort seit undenklichen Zeiten einheimisch
sind, war es Sache der Notwendigkeit, den Verkehr in zahlreichen und starken
Gesellschaften zu betreiben. Diese Handelsvereine sind die Karawanen, welche
Marschall, Lesebuch für gewerbl. Fortbilduugsschulen. Kl. Ausg
56 77. Der Handel der alten Welt.
von Zeit zu Zeit ausgerüstet wurden, von einem bestimmten Ort ausgingen
und auf fest vorgezeichnetem Wege die Reise zurücklegten. Die inmitten
der Steppen und Wüsten hingestreuten Oasen bildeten die unentbehrlichen
Ruhepunkte, wo Käufer und Verkäufer sich oft zu begegnen pflegten, wo
Karawansereien gebaut wurden, und wo selbst ganze Niederlassungen ent—
standen. Bemerkenswert ist die Stetigkeit, womit Jahrhunderte, ja selbst
Jahrtausende lang die Straßen des alten Landhandels festen Gang und
gleichmäßige Richtung eingehalten. Heutzutage ziehen die Karawanen zwischen
Rußland und China, zwischen Tombuktu und Tunis auf denselben von der
Natur unveränderlich vorgeschriebenen Wegen, wie vor Jahrtausenden.
Über das Schiffswesen der damaligen Zeit sind die Nachrichten sehr
mangelhaft. Als ältestes Fahrzeug erscheint unstreitig das Floß, zunächst
für den Gebrauch auf Flüssen und Seen, dann auch auf dem Meere zu
kurzen Fahrten längs der Küste oder zu einer nahen Insel. Man gab ihm
später Ruder, Steuer und Segel, wie es in dieser Gestalt noch jetzt bei
wilden Völkern vorkommt.
Historische Nachrichten über Schiffahrt und Schiffsbau haben wir zuerst
von den Phöniziern. Durch ihre geographische Lage in einem unfruchtbaren
Küstenstrich, der ihnen aber das vorzüglichste Bauholz darbot, waren sie auf
Schiffahrt und Seehandel verwiesen. In ihren rohen Elementen mag die
Schiffahrt ohne Zweifel von verschiedenen Völkern zugleich erfunden worden
sein; jedenfalls sind aber die Phönizier diejenigen, von welchen die wesent—
lichsten Verbesserungen herrühren, wie sie denn auch im Schiffsbau die
Lehrmeister aller Vöolker des Altertums wurden. Zwar war auch ihre Schiff—
fahrt nur Küstenfahrt; allein sie erstreckte sich über alle Gewässer des Mittel—
meeres und selbst jenseits der Säulen des Herkules nach den Westküsten
Europas und Afrikas. Ihre Umschiffung des Vorgebirges der guten Hoffnung
ist durch die neuesten Forschungen fast außer allen Zweifel gesetzt.
In die Zeit der phönizischen Handelsblüte fallen die wesentlichsten
Erfindungen der Schiffskunde: der Anker, ursprünglich ein mächtiger Stein,
dann ein eiserner Haken, bis man den zweiten beifügte, die Segel, das
Senkblei, der Ballast. Ferner gab die Schiffahrt Anlaß zur Sternkunde.
Die Phönizier nannten einen Stern des kleinen Bären den Polarstern und
maßen darnach die Höhe der übrigen Gestirne.
Auch die Winde wurden in ein wissenschaftliches System gebracht und
beobachtet. Man teilte die Windrose in 12 Teile. Die Phönizier kannten
von den Passatwinden schon die Monsoons, welche sie bei ihren Fahrten nach
Arabien, Persien und Indien benutzten. Mit dem Untergang Karthagos
schließt die handelspolitische Geschichte der alten Welt. Wie lebhaft auch
später der Verkehr Alexandriens sich darstellt und welche Vermehrung in
den Zufuhren indischer Produkte der römische Luxus erheischt, jener Handels—
geist, der in still geschäftiger Eroberung die Erde bis zu ihren äußersten
Grenzen durchzieht und die entferntesten Völker einigt, war nicht mehr
vorhanden. H. Scherer. Geschichte des Welthandels.)
78. Chlodwig, der Gründer des Frankenreiches. m
78. Chlodwig, der Gründer des Frankenreiches.
Unter allen deutschen Staaten, welche auf den Trümmern des
römischen Reiches gegründet wurden, schwang sich der fränkische in
Gallien zu einer glänzenden und dauerhaften Größe empor. Die
Franken bestanden aus mehreren Völkern, die sich zur Aufrechthaltung
ihrer Freiheit — denn frank heißt frei — zu einem großen Bunde gegen
die Römer im 3. Jahrhundert vereinigt hatten. Aus ihren Wohnsitzen
am Niederrhein dehnten sie sich erobernd immer westlicher, in das da—
malige Gallien, aus. Nach Sitte der germanischen Völker gehorchten
sie anfangs mehreren unter sich verbündeten Fürsten. Erst im Jahre 482
stand unter den Franken ein König auf, der sich nach und nach die
Herrschaft über alle fränkischen Volksstämme erwarb und deshalb als
Stifter des fränkischen Reiches zu betrachten ist. Der war Chlodwig,
d. i. Ludwig, ein Zeitgenosse des Theödorich, aus der Königsfamilie
der Merovinger. Er war ein äußerst kriegslustiger und herrsch—
süchtiger Mann; sein ganzer Sinn war einzig auf die Erweiterung der
engen Grenzen seiner Herrschaft gerichlet.
Als er die Regierung antrat, bestand in Gallien noch ein Rest
des Römerreiches, von welchem Syägrius Statthalter war. Auf
diesen ging er zuerst los, schlug ihn völlig bei Soissons!) im Jahre 486,
und brachte das noch römische Gallien für immer an die Franken.
Um seine Macht zu verstärken, suchte Chlodwig die Freundschaft der
benachbarten Burgunder. Er vermählte sich deshalb mit Clotilde,
einer Nichte des burgundischen Königes. Diese Fürstin, welche in der
christlichen Religion erzogen war, bot ihren ganzen Einfluß auf, um
auch ihren Gemahl dafür zu gewinnen. Im Jahre 496 brach ein
Krieg aus zwischen den Franken und ihren Grenznachbarn, den Ala—
mannen, deren Angriffen Gallien fortwährend ausgesetzt war. Der Name
dieß? archteten Vachbarn war den Franken in Gallien 5 bekannt,
daß „ Fran n noch jetzt dem ganzen deutschen Volke (Allemands?)
geben. ei otacum?) ward blutig gestritten. Der Sieg schwankte
lan iic neigte er sich auf die Seite der Alamannen. In dieser
Net gelobte Ehlodwig ein Christ zu werden. Und siehe! der Feind
wie, zurück, der Anführer fiel, und nun warf alles Wehr und Waffe
ab und eilte voll Entsetzen in wilder Flucht durch- und übereinander
vom Kampfplatze. Dieser Sieg verschaffte ihm die Herrschaft über den
nördlichen Teil von Alamannien am Rhein und Main; der südliche
begab sich unter die Herrschaft der Ostgothen.
)spr. soaßons. ) spr. allmans ) Vielleicht das heutige Zülpich im Jülichschen.
3
9
68 79. Karls des Großen Wirksamkeit für Rechtspflege und Volksbildung.
Chlodwig erfüllte nun auch sein Gelübde. Am Weihnachtsfeste des
selben Jahres (496) ließ er sich zu Rheims)) feierlich taufen. Nach der
Taufe salbte ihn der Bischof Remigius zum Könige der Franken.
In Gallien waren jetzt außer den Franken nur noch zwei mächtige
Völker. die Burgunder und Westgothen. Über Burgund herrschten
zwei Koönige, die sich gegenseitig bekriegten. Für einen jährlichen Zins
jog er dem einen zu Hilfe und trieb den andern in die Enge, kehrte
aber zurück, als auch dieser ihm Abtretungen und jährlichen Zins ver⸗
hien Erst unter Chlodwigs Nachfolger wurde Burgund gänzlich unter
fränkische Herrschaft gebracht Nun griff er die Westgothen an und er—
focht einen glänzenden Sieg über sie bei Poitiers“) 6607) ihren König
tötete er mit eigner Hand. Er würde sich das ganze Reich unterworfen
haben, hätte sich nicht Theodorich, König der Ostgothen in Italien, seiner
unmäßigen Vergrößerungssucht widersetzt.
So gelang es ihm, sein anfangs kleines Reich vom Rhein und
von Ar Donau bis an die Pyrenäen, vom Kanale bis nahe an das
mittelländische Meer zu erweitern. Er war es, der die verschiedenen
Volksstämme in Gallien zu einem Ganzen vereinigte und den Grund
zu der künftigen Größe der fränkischen Monarchie legte. Das eroberte
Gallien bekam nunmehr den neuen Namen Frankenreich oder Frank—
reich. Der Stifter dieses neuen Reiches starb 511 zu Paris welches
sich schon unter ihm zu einer bedeutenden Stadt erhoben hatte.
(Th. B. Welter.)
Ergänzungen. Unter den Nachfolgern Chlodwigs wurde auch noch Thü—
ringen erobert und der südliche Teil (am Main) mit dem Frankenreiche vereiniget
und Ostfranken genannt. Durch verschiedene Teilungen und noch mehr durch innere
Zwistigkeiten und Bruderkriege wurde die Macht des Frankenreiches geschwächt. Die
letzten Könige aus dem Merovingergeschlechte entarteten und überließen die Regierung
ihren Hausmeiern (Majordomen), unter denen Pipin v. Heristal, Karl Martell (Sieg
über die Araber bei Tours 732) und Pipin der Kurze hervorragen. Der letztere setzte
752 seinen König Childerich III. ab und machte sich mit Einwilligung des Papstes
Zacharias zum Könige. Er ist der Stammwvater des Karolingergeschlechts.
79. Karls des Grossen Wirksamkeit für Rechtspflege und
Volksbildung.
Fuũr das Innere war Karls Regierung nicht minder folgenreich, als
nach aussen. Er hob das königliche Ansehen und die Macht der Krone,
indem er die Stammesherzoge beseitigte, die Lehnsfürsten enge an den
Thron knũüpfte und das Heer- und Gerichtswesen unter seine unmittelbare
Leitung stellte. Besondere Sorgfalt widmete Karl der Rechtspflege.
) spr. ränsß. N poatje.
79. Karls des Großen Wirksamkeit für Rechtspflege und Volksbildung. 69
wobei er zugleich bedacht war, die Gemeinfreien zu sechützen und zu
erleichtern, damit sie nicht genötigt wären, sich in die Dienste und Ab—
hängigkeit der Grossen zu begeben. Die alte Ordnung des Gerichts-
wesens, nach welcher die freien Eingesessenen der Hunderte meist alle
acht oder vierzehn Tage sieh zur geriehtlichen Tagfahrt einzufinden hatten,
Var bei der häufigen Abwesenheit der Grafen und Distriktsvorsteher wie
der waffenfähigen Einwohner auf weiten und langdauernden RKriegszügen
nicht mehr durchführbar. Zudem war die Zahl der vollberechtigten Freien
fortwährend in Abnehmen, so dass die richterliche Thätigkeit, die früher
eine Ehre gewesen, mehr und mehr eine Last ward. Es war daber eine
Prleiehterung des freien Mannes, dass Karl die Tagfahrten und Gerichts-
tage beschränkte, indem er festsetzte, dass in minder wicehtigen Rechts-
zachen nieht mehr alle Freien eines Gaues, sondern nur bestimmte Personen,
die „dehböffenps, für die Urteilfudung dem Gerichte anwohnen sollten.
NFur dreimal im Jahre sollte fortan das grolse echte Ding) gehalten
wern, zu dem alle freien Männer der Grafschaft erscheinen mussten,
un vaulser den bedeutenden Rechtssachen alle Gegenstände von allge—
mein ichtigkeit für die Gemeinde verbandelt wurden. Diese Versamm—
lung, n sollten nicht mehr, wie im alten Germanien, in Wäldern und auf
Anb'hen unter freiem Himmel, sondern in bedeckten Räumen oder
geschlossenen Gerichtsstätten stattünden. Auch sollte niemand bewaffnet
mit Lanze und Schild sich einfinden, mithin Geriehts- und Heerversamm—
lung geschiecen sein.
AMuehnc Staatshaushalt erfreute sich Karls Fürsorge. Von
der wirtscadtung der Bauernhöfe bis zu der obersten Leitung der
wur n ihm alles sorgfältig geordnet und überwacht. Landbau
un zucht, „9 Hauptbeschäftigungen der Franken, fanden Aufmun-
herem; Dörfer und Meiereien erboben sieh; öde Heiden wurden in Meker-
land ngeschaffen. Die Hauswirtschaft und die Kleiderkammern wurden
on Kaiserin und ihren Töchtern besörgt. Karl war aueh auf
Iebuns ves Verkehrs und Begründung neuer Handelswege dureh Sechift-
barmecauns von Flüssen, Anlegung von Brücken (z. B. in Mainz) u. dsl.
bedacht und suehte auf alle Weise zu einer ausgedebnten Erwerbsthätigkeit
anzuregen.
Die grösste Aufmerksamkeit vidmete Karl der allgemeinen Volks—
bildung, Dazu bediente er sieb der Geistlichkeit, die er dureh schen-
kungen, dureh Uberweisung von Grundbesitz und Zehnten, dureh Vorrechte
und Befreiungen (Immunität) zu heben und mit den weltlichen Vasallen
und Reiehsbeamten auf gleiche Linie zu stellen suehte. Gelehrte, wie
der britische Möneh Alkuin und der Geschiehtschreiber Einhard aus dem
Odenwalde, der Diehter Angilbert, der Karls Thaten in einem Epos
gefeiert hat, erfreuten sieh seiner Gunst und Unterstützung in hohem
Volksgericht, Volksversammlung
70 680. Der bayrische Volksstamm und sein ältestes Herrscherhaus, die Agilolfinger.
Grade. Des Raisers Interesse für Bildung gab sich auch in seiner Be—
schäftigung mit deutscher Grammatik und in der von ihm veranstalteten
Sammlung alter germanischer Heldenlieder kund. Auch für die Gründung
und Entwieklung des Städtewesens war RKarls Regierung von hoher Bedeu—
tung. Die von ihm in Sachsen und andern Ländern gelegten Keime ent-
falteten sich durch die Pflege der Kirche bald zu schönster Blüte, und
die königlichen Pfalzen, die im ganzen Reich zerstreut lagen, waren die
natũrlichen Stũtzpunkte für die Anlegung von Städten. Am liebsten weilte
er in der schönen Pfalz? zu Ingelheim am lieblichen Ufer des Rheinstromes,
und in Machen, wo seine Leiche im Steingewölbe der von ibm neu erbauten
Domkirehe beigesetzt ward. Auch in Würzburg, Regensburg, Schlettstadt,
Köõnigshof, Frankfurt, Tribur, Worms, Nymwegen, Heristal (Lüttich) u. a. O.
befanden sich kaiserliche Pfalzgen und Hoflager. Diese waren in allem
Vorbild edler Zueht und hbötischer Sitte. In seiner Umgebung sah man
die gewandtesten Geschäftsleute, die würdigsten Diener des Evangeliums,
die ersten Gelehrten der Zeit und jene tapfern Ritter, die als ,Paladine“
den folgenden Geschlechtern vorleuchteten. Diese vereinten Eigenschaften
und Grossthaten erwarben dem RKaiser bei seinen Zeitgenossen solehe
Verehrung, dass sogar der Khalife Harun al Raschid ihm aus dem fernen
Oriente kostbare Geschenke (darunter eine metallene, von VWasser getriebene
Schlaguhr) zuschickte. (Georg Weber, Lehrbueh der Weltgeschiehte.)
Ergänzungen. Karl der Grosse war seinem Vater Pipin 768 in der
Königswũrde gefolgt und 800 vom Papste Lieo zum römischen Kaiser ausgerufen
und gekrönt vorden. Er hatte durch Unterwerfung der Sachsen und Bayern
allé deutschen Volksstäamme unter seinen Scepter vereinigt. Seine Nachfolger
verstanden nicht, das mächtige Reieh zusammen zu halten. Schon sein Sohn
Ludwig der Fromme teilte es unter seine Söbne und veranlasste dadurch
Kriege der Söhne unter sich und gegen den Vater, Im Vertrag zu Verdun)
843 spaltete sich das Reich für immer in ein westliches (romanisches — Frank-
reich) und in ein östliches (germanisches — Deutschland). Der letzte deutsche
Sprosse Karls des Grossen war Ludwig das Kind, F 911.
80. Der bayrische Volksstamm und sein ältestes Herrscherhaus,
die Agilolsinger.
1. Der bayerische Stamm, wiewohl unter zwei Staaten zer—
spittert, bildet noch heute eine durch Sprache und Art seiner Ange—
hörigen unverkennbare Einheit. Ihm gehören vollständig an vom König—
reiche Bayern die Provinzen Oberbayern, Niederbayern, Oberpfalz und
Regensburg und von der österreichisch-ungarischen Monarchie die Erz—
herzogtümer Osterreich ob und unter der Enns und das Herzogtum Salz—
burg. Was von nicht bayrischem Volke in diesen Provinzen saß, ist
sehr geringe und frühzeitig bajuwarisiert worden. Ein schmaler Strich
1) spr. werdön
80. Der bayrische Volksstamm und sein ältestes Herrscherhaus, die Agilolfinger. 71
im äußersten Westen von Oberbayern beherbergt wahrscheinlich bayrisch—
alamannische Bevölkerung. Von der bayrischen Provinz Schwaben und
Neuburg sind die Bewohner des letzteren Gebietes Bayern. Von Ober—
franken. die Bevölkerung um das Fichtelgebirge, in Mittelfranken
die der südlichen und östlichen Teile, ungefähr ein Drittel bis zur
Hälfte des Ganzen von bayrischer Abkunst, reiner im Eichstättischen,
mehr mit Franken gemischt im Nürnbergischen; immerhin ist der Nürn—
berger Dialekt bayrisch, nur fränkisch angehaucht. Von Steiermark
und Kärnten gehört zum bayrischen Stamme die gesamte deutsche Be—
völkerung, ebenso von Tirol, hier aber mit Ausnahme der westlichsten
Striche, wo dieselbe alamannisch, oder doch aus Alamannen und Bayern
gemischt ist. Die Seelenzahl des bayrischen Stammes wird man heute
in runder Schätzung auf etwa 9 — 10 Millionen anschlagen dürfen, von
denen nahezu 312 Millionen im Königreich Bayern, alle übrigen in der
österreichisch-ungarischen Monarchie leben.
Zuletzt unter den vier großen deutschen Stämmen hat der bayrische
seine heutigen Wohnsitze gewonnen. Schon hatten im ganzen Westen
und Nordwesten von Deutschland bleibende Bevölkerung sich niedergelassen
und Franken, Sachsen, Schwaben hatten bereits eine Geschichte
hinter sich, als die Bayern in ihren heutigen Wohnsitzen erscheinen.
Über die Vedeutung des Namens Baioarii, Baiuwarii, auch
Bawari und Peigira, wie sie in den ältesten Urkunden seit dem
8. Jahrhundert vorkommen, kann kein Zweifel obwalten: Baiuwarii
sind die Bewohner des Landes Baia oder Baias.
Die Vahern führen bei ihrem ersten Auftreten in der Geschichte
rein deuje; nennamen, und rein deutsch sind auch die Ortsnamen,
die sæ ihren „ erlassungen beilegen. Die Ahnen unserer heutigen
Bay n nnen wir nur in einem germanischen Stamme suchen, der einige
Zeit: Shn auernden Wohnsitz hatte, und es unterliegt kaum mehr
einem weifel, L. jener Volksstamm der der suevischen Markomannen
Jewesen. Von diesem Stamme hat sich schon früher der der Narisker
in d. heutigen Oberpfalz abgezweigt, und aus ihm stammen die Ober—
pfälzc. Am nächsten verwandt ist der bayrische Volksstamm dem
schwäbischen, was schon daraus zu erkennen ist, daß der bayrische Dialekt
keinem anderen näher steht als dem schwäbischen und mit diesem einen
deutschen Hauptdialekt, das sog. Oberdeutsche bildet.
2. Um die Zeit als die Bayern ihre neue Heimat besetzten, hatten
sich im Westen und Süden bereits starke germanische Reiche gebildet,
dort das fränkische Chlodwigs, hier das ostgothische Theödorichs.
Unter des letzteren Herrschaft standen die westlichen Nachbarn der Bayern,
72 30. Der bayrische Volksstamm und sein ältestes Herrscherhaus, die Agilolfinger
die Alamannen. Daß ihm auch die Bayern unterworfen waren, läßt
sich weder beweisen, noch widerlegen.
Während das ostgothische Reich nach Theodorichs Tode rasch
zusammenbrach, griff das fränkische mächtig um sich. Der kraftvolle
König Theodebert J.. Chlodwigs Enkel (5334 — 547), vereinigte zum
erstenmale fast alle germanischen Stämme auf deutschem Boden zu einer
Herrschaft. Daß die Bayern nicht ausgeschlossen waren, darf man aus
dem Schreiben folgern, worin Theodebert dem Kaiser Justinian rühmt,
sein Reich erstrecke sich die Donau und die pannonische Grenze entlang
bis zum Ozean
Doch war die Abhängigkeit der Bayern von den Franken nicht
drücend und darum wohl nicht durch Krieg, sondern durch friedliche
Übereinkunft festgestellt Auch bleibt ihnen im Hause der Agilolfinger
ihr besonderes Herzogsgeschlecht, ob freilich ein einheimisches, läßt sich
nicht entscheiden.
der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts wird ein Bayernfürst
Gartbald genannt und ihm der Königstitel beigelegt. Derselbe hatte
zur Cemahlin Waldrade, die Tochter des Langobardenkönigs Wacho.
Aus dieser Verbindung erwuchs Theodelinde, ein berühmtes bayrisches
Fzkind, verheiratet an den Langobardenkönig Authari und nach
de Tode an den Langobardenherzog Ago oder Agilulf v. Turin,
der e durch ihre Hand zum Throne verhalf. An ihre erste Ehe knüpft
ae Erzählung mehr von poetischem Reiz als geschichtlicher Wahr
ualichkeit: wie Authari die Rolle seines eigenen Gesandten und Braut—
werbers spielt und sich dabei nur der Braut, auf der Heimkehr aber
auch dem bayrischen Ehrengeleite verrät, indem er zum Abschied, die
Streitaxt wuchtig in einen Baum schleudernd, ausruft: „Solche Hiebe
führt Authari!“ Vom langobardischen Throne aus hat Theodelinde,
in enger Verbindung mit Papst Gregor stehend, vornehmlich den Über—
tritt der Langobarden vom Arianismus zum katholischen Bekenntnisse
bewirkt.
Gegen Ende des 7. Jahrhunderts tritt ein Herrscher aus dem
Agilolfinger Geschlechte bedeutend hervor, Herzog Theodo, dessen
Gemahlin als Königin bezeichnet wird, also wahrscheinlich eine fränkische
Königstochter war. Doch scheint derselbe von den Franken völlig unab—
hängig gewesen zu sein. Unter ihm wurde das Christentum in Bayern
begründet und zwar hauptsächlich durch den Bischof Ruprecht aus
Worms, der nach verschiedenen Wanderungen seinen Sitz zu Salzburg,
dem alten Juvavium, aufschlug, und so Salzburg zur Hauptburg des
Christentums in Bayern machte. Gleich ihren andern Nachbarn sollten
80. Der bayrische Volksstamm und sein ältestes Herrscherhaus, die Agilolfinger. 73
nun auch die Bayern bald fühlen, daß die Zügel des fränkischen Reiches
jetzt in kräftigeren Händen lagen, als unter den Merowingern. In zwei
Feldzügen (725 und 728) besiegte Karl Martell den Herzog
Grimoald, der im letzten dieser Kriege, wahrscheinlich durch Mörder—
hand, sein Leben verlor. Grimoalds Söhne gelangten nicht zur Regierung,
sondern gingen in Not und Elend unter. Hugbert erhielt das Herzog—
tum, jedoch unter fränkischer Oberhoheit Nach dessen Tode gab Karl
Martell das Herzogtum an Datilo (dilo) vielleicht ein Sohn Tassilos II.
Aber bald machte sich Bayern unabhängig vom Frankenreiche und trat
zu demselben mehr und mehr in ein feindseliges Verhältnis. Der bayrische
Herzog vereinigte die Feinde des fränkischen Reiches, die Alamannen,
Aquitanier, und Sachsen, ja selbst Slaven zu einem machtvollen Bündnis.
Aber am Lech wurde Oatilo von Pipin geschlagen, Bayern dann 52 Tage
lang gebrandschatzt und der Herzog gefangen nach Frankreich abgeführt.
Doch erhielt en später Bayern wieder, jedoch nicht ungeschmälert.
DOatilo hinterließ bei seinem Tode (748) einen noch unmündigen
Sohn Thassilo UI.), der unter Obhut seiner Mutter das Herzogtum
Bayern erhielt, aber als fränkisches Lehen. Die Obervormundschaft führte
sein Oheim Pipin, seit 752 König des Frankenreiches Als Thassilo
im Jahre 757 seine Mündigkeit erreichte, ward er nach Compiègne?)
vor den Reichstag beschieden, um seine Abhängigkeit vom Frankenreiche
als zu Recht bestehend anzuerkennen. Er legte seine zusammengefalteten
Hände in die des Königs und gelobte diesem und seinen Söhnen Karl
und Karlmann die Treue des Vasallen. Mit ihm zugleich schwuren
zahlreiche vornehme Bayern denselben Eid.
Sechs Jahre ließ sich Tassilo das Abhängigkeitsverhältnis gefallen,
dann brach der wohl lange verhaltene Unmut in offene Empörung aus
Als J pin einen Kriegszug gegen Aquitanien antrat (763) verließ Thassilo
das königliche Feldlager mit dem zornigen Schwure, seinen Oheim nie
wieder sehen zu wollen Er übernahm in Bayern die Regierung und
führte sie 18 Jahre lang in völliger Selbständigkeit Doch die Tage
der bayrischen Selbständigkeit waren gezählt. Nachdem Karl der
Große die Unterwerfung der Sachsen in der Hauptsache vollendet hatte,
blieben die Bayern der einzige deutsche Stamm, der seinem gewaltigen
Weltreiche noch nicht eingefügt war. Auch hatte Karl die Eide noch
nicht vergessen, die der Agilolfinger zu Compiègne geschworen. Er ließ
Thassilo (781) nach Worms vorladen und diesen die früheren Gelöbnisse
) Die bisherigen Geschichtsschreiber nahmen diesen als Thassilo I.; Riezler führt
einen Tassilo II. als Sohn Theodos und wahrscheinlichen Vater Datilos auf.
spr. konspfjäns.
74 380 Der bayrische Volksstamm und sein ältestes Herrscherhaus, die Agilolfinger.
wiederholen. Mehr und mehr scheint sich bei Karl die Absicht festgesetzt
zu haben, dem unsichern Zustande in Bayern ein Ende zu machen. Dies
führte zu einem mächtigen Aufgebot Karls gegen Thassilo. Ungeheure
Heeresmassen setzten sich von drei Seiten her gegen Bayern in Bewegung.
Aber der Krieg kam nicht zum Ausbruch. Durch die Mißachtung seines
Eides war Thassilo dem päpstlichen Bann verfallen, und dieser führte
noch vor den fränkischen Waffen die Entscheidung herbei. Längst gab
es in Bayern eine fränkisch gesinnte Partei, an deren Spitze sich jetzt
die Bischöfe stellten, denen der niedere Klerus folgte. Bald beraubte
ein allgemeiner Abfall des Volkes Thassilo aller Mittel zum Wider—
stande. Wiederum mußte er sich dem Herrscher der Franken unterwerfen
und 13 auserlesene Geiseln, darunter seinen ältesten Sohn Theodo,
stellen, und das ganze bayrische Volk mußte jetzt den Franken den Eid
der Treue leisten. Aber auch dem letzten kargen Reste der bayrischen
Selbständigkeit war nur eine kurze Frist gegeben. Für die letzten Er—
eignißs haben wir aber nur einseitige Berichte, die offenbar in der Ab—
sicht verfaßt wurden, Karls Vorgehen gegen Thassilo zu rechtfertigen.
Indessen ist kaum daran zu zweifeln, daß Thassilo seinem Eide abermals
untreu geworden; auch soll er die heidnischen Avaren um Beistand ange—
gangen haben. Einen schlimmen Einfluß auf ihn scheint auch seine
Gemahlin Liutbirg, Tochter des von Karl dem Großen entthronten
Langobardenkönigs Desiderius ausgeübt zu haben. Im Jahre 788
wurde Thassilo vor die Reichsversammlung nach Ingelheim berufen.
In In theim wurde er sofort gefangen genommen und wehrlos gemacht.
Auch ließ Karl seine Gemahlin und Kinder, Diener und Schätze aus
Bayern herbeiholen. Es scheinen doch aus der letzten Zeit keine hin—
reichenden Beweise von Schuld gegen Thassilo vorgelegen zu haben; man
griff deshalb auf ein 25 Jahre lang übersehenes Verbrechen zurück, auf
den Treubruch Thassilos (763) gegen Pipin. Darauf stand die Todes—
strafe, und die ganze Versammlung sprach diese über Thassilo aus.
Karl aber — so berichten seine Geschichtsschreiber — milderte das
Urteil in Verbannung in ein Kloster. In St. Goar wurde Thassilo
als Mönch eingekleidet, später aber nach Lorsch bei Worms gebracht.
Seine ganze Familie wurde getrennt und in verschiedene Klöster gesteckt.
Doch Karl und seine Anhänger mochten fühlen, daß das Ingelheimer
Verfahren den Forderungen des Rechts nicht völlig genüge; darum wurde
Thassilo nach sechs Jahren vor die Frankfurter Reichsversammlung
geführt, um in — freilich nur scheinbarer — Freiwilligkeit Bayerns
Herrschaft an Karl abzutreten.
81. Wiederherstellung der abendländischen Kaisermacht durch Otto L, den Großen. 75
Von Thassilos Tod ist nur der Tag, 11. Dezember, nicht das
Jahr überliefert. Später hat sich die Sage seines Ausganges bemächigt.
In blutiger Schlacht läßt sie ihren Helden unterliegen und geblendet
auf Befehl des grausamen Siegers dann zu Lorsch umherirren, wo den
blinden Greis Engel zum Altare geleiten. (S. Nr. 69 S. 52.)
(Aus Geschichte Baherns von Sigmund Riezler.)
Ergänzungen. Nach Thassilos Entthronung wurde Bayern als Provinz des
Frankenreiches von Statthaltern regiert. Bei der Teilung der fränkischen Monarchie
(843) fiel es an Ludwig den Deutschen; dieser und seine Nachfolger hatten ihren
Sitz zu Regensburg. Nach dem Tode Ludwigs des Kindes (911) hatten die Bayern
wieder eigne Herzoge, zuerst aus dem Geschlechte der Luitpoldinger bis 948, dann von
den Kaisern eingesetzte Amtsherzoge, meistens nahe Anverwandte der Kaiser bis
1070, in welchem Jahre das Geschlecht der Welfen zur Herrschaft über Bayern ge—
langte. Auf diese folgten 1180 die Wittelsbacher.
81. Wiederherstellung der abendländischen Kaisermacht durch Otto L.,
den Großen.
Das wichtigste Ereignis des zehnten Jahrhunderts ist die Her—
stelnn des abendländischen Kaisertums. Hier liegt der
gr.endepunkt jener Zeit: vor demselben Auflösung, Zersplitterung,
aderung und Entsittlichung aller Orten im Abendlande, die christ—
. in unglücklichen oder mindestens zweifelhaften Kämpfen mit
„Jruischen Völkern, nach demselben Herstellung staatlicher und kirch—
li Irdnungen, Zusammenschluß, Kräftigung der Sitte und frischauf—
keimendes Geistesleben; der Sieg des Christentums über das Heidentum
wird im Abendlande für alle Zeiten entschieden, und mit dem Christentum
zugleich beginnt die Kultur bei den Nationen im östlichen und nordischen
Europa.
Oer Ruhm, diesen Umschwung der Dinge herbeigeführt zu haben,
gebülnne den deutschen Stämmen, die trotzdem, daß sie Karl der Große
mit Hromanischen Ländern auf längere Zeit verbunden, doch ihre
Ma. prache, ihre Freiheitsliebe, ihre Tapferkeit und die Reinheit ihrer
un aglichen Sitte bewahrt hatten, oder von der Fäulnis der Zeit
mind ens nicht im tiefsten Innern ihrer kräftigen Natur berührt waren.
De.t Arzige Tachsenkönigen gelang es, diese Stämme zu einem
großen und zewaltigen Kriegsvolke im Herzen Europas zu verbinden
und mit der frischen Heereskraft dieses Volkes die Macht der erbittertsten
Feinde der christlichen Welt — Dänen, Slaven und Ungarn — nieder—
zuwerfen. Nach solchen Siegen, die nicht allein Deutschlands, sondern
des ganzen Abendlands Zukunft sicherten, konnten die romanisierten
Völker den Vorrang unter den Nationen Europas nicht mehr be—
76 82. Die Anfänge des Gewerbs- und Städtewesens in Deutschland.
haupten; mit innerer Notwendigkeit traten die Deutschen in die erste
Stelle und wußten sich in derselben zu halten. Der erste Heinrich hatte
den Deutschen zur Freiheit und Selbständigkeit geholfen; Otto der Große
führte sie zur Herrschaft. Er schwang sich zum Schiedsrichter in den
Reichen der Westfranken und Burgunder auf, machte die Völker des
Nordens und Ostens von sich abhängig, eroberte Italien, unterwarf
Rom und gewann die Kaiserkrone.
Seitdem herrschte er mit einer Macht, wie sie seit den Tagen
Karls des Großen kein Fürst des Abendlands nur von fern besessen
hatte, und suchte die Aufgaben, welche der gewaltige Kaiser seinen Nach—
kommen hinterlassen, die sie aber nicht zu lösen vermocht hatten, auf
seine Weise und nach den Forderungen seiner Zeit zu lösen. Das christ—
liche Abendland durch feste Ordnungen im Reiche und Staat zu ver—
binden und die heidnischen Völker in dieses christliche Gemeinwesen
hineinzuziehen: das war das Ziel, dem er zustrebte und mit Riesen—
schritten entgegenging. „Stolz, gleich Libanons Zedern,“ sagt Thietmar
von Merseburg, „erhob sich das Reich, allen Völkern weit und breit
furchtbar.“ Und ein Dichter jener Zeit sang: „Hochbeglückt war die
Welt, als Otto führte das Scepter.“
(Wilh. v. Giesebrecht, Geschichte der deutschen Kaiserzeit.)
Ergänzungen. Nach dem Aussterben des Karolingerhauses in Deutschland
kam Konrad 1. von Franken zur Kaiserwürde (911 918), dann von 919 — 1024
das sächsische Haus. Die Kaiser aus diesem sind: Heinrich L, der Finkler oder
Vogelsteller, auch Städtegründer genaännt (Sieg gegen die Ungarn bei Merseburg 933),
Otto L, der Große (Zug nach Italien, Erwerbung der lombardischen Königs⸗ und
der römischen Kaiserkrone, Ungarschlacht auf dem Lechfelde 955), Otto IL. Otto Ul,
Heinrich der Heilige (GGründung des Bistums Bamberg).
Von 1024 - 1125 regierten die fränkischen oder salischen Kaiser:Konradll.
Erbauer des Speierer Doms), Heinrich IIL, der Schwarze, unter dem das deutsche
Kaiserreich seine größte Ausdehnung erreichte, Heinrich IV. (Kampf mit den Sachsen,
Investiturstreit mit dem Papste Gregor VII. Gegenkaiser Rudolf von Schwaben),
Heinrich V. Beendigung des Investiturstreites durch das Wormser Konkordat 1122).
Vom Kaiser Heinrich IVY. wurde das Herzogtum Bayern den Welfen verliehen, 1070. Die hervor—
ragendsten Herzoge dieses Geschlechtes sind Heinrich X. der Stolze, und Heinrich XII. der Löwe.
82. Die Anfänge des Gewerbs- und Städtewesens in
Deutsehland.
Die germanischen völker kennen in der ersten Zeit noech nieht
die Teilung der Arbeit hinsichtlich der Gewerbe. Da die dringendst
notwendigen Werkzeuge in Waffen bestanden, so waren ohne Zweifel
die Maffenschmiede das erste und vielleicht lange das einzige Gewerbe;
denn zur Herstellung der Waffen ist eben eine besondere Kunstthätigkeit
nötig, die sieh jemand bloss aneignet, wenn er sich ausschlelslieh mit
82. Die Anfünge des Gewerbs- und Städtewesens in Deutschland
dieser Arbeit beschäftigt. Alle anderen Gegenstände des tägliehen
Bedarfs wurden ursprüngliech von den Familien selbst angefertigt. Es
herrschte das Hausgewerbe, wie noch bei vielen minder fortgeschrittenen
Völkern der Gegenwart. Das Handwerk gehört einer späteren Zeit in
dem Entwieklungsgange der gewerblichen Thätigkeit an und ersetzt dann
das Hausgewerbe eben so naturgesetzlieh, als es noch später selbst von
der Grossindustrie und Cem Fabrikbetrieb verdrängt wird. Schon damals
war indes die Teilung der Arbeit soweit gediehen, dass wenigstens ein—
zelne Zweige von gewissen Leuten ausschliesslich und nach eigens hiefür
bestimmten Vorschriften betrieben wurden. Schön gewirkte und gestickte
Gewaänder, bunte Röcke und Fahnen, zierliche Möbel, mit Bildwerk aus-
gelegte Gold- und Silbergefässs, Glasfenster und geschnitztes Tafelwerk
wurden zur Verschönerung des häuslichen Lebens verwendet. Die An-
regung hiezu ging aber meist von einem lultivierteren Volke, nieht von
den rohen Westeuropüern selbst aus. Die Vervollkommnung der Gewerbe
kam aus Italien, und zwar zunächst im Wege des Krieges. Die eroberte
Kriegsbeute machte lüstern nach all den schönen Dingen des kultivierten
heindes. So hatten auch im Altèrtume die Perserkriege die Griechen
zum Kulturvolke erboben. Es wurden Kriegsgefangene gemacht und als
Sklaven verteilt, welebhe das eine oder das andere Gewerbe kannten,
kurz, die ersten Handwerker, ausser den Waffenschmieden, erschienen in
Gestalt von Sklaven. Der das Altertum beherrschende Begriff, dass
Arbeit eines freien Mannes unwürdig sei, ist allen niedrigen Entwicklungs-
stufen gemeinsam; man begegnet ihm ausnabmslos bei den unkultivierten
Vöolkern der Gegenwart, wo alle Arbeit den Schwachen, d. h. den Weibern,
Bresthaften und den kriegsgefangenen Sklaven aufgebürdet ist, die freien
Manner aber kraft des Rechtes des Starkeren sieh selbst Jagd und Krieg
vorbehalten. Die pamliche Vorstellung herrschte bei den germanischen
sstäammen, und zwar um so länger, als sie nirgends in den eroberten
Landern eine wesentlich verschiedene Auffassung antrafen. Zweifelsohne
sind da Vorurteile, welche teilweise bis in die Jetztzeit dem Adel die
Arbeit als entwürdigend untersagten, Überbleibsel jener Anschauungen.
Das freie Gewerbe hatte das Altertum nieht gezeitigt.
Die ersten Keime eines fortgesehrittenen Gewerbes entwiekelten sieh
in den Klöstern. Dieselben Ursachen, welebe von den Klöstern den
ersten Volksunterricht, die ersten Verbesserungen in Ackerbau und Land-
wirtschaft ausgehen liessen, leiteten die Mönchean, den auf den Gütern
der Freien nur roh betriebenen Gewerben einen höheren Grad von AMus—
bildung zu geben. Der Woblstand der Klösster erlaubte zudem ihren
Insassen sich in anderer Weise als mit Beschaffung der nötigen Lebens-
mittel zu beschäftigen. In den Klöstern konnten sieh die Gewerbe am
besten entwiekeln, da ihnen hier die ganze Wissenschaft, worüber das
sSeitalter verfũgte, zu Hilfe kam. Ohemie, Physik und Technik wurden
getrieben und ausserten bald ihren Einfluss auf die Gewerbe. Die
82. Die Anfänge des Gewerbs- und Städtewesens in Deutschland.
Clõster varen die Zufluchtsstätten der Armen und Unterdrückten, nament-
lich der entlaufenen Leibeigenen, und sie haben seit anderthalb Jabr-
fausenden Brũüderlichkeit und Gütergemeinschaft praktisch ausgeübt.
Grössere Bedeutung erhielten die Gewerbe indessen erst in den
Stadten. Die Städte gingen teils aus der Unsieherbeit des Eigentums
und Lebens hervor, teils aus der Verbreitung des Christentums. Eines-
teils war es die rohe Gewalt des Starken und Mächtigen, welche die
Sechwachen und Aarmen zwang, in der Vereinigung Sehutz gegen die
Übergriffe zu suchen, andernteils trug die Kireche dafür Sorge, in den
neubekehrten Ländern zu Stätten der Gottesverebrung von altersher
geweihte Stellen zu vählen, an deren Besuch die umwohnende Bevölkerung
längst gewöhnt war. In der Nahe von Rlöstern und Kirehen sammelten
sich bald Meüschen, und so keimten die Städte mit Vorliebe in der
Nahe der RKlöster auf; es wurden Buden errichtet, worin Speisen,
Getränke, Werkzeuge, Schmucksachen zum Verkauf feil geboten wurden.
Sus diesen Verkaufsgelegenheiten entstunden Jahrmärkte und Messen,
aus den Kapellen Kirchen, aus den Buden Häuser, aus den geweihten
Statten sStadte, Kurz, einem unumstölslichen Gesetze zufolge entwickelte
sieh das Grosse aus dem Kleinen. Die Entwicklung der Gewerbe war
an die Gründupg und Entwicklupg der Städte gebunden, d. h. dĩe Gewerbe
konnten sieh nicht entfalten, ehe das Städtewesen ausgeblldet war. Dazu
trugen zunächst die den Staãdten erteilten Vorrechte bei, welehe die
Bürger der Stäadte mit dem Wasffenrecht ausstatteten und der Gerichts-
barkeit der Territorialherren entzogen. Mie die Städte selbst aus dem
Bedürfnisse des Aneinanderschliessens hervorwuchsen, zwang dieses bald
aueh in den Städten wieder die einzelnen Handwerker zu innigerer Ver—
einigung. Die Mehrung der Bedürfnisse im städtischen Leben hatte eine
grössere Teilung der Arbeit zur Folge, und diese hinwieder drängte
die Angehörigen des gleichen Gewerbes zu engerem Anschlusse. Es ent-
ztanden die Innungen und Zünfte. Das Zunftwesen ist einer der tief—
greuendsten Vortschritte des NMittelalters. Von den Zünften datiert der
Aufschwung der Gewerbe, entstanden dureh die Teilung der Arbeit in
ler Zunit, durch die Lehrzeit, den Wanderzwang und das Meisterstück.
Ohne diese Einrichtung väre das Entstehen eines zahlreichen freien
Bürgertums, das Emporblühen der Städte in grösserer Ausdehnung wohl
kaum möglich gewesen. Ohne Wanderzwang z. B. varen die söhne der
Vandwerker bei dem damaligen Zustande der Verkehrswege kaum dazu
gekommen, Sitten und Lebensweise, Trachten und Werkzeuge, Erzeugnisse
der nunst und des Gewerbfleilses fremder Völker sich anzusehen und,
mit diesen Kenntnissen bereichert, das Gewerbe in ihrer Heimat auf eine
höhere Stufe bringen zu helfen. Natürlien klebten dem Zunftwesen wie
jeder menschlichen Einrichtung gewaltige Schatten an. Da aber gar
keine Institution ohne NMissstände geblieben ist, so fragt sieh nur, ob der
gestiftete Nutzen den Schaden überwog. Die Forschung antwortet mit ja.
83. Die Pflege der Kunst im Kloster Tegernsee. 79
Unter dem Drucke des Zunftwesens und wohl hauptsächlieh Dank
demselben gedien das Gewerbe wenigstens in einigen Punkten zu einer
das klassische Altertum beschämenden Höhe. Trotz seiner hochent—
wickelten geistigen Bildung hatte veder der hellenische noch der römische
Geist es bis zur Erfindung eines so wiehtigen Dinges gebracht, vie es
eine Räderuhr ist. Sicher ist es, dass zu Ende des 11. und Anfang des
12. Jahrhunderts die Tucehfabrikation besonders in Friesland, die Her—
stellung der Leinwand in Deutschland eine hohe Stufe erreicht hatte.
In Frankreich wurden die VWindmühlen erdacht und bald in den Nachbar-
landen eingeführt; die Herstellung des Brotes und biemit die Versorgung
des Volkes mit dem notwendigsten Nahrungsmittel ward dadurch auf
eine im Altertume ungeahnte Weise erleichtert.
EFriedrich v. Hellwald, Kulturgeschiehte.)
83. Die Bslege der Kunst im Kloster Tegernsee.
Hervorragende Bedeutung für die Geschichte der bayerischen Kunst
kommt dem Kloster Tegernsee zu, und nicht ohne Grund wies Abt
Siegfried auf die künstlerische Thätigkeit seiner Mönche, als Gefahr
drohte, daß Heinrich IV. die alte Reichsabtei als Lehen vergeben werde.
„Sollte das Kloster seine Freiheit verlieren,“ schrieb er dem Kaiser, so
würde dort sicher auch jede Kunstübung versiegen; denn wer keine Freude
am Leben mehr hat, den wird es auch nicht mehr gelüsten zu malen oder
zu schreiben.“ Von Abt Gozbert, der 982 seine Regierung begann,
überliefert, daß er das Kloster mit Gebäuden, Büchern, Glocken
Fenstern und Tafelwerken geschmückt habe, und gleiche Thätigkeit wird
dann von den meisten seiner Nachfolger gerühmt. Der Probst von
z. alten erbat sich zur Ausschmückung seiner Kirche einen geschickten
Ma.aus Tegernsee. Zumal Erzguß und Glasmalerei fanden dort
eifri. Pflege. Unter Gozbert schenkte ein Graf die ersten Glasgemälde
an vas Kloster, zum Entzücken des Abtes, wie sein erhaltenes Dank—
schreiben bezeugt; denn wo vordem nur Lumpen die Fensteröffnungen
berhüngten, fielen nun in bunter Schönheit die gedämpften Lichter auf
den Estrich. Eine Tegernseer Glashütte sieht man dann auch auf Be—
stellung arbeiten. Auch der Erzguß reicht hier mindestens bis zum
Aus unge des 10. Jahrhunderts hinauf. Schon, in der berühmten Hand—
schris? Froumunds findet sich eine kurze Schrift: „über das Maß
des Wachses und der Metalle in den Gußwerken“ und Gozbert bittet
einen Freund um Zusendung von Kupfer, Zinn und Blei, da er diese
Metalle im Gebiete des Klosters nicht kaufen könne. Auch in Freising
ward damals der Erzguß betrieben; Bischof Gotschalk lieh einen Erz—
gießer nach Tegernsee. Verbreiteter als die Kunst der Erzgießer scheint
80 83. Die Pflege der Kunst im Kloster Tegernsee.
die der Goldschmiede und Emailleure gewesen zu sein, von deren Werken
ein wohl als Reisealtar dienender Schrein des Bischofs Nitker von
Freising aus der Mitte des 11. Jahrhunderts Hervorhebung verdient.
Das älteste noch erhaltene bayerische Kunstwerk gehört dieser Gattung
an, ein Kelch, den Thassilo an Kremsmünster geschenkt, und den das
Kloster noch heute bewahrt.
Am Ende des 11. Jahrhunderts besaß Tegernsee in dem Mönche,
später Dekan Werinher oder Wetzil einen berühmten und vielseitigen
Künstler, der Schriften und Gemälde, Bücherdeckel und plastische Arbeiten
zierlich auszuführen verstand. Namentlich erwähnt der Chronist von
seinen Werken eine oben dreieckige Altartafel von Gold, Silber, Email
(electrum) und Edelsteinen, ferner fünf Glasgemälde und ein, wie es
scheint, zum Händewaschen bei gottesdienstlichen Verrichtungen bestimmtes
Erzgußwerk. Kleine Reste von Glasmalereien der romanischen Periode
sollen auch die Kirchen von Plattling und von Feldmoching bei
München bewahren. Doch spielte die Glasmalerei in den Kirchen noch
nicht die bedeutende Rolle, die ihr später der gothische Stil einräumen
sollte. Um so reicher durften sich auf Wänden, Decken und Wölbungen
Wandgemälde ausbreiten. Eine alte Beschreibung der in der Kirche von
Benediktbeuren angebrachten zeigt, welche Fülle von heiligen Gestalten
hier dem Besucher entgegenschimmerte. Mit Leim- und Temperafarben?)
aufgetragen, sind jedoch diese Bilder fast sämtlich dem Untergange ver—
fallen; nur kleine Reste in der Vorhalle des Klosters Nonnsberg in
Salzburg in Golletshausen am Chiemsee und in Feldmoching
und etwas bedeutendere in Obermünster in Regensburg haben
dem Zahne der Zeit widerstanden. Wie die Skulptur römischen, folgt
die Malerei nun byzantinischen Vorbildern; ja was wir von Tafelbildern
kennen, scheint sogar durchweg aus dem Orient selbst zu stammen, wie
denn Altmanns Biograph berichtet, daß die Herzoge von Böhmen bei
der Einweihung der Klosterkirche von Göttweih ein kostbares Gemälde
der heiligen Maria von griechischer Arbeit übersandten. Von Email—
malerei bieten Schreine in Tißling bei Mühldorf und ein prachtvolles
Kästchen in Regensburg, von Miniaturmalerei endlich die Haud—
schriften der bayerischen Stifter und Klöster zahlreiche Proben. Die
Gegenstände sind auch hier fast ausschließlich religiös; doch hat Abt
Ellinger von Tegernsee um die Mitte des 11. Jahrhunderts,
wie er Bibeln mit Bilder schmückte, auch zu einer Naturgeschichte des
Plinius die Tiere an den Rand gezeichnet.
(Sigmund Riezler, Geschichte Bayerns.)
Bei den Temperafarben wurde verdünntes Eigelb und Leim von gekochten
Pergamentschnitzeln verwendet.
84. Zünfte und Innungen im Mittelalter. 81
84. Zünfte und Innungen im UNittelalter.
Neben den Geschlechtern oder Patriziern stand die regierte Bürger-
zchaft, gegliedert in Innungen, in diesen die Männer des besitzenden
Mittelstandes als die Herren. Die Innungen waren Genossenschaften der—
jenigen, velche ähnliche Erwerbsinteressen hatten in Handwerk und Kram-—
handel; auch hatten sie eine Kasse zur Unterstützung für Kranke und
Hilflose und zu ehrlichem Begräbnis.
andwerk gewinnen wollte, der musste wenigstens drei Jahbre
lernen vor er Knecht wurde. Als Knecht arbeitete er dann nach
Handwerksordnung bei einem andern, der das Handwerk selbständig
betrieb. Schnell wurde das Wandern der jungen Gesellen Brauch und
Gesetz. Es war sicher uralt; wir finden es aber erst seit dem 13. Jahr-
hundert erwähnt.
GSeit die Handwerker persönliche Freibeit und selbständige Ordnung
hres Landwerkes gewonnen, wurde bei den meisten Handwerkern „Meister“
allmählicbh ein Ehrentitel nicht nur der Innungsvorsteher, sondern auch
eines jeden, „r das Handwerk mit Bürgerrecht selbständig betrieb.
Vur in der grosssen Genossenschaft der Baubandwerker, welehe in ibrer
Bauhbũütte gern Laaurer, Tüncher, Zimmerleute, Steinmetzen vereinigte,
blieb der Namc Meister länger ehrende Bezeichnung des obersten Vor—
ztehers, der wohl häufig ein Patrizier war.
Neht jeder Handwerker der Stadt brauchte um 1300 zu der Innung
seines Handwerkes zu gehören, nicht jedes Handwerk war als Innung ge—
einigt, und nieht jede Innung bestand aus Mäannern desselben Handwerks;
oft waren mehrere zu einer Brüderschaft verbunden, und noch machte
die Stadtgemeinde den Zuzug fremder Arbeiter leicht. Da bemühbten sich
die Innungen zuerst durchzusetzen, dass jeder, der ihr Handwerk trieb,
Mitglied ihrer Brüderschaft werden musste, demnächst, dass die Kufnahme
in die Brüderschaft abhängig wurde von den Vorschriften, welehe sie fũr
Lehre und Ausübung des Handwerks gesetzt haben.
Dieselben Genossenschaften hatten seit früher Zeit auch eine mil-
türische Bedeutung; denn der Bürger war verpflichtet, unter dem Banner
seiner Innung Kriegsdienst zu leisten, die Knechte, wie es scheint, in
leichterer Rüstung, die Bürger auch darin im Gegensatz zu den Geschlechtern,
dass sie in der Regel zu Fuss kämpften.
Auch war jede dieser Innungen nach deutscher Weise eine Schwur-
genossenschaft, deren NMitglieder gelobt hatten, „Liebe und Leid mit
einander zu tragen“; sie umfasssten mit ibhren Knechten und abhängigen
Leuten die grosse Mehrzahl der Stadter; jedem einzelnen Meister waren
die Genossen seiner Werkstatt und seines Hofes wieder durch Gelöbnis
erbunden. Rine Bürgerschaft, so fest gegliedert, in dem Gefühle des
WVohblstandes und der Uberlegenheit, konnte auf die Länge nieht ertragen,
on der Regierung der Stadt ausgeschlossen zu sein. Die Geschlechter
Marschall, Lesebuch für gewerbl. Fortbildungsschulen. Kl. Ausg
8 84. Zünfte und Innungen im Mittelalter.
aber gaben Veranlassung zu gerechten Beschwerden; ihr Regiment wurde
als hart und parteisüchtig verklagt und ihre V erwendung der Stadtgelder
als höchst gewissenlos. Sie wählten aus ihrem Leinen Kreise den Rat,
oder der Rat, dessen NMitglieder jahrlich wenigstens teilweise wechselten,
bestimmte selbst die Nachfolger. Gegen diese alten Schaden, vwelehe
ũberall der Herrschaft regierender Familien anhängen, vereinigten sich
die Innungen samtlich oder in der Mehrzahbl zu Klagen, endlich zu offenem
Aufstand. Kaum eine Stadt auf deutschem Boden, in welcher nicht
Bũrgerkrieg die Strassen blutig farbte und die Ratsstühble umwarf ; in den
meisten Städten erzwangen sich die Handwerksmeister die Teilnabme am
Rat. Oft wurden sie wieder verdrängt, aber aus diesen inneren Kämpfen
exwuchs eine gemischte Verfassung, welehe den Innungsgenossen eine LVeil-
nahme am Schöppengericht und der Verwaltung sicherte, den Geschlechtern
aber doch den Hauptteil der Geschäfte überliels.
Jeder ãltere Handwerksmann wusste um 1300, dass sein Handwerk
seit Menschengedenken grosfse Veränderungen erfahren hatte. Überall
grössere Kunst und Reinlichkeit des Lebens; neue Handwerke waren ent—
standen; unaufhörlich änderte die MNode. Aus dem Handwerk der Eisen-
sehmiede waren wohl zwölf jüngere gekommen, vom Sarwürker, der die
Cettenpanzer verfertigte, bis zum Nestel Heftel-macher. Die Riemer,
dattler und Beutler hatten sich getrennt, und die Beutler verfertigten
Handschuhe und zierliche Ledertaschen für die Frauen und parfumierten
sie mit Ambra; die Glaser, sonst geringe Werkleute, waren hoch herauf-
gekommen; sie verstanden, durchsichtiges Glas in den schönsten Farben
zu verarbeiten, sie setzten diese Farben Lunstvoll in Blei zu Bildern zu—
sammen, malten Gesichter und Haare, schattierten die Gewänder und
schliffen helle Stellen aus. Die sSchneider, eine sehr viehtige und an—
sehnliche Innung, waren zumeist dureb die Mode geplagt; schon damals
wvar Rlage, dass ein Meister, der im vorigen Jahre noch zur Zufriedenheit
gearbeitet hatte, jetzt gar nichts mehr galt, weil er die Kunst der neu—
modischen gerissenen und gesehlitzten Kleider nicht verstand. Sogar die
dcehuster waren sehr kunstreien geworden; ihr Handwerk war schwierig;
zie hatten Sehnabelschube zu nähen von buntem Leder, deren Spitzen
sich zuerst etwas in die Höhe erhboben und dann wie der Kamm eines
LTruthahnes hinabhingen. Es war Rittertracut; der Rat wollte für die
Bürger nur geringe Lange der Schnäbel zulassen, aber das war vergeblich,
die Zierlichkeit war nieht aufzuhalten. Aueh die Schuster hatten sieh
geteilt: wer moderne Schuharbeit von buntem Leder verfertigte, nannte
sich 2z. B. in Brèmen „Korduaner“; die andern hiessen sehwarze Schub—
macher, sie hatten vieder die Altbülser von sieh ausgeschlossen, die als
kleine Leute in besonderen Stunden bei ihrer Bastelarbeit salsen.
Dass die Handwerker sieh stolz in ihrer Kunst fühlten, sah man
sehon auf der Stralse an den Häusern, wo ihre Innungsstuben vwaren.
Denn sie hatten, wvie die Geschlechter. ein schönes Wappen darangemalt.
32
84. Zünfte und Innungen im Mittelalter. 33
Das hatten sie sich selbst gesetzt nach alter Uberlieferung, vor anderen
die Schmiede, welebhe Hammer und Zange in einem Schilde führten nach
dem Sagenhelden ihres Handwerks, dem Witege, dem Sobn Wilands des
Schmiedes, oder es war ihnen gar von einem deutsechen Könige verliehen
worden, weil sie ihm tapfer beigestanden; so sahen die Meilsbäcker
freudig auf ihre gekrönte Bretzel, die ihnen vom Kaiser Karl IV. wegen
ihres Löwenmutes zugetdilt worden war; sie wurde von zwei schreitenden
Löõwen getragen, velche in den anderen Pranken ein Schwert hielten.
Durceh ein eigenes Zeremoniell, die sogenannte Vorsage der Zunft,
ist das ganze Leben des Handwerkers in seiner Innung befestigt. Nach
erlerntem Wortlaut wird jede Zusammenkunft der Meister und Gesellen
geleitet, Gruss und Einführung des Zuwandernden, MAufnabme des neuen
Meisters. Wenn die Lade geöffnet ist und Handwerksgebrauch geübt
wird, steht Strafe darauf, dass äeiner Ungebührliches rede oder thue.
Auch der Tagesverkelr des Meisters und seiner Knechte, alle Leistung,
ja alle Gunst und Gefälligkeit ist in herkömmlicher Weise geordnet, durch
Spruchwort und Wechselrede bestätigt.
Diese Ordnung bildet ein eisenfestes Band, welches die harten Ge—
sellen an einander fesselt. Dieselben Formeln sind dem keinen Mann
aber auch Zauberworte, welehe ihm sein Herrengefühl in der Welt geben;
der sonst in derx Fremde rechtlos und schutzlos wäre, er findet damit, so
weit die deutsche Zunge reieht, überall solebe, welehe wie Brüder und
Vaäter um ihn zu sorgen verpflichtet sind. Und er wandert mit Hand-
werksgruss und Erkennungszeichen, mit leichter Habe und leerem Beutel
hunderte von Meilen, bis er eine Werkstatt findet, in die er als Genosse
der Familie eintritt. oder bis ibm sein Glück ein eigenes Geschäft ver—
gönnt.
Es war natürlich, dass der Handwerksbrauch, der solche Vorteile bot,
immer künstlicher wurde. Eben so vwie die Arbeit der Innungen unter
dem Zunftzwange erstarrte, vurde auch mit den Ansprachen und Bräuchen
des Handwerks ein Keinliches Spiel getrieben, der FPormelkram zuletzt
dem Gescheiden lästig. Es kam die Zeit, wo die Arbeit der Privilegierten
niebt mehr dem Bedürfnis der Nation genügte, wo neue Staaten mit
grölserer Sicherheit des Verkehrs, besserer Schule und höherer Bildung
aueh den Gedanken der freien Konkurrenz und Arbeit vertreten konnten.
Jene alten Formeln und Bräuche des deutschen Handwerkes sind dem
Geschlechte der Gegenwart veraltet. Wir aber denken daran, dass sie
dem deutschen Handwerksgesellen einst die Kraft gegeben haben, mit
dem Bündel über Berg und Thal, dureb den ungeheuren Wald zu fremden
Völkern zu ziehen und dort auf fremder Erde in der Gemeinschaft mit
seinen Brüdern so lange zu hämmern, zu messen und zu nähen, bis
grosse Stücke Land, auf denen jetzt das Leben unserer Nation reichlieh
und kräftig erblüht, dem deutschen Volke zugemessen, angehämmert und
eingenäht waren. an Freytag.)
85. Die Kreuzzüge.
85. Die Kreuzzüge.
Von jeher waren das Land und die Orte, wo Christus geboren
ward, wo er lehrte und starb, seinen Bekennern Gegenstände der Sehn—
sucht und Verehrung. Schon Konstantin ließ in Jerusalem eine pracht—
volle Kirche über dem heiligen Grabe erbauen; zahllose Pilger aus
allen christlichen Ländern wanderten seit der Zeit nach dem heiligen
Lande, um an den ehrwürdigen Stätten ihre Andacht zu verrichten.
Die Araber duldeten diese Wallfahrten; als aber 1072 die seldschukischen
Türken Herren von Palästina wurden, hatten die Pilger Verfolgungen
und Veleidigungen zu erdulden; Plünderung, Gefangenschaft, Sklaverei
oder der Tod, das war das Los der frommen Waller. Die Christen—
heit war entzweit; die morgenländische Kirche hatte sich von der abend⸗
ländischen gänzlich losgesagt und war unfähig, die unter ihren Augen
geschehenen Greuel zu verhindern. Da kehrte Peter von Amiens9),
ein französischer Eremit, aus dem gelobten Lande heim, überbrachte dem
Papste Urban eine Bittschrift des bedrängten Patriarchen zu Jeru⸗
salem und schilderte die Leiden der Christen und den Zustand der Ge—
meinde zu Jerusalem mit flammenden Worten. Während Peter weiter
wanderte, und auf den Rat des Papstes überall das Elend der Christen
im hrlagen Lande schilderte, bereitete dieser eine Kirchenversammlung
vor. Diese fand zu Clermont?) im südlichen Frankreich statt. Die
weite Ebene, in der die Stadt lag, war mit Menschen bedeckt. Zuerst
trat Feter anf und sprach so ergreifend, daß alles Volk laut weinte
und schluchzi., dann forderte der Papst selbst in begeisterter Rede die
Fürsten und Edlen auf, den Feind des Christentums zu demütigen und
die heiligen Stätten seinen Händen zu entreißen. „Gott will es! Gott
will es!“ tönte es von allen Seiten, alle versprachen in den heiligen
Krieg zu ziehen; sie knieten nieder, und der heilige Vater erteilte ihnen
den Segen, dann heftete er einigen Bischöfen, die mitziehen wollten, ein
Kreuz von rotem Zeuge auf die rechte Schulter; Tausende begehrten
und erhielten dasselbe Zeichen und eilten in die Heimat, um sich zu
rüsten. Überall entstand eine große Bewegung; ungestüm drängte alles
zum Aufbruche. Während die Fürsten besonnen rüsteten, zogen Scharen
des unverständigen Volkes leichtsinnig in einen Kampf, von dessen Be—
schaffenheit sie keine Ahnung hatten. Ihr Schicksal war höchst traurig.
Ohne Geld und Lebensmittel, ohne Ordnung und Zucht, litten sie bald
Mangel; sie plünderten und raubten in den Gegenden, durch welche sie
zogen, und die Ungarn, Bulgaren und Griechen wurden so erbittert,
spr. amjäns. ») spr. klermons
24
85. Die Kreuzzüge. *
daß sie viele erschlugen. Die wenigsten sahen die asiatische Grenze, und
kaum 3000 entkamen mit Peter nach Konstantinopel, wo dieser die An—
kunft des geordneten Zuges erwarten wollte.
Dieser bestand aus Franzosen, Lothringern, Normannen und Ita—
lienern. Jeder Fürst führte seine Schar. Zur Leitung des Ganzen war
Go: ried von Bouillonh) Herzog von Lothringen, gewählt worden.
Auf verschiedenen Wegen fanden sich die Kreuzfahrer in Konstantinopel
zusammen; bei einer Musterung zählte man 100000 Reiter und
200000 auserlesene Kämpfer zu Fuß. Der griechische Kaiser, erschrocken
über eine solche Menschenmenge, wollte sich ihr entgegenstellen; doch
Gottfried gewann ihn auf gütlichem Wege, so daß er Wegweiser erhielt
und Lebensmittel zugesichert wurden. Freilich erwiesen sich die Griechen
als ein treuloses, hinterlistiges Volk, das wesentlich zum Verderben der
Kreuzfahrer beitrug. Die Drangsale der Christen waren unerhört. Die
Türken hatten alle Lebensmittel fortgeschafft, die Griechen brachten keine
herbei; von allen Seiten lauerte der Feind und überfiel die von der
Glut der Sonnenstrahlen Ermatteten und floh leichtgewandt, wenn er
angegriffen wurde. Menschen und Tiere sanken erschöpft zu Boden und
gingen elendiglich zugrunde. Da wurden auch die Entschlossensten
kleinmütig, viele kehrten um, und nur dem Heldenmute und der Beharr—
lichkeit Gottfrieds gelang es mit den übrigen, Nicäa, Edessa und
Antiochia nach übermenschlicher Anstrengung zu erobern; Tyrus,
Sidon, Acre, der Seehafen Joppe wurden eingenommen, und das
Heer nahte sich dem Ziele seiner Sehnsucht, der Stadt Jerusalem.
Als sie die heilige Stadt von der Höhe von Emaus erblickten, da fielen
sie auf ihre Kniee nieder, stimmten fromme Jubellieder an, und die alte
Begeisterung erfüllte sie; Drangsal, Not und Elend waren vergessen.
Kaum noch 30000 Mann stark, halb verhungert und ermattet, waren
sie doh entschlnen, die mit drei starken Mauern umgebene und von
40009 fanatischen Türken verteidigte Stadt zu erstürmen. Es fehlte
an Velagerungswerkzeugen. Mit unsäglicher Geduld schleppten sie das
in der baumlosen Gegend seltene Holz zusammen, und nach vier Wochen
waren zwei Belagerungstürme fertig, die auf Rädern bis an die Mauern
geschoben wurden. Der erste Sturm mißlang, doch wurde er schon am
folgenden Morgen erneuert. „Gott will es!“ ertönte es überall; mit
diesem Rufe sprang Gottfried von seinem Turme hinab auf die Mauer.
Die andern folgen; ein blutiges Gefecht, und die Mauer ist von den
Feinden gesäubert. Da wirft sich der heldenmütige Anführer mitten in
9 spr. bujons
8
853 86. Die deutsche Hansa.
die dichtgedrängten Scharen der unten lauernden Feinde und säbelt
alles nieder, was nicht weichen will. Seine Genossen folgten seinem
Beispiele; die Thore wurden von ihnen aufgerissen, mit unwiderstehlicher
Gewalt strömten die Kreuzfahrer hinein, und nun entstand ein mörde—
rischer Kampf in den Straßen, da von beiden Seiten mit der furcht—
barsten Erbitterung gefochten wurde. Die Kreuzfahrer ruhten nicht eher,
als bis auch der letzte Sarazene vernichtet war; selbst die Juden wurden
in der Wut des Kampfes niedergemacht. Dann erst legten sie die
Waffen nieder, zogen in Prozession in die Kirche des heiligen Grabes
und dankten Gott für den errungenen Sieg.
Gottfried ward einstimmig zum König von Jerusalem erwählt; er
lehnte aber bescheiden diese Würde ab. Nur „der Beschützer des heiligen
Grabes“ wollte er heißen und keine goldene Krone da tragen, wo einst
der Heiland unter der Dornenkrone geblutet hatte. Noch einen herr—
lichen Sieg erfocht Gottfried mit 20000 Mann gegen 40000 Türken
bei Ascalon, worauf er das ganze Land in Besitz nahm. Leider starb
der treffliche Held schon im Jahre 1100. Er wurde auf dem Kalvarien—
berg in Jerusalem beerdigt. Sein Bruder Balduin übernahm die
Regierung des Landes, das immerwährend von türkischen Horden be—
droht war. Ludw. Kellner.)
Ergänzunge n. 1. Der erste große Kreuzzug fand statt 1006. Es wurden
noch sechs große Kreuzzüge unternommen. Beim zweiten befand sich Kaiser Konrad UII,
beim dritten Friedrich Barbarossa, der im Fluße Saleph in Kleinasien seinen Tod
fand; der vierte richtete sich gegen Konstantinopel, wo das sogenannte lateinische Kaisertum
errichtet wurde; den fünften unternahm Kaiser Friedrich II, der sich zum König von
Jerusalem krönte; den sechsten und siebenten führte Ludwig IN, der Heilige, von Frank—
reich aus Im Jahre 1291 ging mit Alkon die letzte Besitzung der Abendländer in
Palästina verloren. Durch die Kreuzzüge entstanden die drei geistlichen Ritterorden:
1. Johanniter (später Rhodiser und Malteser), 2 Templer, 3. Deutschherren.
Auch gelangte durch die Kreuzzüge der abendländische Handel zu hohem Ausschwung,
die Städte, besonders die italienischen, zur Blüte, und das Gewerbswesen hob sich
außerordentlich.
2. Nach dem Aussterben des salischen Kaiserhauses führte auf kurze Zeit Lothar
von Sachsen das Kaisersceepter; dann kamen die Hohenstaufen auf den Kaiser—
thron (1138): Konrad III, Friedrich L. Barbarossa, Heinrich VIL,
Philipp von Schwaben (1208 zu Bamberg ermordet), Friedrich II. und
Konrad IV. Dessen Sohn Konradin wurde 1268 zu Neapel enthauptet.
Bayern hatte 1180 der Pfalzgraf Otto von Wittelsbach von Friedrich
Barbarossa erhalten. Dieser ist der Stammvater des noch jetzt regierenden bayerischen
Herrscherhauses.
86. Die deutsche Hansa.
Schon im frühen Mittelalter finden sich Verbindungen solcher
Kaufleute, die sich des Handels wegen vorübergehend im Auslande
ã
v
86. Die deutsche Hansa.
niedergelassen hatten und sich gegenseitig Schutz und Förderung gewähr⸗
leisteten. Solch eine Verbindung nannte man Gilde oder mit einem
niederdeutschen Worte Hansa. Vielleicht am frühesten entstand solch
eine Hansa unter den Kaufleuten, welche die Insel Gotland bewohnten
oder besuchten, von wo man den sehr lebhaften Handel nach allen Ost⸗
seeküsten, besonders aber nach Riga und Nowgorod und mittels dieser
Städte nach dem russischen Binnenlande trieb. Eine ähnliche Hansa
hatten die Kölner und andere niederdeutsche Kaufleute in England.
Kleinere bestanden in den Niederlanden und an anderen Orten Alle
diese aber überflügelte ein Bund niederdeutscher Städte, dessen Haupt
und Mittelpunkt Lübeck war, und der seit dem 14. Jahrhundert sich
die deutsche Hansa zu nennen begann. Von den sogenannten wendischen
Städten Lübeck, Rostock, Wismar, Stralsund und von dem gotländischen
Bunde geht er aus, überholt alle anderen Hansen und nötigt sie zuletzt
ihres cenen Vorteils willen zum Beitritt. Die wichtigste aller dieser
Städte blieb Lübeck. Hier wurden die großen Hansatage gehalten in
regelmäßigen Zeiträumen, oder auch wenn eine augenblickliche Not es
forderte An die größeren Städte, die selbständig auf diesen Tag—
satzungen erschienen, schlossen sich als hintere Orte die kleineren Städte
an und ließen sich von ihnen vertreten, so die meisten brandenburgischen
durch „ostock. Sie nahmen auf diese Weise an dem Schutz der Ge—
sam? wie an allen Rechten Anteil. Zweck des Bundes war ein—
mül. Auftreten dem Auslande gegenüber, von dem man so viel
Handelsvorteile als möglich zu erreichen suchte, ferner Sicherung der
Handelsstraßen gegen Räubereien; Anlegung neuer Verbindungen zu
Land und zu Wasser, gemeinsame Maßregeln über Münze, Gewicht,
über Strand- und Stapelrecht u. dgl. Zur Unterhaltung des Bundes
diente eine gemeinsame Abgabe, das Pfundgeld, und in Kriegsfällen ein
auf Heinzelnen Städte gelegtes Kontingent an Mannschaft und
Sch welch letztere zugleich Handels- und Kriegsschiffe waren. So
konnre o. Hansa bald als die gewaltigste Macht in den norddeutschen
Meeren auftreten. Was einst Heinrich der Löwe schon erstrebt hatte,
eine aft Deutschlands über den gesamten europäischen Norden, das
hat nsa erreicht auf eigene Hand, ohne Unterstützung des Reiches,
um das sie dann auch ihrerseits unbekümmert blieb. Sie hat es erreicht
meist durch die Macht des Geldes bei den stets geldbedürftigen Fürsten,
durch die Klugheit ihrer Unterhandlungen, in schlimmern Fällen durch
Absperrung und Versagung des Handels gegen auswärtige Mächte, wie
durch Verhansung (Ausschließung aus dem Bunde) gegen ungehorsame
Bundesglieder, auch, wenn es not that, durch das Schwert. Vergebens
28 86. Die deutsche Hansa.
bemühten sich die dänischen Könige, als die mächtigsten im skandinavischen
Norden, die Übermacht der Hansa zu brechen. Durch innere Unruhen
bedroht, mußten sie mehrfach selbst die Hilfe derselben anrufen, um sich
auf dem Thron zu erhalten, und diese durch immer neue Handelsvorteile
erkaufen. Waldemar III. Atterdag eroberte 1361 Gotland und zerstörte
Wisby, wobei 1800 deutsche Bürger und große Reichtümer zugrunde
gingen. Da beschlossen die wendischen Städte, Lübeck voran, Rache.
Die Könige von Schweden und Norwegen traten ihnen bei, geschreckt
von ihren eigenen Völkern, welche die Hansa nicht entbehren konnten.
Der Bürgermeister von Lübeck, Johann Wittenborg, belagerte Kopen—
hagen, wo Waldemars Sohn fiel, und bedrohte Helsingborg. Unter—
dessen aber ward die unbewachte Flotte von den Dänen, die der Abfall
der Schweden ermutigt hatte, geschlagen, eine Niederlage, die Witten—
borg mit seinem Kopfe büßte. Nun aber regte sich — trotz Kaiser und
Papst, die der Däne für sich gewonnen hatte — die ganze deutsche Hansa.
Auf einem Städtetag zu Köln beschloß man den gemeinsamen Krieg.
Von Seeland bis Livland, von Briel und Amsterdam bis nach Riga
und Dorpat, ja bis Breslau und Krakau regten sich die Städte gegen
den skandinavischen Norden. Eine große Flotte — Deutschland hat
nie wieder eine solche gesehen — sammelte sich, schreckte Norwegen zum
Frieden, stürzte in Schweden den Thron des Mecklenburgers Albrecht,
eroberte und verwüstete 1369 Kopenhagen. Angstvoll hatte sich Wal—
demar mit seinen Schätzen aus seinem Reiche geflüchtet. So schlossen 1370
die dänischen Stände einen Frieden mit der Hansa, durch welchen letztere
lange Zeit eine Art Oberherrschaft über die skandinavischen Reiche erhielt.
Die Hansa beherrschte fortan den ganzen nordischen Handel. In
Norwegen hatte sie in der Stadt Bergen ein vollständiges deutsches
Stadtviertel, und die (stets unverheirateten) Kaufleute lebten hier in
Üppigkeit, in stolzem Übermute, mit seltsamen Sitten und rohen
Spielen. Sie führten ein: Getreide, Bier, Leinwand, wollene Tuche
und die kostbaren Waren des Südens; sie holten dagegen Felle,
gesalzenes Fleisch und Fische, Schiffsbauholz u. dgl. An den Küsten
Schonens übten sie den Heringsfang fast ausschließlich und brachten
dem halben Europa diese bei den häufigen Fastenzeiten so unentbehr—
lichen Fische zu. Außerdem führten sie aus Schweden Metalle und die
anderen Nordlandsprodukte aus. In Rußland bildete das mächtige
Nowgorod, von dem es hieß: „Wer kann gegen Gott und Nowgorod?“
den Stapelplatz: man holte Leder, Honig, Wachs gegen niederländische
Tuche. In England zu London hatten die Hanseaten ihre eigene Nieder
lassung, den Stahlhof; man kaufte hier vorzugsweise Wolle, später,
8
87. Columbus.
als die englische Fabrikation selbständig wurde, feine Tuche ein. Im
Südwesten bildeten die ebenso handelsthätigen Niederländer die Grenze
des Hansaverkehrs und vermittelten den Handel nach dem Süden, nach
Frankreich, Spanien, Portugal und Italien. Letztere Länder blieben
deshalb von der Hansa wenig besucht. So stand die Hansa im 14
und Jahrhundert mächtig und blühend da und bewies allein schon,
daß, ob auch das Reich derfiel, doch deutsche Kraft und Unternehmungs—
lust lebendig blieben. Aber es traten, je länger, je mehr die Mängel,
die ein Bund stets zeigen muß, Uneinigkeit, Selbstsucht einzelner Glieder,
Schwerfälligkeit in gemeinsamen Maßregeln, hervor. Und so zeigte es
sich, wie es schlinm war, daß diesen einzeln so herrlichen Kräften die
zusammenfassende Reichsmacht fehlte. Allmählich begann der nieder—
ländische, dann aber vor allem der englische Handel den deutschen zu
überflügeln, sich in Preußen, Polen und Rußland festzusetzen, und das
Ende des 15. Jahrhunderts zeigt uns bereits den beginnenden Verfall
der deutschen Hansa. David Müller, Geschichte des deutschen Volkes.)
87. Columbus.
Schon das graue Altertum hatte dunkle Sagen von grossen Länder-—
massen, welche im Westen Europas jenseit des Meeres lägen. Häufig
wird in jenen Sagen einer Insel Atlantis gedacht, zu der man habe leieht
gelangen können; ein fürchterliches Erdbeben habe aber die Insel ver—
sehlungen, und seit jener Zeit sei das Meer in jener Gegend so mit
Schlamm angefüllt, dass es nieht beschifft werden könne. Was so das
graue Altertum geahnt, das hat Columbus 1492 als wirklieh erwiesen.
Dieser aussergewöbnliche Mann stammte aus Genua. Geboren mit
einem unvwiderstehlichen Drange in die hohe See hinauszufahren, ging er
zehon mit seinem vierzehnten Jahre zu Schiffe. Aber 18 Jahre hat er
als Mann warten müssen, ehe ihm die Mittel wurden, seine grossartigen
Pläne zur Ausführung zu bringen. „r wvandte sich an seine Vaterstadt
Genua, er vandte sich an das ebenso reiébe Venedig; aber beide RKauf-
mannsstädte verstanden ihn vieht und liessen ihn im Stieh. Als Pläne—
macher abgewiesen, ging er naca r'ortugal. Hier wusste man ihm seinen
Plan abzulocken; er sollte um ae EFrucht so vieljähriger und mühevoller
Porschungen betrogen werden, die man ihm als ausländer nicht gönnte.
Eiĩn anderer wurde ausgeschieckt, der aber bald wieder zuräckkehrte,
ohne das gehoffte Land entdeeckt zu haben. Voll bitteren Verdrusses
verliess Columbus Portugal, vandte sich noch einmal persönlieh nach Genua,
aber vergebens.
Endlich versuchte er es in Spanien. Sein ganzes Vermögen batte
er schon für Reisen, für das Anschaffen von Instrumenten und Karten
zugesetzt. Arm, als Bettler, kam er nach Spanien und bat in einem
90 87. Columbus.
Kloster für ssieh und seinen Sobhn um ein Stück Brot und einen Trunk
Wasser. Der Prior des Klosters, erstaunt über die Kenntnisse des Mannes,
empfahl ihn bei Hofe. Isabella, die edle Königin, wies ihn nicht ab.
Aber zu Salamanca traten Professoren, Geistliche und Mönche zusammen,
den Plan des Columbus zu prüfen. Die Entscheidung der gelehrten Ver—
sammlung fiel endlich dahin aus, dass das Unternebmen des Columbus
jedes sicheren Grundes entbehre und unausführbar sei, und darauf er—
klärte der König Ferdinand dem Columbus, dass er unmöglich auf ein
Unternehmen von so zweifelhaftem Erfolge eingehen könne. Schon war
der unerschütterliche Columbus im Begriff, sich nach Frankreich zu
wenden, als Isabella dies erfuhr. Sofort sandte sie ihm einen Eilboten
nach, der ibn auch einholte. Sie war entschlossen, das nötige Geld zu
schaffen, sollte sie auch ihre Juwelen verpfanden müssen. Eine Frau also
war es, begabt mit grosser Seele und vorzüglichem Scharfsinne, die den
Columbus verstand.
Nicht leicht aber hat ein Mann mit so festem Mute bis ans Ende
ausgeharrt wie Columbus. Der Hafen von Palos wvard zum Ausrüsten
der Schiffe bestimmt, aber niemand wollte anfangs die Fahrt wagen.
Als sich endlich 120 Leute zur Teilnabme an der Unternehmung erboten,
verbreitete sich über das ganze Städtehen eine tiefe Trauer; denn fast
jeder Bewohner sah einen Freund oder einen Verwandten scheiden, an
dessen Zurũckkunft er nicht glaubte.
Den 3. August 1492 wurden die Anker gelichtet. Aber was für Mut
und Geistesgegenwart gehört dazu, ein so abergläubisches Schiffsvolk zu
beschwichtigen, das schon den feuerspeienden Pik von Teneriffa und das
Zerbrechen eines Steuerruders für eine höchst üble Vorbedeutung ansab.
Mit grosser Bestürzung bemerkten die Steuerleute, dass die Magnetnadel
von ihrer gewöhnlichen Richtung abwich. Als man die Passatwinde erreicht
hatte, die beständig von Osten nach Westen gehen, glitten die Schiffe
schnell über den rubigen Ozean dahin. Als aber der Wind fortwährend
derselbe blieb, geriet das Schiffsvolk wieder in Angst und Zagen; es
kürehtete bei diesem beständigen Ostwinde den Rückweg nach Spanien
nicht wieder antreten zu können. Zum Glücek wieh der VWind etwas nach
Ssüdost und die Mannschaft beruhbigte sich wieder. Aber bald darauf
trat vellige VWindstille ein, und die Massen der Seepflanzen wurden so
dicht, dass es den Schiffen fast unmöglich schien, sich einen Weg durch
sie zu bahnen. Aber den unerschütterlichen Columbus vermochte nichts
on seinem Vorhaben abzubringen. Unermüdet stand er Tag und Nacht
auf dem Hinterteil seines Schiffes, schlief nur wenige Stunden, zeichnete
jede Beobachtung auf und wusste stets wieder Ordnung und Gehorsam
hberzustellen. Als aber der Steuermann der ängstlichen Mannschaft ver—
kündete, dass man nach dem Tagebuche des Admirals 578 Meilen zurück-
gelegt habe, und als die Sonne immer wieder aus dem küstenlosen Ozean
emporstieg, nachdem es schon manchen Abend geschienen, als ob man
88. Albrecht Dürer. 91
and vor sich gesehen: da vermochte die Mannschaft ihren Ingrimm nicht
langer zurückzudraängen und verlangte mit Ungestüm die Rückkehr.
Columbus blieb fest und bat, noch drei Tage zu varten.
Zum grössten Gluck erschienen jetzt deutliche, unzweifelhafte Zeichen
on Land: frische Beeren, ein Rohr, ein kleines Brett, endlich auech ein
künstlich geschnitzter Stab. Das Senkblei erreiehte den Boden, der
Wind war unregelmässig, und als am 12. Oktober 1492 der Morgen
graute, stand die ganze Mannschaft in neugieriger Spannung auf dem
Verdeck; ein schönes ebenes Eiland entfaltete sich vor ihren Blicken,
über und über mit dem üppigsten Grün und den herrlichsten Bäumen
bedeckt. Aus den Väldern kam eine grosse Zahl von Menschen, ganz
nackt, von kupferroter Hautfarbe, das Haar diek und sehwarz, in Locken
auf den Nacken herabfallend. Voll Staunen sahen sie die weilsen Männer
gieh der Küste nähern; erschrocken ergriffen sie die Flucht in die Wälder.
Columbus, in reichen Scharlach gekleidet, mit dem königlichen Banner in
der Hand, zog sein Schwert und nahm, nachdem er Gott auf den Knieen
mit Thränen gedankt, feierlich im Namen der spanischen Herrschaft
Besitz von der Insel, der er den Namen San Salvador gab. Columbus
lebte der festen Uberzeugung, dass er eine von den östlichen Inseln
Asiens erreicht habe und nicht mehr weit von Indien entfernt sei. Des—
halb nannte er in seinen Berichten fortwährend die Eingebornen Indianer,
welcher Name später auf alle Ureinwohner der neuen Welt überging.
Keiner dachte damals daran, dass Columbus einen unbekannten Erdteil
aufgefunden habe.
(Karl Gude. Unterhaltungen und Studien aus der Natur und dem Menschenleben.“
88. Albrecht Dürer.
Dieser berübmteste aller deutschen Maler, der Held deutscher Kunst,
wurde am 20. Mai 1471 in der alten Reichsstadt Nürnberg geboren.
8ein Vater war ein geschickter Goldschmied, aus Ungarn stammend.
Sschon als Knabe liebte Albrecht mehr eine sinnige, ernste Beschäf-
tigung, als die geräuschvollen Spiele der Jugend, und oft sals er, vährend
zeine Brũder draussen im Freien umhertrollten, daheim im stillen Kammer—
lein vor dem Arbeitstische und suehte eine mathematische Aufgabe zu
lösen oder mit dem Stifte eine Zeichnung nachzubilden, die sein kunst-
reicher Vater entworfen und ihm zum Kopiereèn vorgelegt hatte. So konnte
es denn, bei seiner seltenen natürlichen Anlage, nieht fehlen, dass er in
kurzer Zeit bedeutende Fortschritte im Zeichnen machte; ja er fing sogar
an, die Gebilde seiner eigenen Phantasie mit bestimmten und festen Um—
rissen auf das Pergament zu bringen.
Abrecht machte aber nicht bloss im Zeichnen daheim, sondern auch
in der Schule sehr schnelle Fortschritte. Alle seine Lehrer liebten ihn
nicht nur wegen seines erstaunlichen Fleilses, sondern auch bauptsächlich
9.8 88. Albrecht Dürer.
wegen seines sanften, zuvorkommenden Wesens, seines tadellosen, frommen
Benehbmens.
Als er die Schule verliess, nahbm ibn sein Vater zu sich in die Lebre,
damit er gleieh ihm ein tüchtiger Goldschmied werden möchte; aber still
im Innern hegte er den brennenden Wunsch, das Handwerk verlassen
und der edleren Kunst der Malerei sich widmen zu dürfen. Der alte
Herr Dürer mochte wohl bedenken, dass gezwungenes Werk nimmer gute
Frũchte trägt, und gab endlich seinen Sobhn bei Michael Wohlgemuth
in die Lehre, einem Künstler, der sich nicht allein im Malen und Zeichnen,
sondern auch im Holzschneiden und Kupferstechen, sowie auch in der
Formschneidekunst auszeichnete.
Binnen drei Jahren hatte Albrecht seinen Meister nicht nur erreicht,
sondern dieser selbst, in schönem Stolze auf seinen wvackeren Schüler,
gestand ein, dass er von diesem ũübertroffen worden sei.
Je lauter in dieser Zeit Albrechts Lob aus aller Munde erscholl,
desto bescheidener und inniger fühlte der Jüngling, dass er noch viel zu
lernen habe, um die Höhe der Kunst zu erreichen. Er sehnte sich darnach,
eine Kunstreise zu machen, die berühmten Maler der Niederlande und
Italiens kennen zu lernen, ihre Werke zu studieren und sieh selbst nach
Krãften auszubilden und zu verbessern. So verliels er denn im Jahre
1490 mit Bewilligung seines Vaters die Heimat, durehzog Deutschland,
die Niederlande, Elsass und ging endlich nach Basel, wo er sich einige
Zeit bei den berühmten Brüdern Schön aufhielt. Uberall vard er mit
Liebe empfangen, und nach einigen Jahren kehrte er als vollendeter
Meister in seine Heimat zurück.
Auf Anraten und mit Unterstützung seines Freundes Wilibald
Pirkheimer ging er 1506 nach Venedig, vo damals die grölsten
Meister der venetianischen Schule thätig waren. Während Dürers Ab—
wesenheit übernahm der edle Pirkheimer die Sorge für dessen Hauswesen,
besonders für die Mutter, velebhe Albrecht nach dem Tode seines Vaters
zu sich genommen und liebevoll gepflegt hatte.
In Venedig gefiel es unserm Albrecht sehr wohl, und er sah sich in
einer ganz neuen Welt; er ward überall mit Hochachtung und Läebe auf-
genommen, und seine Arbeiten vurden ihm reichlich mit goldenen Dukaten
bézahlt. Albrecht Dürer gab sieh aber auch alle Mühe, immer noch
Neues zu leèrnen. So reiste er nach Bologna nur in der Absieht, die
Perspektive vollkommen zu erlernen. und als er ein Gemalde wieder zu
Gesicht bekam, das er elf Jahre vorher angefertigt hatte, sprach er offen
darũber also: „Dieses Ding, das mir vor elf Jahren so vwohl gefallen hat,
gefallt mir jetzt gar nieht mehr. und wenn ieh nicht wüsste, dass es von
mir wàre. so wũrde ieh es nicht glauben.“
Von den Gemälden, velebe Dürer in Venedig anfertigte, ist wohl
das prachtigste die Krönung Kaiser Maximilians J. und seiner Gattin,
2
88. Albrecht Dürer. J
ausgezeichnet dureh die Schönheit und den Glanz der Farbe. Da wurden
die neidischen Kunstgenossen Albrechts zum Schweigen gebracht; denn
zie hatten gesagt, im Kupferstechen verstebe wohl der deutsche Mann
geine Sache, aber die Farben wisse er nicht zu behandeln. Nun bekannte
jedermann, schönere Farben habe man noch nicht gesehen.
Vo die Italiener dieses Bild bewunderten, so wunderten sie sich
aueh er Dürers Vielseitigkeit, die sie sich gar nicht erklären Konnten.
Sie sahen von seiner Hand Zeichnungen, grosse Gemälde, Kupferstiche,
Holzsehnitte; sie erfuhren, dass er in Stein, Holz, Gips und Elfenbein
allerlc Kunstwerke zu arbeiten verstehe; dass er Basreliefs') Gbalberbabene
Bildhauerarbeiten) in Silber, Gold, Kupfer und andern Metallen verfertigte;
dass er in Holztafeln eine schöne Buchstabenschrift schneide; dass er in
der Mathematik, namentlieb in der Geometrie, dann in der Bildhauer-
und Baukunst die gründlichsten Kenntnisse besitze — vwie musste diese
Vielseitigkeit sie nicht befremden!
Es wird erzählt, Dürer sei auch in Rom gewesen, wo er Michael
Angelos Bekanntschaft gemacht und mit Raphael Sanzio von Urbino
ein Freundschaftsbündnis geschlossen habe. Obne die Wabrheit dieser
Angabe behaupten zu wollen, können wvir wenigstens bestätigen, dass
Dũrer vor der Abreise nach Deutschland Raphael seine Verehrung bezeigt
und ihm sein Porträt, in VWasserfarben gemalt, übersendet hat. Raphael
nahm dieses Geschenk hoch auf und erwiderte es, indem er dem deutschen
Kũnstler ein Heft eigenhändiger prächtiger Zeichnungen übersandte.
Im Jahre 1506 wendete Albrecht dem schönen Italien wieder den
Rücken zu und gerte in die deutsche Heimat.
Dũrers hoher Künstlerruf erfüllte ganz Deutschland, und aus allen
Gegenden kamen Besucher, welche ihm ihre Achtung zu bezeigen und
seine persõnliche Bekanntschaft zu machen wünschten. Selbst der Kaiser
Maximilian besuchte ihn, setzte ihm ein Jahrgehalt von hundert Reichs—
gulden aus, verlieh ihm ein VWappen und überhäufte ihn mit Beweisen
seiner Achtung.
im Jabre 1520 hatte sich Dürer wieder eine Erholung von seinen
angestrengten Arbeiten gegönnt. Er anternabhm eine Reise in die Nieder—
land. Ver Ruf seines Namens ging wie ein Herold vor ihm her und
aller en ward er glänzend empfangen. Besonders aber ehrten ihn die
Künser, Auf der Malerakademie zu Antwerpen ward die Ankunft Dürers
wie ein esttag begangen. Mit den berühmtesten Malern der Niederlande
schloss Jvürer innige Freundschaft. Margareta von Parma, die
kunstliebende Schwester Karls V., Statthalterin der Niederlande, hatte
kaum seine Ankunft erfahren, als sie ihn auch an den Hof entbot und
mit vielen Ehren überhäufte. Durch ihre Vermittelung erhielt Dürer das
Diplom als kaiserlicher Hofmaler.
) spx. bareljef.
B 89. Hans Sachs.
In der Mitte des Jahres 1521 kehrte Dürer nach Nürnberg zurück.
Er starb an der Auszehrung am 6. April des Jahres 1528, beklagt und
beweint von Tausenden. In Nürnberg auf dem RKirehhofe der St. Johannis-
kirehe ruben seine Gebeine. . WV. Grube. Charakterbilder aus d. Geseh. u. Sage.)
89. Hans Sachs.
Die Stadt Nürnberg hatte das Glück, zu Anfang des 16. Jahr—
hundert drei Männer zu besitzen, wie keine andere Stadt in Deutschland
in solcher Vortrefflichkeit sie in gleicher Zeit je aufzuweisen hat: Albrecht
Dürer, der größte Meister der bildenden Kunst, Wilibald Pirk—
heimer, ein hochachtbarer Gelehrter und Hans Sachs, der be—
deutendste Meistersänger.
Die Eltern des letzteren waren arme, gemeine Bürgersleute; er
hatte ihnen aber einen dauerhaften, gesunden Körper, einen hellen Kopf,
ein teilnehmendes, fröhliches Herz und eine gute Erziehung zu verdanken.
Was hätte ihm die vornehmste Abstammung Besseres geben können?
Nach Beendigung seines Schulunterrichtes erlernte er das Schuhmacher—
handwerk und empfing zu gleicher Zeit den ersten Unterricht in der
edlen Kunst des Meistersanges, die damals in Nürnberg, wie in anderen
deutschen Reichsstädten, hoch in Ehren gehalten wurde. Von seinem
17. Jahre an durchwanderte er als Schuhmachergeselle 5 Jahre lang
alle Teile Deutschlands und sammelte sich bei seinem offenen Kopfe
einen großen Teil jenes Wissens und jener Lebenserfahrungen, wie sie
als reiche Schätze in seinen zahlreichen Dichtungen niedergelegt sind.
Überall war er beflissen, neben Ausbildung in seinem Handwerke seine
Kenntni zu vermehren und besonders sich im Meistersang zu üben.
Die Liebe zur Dichtkunst bewahrte ihn vor jenen Verirrungen, denen
ein junger Mensch in der Fremde so leicht ausgesetzt ist.
Im Jahre 1519 ließ er sich in seiner Vaterstadt Nürnberg als
Schuhmachermeister häuslich nieder und verheiratete sich mit Kunigunde
Kreutzer, mit welcher er 40 Jahre in zufriedener Ehe lebte. Er überlebte
alle seine Kinder, ja seine meisten Enkel bis auf vier.
Seinem Handwerke blieb er treu und lag demselben bis in sein
hohes Alter ob. Er scheint ein geschickter und unter seinen Zunftgenossen
angesehener Meister gewesen zu sein und ein gutes Auskommen gehabt
zu haben. Dies erkennen wir aus seinen Werken, in denen sich überall
eine erfreuliche Zufriedenheit und Behaglichkeit kündgibt; freilich trug
dazu auch seine Gelassenheit und sein liebevolles Herz bei; aber bei
armseligen Umständen und Mangel an Bequemlichkeit des Lebens hätte
er diese Heiterkeit nicht wohl bewahren können. Über die große Zahl
146.
90. Reichtum, Kunstfleiß und Handel der deusschen Städte im 14. u. 15. Jahrh 95
seiner Dichtungen muß man staunen. Dieselben füllen als Handschriften
34 »ße Bände an und enthalten über 4000 Meisterschulgedichte, über
700 zzählungen, Schwänke ꝛc. und über 200 dramatische Dichtungen;
freil bewahrte er die Frische seines Geistes und seine Lust zum Schaffen
his in sein 78. Jahr; nach dieser Zeit aber erfolgte eine immer merklichere
Schwäche und Abstumpfung seiner Sinne, die ihn gegen sein Lebensende
in eine Art von Kindheit zurückversetzte. Er starb im 82. Jahre am
19. Januar 1576. Bei seinen Zeitgenossen stand er in hohen Ehren,
und auch in neuester Zeit wurde er wieder nach Gebühr gewürdiget,
besonders nachdem Goethe auf seine Bedeutung hingewiesen, ihm ein
Gedicht gewidmet und seine bekannte Erzählung „Das Hufeifen“ ins
Neuhochdeutsche übertragen hat.
Vor wenigen Jahren wurde dem großen Meistersänger in seiner
Vaterstadt Nürnberg ein würdiges Denkmal errichtet.
(Nach C. M. Wieland.)
90. Reichtum, Kunstsleiß und Handel der deutschen Städte im
14. und 15. Jahrhundert.
Im 14 und 15. Jahrhundert stach der außerordentliche Reichtum
der Städte auf eine für diese sehr vorteilhafte Weise von den unge—
ordneten Wirtschaftsverhältnissen der meisten fürstlichen und adeligen
Häuser ab. Während diese in der Regel aus Schulden nicht herauskommen
und die jährlichen Einkünfte immer voraus verzehren, d. h. sie gegen
Darstreckung gewisser Summen an die Darleiher verpfänden, so tritt
uns in den Städten Wohlhabenheit, Reichtum, ja sogar Pracht und
Glanz entgegen. Diese Erscheinung vermindert sich nicht im Laufe der
Zeit, sondern nimmt vielmehr zu und gerade das 14. Jahrhundert ist
das Zeitalter der höchsten Blüte der Städte.
Aber die werbthätigkeit nahm auch von Jahr zu Jahr einen
immer höheren Aufschwung. Auf allen Gebieten versuchte sich jetzt der
Qunstfleiß des deutschen Bürgers, und während bisher Italiener hierin
den ersten Rang behauptet hatten, so bemühten sich nunmehr unsere
Landsleute, ihnen denselben streitig zu machen. Auch gelang es ihnen
vielfach. So zeichneten sich die Deutschen besonders durch ihre Tuch—
webereien aus, und hier nahmen die Flandrer die erste Stelle ein. Man
kann sich einen Begriff von der ungeheuren Ausdehnung der flandrischen
Webereien machen, wenn man liest, daß in der einzigen Stadt Brügge
50000 Menschen ihren Unterhalt in diesem Gewerbe fanden. Aber
auch in anderen Gegenden Deutschlands blühte die Tuchweberei. In
Westfalen und in Süddeutschland, besonders in Augsburg und Ulm
96 90. Reichtum, Kunstfleiß und Handel der deutschen Städte im 14. u. 15. Jahrh.
bildeten die Leinwaren einen wichtigen Handelsgegenstand und wurden
weithin verbreitet. Auch Baumwollengespinste wurden in Deutschland
viel verfertigt, namentlich in Ulm.
Von nicht geringerer Bedeutung waren die Arbeiten in Leder und
Metall, namentlich diejenigen Gegegenstände, die sich auf das Waffen—
handwerk bezogen. Hier thaten es die deutschen Arbeiter allen anderen
zuvor. Ebenso war der Met und besonders das deutsche Bier, welches
im Norden wie im Süden gleich gut gebraut wurde, vom Auslande
sehr gesucht. Nebenbei zeichneten sich auch die Deutschen in den feineren
Handwerken aus, die an das Gebiet der Kunst hinstreiften, so in Gold—
und Silberarbeiten u. dergl. Nürnberg war damals schon berühmt
wegen seiner Kinderwaren, die den Namen „Nürnberger Tand“ führten.
Gleichzeitig mit den Gewerben nahm auch der Handel, der innere
wie der auswärtige, einen immer größeren Aufschwung. Auch hier trat
unsere Nation in die erste Stelle ein Dies ist um so höher anzu—
schlagen, wenn man bedenkt, mit welch ungeheuren Hindernissen die
deutschen Kaufleute damals zu kämpfen hatten. Die Wege allenthalben
unsicher, teils durch den räuberischen Adel, teils durch die Landes—
herren, welche auf ihren Gebieten mit oder ohne Erlaubnis der Kaiser
eine Unmasse Zölle erhoben, um die Kaufleute zu brandschatzen, sodann
die Einrichtung des Geleites, welches darin bestand, daß der Landes—
herr den Kaufmann durch sein Gebiet mit bewaffneter Macht begleiten
ließ, um ihn vor räuberischen Angriffen zu schützen, wofür aber so
ungeheuer viel gezahlt werden mußte, daß das Geleit einer Plünderung
nicht unähnlich sah; endlich das Strandrecht und ähnliche Gewohnheits—
rechte, nach welchen jedes Schiff, das auf dem Meere oder auf einem Fluß
strandete, oder jeder Wagen, der in einer Stadt zerbrach, mit allen
Waren dem Eigentümer des Strandes oder der Stadt anheim sfiel.
Die deutschen Kaufleute wußten aber alle diese Schwierigkeiten zu
überwinden. Um sich vor dem räuberischen Adel zu schützen, zogen sie
bewaffnet in größerer Anzahl ihre Straße, und sie wußten mit dem
Schwert ebenso umzugehen wie die Ritter. Um der Brandschatzung der
Zölle zu entgehen, wußten sie sich teils von den Kaisern, teils von den
Landesherren, natürlich nicht ohne Erlegung von bedeutenden Geld—
summen, Zollfreiheit oder wenigstens Ermäßigung des Zolls zu ver—
schaffen. Ebenso erwirkten sie sich Befreiung vom Strandrecht. Endlich
traten sie in Bünde zusammen, um sich gegenseitig wider unbillige Auf—
forderungen zu schützen. In dieser Beziehung hat keine Verbindung
mehr Berühmtheit erlangt als die Hansa)).
—ee
91. Erfindungen im Mittelalter. 2
Die bedeutendsten Handelsstädte in Süddeutschland waren Nürn
berg, Augsburg, Ulm. Eine andere, ebenso bedeutende Stadt,
Regensburg, setzte sich mit dem Orient in unmittelbare Verbindung,
indem ihre Kaufleute die Donau hinunterfuhren und von dort aus die
asiatischen Waren holten. In diesem Handel wetteiferte indessen bald
Wien mit Regensburg, noch später Breslau und Prag. Den aus—
gebreitetsten Handel in jener Zeit hatte aber offenbar Nürnberg,
welches nach allen Weltgegenden hin die Waren versandte
So war ganz Deutschland nach allen Richtungen hin von Kauf—
leuten durchzogen, welche teils die Erzeugnisse des eigenen Kunstfleißes
vertrign. teils die Erzeugnisse fremder Länder verkauften. Trotz aller
Hemmnie drang die Kraft und die Ausdauer des deutschen Kaufmannes
durch, und er fand sich für die Mühen, die er erduldet, endlich reichlich
belohnt durch den großen Gewinn, den er davongetragen. In
der That, niemand gewann verhältnismäßig so viel, wie der deutsche
Kaufmann.
Darum entfalteten aber auch die Städte eine außerordentliche
Blüte. und es war hier der eigentliche Reichtum des Volkes zu suchen,
der suh auch äußerlich dem Beobachter zur Schau stellte. Es ist be—
zeichnend, was die Königin von Frankreich sagte, als sie im Jahre 1301
zu Brügge auf einem Balle erschien, auf dem sie von den Bürgers—
frauen an Glanz und Pracht überstrahlt wurde. „Ich habe geglaubt,“
sagte H„die einzige Königin zu sein, und ich sehe ihrer hier sechs—
hundert.“ Und die Gemahlin Kaiser Karls IV. verbot bei ihrem
Aufenthalt in Magdeburg ihren Hoffräulein, den Ball der Bürger zu
besuchen, weil sie sich den Bürgersfrauen und ihren Töchtern gegenüber
zu ärmlich ausnehmen würden. Einen Maßstab für den fast uner—
schöpflichen Reichtum der Städte geben auch die ungeheueren Summen,
um welche sie die Kaiser zu verpfänden pflegten, und welche sie lieber
mit einemmale erlegten, als daß sie ihre Freiheit noch länger der Will—
kür des Pfandinhabers preisgegeben hätten. Ebenso sind bisher die
Summen zu rechnen, welche die Reichsvögte oder auch die Kaiser selbst
unter allerlei Vorwänden von ihnen zu erpressen verstanden, und die
sie gaben, ohne daß es ihnen sehr wehe gethan zu haben scheint. Denn
es hinderte sie nicht, wenn es sein mußte, gleich darauf Heere auszu⸗
rüsten oder sonstwie große Ausgaben zu machen.
(Eduard Duller, Vaterl. Geschichte.)
9l. Erfindungen im Nittelalter.
I. In den letzten Jahrhunderten des Mittelalters tauchten Erfindungen
auf, welehe für die weitere Entwicklung des Menschengeschlechtes von
Marschall, Lesebuch für gewerbl. Fortbildungsschulen. Kl. Ausg.
91. Erfindungen im Mittelalter.
hoher Wiehtigkeit varen und als Vorboten des Übergangs in eine neue
Zeit anzusehen sind.
Hier ist zunächst der Kompass zu nennen, dessen Erfindung dem
Flavio Gioja aus amalfi im Anfang des 14. Jahrhunderts zugeschrieben
vird. Erst duren den Kompass wurde die Seefahrt auf dem freien
Weltmeere möglieh gemacht und der Weg zu neuen Entdeckungen
gebahnt.
Das Schiesspulver soll der Franziskaner Berthold Schwarz zu
Freiburg im Breisgau erfunden haben (1340), der ein grosser Freund
chemischer Untersuchungen var. Aber die Chinesen, welehe die Bearbei-
tung der Seide und des Porzellans vor uns kannten, rühmten sich, gleich-
wie die Buchdruckerkunst, so auch das Schiesspulver vor uns erfunden
zu haben. Von ihnen soll es zu den Aräbern gekommen sein. Es steht
fest, dass das Pulver auch in Deutschland schon im 12. Jahrhundert
zur Sprengung von Gestein gebraueht worden ist; seine Anwendung auf
den Rrieg erhielt es jedoeh erst seit Berthold Schwarz. Nach 1350
ßinden wir die Kanonen, oder wie sie damals hiessen, die Bombarden,
Donner- oder Wallbüuchsen im Gebraueh; später kam das kleine Gewehr
auf, das anfangs auch mit einer Lunte oder Zundrute abgefeuert wurde.
Die Erfindung des Schiesspulvers und der Geschütze brachte einen gän-—
lichen Umschwung in der RKriegsführung hervor, da die alten Waffen des
Rittertums den ferntreffenden Büchsen weit nachstanden, und die Rüst-
ungen gegen Kugeln keine volle Sicherheit gewährten; daher bildete sich
bei der allgemeinen Verbreitung des FPeuergewehrs mit der Zeit eine
neue Kriegskunst aus.
2. Die älteste bekannte Art von Papier, das ägyptische, vard aus
der ägyptischen Papyrusstaude bereitet. Sie wachst am Nil, aueh auf
sizilien in sstehenden Gewässern. Man löste vom Halme dieses Papier-
gchilfes die Häaute oder Fäserchen in feinen Schlichten ab, breitete diese
auf einer mit Nilwasser befeuchteten Tafel aus und bestrieh sie mit
heissem, klebrigem Nilwasser. Auf die erste Lage ward eine zweite gelegt,
ausammengepresst. an der Sonne getrocknet und mit einem Zahne ge—
glattet. Auch die Eingeborenen von Mexiko bereiteten vor der spanischen
Proberung ihr Papier auf ahnliche Art aus den Blättern der Agave
(Alõe). Die Israeliten zu Davids Zeiten hatten aufgerollte Bücher von
Tierhauten, und aueh die Jonier in Kleinasien schrieben auf ungegerbte
Hammel- und Ziegenfelle, von denen bloss die Haare abgeschabt waren.
In der Folge wvurden dieselben mit Kalk gebeizt und geglättet und von
der Stadt Pergamus in RKleinasien, wo man diese Kunst vervollkommnete,
Pergament genannt. Aber sowohl das ägyptische Papier wie das Perga-
ment blieben doeh für den Gebrauech unbequem und dabei höchst kostbar.
Dagegen hatten die Hindus bereits vor Ohristi Geburt die Kunst erfunden,
aus roher Baumwolle, die sie zu einem Brei auflössten, eine Masse zu
bereiten. auf der sich gut schreiben liels. Von ihnen kam dieses so
m
91. Erfindungen im Mittelalter.
genannte Baumwollenpapier in das mittlere Asien, in die Bucharei, vg
man es besonders in der Stadt Samarkand verfertigte. Als die Kraber
auf ihren Eroberungszũgen aueh nach der Bucharei vordrangen, lernten
sis den Cebrauch und die Zubereitung dieses Papieres kennen und legten
in Mekka Fabriken an, und das Papier kam im 11. Jahrhundert durceh
die Araber auech nach Spanien. Hier, wo man bereits Wassermüblen
hatte, entstanden auch die ersten Papiermühlen in Europa, die später
nach Italien, Frankreich und Deutschland verpflanzt vurden. Das Baum-
wollenpapier hatte aber auch noch manche Mängel, z. B. dass es weniger
zusammenhält und leichter bricht als das Leinenpapier. Man kam in—
dessen bald auf den Gedanken, statt der rohen Baumwolle abgenutztes
baumwollenes Zeug zu nehmen und dieses auch in einen Brei aufzulösen,
um es dann zu dünnen Blättern auszupressen. Der Versuch gelang, und
mit diesem ersten Schritt war der zweite vorbereitet, statt des baum-
wollenen Zeuges leinene Lumpen zu nehmen, die damals viel häufiger
waren und meist unbenutzt weggeworfen vurden. Es war ein Deutscher,
der diesen Gedanken ausführte; aber wir kennen weder seinen Namen,
noch das Jahr der Erfindung. Vor 1300 kommt kein leinenes Papier
vor; aus den Jahren 1318, 1326, 1331 aber hat das Archiv des Hospitals
Kaufbeuren Urkunden aufzuzeigen, die auf leinenes Papier geschrieben
zind, ein Beweis, dass man diese Papierart zuerst in Deutschland an-
fertigte; denn Spanien und Italien haben vor dem Jahr 1367 KLein
Leinenpapier in ibhren Bibliotheken aufzuweisen. Aus China stammt diese
Erfindung auch nicht, da die Chinesen noch gegenwärtig ihr Papier aus
Baumwolle, rohem Hanf, Bambus oder Maulbeerbaumrinde (Seidenpapier)
hereiten.
Ohne die Erfindung des Papieres würde die Buchdruckerkunst
wenig genützt und die Volksbildung nur langsame Portschritte gemacht
haben.
3. Die segensreichste Erfindung ist die der Buchdruckerkunst durch
den Mainzer Johann von Sorgenloceh, genannt Gensfleiseh
zum Gutenberg, gewöhnlieh kur- Johann Gutenberg genannt.
Man hatte bereits die Erfindung gemacht, Heiligenbilder und Spiel-
karten UHolz auszuschneiden und abzudrucken und wandte sie nun auf
einzela tellen und Kapitel der Bibel an. Dies gelang; aber für jede
Seite ud jedes Buech mussten neue Tafeln geschnitten werden, und so
war denn ein glücklicher Gedanke Gutenbergs, die einzelnen Schrift-
zeαα herzustellen, zu Zeilen zu verbinden und abzudrucken, denn diese
ettern konnten nach dem Gebrauche wieder auseinander genommen und
zu neuem Drucke benutzt werden. Ums Jahr 1440 hat Gutenberg die
Presse erfunden; aber noch kam kein vollständiges Bueh zustande.
Gutenberg war damals in Strassburg, wohin er sich wegen innerer
Zerwürfnisse in Mainz schon 1424 begeben hatte, und wo er bis 1443
blieb. Daher macht aueh Stralsburg auf die Ehre Anspruch, Lurterstadt
100 91. Erfindungen im Mittelalter.
der Buchdruckerkunst zu sein. Nach Main- zurũckgekehrt, verband er
sich mit Johann Fust Waust), einem reichen Goldschmiede, und
peter Schöffer, einem Geistlichen zu Gernsheim, welcher letztere das
sogenannte Letterngut und die Druckerschwärze aus Kienruss und Leinöl
orfand.
Aber Gutenberg hatte bereits sein Vermögen der neuen Erfindung
zum Opfer gebracht und schuldete an Fust eine beträchtliche Summe.
Da er nieht zahlen konnte, nahm Fust seine Druckerei in Beschlag und
nötigte dadureh Gutenberg, wieder nach Strassburg zu gehen, von wo
er jedoch nochmals nach Mainz zurückkehrte und mit dem Gelde des
Ratsherrn Humery eine neue Offizin gründete.
Das erste Werk, welches im Letterndruek vollendet vurde, ist vahr
scheinlich die 42zeilige lateinische Bibel in zwei Bänden, deren Ent-
ztehung man in die Zeit um 1450 setzt, das erste Bueh mit Angabe des
Druckers (Fust), Druckortes Mainz) und der Zeit der Vollendung (1457)
das Psalterium.
Als im Jahre 1462 Mainz durch den Erzbischof Adolf von Nassau
in Brand gesteckt ward, verbrannte auch Fusts Werkstätte, und Guten-
bergs neue Offizin geriet ins sStocken. Damals verliessen viele Buehdrueker-
gehilfen, die man um das Geheimnis zu bewahren, bis dahin äangstlich
bewacht hatte, Mainz, und legten in Augsburg, Nürnberg, in der Schweiz
ind Italien Druckereien an. Pust und Schöffer eröffneten ihre Offizin
bald wieder. Gutenberg vurde nach dem Verkauf seiner Werkstätte zu
Ntville unter die Hofkavaliere des Erzbischofs von Mainz aufgenommen
und lebte, venn auch arm, doch sorgenfrei bis an sein Ende (468).
Im Jahre 1837 hat die Stadt Mainz dem Erfinder der Buchdruckerkunst
ein Denkmal gesetzt.
Dureh die Erfindung der Buchdruckerkunst wurde die Verbreitung
der Bücher, denen die weitere Erfindung des Einbindens eine bequem zu
handhabende Form gab, ungemein befördert und die geistige Bildung zu
einer bisher ungeahnten Höhe erboben.
Gleiehzeitig mit der Buchdruckerkunst vurde aueh die Kupferstecher-
kunst erfunden. Die Italiener haben vom Jahre 1477 das älteste Buch
mit Kupferstichen aufzuweisen; aber die Deutschen Miehael Wobl-—
gemuth und sein berühmter Schüler albrecht Dürer haben diese
Kunst dureh Einführung des Atzgrundes und des Scheidewassers statt
des Grabstichels sebr vervollkommnet. Nach L. Stacke.)
Ergänzungen. Von der ersten (der sogen. 42zeiligen) Bibel Gutenbergs
sind nur noch wenige Exemplare vorhanden; eines wurde vor wenigen Jahren
von einem Engländer um 70000 MKk gekauft. Ein Zeitgenosse Gutenbergs und
Pusts war Albrecht Pfister in Bamberg, von dem aus dem Jahre 1462 Drucke
nachweisbar sind. Aus seiner Druckerei ging die 86 zeilige Bibel hervor; aueh
gtellte er das ersste deutsehe Buch durch Lettern her: Boners Edelstein,
Fabeln mit Holæzschnitten enthaltend.
17
92. Kaiser Maximilian J. —101
92: Kaiser Maximilian I.
Unter den deutschen Kaisern aus dem Hause Habsburg ist MaximilianIJ.
unstreitig die anziehendste Gestalt. Er war der zweitgeborne Sohn des
Kaisers Friedrich III., der 53 Jahre lang auf dem deutschen Throne
zass; seine Mutter war eine Südländerin, die portugiesische Prinzessin
Eleonora, von welcher Maximilian seinen lebhaften, unruhigen Geist ererbt
hat. Als Kind zeigte er sieh keineswegs begabt; erst im fünften Jahre
lernte er ein wenig sprechen und war bis ins zwölfte Jahr seiner Zunge
nicht recht mächtig, so dass man ihn unter dem Volke für schwachsinnig
hieli. chon im achten Jahre verlor er seine Mutter, hatte aber das
Glüc. ate Lebrer zu erbalten, die seinen Geist weckten und ihm allerlei
nütz“ »Kenntnisse und PFertigkeiten beibrachten. Der schwache Knabe
wuro. bperlich stark, hatte seine Freude an allen ritterlichen Ubungen
und am Vaffenhandwerke; er lernte das Pferd tummeln, kunstmälsig
reiten cechten und schiessen, sowohl mit der Armbrust als dem damals
neu kommenen Feuerrohre. Sogar das Weidwerk lernte er zuntft—
mãse vard von seinem Vater zu einem berühmten Jägersmanne,
lem —r Dibold von Stein bei Ingolstadt, in die Lebhre gegeben, der
ilin zule FPeinheiten seiner Kunst einweihte. Auch die Gelehrsambeit
bli. mem Geiste nieht fremd, er lernte nieht nur Latein, sondern aueh
us wischen Sorachen seiner österreichischen Heimat und legte auch
in —Athematik einen Grund. Besonderen Geschmack gewann er an
2 schichten und Heldensagen, und er kKonnte sieh Tage lang in
Al. roniken und Ritterromane vertiefen. Bald zeigte er auch einen
rxa. en Sinn, eine Liebhaberei für nũützliche Künste; gern sah er den
mmerseuten und Maurern zu, und kam er zu den Waffenschmieden, so
legt er vohl aueh selbst Hand ans Werk, um einen Harnisch fertigen
zu leuen. Gar sehr interessierte ihn das eben damals zur Ausbildung
gelangende Geschützwesen, er lernte selbst Stücke gielsen und bohren
unc machte später eigene Erfindungen in diesem Fache. Auch mit der
Bergkunde befasste er sich und sah in Tirol den Bergknappen zu, wie
zie Schachte gruben, und das Erz zu Tage förderten und sehmelztev.
Dabei war er der liebenswürdigste Gesellschafter. der sieh aufs freund-
liebste zu unterhalten wusste.
vermãahblte ssieh mit Maria, der Erbin von Burgund, und trat
nach dgem im Jahbre 1493 erfolgten Tode seines Vaters die Reichs—
regierung an.
Maximilian stand damals in der Blüte seiner Jahre und zeigte eine
angemeine Kraft des Körpers und Geistes. Schon sein Kulseres verkündete
Gesundheit; seine Gestalt var untersetzt, sein Gang sicher und fest; un-
gewöhnliche, duren Übung gesteigerte Muskelkraft gab sich in seinen
Bewegungen kund; eine gewölbte Stirn, blaue Kugen, gebogene Adlernase
und ein kleiner Mund waren die Vigentümliehkeiten seiner Gesichtsbildung.
1C 92. Kaiser Maximilian J.
Das Haar war hellblond, mischte sieb aber bald. mit Grau. Seine Stimme
war wohlklingend und seine Rede gewandt; er besass die Gabe, beim
ersten Zusammentreffen die Herzen zu gewinnen und auch feindlich
gesinnte Gemüter zu versöhnen. Für jede aussere Anregung var er
empfanglien; voll von Entwürfen, Thatenlust und Ehrbegierde, liebte er
das Aussergewöhnliche und Abenteuerliche, und fürchtete sieh vor keiner
Gefahr, vor keinem Kampfe. Unter allen Sorgen und Mühen des Lebens,
die ihm so reichlich beschieden waren, behielt er doch die jugendliche
Frische und den Sinn für Lebensgenuss. Eine seiner liebsten Vergnügungen
war die Jagd, der er um so eifriger nachging, je häufiger sie ihm Ge—
fahren und Abenteuer brachte. Die Walder in Brabant und in den
Ardennen, die Hochgebirge Tirols und der Algäuer Alpen wvaren der
Schauplatz seiner Jagden, und man erzählt eine Menge Anekdoten von
den Gefahren, die er mit Geistesgegenwart bestanden.
Nachst der Jagd zog ihn aueh der friedliche Genuss heiterer Gesellig-
keit an. Es war seine Lust, fröhliche Feste anzuordnen oder der Ein—
ladung zu solchen zu folgen; gern verkehrte er bei solehen Gelegenheiten
traulich und freundlich mit Bürgern und Kriegsgenossen, überraschte wobl
auch einen getreuen Diener auf seiner Hochzeit, erschien in den Reichs-
gtadten bei Gastmablern oder Tanzen der Patrizier und der Zünfte, und
tanzte selbst mit den Frauen und Töchtern der Bürger. Namentlich in
Nürnberg und Augsburg that er dies öfters; er stand zu diesen Städten
und ihren Bewohnern gewissermassen in einem verwandtschaftlichen,
heimatlichen Verhältnisseé; hier fand er sich ein, wenn er sich vergnügen
und erhbolen vollte. ODr. Xluptel.)
Ergänzungen. Im Jahre 1273 var Rudolf von Habsburg zum
deutschen Kaiser gewählt worden. Durch Besiegung Ottokars von Böhmen
hatte er seinem Hause die österreichischen Lande erworben. Auf ihn folgte als
Kaiser Adolf von Nassau, gefallen in der Schlacht bei Göllheim 1298; dann
Rudolfs Sobhn Albrecht L, 1308 von seinem Neffen Johann von Schwaben er—
mordev; hierauf Heinrieh VII. von Luxemburg, 51313 in Italien; ferner
udwag der Bayer, dem Friedrieh der sehöne von Osterreich als Gegen-
kais genũuber gestellt vurde 1314. Geblacht bei Ampfing 1322) Nach
udwas Tod, 1347, kam mit Karl IV. das böhmisch-luxemburgiscehe
Haus zur Kaiserwürde bis 1437, unterbrochen von 1400 — 1410 durch die Re—
gierung des Wittelsbachers Ru pert von der Pfal-, NMit Albrecht II. kam
1438 das Habsburger Haus wieder zur Kaiserkrone und es behielt dieselbe mit
einer einzigen Unterbrechung (1742 - 45 durch Karl Albert von Bayeryv)
bis zur Auflösung des deutschen Kaiserreiches 1806.
Maximilian JL. ist einer der tüchtigsten Habsburger. Er führte den ewigen
Landfrieden und das Reichskammergericht ein und teilte Deutschland in 10 Kreise;
unter ihm errichtete der Graf von Thurn und Taxis die erste Post in
Deutschland (zwischen Wien und Brüssel). Dureh Vermählung seines Sohnes
Philipp des Schönen mit Johanna von Spanien kamen die Habsburger auch
zur Herrschaft über Spanien.
32
93. Der Reichstag zu Worms 23
93. Der Reichstag zu Worms.
Am 31. Oktober 1817 hatte Dr. Martin Luther seine 95 Thesen
an die Thüre der Schloßkirche zu Wittenberg angeschlagen und dadurch
den Anstoß zu jener tiefen Bewegung der Geister gegeben, welche in
ihrem weiteren Verlaufe zur Glaubenstrennung führte; 41 dieser Sätze
waren vom päpstlichen Stuhle als Irrtümer erklärt und Luther zum
Widerrufe aufgefordert worden. Dieser aber verbrannte die Bulle und
mit ihr das Gesetzbuch des kanonischen Rechts, durch welche Handlung
der Bruch mit der römischen Kirche offen erklärt war. Da berief Kaiser
Karl V. den Reichstag nach Worms, zunächst zur Bewilligung der
Reichshilfe für den beabsichtigten Römerzug, zugleich aber auch zum
Austrag der kirchlichen Streitigkeiten. Wenngleich der päpstliche Gesandte
es mißbilligte, daß eine bereits vom Oberhaupte der Kirche entschiedene
Streitfrage noch einmal weltlichen Richtern vorgelegt werden sollte, so
blieb es doch bei der Bestimmung des Kaisers.
Vom Kaiser und mehreren Fürsten mit sicherem Geleit versehen,
brach Luther nach Worms auf und ward Tags nach seiner Ankunft
vom Reichsmarschall Ulrich von Pappenheim vor die Reichsversammlung
gefordert, am 17. April 15321. In der Versammlung saßen außer dem
Kaiser und seinem Bruder, dem Könige Ferdinand, 6 Kurfürsten, 28 Herzoge,
30 Prälaten, viele Fürsten, Grafen, überhauyt 200 Personen.
Das Wort gegen Luther führte der Vikar des Kurfürsten von
Trier, Johann von Eck, — nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen
Kanzler der Ingolstädter Universität. Er richtete an Luther die Frage,
ob er die Schriften, deren Titel man ihm ablas, als die seinigen er—
kenne, und ob er ihren Inhalt widerrufen wolle. Luther bejahte die erste
Fra fur Beantwortung der zweiten bat er sich Bedenkzeit aus. Diese
wur. ihm auf 24 Stunden gewährt. Andern Tages gab Luther folgende
Erklärung ab: „Meine Schriften sind nicht von gleicher Art. Einige
zur Erklärung der Bibel und zur Erbauung geschrieben, haben selbst
meine Gegner gebilligt, und sie widerrufen, hieße Christum verleugnen;
andere sind gegen die Irrtümer, Mißbräuche und Tyranneien des
Papsttums, für die Wahrheit und die Rechte des Kaisers und der Stände.
Fin Widerruf würde jene Tyrannei zu bestätigen scheinen und das
Verderben vieler Seelen nach sich ziehen. Endlich habe ich gegen einzelne
Personen, die Verteidiger jenes Unrechts, geschrieben, heftiger als es sich
für einen christlichen Gottesgelehrten schickt. Gerne bekenne ich diesen
Fehler; allein den gesamten Inhalt der letztgenannten Schriften kann
ich eben so wenig als den der übrigen widerrufen.“ Darauf entgegnete
10
104 93. Der Reichstag zu Worms.
der Vikar Eck, man verlange eine kurze, deutliche Antwort, ob er wider—
rufen wolle. Luther sprach hierauf mit lauter Stimme
„Weil den Euer Kaiserliche Majestät, Kurfürsten und fürstlichen
Gnaden eine schlechte, einfeltige, richtige Antwort begeren, So wil ich
die geben, so weder Hörner noch Zene haben sol. Nemlich also, Es sey
denn, das ich mit Feugnissenn der heiligen Schrift oder mit öffentlichen,
klaren und hellen Gründen und Ursachen überwunden und überweiset
werde, So kan und wil ich nichts widerruffen, hie stehe ich,
ich kan nicht anders, Gott helfe mir, Amen.“
Nach zweitägigen Verhandlungen trat die Reichsversammlung dem
Antrage des Kaisers bei, Luther das Geleite zu halten, sonst aber ihn
als Ketzer zu behandeln Doch ließ sich der Kaiser bewegen, daß noch⸗
mal gütliche Unterhandlungen mit Luther geführt würden, um ihn noch
zum Widerruf zu bestimmen.
Aber auch dieser Versuch war erfolglos. Luther verließ Worms
die Reichsversammlung aber sprach die Acht über ihn aus. Noch 20
Tage solle das sichere Geleit gelten, später solle man ihn ergreifen und
zur Bestrafung ausliefern.
Auf der Rückreise von Worms nach Wittenberg verschwand Luther
plötzlich und seine Freunde klagten laut, man habe ihm das sichere
Geleit gebrochen und ihn getötet. Dem war aber nicht so. Sein Freund,
der Kurfürst Friedrich von Sachsen, hatte ihn aufheben und als Ritter
Georg nach der Wartburg bringen lassen.
Dort beschäftigte Luther sich vorzugsweise mit der Übersetzung der
hl. Schrift. Zwar waren vordem schon mehrere deutsche Bibelüber—
fetzungen vorhanden; aber erst durch Luther kam die Bibel als Gemeingut
in die Hände des Volkes, und seine Übersetzung blieb in Folge dessen
nicht ohne namhaften Einfluß auf die Entwicklung der neuhochdeutschen
Schriftsprache. Mach Fr. Raumer und Ignaz Döllinger.)
Ergänzungen. Schon 100 Jahre vor Luther war in Böhmen Johannes
Hus gegen manche Einrichtungen und Lehren der katholischen Kirche aufgetreten, wurde
aber auf dem Konzil zu Konstanz (1415) als Ketzer erklärt und auf dem Scheiterhaufen
berbrannt, ebenso sein Freund Hieronymus von Prag, was dann die schrecklichen
Hussitenkriege zur Folge hatte (1419 1436).
Luthers Auftreten war zunüchst durch den Mißbrauch veranlaßt worden, der mit
äinem vom Papste Leo X. ausgeschriebenen Ablaß getrieben wurde (Johann Tetzel).
In der Schweiz traten gegen die herrschende Kirche auf: Ulrich Zwingli in Zürich
Und dann Johann Calvin in Genf, deren Anhänger Reformierte oder Calvinisten
genannt werden. Im Jahre 825 brach der große Bauer nkrieg aus, der besonders
in Schwaben und Franken wütete. 1529 wurde auf dem Reichstage zu Speier das
Wormser Edikt erneuert, wogegen die Anhänger Luthers protestierten, daher der Name
Protestanten. Im Augsburger Religionsfrieden 1665 wurde den Protestanten freie
94 Gustav Adolf und Wallenstein vor Nürnberg. 105
Religionsübung gewährt; das Konzil zu Trient aber (1545 1563) hatte die Lehren
Luthers und Calvins als Irrlehren verworfen, und so war die Trennung der Pro—
testanten und Reformierten von der katholischen Kirche vollzogen. Kaiser war während
dieser religiösen Kämpfe Karl V. Sohn Philipps des Schönen und Johannas (S. Nr. 92
S. 102). Er übergab die Niederlande und Spanien seinem Sohne Philipp U,
unter dem sich die nördlichen Niederlande unabhängig machten, die österreichischen Lande
seinem Bruder Ferd inand L, der durch Vermählung mit Maria von Ungarn und
Böhmen auch diese Länder an das Haus Habsburg brachte—
94. Gustav Adolf und Wallenstein vor Nürnberg (1632).
Der Not ein Ende zu machen, verließ endlich Gustav Adolf voll
zuversicht auf seine überlegene Macht, seine Linien, und ließ von drei
Batterien, welche am Ufer der Rednitz errichtet waren, das friedländische
Lager beschießen. Aber unbeweglich stand der Herzog in seinen Ver—
schan; ingen und begnügte sich, diese Ausforderung durch das Feuer der
Masseten und Kanonen von ferne zu beantworten. Den König durch
4 it aufzureiben und durch die Macht des Hungers seine Be—
jar- t zu besiegen war sein überlegter Entschluß, und keine Vor—
stell raximilians, keine Ungeduld der Armee, kein Spott des Feindes
konn. diesen Vorsatz erschüttern. In seiner Hoffnung getäuscht und
von Ler wachsenden Not gedrungen, wagte sich Gustav Adolf nun an
das Unmögliche, und der Entschluß wurde gefaßt, das durch Natur und
Kunst gleich unbezwingliche Lager zu stürmen.
Nachdem er das seinige dem Schutze der Nürnberger Miliz über—
geben, rückte er am Bartholomäustage, dem achtundfünfzigsten, seitdem
die Armee ihre Verschanzungen bezogen, in voller Schlachtordnung
heraus und passierte die Rednitz bei Fürth, wo er die feindlichen Vor—
posten mit leichter Mühe zum Weichen brachte. Auf den steilen Anhöhen
zwischen der Biber und Rednitz, die alte Feste und Altenberg genannt,
stand die Hauptmacht des Feindes, und das Lager selbst von diesen
Hügeln beherrscht, breitete sich unabsehbar durch das Gefilde. Die
ganze Stärke des Geschützes war auf diesen Hügeln versammelt. Tiefe
Gräben umschlossen unersteigliche Schanzen; dichte Verhacke und stachelige
Pallisaden verrammelten die Zugänge zu dem steil anlaufenden Berge,
von dessen Gipfel Wallenstein ruhig und sicher wie ein Gott, durch
schwarze Rauchwolken seine Blitze versendete.
Hinter den Brustwehren lauerte der Musketen tückisches Feuer, und
gewisser Tod blickte aus hundert offenen Kanonenschlünden dem ver—
wegenen Stürmer entgegen. Auf diesen gefahrvollen Posten richtete
Gustav Adolf den Angriff, und fünfhundert Musketiere, durch weniges
Fußvolk unterstützt (mehrere zugleich konnten auf dem engen Kampfboden
106 94. Gustav Adolf und Wallen stein vor Nürnberg.
nicht zum Fechten kommen), hatten den unbeneideten Vorzug, sich zuerst
in den offenen Rachen des Todes zu werfen. Wütend war der Andrang,
der Widerstand fürchterlich; der ganzen Wut des feindlichen Geschützes
ohne Brustwehr dahin gegeben, grimmig durch den Anblick des un—
vermeidlichen Todes, laufen diese entschlossenen Krieger gegen den Hügel
Sturm, der sich in einem Moment in den flammenden Hekla verwandelt
und einen eisernen Hagel donnernd auf sie herunter speit. Zugleich
dringt die schwere Kavallerie in die Lücken ein, welche die feindlichen
Ballen in die gedrängte Schlachtordnung reißen; die festgeschlossenen
Glieder trennten sich, und die standhafte Heldenschar, von der doppelten
Macht der Natur und der Menschen gezwungen, wendet sich nach hundert
zurückgelassenen Toten zur Flucht. Deutsche waren es, denen Gustav
Adolf die tödliche Ehre des ersten Angriffs bestimmte; über ihren Rückzug
ergrimmt, führte er jetzt seine Finnländer zum Sturm, durch ihren
nordischen Mut die deutsche Feigheit zu beschämen. Auch seine Finn—
länder, durch einen ähnlichen Feuerregen empfangen, weichen der über—
legenen Macht, und ein frisches Regiment tritt an ihre Stelle, mit
gleich schlechten Erfolge den Angriff zu erneuern. Dieses wird von
einem vierten und fünften und sechsten abgelöst, so daß während des
zehnstündigen Gefechtes alle Regimenter zum Angriff kommen und alle
blutend und zerrissen von dem Kampfplatz zurückkehren. Tausend ver—
stümmelte Körper bedecken das Feld, und unbesiegt setzt Gustav den
Krieg fort, und unerschütterlich behauptet Wallenstein seine Feste.
Indessen hatte sich zwischen der kaiserlichen Reiterei und dem linken
Flügel der Schweden, der in einem Busch an der Rednitz postiert war,
ein heftiger Kampf entzündet, wo mit abwechselndem Glück der Feind
bald Besiegter, bald Sieger bleibt und auf beiden Seiten gleich viel
Blut fließt, gleich tapfere Thaten geschehen. Dem Herzog von Fried—
land und dem Prinzen Bernhard von Weimar werden die Pferde unter
dem Leibe erschossen; dem König selbst reißt eine Stückkugel die Sohle
von dem Stiefel. Mit ununterbrochener Wut erneuern sich Angriff
und Widerstand, bis endlich die eintretende Nacht das Schlachtfeld ver—
finstert und die erbitterten Kämpfer zur Ruhe zwingt. Mißtrauisch
gegen das Glück, das ihn an diesem entscheidenden Tage verlassen hatte,
getraute der König sich nicht, mit erschöpften Truppen am folgenden
Tage den Sturm fortzusetzen, und zum erstenmale überwunden, weil er
nicht Überwinder war, führte er seine Truppen über die Rednitz zurück.
Zweitausend Tote, die er auf dem Wahlplatz zurückließ, bezeugten seinen
Verlust, und unüberwunden stand der Herzog von Friedland in seinen
Linien.
3
94. Gustav Adolf und Wallenstein vor Nürnberg. 107
Noch ganze vierzehn Tage nach dieser Aktion blieben die Armeen
einander gegenüber gelagert, jede in der Erwartung, die andere zum
Aufbruch zu nötigen. Je mehr mit jedem Tage der kleine Vorrat an
Lebensmitteln schmolz, desto schrecklicher wurden die Drangsale des
Hungers, desto mehr verwilderte der Soldat, und das Landvolk umher
ward das COhser seiner tierischen Raubsucht.
Nürnbera hatte sich über Vermögen angestrengt, die ungeheure
Menschenmenge, welche in seinem Gebiete zusammengepreßt war, elf
Wochen lang zu ernähren; endlich aber versiegten die Mittel, und der
König mußte sic) zum Abzug entschließen. Mehr als zehntausend seiner
Einwohner hatte Nürnberg begraben, und Gustav Adolf gegen zwanzig—
tausend seiner Soldaten durch Krieg und Seuchen eingebüßt. Zertreten
lagen alle umliegenden Felder, die Dörfer in Asche; das beraubte Land—
volk verschmachtete auf den Straßen; Modergerüche verpesteten die Luft;
verheerende Seuchen, durch die kümmerliche Nahrung, durch den Qualm
eines so bevölkerten Lagers und so vieler verwesenden Leichname, durch
die Glut der Hundstage ausgebrütet, wüteten unter Menschen und
Tieren, und noch lange nach dem Abzug der Armeen drückten Mangel
und Elend das Land. Gerührt von dem allgemeinen Jammer und
ohne Hoffnung, die Beharrlichkeit des Herzogs von Friedland zu be—
siegen, hob der König am 8. September sein Lager auf und verließ
Nürnberg, nachdem er es zur Fürsorge mit einer hinlänglichen Besatzung
versehen hatte. In völliger Schlachtordnung zog er an dem Feinde
vorüber, der unbeweglich blieb und nicht das geringste unternahm, seinen
Abzug zu stören. (Friedr. v. Schiller.)
Ergänzungen. Der Zwiespalt zwischen den verschiedenen Glaubensparteien
in Deutschland hatte schon den schmalkaldischen Krieg (von 1646—1552) hervor—
gerufen; er hatte auch den schrecklichen 30jährigen Krieg zur Folge. Dieser begann zu
Prag in Böhmen (23. Mai 1618) durch den Sturm auf das kaiserliche Schloß. Die Böhmen
kündigten dann dem Hause Habsburg den Gehorsam und wählten den Kurfürsten
Friedrich V. von der Pfalz zu ihrem Könige. In der Schlacht am weißen Berge bei
Prag wurde dieser besiegt (8. Nop. 1620) und Vöhmen wieder dem Kaiser unterworfen,
Friedrich aber geächtet. Die Oberpfalz erhielt Maximilian von Bayern, zugleich auch
die Kurwürde (1623). Für Friedrich traten auf Ernst v. Mansfeld, Christian
v. Braunschweig und Georg Friedrich v. Baden, später auch der Dänen—
könig Christian. Sie alle wurden von Tilly und Wallenstein besiegt Da
trat 1630 der Schwedenkönig Gustad Adolf als Bundesgenosse der protestantischen
deutschen Fürsten auf, besiegte 1631 Tilly bei Leipzig, drang nach Franken, den
Rheinlanden und Bayern vor, und bedrohte Osterreich, so daß sich der Kaiser
Ferdinand 1I) genötigt sah, den früher entlassenen Wallenstein wieder als Ober—
feldherrn aufzustellen. Bei Fürth maßen sich die beiden großen Feldherrn zum ersten
mal. Bald nach dem Zusammenstoß bei Fürth kam es bei Lützen in Sachsen zu einer
blutigen Schlacht (16. November 1632), in welcher Wallenstein geschlagen wurde
108 95. Die deutschen Dörfer vor und nach dem dreißigjährigen Kriege
Gustav Adolf und Pappenheim fielen. Wallenstein blieb dann lange unthätig in
Böhmen, während die Schweden wieder in Süddeutschland einrückten. Er stand im
Verdachte, Verrat an den Kaiser üben zu wollen, wurde deshalb von diesem seiner
Feldherrnwürde entsetzt, und von mehreren Verschworenen zu Eger ermordet (1634).
Der Krieg wurde mit immer größerer Erbitterung fortgesetzt; am Ende mischten sich
auch die Franzosen ein, und nur die große allgemeine Erschöpfung zwang zum
Frieden (1648) Dieser überantwortete Deutschland dem Einflusse des Auslandes und
brach die Macht des Kaisers und Reiches, und mehr und mehr ging Deutschland
seinem Verfall entgegen
95. Die deutschen Dörfer vor und nach dem dreisfsig-
jührigen Kriege.
1. Beim Beginn des dreissigjahrigen Krieges herrschte nach dem langen
Frieden grosse Wohlhabenheit unter den Bauern. Die Dörfer vwaren
nicht ganz ohne Schutzwehr; breite Gräben, Zaune oder Wände von Lehm
und Steinen umgrenzten oft das Dorf; an den Hauptstralssen hingen
Thore, welehe zur Nacht geschlossen wurden. In der Begel war der
Kirehhof mit einer besonderen Mauer geschützt; er bildete mehr als
einmal die Festung und letzte Zuflucht der Bewohner. Dorf und Flur
wurden durch Nacht- und Tagvwächter beschritten. Die Hauser waren
zwar nur von Holz und Lehm in ungefälliger Form, oft in engen Dorf—
strassen zusammengedrängt; aber sie waren nieht arm an Hausrat und
behaglicher Wohnlichkeit. Alte Obstpflanzungen umgaben die Dörfer, und
viele Quellen ergossen ihr klares Wasser in steinerne Tröge. Auf den
eingefriedeten Höfen tummelten sich grosse Scharen von kleinem Geflügel;
auf den Stoppeläckern lagen mächtige Gänseherden, und in den Ställen
standen die Gespanne der Pferde. Grosse Gemeindeherden grasten auf
den Höhenzügen und Wiesen. Die Wolle stand in hobem Preise, und an
vielen Orten wurde auf feine Zueht gehalten. Die deutschen Tuche waren
berühmt und Tuchwaren der beste Ausfubrartikel. Die Dorfflur lag
wo nicht die altfränkische Flurteilung in lange Ländereien sieh erbalten
hatte — in drei Felder geteilt, deren Hufen viel gespalten und Beet für
Beet sorgfaltig mit Steinen umsetzt waren. Der Acker vwar nicht ohne
höher Kultur. Ein feinmehliger weilser Weizen vurde in das Winterfeld
gesan. Der HFlachs ward sorgfältig dureb die Wasserröste zubereitet.
Ausserdem brachte Anis und Saflor viel Geld ein. Aueh der Kardenbau
war altheimisch; von Olsaaten wurde Rübsen. am Rheine aber Raps in
die Brache gesäet. Die schwanken Rispen der Hirse gaben reichlichen
EArtrag. In Thüringen und Franken waren damals an den Abhängen von
warmer Lage überall Rebengärten, und diese alte Kultur, vwelche jetzt
in denselben Landschaften fast untergegangen ist. muss in günstigen Jahren
doeh einen trinkbaren Wein hervorgebracht haben; denn éês werden in
den Chroniken einige Weinjahre als vortrefflich gerühmt. Auch Hopfen
wurde fleissig gebaut und zu gutem Bier benutzt. Schon säete man von
96. Der Verfall der deutschen Reichsstädte. 109
Futtergewachsen den Spörgel und die Pferdebohne. Die Abzugsgräben,
ja sogar Bewässerungsgräben zu erhalten war gewöhnlich. Schon war
Erfurt Mittelpunkt eines grossen Samenhandels und höherer Gartenkultur.
Im ganzen war, wenn man verschiedene Zeiten mit einander vergleichen
darf, die landwirtschaftliche Kultur im Jahre 1816 nicht geringer, als
etwa 200 Jahre spãter.
sind zwei Jahxhunderte vergangen, ehe der Kulturzustand der
Dörfer e Höhe wieder gewann, die er beim Ausbruch des dreissigjährigen
Krie. s hatte. Der Rrieg vernichtete diese ganze Blüte; denn er fiel
mit seiner Hauptschwere gerade auf den Bauernstand. Die Dörfer lagen
in Asche; der Viehstand ging ein; das Feld verwuchs und vward stellen-
weise wieder zu Wald; die Leichen blieben unbegraben. Die Dorfhunde
rotteten sich zusammen wie Herden Raubtiere, und zu dem Elende des
Kri s Kkamen die unausbleiblichen Plagen des Hungers und der Pest.
lIn r wveiten Halfte des Krieges weigerte sieb ein schwedischer General,
zein Lr von Pommern nach Deutschland zu führen, weil dureh die
dazwischenliegende Ode sein Verlust grölser sein würde, als durch die
blutigst Niederlage. In einzelnen Gegenden, vie in Schlesien, Thũringen
und Mecklenburg, hatte der Krieg besonders grausam gehaust. Beim
Friedensschluss gab es eine Menge verbrannter Ortschaften, Dörfer,
Stãdte und Schlösser. An manchen Orten zählten Dörfer, die früher
400 Einwohner hatten, nur noch 20; manche waren ganz verödet. Noch
heutzutage bezeichnen Namen von Feldmarken einzelne ührig gebliebene
Gehõfte, hier und da sogar noch Kirchentrümmer die Stätten, wo einst,
blühende Dörfer gestanden. Von den meisten war nach dem Kriege nur
noch die Kirche, und auch diese oft nur als Ruine vorbanden. Es war
die fromme, ausdauernde Landgeistlichkeit, die um die Kirebhe den Keim
einer Gemeinde wieder versammelte. (Gustav Proitag.)
96. Der Verfall der deutschen Reichsstädte.
Von den deutschen Städten war einst die große Bewegung
des Welthandels ausgegangen; sie hatten den Binnenverkehr an sich
gerissen, sie beherrschten die Meere und die Häfen des europäischen
Nordens. Von ihnen ward im 15. Jahrhundert nicht nur die bekannte
Welt ausgebeutet, auch die ersten Entdeckungsfahrten nach der neuen
gingen von ihnen aus. Die eigentümlichsten Züge des deutschen Wesens,
die ze C.eduld und Ausdauer, die Sinnigkeit und Tiefe in der Arbeit
hatte.t sich damals hinter die Mauern dieser Städte geflüchtet und
wirkren dort vereint zu einem Ziele, indes sich draußen die verlorene
Kraft des einzelnen in Unbändigkeit und Selbsthilfe entkräftete Aber
nicht nur eine Fülle des Wohlstandes war in diese Städte damals
zusammengeströmt, auch die Kunst und die Wissenschaft fand lange Zeit
110 96. Der Verfall der deutschen Reichsstädte.
hier die sicherste Pflege. Das 16. Jahrhundert hatte die Reichsstädte
noch in dem Vollgenuß ihres Wohlstandes, ihres behaglichen Lebens,
ihrer Blüte in Kunst und Wissenschaft gesehen; aber es war auch der
Zeitraum, in welchem der Umschwung begann. Es folgte rasch nach
einander eine ganze Reihe tiefeingreifender Ereignisse, welche den Nieder—
gang der Städte vorbereiteten. Der Welthandel suchte sich neue Wege;
die Niederlande fielen vom Reiche ab; die nordischen Königreiche eman—
zipierten sich; Livland ging verloren; die Privilegien der Hansa in
England wurden beschränkt, und nirgends bot sich ein Ersatz für die
Einbuße des Binnenverkehrs, für den Verlust der Herrschaft auf den
Meeren und die Verkürzung der Handelsmonopole. Die Periode des
konfessionellen Haders zu Ausgang des 16. Jahrhunderts mußte diese
Wunde schärfen; die kirchliche Ausschließlichkeit zersplitterte vollends,
was sich mit aller Eintracht hätte zusammenfassen sollen. Es folgte
der dreißigjährige Krieg, der, wie er dem ganzen Reiche und dessen ein—
zelnen Gebieten verderblich ward, so besonders die Städte mit der
nachhaltigsten Verwüstung heimsuchte und kaum eine ganz verschont ließ.
Die it nach dem westfälischen Frieden schaffte aber keine Erholung. In
sich tief erschüttert und zum Teil für immer in ihrem Wohlstand
gebrochen, schienen die Städte schon damals dem Schicksale der Ein—
verleibung in die fürstlichen Gebiete erliegen zu müssen, das sie andert—
halb Jahrhunderte später traf. Von der landesherrlichen Macht allent—
halben umdrängt, verlor damals manche früher gewaltige Stadt ihre
Unabhängigkeit, und man darf sich fast darüber wundern, daß die
übrigen sie den Namen nach behielten. Kaum fristeten noch die Städte
am Rhein eine bescheidene Existenz, als der furchtbare Verwüstungskrieg
Ludwe 3 XIV. hereinbrach und die alten fränkischen Königsstädte, wie
Worms und Speier, der völligen Zerstörung preisgab. Sie verloren
ihre e Sedeutung nun für immer und sanken zu Landstädtchen herab,
in hechstens noch die alten Dome an vergangene Herrlichkeit er—
im. „. Denn die Zeit war vorüber, wo sich die friedlichen Künste
be ebens, bürgerlicher Fleiß, Wissenschaft und Kunst fast nur hinter
den Mauern der Reichsstädte in ungestörter Blüte entfalten konnten.
Da größeren fürstlichen Gebiete waren jetzt der Raum geworden, auf
dem sich das staatliche und Kulturleben rührig entwickelte. Im 18.
Jahrhundert hatte die große Mehrzahl der Reichsstädte ihre Bedeutung
verloren, auch wenn sie den Namen nach die alte Reichsunmittelbarkeit,
die Selbstregierung durch gewählte Magistrate bewahrt hatten und auf
dem Reichstage eines der drei Kollegien bildeten. Nur noch wenige
Städte, wie Ulm, Nürnberg, Rothenburg ꝛc. besaßen noch ein reichs—
97. Frankreichs Raub an Deutschland.
städtisches Gebiet, waren aber darüber mit Schulden überhäuft. Zum
Teil war diese Bedrängnis dadurch verursacht, daß die Städte ihre
alte Macht verloren hatten, der Handel meistens ganz darniederlag,
sie jedoch gleichwohl nach dem Maßstabe ihrer früheren Kräfte von
Reichswegen taxiert und besteuert wurden. Aber viel Schuld lag an
ihnen selber. Ihre Verwaltung stand in ebenso schlechtem Rufe, wie
die Redlichkeit und Unegennützigkeit ihrer Magistrate; das rief bittern
Hader zwischen dem Regimente und der Bürgerschaft hervor, bis am
Ende eine kaiserliche Kommission erschien und in jahrelanger Unter—
suchung der Stadt neue Schuldenlasten aufbürdete. Dazu kamen die
unausgesetzten Bedrängnisse der angrenzenden Landesherren, denen die
Städte zu widerstehen teils zu schwach, teils zu uneinig waren. Überall
war die alte Verfassung in Erstarrung geraten; überall klagte man über
unerträglichen Druck der herrschenden Familien oder über unsaubere und
eigennützige Kameradschaften; überall war Familienselbstsucht und Günst—
lingswesen heimisch. Wo das Übel minder grell auftrat, war es Ver—
dienst der Menschen; aber im ganzen stand die städtische Verwaltung
und Rechtspflege in einem so üblen Rufe, wie nur immer die der Graf—
schaften und der ritterschaftlichen Gebiete. Bald gingen bei Prozessen
die Akten verloren; bald ließ man den Beschädigten laufen, und der
Kaiser oder der Reichshofrat mischte sich in die tief verfallene Rechts—
pflege; bald kamen bei Zivilhändeln, namentlich bei Konkursprozessen,
die gröbsten Unredlichkeiten vor; kurz die Fälle, wo diese Rechtspflege
die Einmischung des Reiches hervorrief, sind so häufig und noch häufiger,
als die Klagen über die Justiz- und Polizeianarchie auf den ritter—
schaftlichen Gebieten. Cudwig Häusser Deutsche Geschichte.)
9. FPrankreichs Raub an Deutschland.
1. König Heinricehll. von Frankreich unterstützte den Herzog Moritz
on Sachsen im Kriege gegen den deutschen Kaiser Karl V. 2zog in
die drei Bistümer Metz, Tul (Touh) und Virten (Verdun), besetzte sie
und bebielt sie dann in seiner Gewalt. Im westfälischen Frieden bereicherte
gich Frankreieh wieder auf Kosten Deutschlands mit der Stadt Breisach,
der Landgrafschaft Ober- und Niederelsass, dem Sundgau und der Land-
cogtei über zehn m Elsass gelegenen Reichsstädte, darunter Hagenau,
Kolmar, Schlettstadt, Weissenburg, Landau.
Die Städte in Elsass, die noch ihre Preibeit hesassen, wurden unter
der Regierung Ludwigs XIV. mitten im Frieden auf einmal derselben
beraubt. Noch stand Strafsburg, diese an der Mündung des IIl in den
Rhein gelegene Perle der Städte von Elsass, in aller Reiehsherrlichkeit
aufrecht. Dieser Stadt liess Ludwig jetzt ankündigen, dass sie sich ihm
112 97. Frankreichs Raub an Deutschland.
ebenfalls zu unterwerfen habe. Er begehre nur, wvard den Bürgern gesagt,
Huldigung, MAnerkennung der Oberberrlichkeit Frankreichs, wogegen er
der Stadt ihre uralten Rechte und Freihbeiten nicht entreissen volle.
Die Bürger aber, die wohl wussten, was von Zusagen eines Ludwig zu
halten sei, wiesen die Fordeèrung zurũck und wandten sich an die deutschen
Reichsstände.
Mit der Miene der Ehrbarkeit ward den deutschen Reichsständen
angekündigt, dass der König bereit sei, seine Ansprüche auf Stralsburg
einer Konferenz zur Entscheidung vorzulegen. Seine Friedensboten waren
aber noch niebt zurück, als sehon — in aller Stille — sieh eine starke
Heeresnacht der keines Angriffs gewärtigen Stadt naherte. Plõötzlich
verbreitete sich unter der Bürgerschaft die Nachricht: unsere Reichs-
schanze ist von Franzosen besetzt! — Alles eilt auf dieé Mauern, da
zieht man schon neue Massen nachrückeen. Nun wusste man, woran man
war. Die Macht des Feindes betrug 40000 Mann. Jetzt kam die For-
derung und Drohung an die Bürgerschaft: Ergebung, oder Verwandlung
der Stadt in einen Aschenhaufen und Behandlung der Bürger als Rebellen!
Es folgte die Ergebung unter Entgegennahme der ũblichen Zusicherungen,
dass der Stadt alte Gerechtsame in Ehren gehalten verden sollten. Kaum
aber hatten die Pranzosen festen Fuls in der Stadt gefasst, so wurden
diejenigen verlacht, die jene Versicherungen für Ernst genommen hatten,
und es erfolgte als Gesetz die Proklamierung des Willens des gewaltthätigen
Mannes, der den MAusspruch gethan hatteé: „Ich bin der Staat!“ Der
Raub Strassburgs war am 16. September 1681 vollbracht worden. Vierxzehn
Tage später hielt Ludwig seinen feierlichen Einzug in die Stadt.
Es galt nun den Raub zu sichern. Ludwig gab der Stadt eine
starke Besatzung und liess in derselben den Bau einer starken Citadelle
in Angriff nehmen. Doch genügte ihm dies noch nicht. Deutschland
musste beschäftigt werden, um nicht etwa einen Versuch zur Zurück—
eroberung Strassburgs zu machen. Dazu boten Unruhen im Osten des
leiches günstige Gelegenheit. Ungarn, höchst unzufrieden mit dem
cgierungsverfahren des deutschen Kaisers, machte Niene, sich mit den
Lu.ka gegen Leopold zu verbinden. LEifrig schürte der „allerchrist-
liche Ludwig die Flamme und half es bewirken, dass ein Heer von
200600 Tũrken in Osterreich einfiel. Hatte Frankreich bisher die Ver—
wũstung des Westens Deutschlands betrieben, so war sein Einfluss nun
aueh im Osten zu gleichem Zwecke mit wirksam. Die Errettung Wiens
durch Sobiösky (1683) kam dem Könige von Frankreich sehr ungelegen,
denn sein Sinn war darauf gerichtet gewesen, bei zunehmender Ab—
schwächung Deutschlands einen neuen Raub zu begehen.
2. Bald bot sich ihm eine erwũnschte Gelegenheit, neue Ansprüche
zu erheben. Der RKurfürst Karl von der Pfalz starb. und mit ihm erlosch
der Zweig Pfalz-Simmern. Nach klarem Recht fielen die Erbländer an
die Linie Pfalz-Neuburg, und nur die Allodialgüter gingen als Erbteil
97. Frankreichs Raub an Deutschland. 113
an des Verstorbenen Schwester, die Gemahlin des Herzogs von Orleans,
über. Da trat Ludwig plötzlich mit der allem Rechte Hohn sprechenden
Behauptung auf, die Herzogin sei auch Erbin der pfälzischen Länder;
jedoeh wollte er nieht der Herzogin diese Länder zuwenden, sondern er
beabsichtigte, sie Prankreieh einzuverleiben.
In derselben Zeit beschäftigte ihn eine andere Angelegenheit ebenso
lebhant. Der erzbischöfliehe Stubhl von Kur-Köln war erledigt, und nun
begchrte er von den Reichsständen, den französiseh gesinnten Bischof von
sStrassburg zum Bischofe von Köln zu erheben. Da dieses sein Begehren
nicht erfüllt ward, man ihm auch weiterhin sein Recht auf die pfälzischen
Exbländer bestritt, so erklärte er (1688) dem deutschen Reiche den Rrieg.
lhm war in VWilhelm III. von Oranien, den England zum Rönige
gewahlt hatte, ein gewaltiger Gegner entstanden. Um nun seine ganze
Kraft gegen diesen FPeind sammeln zu können, kam Ludwig auf einen
wahrhast teuflischen Plan. Er beschloss, die an Frankreich grenzenden
Gebiete Westdeutschlands völlig ausplündern und darauf in MWüsteneien
verwandeln zu lassen.
Dor General Melac sollte dieses unmenschliche Werk vollführen.
Es walzten sieh die Scharen von Ort zu Ort, und wenn sie weiter wan-
derten, hinterliessen sie rauchende Trümmerhaufen. Es war mitten im
Winter; aber kein Erbarmen regte sich in den Seelen der Mordbrenner
bei dem Gedanken, dass hilflose Weiber, Greise und Kinder der RKälte
erliegon müssten. Mit Heidelberg war begonnen vorden. Michtige
Gebãauu.d, die dem Feuer widerstanden, z. B. das berũhmte Schloss, wurden
durche rengungen zerstört, ebenso die Stadtmauern. Aber auch die
herrlichen Weinberge und Baumgärten erlagen der Verheerung. Nun
folgten zunächst alle Ortschaften der Bergstralse bis Weinheim. Im
Marz 1689 vurde Mannheim dem gleiehen Geschiek überantwortet.
Im April erfolgte die Besetzung Speiers. Die Stadt vurde ausgeplündert.
Wagen und Pferde zur Wegschaffung der Leute nach Frankreieh musste
die Stadt noch obendrein geben. Die Schöffen hatte man im Rathaus-
zaale so lange ohne Nahrung hinter Schloss und Riegel gefangen gehalten,
bis die ungeheure, der Stadt zur Zahlung auferlegte Summe herbei-
geschafft worden war. NMit Peitschen wurden die Bürger angetrieben,
ihre eigenen Mauern niederzureissen. Nun kam der Befehl, die Einwohner
sollten nach Lothringen oder Burgund auswandern. Bürger, die sich ũber
den Rhein zu retten suchten, wurden von Soldaten, die im Ufergebüsch
versteckt lagen, erschossen. Da zugesagt worden war, den herrlichen
Kaiserdom zu sehonen, hatten viele Bürger ihre Habe in ihn geflüchtet.
Ihr Hoffen war ein vergebenes. Am dritten Pfingstfeiertage wurden die
Hauptgebäude der Stadt. und unter denselben auch der Dom, in dem
die Gebeine von acht deutschen Kaisern ruheten, angezündet. Darnach
walzte sich der Zug der Mordbrenner nach Worms. Es ging in Feuer
Marschall, Lesebuch für gewerbl. Fortbildungsschulen. Kl. Ausg.
14 98. Friedrich des Großen Privatleben.
auf, wie es mit Speier geschehen war. Nun kam das Erzbistum Trier
an die Reibe: auch hier vüũteten Raub und Brand. Es folgten die Gebiete
von Köln und Jälieh. Die unglücklichen Bewohner wurden genötigt,
ihre Fruchtbaume und Weinstöcke abzuhauen oder dureh Feuer zu zer—
stören und das halbreife Getreide unterzupflügen.
Die edle deutsche Pfalzgräfin Elisabeth Charlotte, die als
französische Prinzessin sien nimmer an die französische Gleisnerei hatte
gewöhnen können und die Liebe zur deutschen Heimat tief im Herzen
bewahrte, weinte Tag und Nacht, als sie die Greuel erfuhr, die an ihrer
Vaterstadt Heidelberg verübt wurden. Der „allerchristliehstes Bönig
Ludwig aber liels zum Andenken an die Heldenthaten seiner Soldaten
eine Münze schlagen, welehe das brennende Schloss von Heidelberg zeigt
mit der Umschrift: Rex dixit et factum est! (Der König gebot, und es
geschah) Mach PFerd. Sehmidt.)
Ergänzungen. Der bedeutendste Krieg Ludwigs XIV. gegen Osterreich
ist der spanische Erbfolgekrieg von 1701 - 1714. In Spanien var das
habsburgische Haus ausgestorben. Ansprüche auf den Thron erhoben Ludwig XIV.
für seinen Enkel Philpp und Leopold I. von Osterreich für seinen Sobn Rarl.
Auf Seite Osterreichs stunden in diesem Kriegeé: England, Holland, Preulsen;
zu Frankreich hielten Max Emanuel von Bayern und sein Bruder der Kurfürst
con Köln. Das Glück der Waffen war aut Seite Osterreichs, dessen Heere durch
den Prinzen EBugen von Savoyen geführt vurden. Nach der Schlacht bei
Hõchstadt (1704) wvurde Bayern von den Osterreichern erobert, was den Auf—-
stand der Bayern (1705) zur Folge hatte. Auf Kaiser Leopold var (1705) sein
8sohn Joseph 1. getfolgt, der 1711 stard. Nun wurde sein Bruder Karl VI.
Herrscher in Ostereich und deutscher Kaiser. Wenn er auch noch die spanischen
Lander erbalten hatte, vare das Haus Habsburg zu mächtig geworden; deshalb
trennten sieh England, Holland und andere Bundesgenossen von österreiech und
schlossen Friede mit Frankreich, dem sich endlich auch Osterreich anschliessen
musste (1714). Philipp erhielt Spanien mit den überseeischen Besitzungen, so
dass nun statt der Habsburger die Bourbonen in Spanien herrschten. Osterreich
erhielt bloss die Niederlande, Neapel und Sardinien (Später gegen Sicilien ver—
tauscht.) Kurfürst Max Emanuel durfte vieder nach Bayern zurückkehren.
98. Friedrichs des Grossen Privatleben.
Nach Beendigung des Krieges vidmete sieh Friedrich mit gewobntem
Eifer den Regierungsgeschäften. Als der erste Mann in seinem Staate
wollte er aueh der thatigste sein; denn niebts glaubte er, habe mehr
Ahnlehkeit mit dem Tode als der Müssiggang. In allen seinen Geschäften,
in der ganzen Einrichtung seines Lebens, herrsehte die grölste Ordnung,
und fast jede Stunde hatte ihre genaneste Bestimmung. Er hatte den
Grundsatz, nichts aufzuschieben und weder Müdigkeit noch übles Wetter,
noch eine Lieblingsneigung Konnte ihn davon abbringen. Schon um 4 Uhr
des Morgens stand er im Sommer auf; ja zur Berliner Musterung war er
um diese Zeit schon auf dem Pferde. Zum An- und Auskleiden, ja selbst
98. Friedrich des Großen Privatleben. 115
zum Hrisieren bediente er sieh keiner fremden Hilfe; sein erster Gang
Far nach dem Schreibtiseh, auf velehem er die in der Nacht eingegangenen
Briefe fand. Die wicehtigeren las er selbst, von den übrigen mussten ihm
die Kabinetsräte kurze Auszüge machen. Dann hörte er die Berichte
der Adjutanten an, gab Befehle, trank Kaffee und griff zu seiner Flöte.
Wohl zwei Stunden lang spazierte er blasend aus einem Zimmer in das
andere, und oft hat er erzahlt, vie ihm mitten unter diesen Phantasien
unmerklieh eine Menge ernster Gedanken und neuer Entschlüsse über
die wiehtigsten Gegenstände dureb den Kopf gegangen seien. Wenn er
die Flöte weglegte, traten die Kabinetsrãte mit ihren Auszügen herein.
Er sagte ihnen hierauf, was auf jeden Brief, oder auf jede Eingabe eines
Ministers geantwortet werden sollte, und sehrieb oft auch selbst einige
kurze Worte an den Rand. Nach der Beendigung der Kabinetsgeschäfte
zog er die Uniform an, nahm ein Buch zur Hand, oder schrieb Briefe.
Das Lesen geschah laut und mit reiner, deutlicher Stimme. Mit dem
Sehlag 12 Ubr ging er zur Tafel. Seine Tisehgesellschaften sind berühmt.
Er wäahlte dazu nieht bloss die geistreiebsten und gebildetsten unter
seinen Offizieren, sondern zog aueh Diehter, Gelehrte und Künstler, be—
sonders aus Frankreieh an seinen Hof. Am liebssten führte er die
Unterhaltung selbst. Er sprach schnell und flielsend, und sein ungeheures
Gedachtnis, seine Erfahrung, seine Belesenhbeit und sein Witz liessen
es nie an Stoff fehlen. Wer nicht geläufig französisch sprach, hörte bloss
zu. Nach der LTafel blies er wvieder eine halbe Stunde auf der Plöte,
dann unterzeichnete er die unterdessen im Kabinete abgefasssten Briefe,
trank Kaffee und besah seine Anlagen. Die Stunden von vier bis sechs
varen gewöhnlich seinen schriftstellerischen Arbeiten bestimmt, von sechs
bis sieben dauerte das Konzert, in welchem er drei Solos zu spielen
pflegte, auch wohl von Quantz) oder einem anderem Künstler eines hörte,
wobei aber kein Nichtmusiker zugelassen ward. Nach diesem ging die
Abendmablzeit an, die in geistreicher Gesellschaft oft bis Mitternacht
wahrte, und in velcher ein vitziger Einfall auf den andern folgte.
Voltaire selbst, der einige Jahre am Hofe des Königs lebte, aber un—
lankbarer Weise sonst nieht günstig von Friedrieh redet, muss gestehen,
lass diese Abendmahlzeiten vahre Sokratische Gastmähler gewesen seien.
NFach dem siebenjahrigen Kriege versagte sieh der König aus Gründen
ler Gesundheit das Essen zu Nacht, und dann verwandelten sieh die
Tischstunden in Lesestunden, in denen er sich mit einem Gelehrten über
das Gelesene unterhielt. Von dieser bestimmten Lebensordnung wieh der
Köõnig nur zur Zeit der Truppenmusterungen, die er sehr pünktlich hielt,
zowie auf seinen Reisen ab. War er auf Reisen, so erkundigte er sieh
nach allem, merkte sien alles und überrasehte gern dadureh, dass er sieh
Meister des Võtenspiels und Friedrichs Lehrer in demselben. ) spr. woltär
ein hervorragender französischer Diehter und Schriftsteller).
116 99. Kaiser Joseph II.
von allen Dingen unterrichtet zeigte. Die Amtleute und Landräte mussten
oft neben seinem Wagen herreiten und von ihren Angelegenheiten erzählen.
Mit Bauern und geringen Leuten redete er treuberzig, mit Vornehmen
zurũckhaltend und kurz Er duldete nie, dass andere in seinem Lande
sich eigenmächtige und willkürliche Handlungen erlaubten. Bauern, welche
von ihren Edelleuten hart behandelt wurden, fanden bei ihm den kräftigsten
Sschutz Den Künsten wandte Friedrich gleichfalls seine Pflege zu. Er
liess zu Berlin ein Opernhaus bauen und Sänger und Tänzer aus Italien
und Frankreiech kommen. Die Bibliothek ward ansehnlieh vermehrt und
eine Münzsammlung angelegt; in Itallen vurden Gemälde und Bildwerke
angekauft. Berlin und Potsdam verschönerten sich von Jahr zu Jahr
dureh eine Reibe neuer Gebäude, unter denen das Invalidenhaus, die
katholiseche und die Domkirehe, vor allen das schöne Sommerschloss
Sanssouci) zu nennen sind. ud slacke. Erz. a. 4 Genen, d. Mitlolalters)
Ergänzungen. Das Geschlecht der Hohenzollern stammte aus Schwaben
Ein Hohenzoller, Friedrieb, wurde 1191 Burggraf von Nürnberg. Burg—
graf Friedrich VI. erhbielt 1415 vom Kaiser Sigismund die Mark Branden—
burg; 1618 fiel das Herzogtum Preufsen (bis 1525 Deutschordensland) an
Brandenburg. Bedeutend erweiterte die Macht des Hohenzollernhauses der grofse
Kurfürst, Rriedrieh Wilhelm (1640- 1688); dessen Nachfolger Friedrich
erhielt vom Kaiser Leopold L 1701 den Titel „König in Preussen“. Vorzüglich
aber exbob Friedrieh I. der Grofse Preussen zu grolser Macht. Durch
seine Teilnabmeé am österreichischen Erbfolgekriege gewann er
Sschlesien; im siebenjährigen Kriege (1756 — 1763) behauptete er sich
gegen die grolsse Ubermacht der wider ihn verbündeten Osterreicher, Franzosen,
Schweden und Russen und errang dem verbältnismässig kleinen Preulsen eine
Stellung unter den europäischen Grossmächten. Er starb äLinderlos 1786.
99. Kaiser Joseph II.
Joseph war ein schöner Mann, gesund und voll Feuer, lebhaft
und mild zugleich. Sein Gang und seine Bewegungen waren rasch und
sicher; sein blaues Auge strahlte von Geist, und seine hohe Stirne
zeigte all die Seelengüte, die ihn bis zu seinem letzten Atemzuge nicht
verlassen hat.
Keiner seiner Diener war so fleißig als er. Im Sommer stand
er um 5 Uhr, im Winter nur wenig später von seinem Lager auf und
ging ohne Zögern an die Arbeit. Bis gegen 9 Uhr war er thätig;
dann frühstückte er wenige Minuten und arbeitete dann wieder fleißig
fort. Von Stunde zu Stunde begab er sich auf die Galerie, hörte die
Leute an, die ihn sprechen wollten; und nahm ihnen eigenhändig ihre
Gesuche ab. Jede Bittschrift wurde rasch beantwortet, und binnen acht
) spr. sanssussi (- Ohnesorge).
99. Kaiser Joseph I. 117
Tagen hatte jeder seinen Bescheid Um Mittag, nur von einem einzigen
Bedienten begleitet, ging, ritt oder fuhr er spazieren, worauf er sich
zu Tische setzte. Er genoß die einfachsten Gerichte und trank nie Wein.
Die Stunde nach Tische widmete er der Musik und ging dann abermals
an die Arbeit oder erteilte Audienz. Um 7 Uhr abends besuchte er
das Theater oder eine Gesellschaft, welche in der Regel immer aus den—
selben Personen bestand, und in der sich Joseph als der liebenswürdigste
Privatmann zeigte. Wenn er zurückkehrte, arbeitete er abermals, indem
er eingelaufene Berichte und Depeschen durchflog und Ausfertigungen
unterzeichnete. Gegen 11 Uhr begab er sich zu Bette, wenn nicht
wichtige Geschäfte den Schlaf ihm verscheuchten. Gab es viel zu thun,
so arbeitete er bis tief in die Nacht hinein und mußte oft von seinen
Dienern erinnert werden, seine Gesundheit nicht ganz und gar zu
vergessen.
Wenn Gefahr war, z. B. Feuersnot, eilte er stets zur Hilfe herbei,
griff eifrig mit an, ermunterte die Umstehenden und leitete die Rettungs—
anstalten mit bewunderungswürdiger Besonnenheit. Dann verteilte er
Geld unter die Leute, wie er denn nie ausging, ohne eine Summe von
hundert Dukaten beizustecken, die im Laufe des Tages an Arme oder
Leidende gespendet wurden. Joseph liebte sein Volk und wünschte von
ihm geliebt zu werden. So öffnete er den bisher nur dem Adel zu—
gänglichen Augarten allem Volke zur Belustigung und setzte über den
Eingang die Inschrift? „Allen Menschen gewidmeter Erlustigungsort
von ihrem Schätzer.“ Als die adeligen Herren sich beklagten, daß sie
nun nirgends mehr ein Plätzchen hätten, wo sie ganz ungestört unter
sich sein könnten, erwiederte Joseph: „Wenn ich nur immer unter
meinesgleichen leben wollte, so müßte ich in die Kapuzinergruft hinab—
steigen, wo meine toten Ahnen ruhen.“
Von seiner Leutseligkeit und Gerechtigkeitsliebe, sowie von seiner
Bereitwilligkeit, den Armen und Unterdrückten beizustehen, erzählt man
viele Beispiele.
Nach dem Tode seiner Mutter machte Joseph in seinem weiten
Reiche große Veränderungen und Verbesserungen. Er hob viele Klöster
auf, gestattete freie Religionsübung, sogar den so lange bedrückten Juden,
errichtete Volksschulen, gab freiere Gesetze, die allen Teilen seines großen
Staates zu Gute kommen sollten. So gut es aber auch der wackere
Kaiser meinte, so wurden doch seine edlen Absichten von den meisten
seiner Unterthanen verkannt, und besonders zog er sich das Mißfallen
des Adels und der Geistlichkeit zu, denen er von ihren Rechten manches
nahm. Die Ungarn und Niederländer reizte er durch seine wohlgemeinten,
118 100. Maximilian III. Joseph von Bahern.
aber oft übereilten Neuerungen zum Aufstande, so daß er erleben mußte,
wie sich die niederländischen Provinzen für unabhängig erklärten.
Das Mißlingen seiner menschenbeglückenden Pläne beugte den
Kaiser so tief, daß er aus Kummer über den schlechten Erfolg derselben
schon im Jahre 1790 starb. Im Bewußtsein, das Gute gewollt zu
haben, sprach er kurz vor seinem Sterben: „Ich möchte, man schrieb
auf meinen Grabstein: Hier ruhet ein Fürst, dessen Absichten rein
waren, der aber das Unglück hatte, alle seine Entwürfe scheitern zu sehen.“
Mach Hoffmann.)
Ergänzungen. Mit Karl VI. war 1740 der habsburgische Mannesstamm
ausgestorben. Als Erbin all seiner Länder hatte Karl Vl seine einzige Tochter Maria
Theresia bestimmt, welche diese Besitzungen (mit Ausnahme von Schlesien) auch im
österreichischen Erbfolgekrieg behauptete Sie war vermählt mit Fran z von Lothringen—
Toskana, der 1745 nach dem Tode Karl Albrechts von Bayern deutscher Kaiser
wurde. In Osterreich regierte Maria Theresia selbst ruhmvoll. Joseph IL, der Sohn
Franzens und Maria Theresias, ward 1765 deutscher Kaiser, aber erst 1780 Herrscher
in Österreich. Ihm folgte sein Bruder Leopold U. (1790 92), diesem Franz B.
der letzte deutsche Kaiser aus dem Hause der Habsburger.
100. Maximilian III. Joseph von Bayern.
Auf den Kurfürsten Karl Albrecht, dessen Regierung keine glückliche
gewesen, trotzdem er 1742 zum deutschen Kaiser gewählt und gekrönt
worden war, folgte 1745 sein erst achtzehnjähriger Sohn Maximilan III.
Joseph. Noch vwütete der österreichische Erbfolgekrieg, und vor den
wieder siegreich gegen Bayern vordringenden österreichern, musste Max
Joseph aus seiner Hauptstadt sich flüchten. Er sah im VFortgang des
Krieges kein Heil für sein Volk, und er suchte diesem den EFrieden,
wenn auch mit Opfern, zu erkaufen. Darum entsagte er allen Ansprüchen
auf õösterreieh und versprach sogar, Maria Theresiens Gemahl, Fran-
von Lothringen-Toskana, seine Stimme bei der Kaiserwahl zu geben, wo-
gegen er Bayern ungeschmälert zurück erhielt. Nach Kräften war nun
der edle Fürst bemüht, die Wunden zu heilen, die der Krieg seinem
Lande geschlagen. Um dem Volke die Lasten zu erleichtern, vurde der
Hofstaat und das Militar vermindert und aller Prunk abgeschafft; NMax
Joseph selbst lebte so einfach wie ein Privatmann.
Eine Hauptsorge richtete der ebenso einsichtsvolle als vohlwollende
Fürst auf Hebung der Landwirtschaft und der Gewerbe, des Handels
und Verkehrs, auf hörderung der Wissenschaften und Volksbildung, wie
auf Verbesserung der Gesetzgebung. In Beziehung auf letztere beging
man allerdings einen grossen Missgriff. Das Strafgesetzbueh war mit
drakonischer Strenge geschrieben, und grausam waren die Strafen, welche
selbst für geringe Verbrechen verhängt wurden; doeh wäre es sebr
ungereécht, daraus einen Schluss auf das Herz des Kurfürsten ziehen zu
100. Maximilian III. Joseph von Bayern 119
wollen. Selbst eine dureb und dureb rechtliche und makellose Natur,
wollte er auch sein Volk zu einem streng-sittlichen herangebildet wissen,
und man mag es verzeihliech finden, wenn er bei der damaligen Ver—
wilderung des Volkes mit seinen Räten in den Irrtum fiel, dureh mögliehst
ztrencgo 2setze diesen Zweck zu erreichen. Jedwede Härte war seinem
mildey wahrhaft väterlichen Herzen fremd, und seine Absichten waren
die reineten un vohlvollendsten. Das bewies er am unzweideutigsten
zu den Zeiten der Teuerung 1771 und 72. Die Hofleute hatten ihm des
Volkes Not verheimlieht. Eines Morgens aber, als er aus der Messe
ging, umringte ihn ein Haufen bleicher, abgezehrter Menschen. „Brot,“
riefen sie, „Brot, Herr, vir müssen verhungern!“ indem sie ihre Hände
bittend emporstreckten. Mit Entsetzen vernabm Max Joseph die Schilderung
der Hungersnot. »rgab den Bittenden all das Geld, welches er bei sich
trug und versprach ihnen fernere Hilfe. Und er löste sein Vort ein.
NXiecht nur liess er das VWild aus den fürstlichen Jagden schiessen und das
Hleiseh um billiges Geld auspfünden, sondern alle Kornspeicher wurden
geöffnet, und aus eigenen NMitteln liels der Kurfürst Getreide aus Italien
bringen, um den hungernden Unterthanen Brot zu verschaffen.
V. . dieser Fürst von seinem Volke geliebt war, das gab sich
in rährend, e Weise bei seiner Krankheit und nach seinem Tode kund.
lIm Dazember 1777 wurde er plötzlich von den Kinderpocken befallen.
Mit Schrecken drang diese Nachricht ins Volx. In Kirchen und Häusern
wurden Gebete für den geliebten Landesvater dargebracht; täglich kamen
von auswvartigen Städten Boten nach München, um sieh nach des Fürsten
Befinden zu erkundigen. In endlosen Jubel brach das Volk aus, als
Besserung im Zustande des Kranken eintrat, und in Dankfesten feierte
man schon die Rettung des teuern Lebens. Wie gross aber war der
Schmerz, als plötzlich die Schreckenskunde erscholl: „Vater Max ist tot!“
Unrichtige Behandlung des Kranken hatte einen Rückfall zur Polge,
der nur zu bald einen tödlichen Ausgang nahm. Beim Herannahen des
Todes rach Max: „Lebt wohl! — Leb' wohl meine Liebe! (zu der
weinenden Gattin), — und ibhr meine Landeskinder, mein teures Bayerland,
lebt wohl! Betet für mieh, auch ieh werde für euch bei Gott um
Ssegen bitten.“ Dann schloss er seine Augen zum letzten Schlafe am
30. Dezember 1777.
München wurden die Thore geschlossen, jedes Geschäft rubte,
jede ust versgtummte. Es war, als väre aus jedem Hause der Vater
gesstorben. Doch nieht in der Hauptstadt allein, im ganzen Lande erscholl
lautes VWehklagen. Noch oft hörte man später im Munde des Volkes
die Worte: „Am Todestage Max Josephs haben die Steine auf den
Gassen geweint!“
Den Namen „der Gutès oder „der Vielgeliebte“ verdient er mit
vollem Rechte.
129 101. Die französische Revolution und ihre Folgen.
Max III. Joseph war der letzte Nachkomme Ludwigs des Bayern,
und nach seinem Tode ging die Regierung Bayerns an die ältere
(rudoltische oder pfälzisehe) Linie über, und Bayern und Pfalz wurden
unter Karl Theodor nach mehr als fünfthalbhundertjähriger Trennung
wieder vereinigt.
Ergänzungen. (Zur bayer. Geschiehte.) Im J. 1180 wvaren mit Otto L
die Wittelsbacher zur Regierung über Bayern gelangt; 1225 hatte Ottos
Enkel, Otto Il der Erlauchte, die Pfalz an das Haus Wittelsbach gebracht
Dessen Enkel Rudolk und Ludwig vurden die Stammyäter der beiden Haupt—
linien der Wittelsbacher. Die Kurwürde wurde von Karl IV. in der goldnen
Bulle (1356) ausschliesslich der pfälzaischen Linie zugesprochen, i. J. 1623 aber
auf die bayerische übertragen, im westfälischen Frieden sodann für die Pfalz eine
neue (8.) Kur geschaffen. Beide Linien hatten ihre Macht dureh mehrfache
Teilungen und gegenseitige Befebdungen geschvächt. Unter den Fürsten aus
der pfalaischen Linie ragen hervor Friedrieh der sSiegreiehbe Geblacht
bei Seckenheim 1462) und Karl XIL, König von Schweden (f 1718); aus der
bayerischen Ludwig der Bayer, Albrecht der Weise, der i J. 1506 die
Inteilbarkeit des Landes und das Ersstgeburtsrecht einführte. Albrecht der
Grosfsmütige, der Förderer der Künste (1579) und Maximilian Il. Der letzte
Sprosse Ludwigs des Bayern var Max III. Joseph, auf den 1777 Karl Theodor
von Pfalz-Sulzbach folgte. Nach ihm kam 1799 Max IV. Joseph aus der Linie
Pfalz-Zweibrücken-Birkenfeld zur Regierung. dessen Nachkommen noch jetzt
üher Bayern herrschen.
101. Die französische Revolution und ihre Folgen.
Kein Ereignis der Neuzeit hat auf die Umgestaltung des politischen
und sozialen Lebens, vorab in Deutschland, einen so tiefgreifenden Einfluß
ausgeübt als die französische Revolution, weshalb man auch von ihr
an einen neuen Zeitabschnitt in der Völkergeschichte datiert. Durch die
auf jenes blutige Ereignis folgenden Kriege wurde Deutschland aufs
tiefste und nachhaltigste erschüttert; fast ein Vierteljahrhundert hindurch
war es der Schauplatz blutiger Kämpfe nicht nur Fremder gegen
Deutsche, sondern leider, wie zu den Zeiten des dreißigjährigen Krieges,
Deutscer gegen Deutsche. Unter diesen Kriegen ging nicht nur der
letzte Rest der alten Kaiserherrlichkeit zugrunde, sondern vielfache und
umfassende Gebietsveränderungen gaben uuserm Vaterlande in raschem
Wechsel andere Gestalt und andere Verfassung, brachten es endlich in
drückende Abhängigkeit von Frankreichs allgewaltigem Herrscher, aus
welcher sich erst das Volk in der glorreichen Erhebung der Befreiungs—
kriege losrang.
Auf Frankreich lastete infolge der vielen Kriege Ludwigs XVIL.,
der Verschwendung am Hofe Ludwigs XV. und der Teilnahme Lud—
wigs XVIL. am nordamerikanischen Freiheitskampfe eine furchtbare Staats—
214
101. Die französische Revolution und ihre Folgen. 121
schuld, die um so drückender sein mußte, als der dritte Stand nahezu
allein die Steuern zu tragen hatte, indes die sogenannten privilegierten
Stände, Adel und Klerus, obwohl im Besitz bedeutenden Grundeigentums
und großer Renten, nur äußerst mäßige Abgaben leisteten. Das übel
wurde noch verschlimmert durch eine heillose Finanzverwaltung und
besonders durch die unzweckmäßige Art der Steuererhebung. Es bestand
nämlich das Pachtsystem, durch welches einzelne Pächter zum Nachteil
des Staates und des Volkes sich unmäßig bereicherten. Zu den finan—
ziellen Mißständen trat noch ein tiefer sittlicher und religiöser Verfall,
welcher von dem leichtfertigen Hofe Ludwigs XV. ausgegangen und
selbst bis in die unteren Schichten des Volkes gedrungen war, so daß
die verderblichen Lehren der sogenannten Aufklärer, welche in glänzender
Sprache und mit eben so viel Scharfsinn als Witz die bestehenden Miß—
bräuche tadelten, zugleich aber auch jedweden Glauben an göttliche und
menschliche Autorität untergruben, nur zu williges Gehör bei der
Masse fanden.
Auf dem französischen Throne saß Ludwig XVI., ein Mann von
großer Herzensgüte und reinen Sitten, aber ohne Willenskraft; ebenso
schwankend und zögernd in Entschlüssen, als schwach in Ausführung
etwaiger Vorsätze.
Vergebens hatte Ludwig im Jahre 1787 die Notabeln berufen
und ihnen den traurigen Zustand der Finanzen vorstellen lassen. Sie
wollten von allgemeiner Besteuerung, in welcher damals vielleicht noch
ein rettender Ausweg sich gefunden hätte, nichts wissen. Die Not wuchs,
und so wurden die seit 175 Jahren nicht mehr vernommenen Reichs—
stände um den Thron des Königs versammelt, 5. Mai 1789. Doch
noch immer nicht erkannten die privilegierten Stände die Größe der Ge—
fahc, und ihr entschiedener Widerstand gegen die Abstimmung nach
Köpfen rief den ersten revolutionären Aklt hervor: die Erklärung des
dritten Standes, sich nicht zu trennen, bis man Frankreich eine neue
Ver sun „ eben habe. Damit war die abschüssige Bahn betreten,
und o4 zugten die Schwäche der Regierung offen zu Tage gekommen
war, wruchs er Mut der Versammlung von Tag zu Tag, und Schritt
für Sehritt drängte die Bewegung dem furchtbaren Abgrunde zu,
in welchem sie mit der Enthauptung des Königs, mit der Aufhebung
des christlichen Kultus und überhaupt mit Auflösung aller Bande
staatlicher Ordnung unter der entsetzlichen Schreckensherrschaft der Blut—
männer — versank.
Frankreich überzog nun die Nachbarstaaten, insbesonders Deutsch—
land, mit Krieg, und bei der Schwäche des deutschen Reiches und der
22 102. Die deutsche Erhebung 1813
italienischen Staaten war es ihm ein Leichtes, seine Gegner nieder—
zuwerfen, zumal ein Feldherr, ebenso ausgezeichnet durch Talent und
Kühnheit, als begünstigt vom Glück, an der Spitze seiner Heere stand,
Napoleon Bonaparte. Diesem gelang es, auch in Frankreich die
Ordnung wieder herzustellen und sich zum obersten Lenker dieses Staates
aufzuschwingen. Er ward erst Konsul, dann (1804) Kaiser. Schwer
lastete seine Faust auf Deutschland; in wiederholten Feldzügen hatte er
Osterreich und Preußen besiegt, Italien, Spanien, die Niederlande und
einen großen Teil Deutschlands unter seine Botmäßigkeit gebracht, als
seinem Siegeslaufe in Rußland halt geboten wurde. Napoleons Miß—
geschick in Rußland ermutigte die Deutschen (die Preußen voran), sich gegen
die Fremdherrschaft zu erheben. Die Verbündeten siegten bei Leipzig
über den großen Schlachtenmeister (16. 18. 19. Okt. 1813), rückten
1814) in Frankreich ein und zwangen Napoleon, dem französischen
Thron zu entsagen und sich mit der Insel Elba zu begnügen. Aber
er kehrte (1815), begeistert empfangen, nach Frankreich zurück und bestieg
abermals den Kaiserthron. Bei Waterloo (16. Juni 1815) ging
Napoleons Glücksstern für immer unter.
Auf einsamer Felseninsel vertrauerte er sein Leben; für Europa
aber kehrte der Friede wieder, und unter den Segnungen desselben
entfaltete sich eine Fülle des Lebens, eine Regsamkeit in Kunst und
Wissenschaft, in Handel und Industrie, wie man sie vorher kaum geahnt.
Wie unheilvoll die französische Revolution auch aufgetreten war, wie
vi. „rwürdiges unter ihrem Sturm zusammengebrochen: wir müssen
ue ihren Endergebnissen doch als ein Gewitter anerkennen, welches
remnad und belebend auf das Völkerleben eingewirkt. Veraltetes,
Mores wurde beseitigt, Neues, Besseres an dessen Stelle gesetzt. Zu
frischer Thätigkeit, zu regem Wetteifer wurden die vorher vielfach ver—
sumpften Völker aufgerüttelt, und der große Aufschwung, den das soziale
Leben in der neuesten Zeit genommen, hat unstreitbar von ihr den
Anstoß erhalten. Vom Herausgeber.)
102. Die deutsche Erhebung 1813.
Nach dem gräßlichen Mißgeschick Napoleons in Rußland gewann
der Glaube, daß der völlige Sturz desselben nicht mehr fern sei, mit
jedem neuen Tag an Stärke.
An der östlichen Grenzmark des Staates, in der Mühle bei Tau—
roggen, trug sich jenes folgenschwere Ereignis zu, welches eine Wendung
der Dinge herbeiführte, nämlich der Vertrag des Generals York mit dem
*
102. Die deutsche Erhebung 1813. 123
russischen Heerführer Wittgenstein, wodurch York sich samt seiner Heeres
abteilung von Napoleon lossagte.
überall hatte sich das Verlangen nach Abwerfung des schimpflichen
Joches in Kundgebungen ausgesprochen, welche auch in den bis dahin
Zaghaftesten den Glauben erweckten, daß die Zeit zum Kampf für die
Wiederaufrichtunn Nreußens gekommen sei. Der Eindruck der Yorkschen
That ging wie ein Erdbeben durch Europa.
In Kalish kam es zu einem Abschluß eines Bündnisses zwischen
Rußland und Preußen (28. Febr.), und am 17. März erklärte der König
Napoleon den Krieg. „Der König rief und — alle, alle kamen.“
An demselben 17. März erschien das Landwehr-Gesetz. Schon am
10. März, dem Geburtstage der heimgegangenen Königin Luise, war
die Stiftung des Ordens des eisernen Kreuzes erfolgt. Der Wahlspruch
der Landwehr und des eisernen Kreuzes lautete: „Mit Gott für König
und Vaterland!“
Die Bewegung, die sich nun im Volke kundgab, legte Zeugnis
dafür ab, was ein Volk aus Anhänglichkeit für seine Heimat und aus
Liebe für sein Herrscherhaus vermag. ‚Von Memel bis Demmin,“ sagt
Arnd „von Kolberg bis Glatz war in dem unvergeßlichen Frühling
und Sommer von 1813 unter den Preußen nur eine Stimme, ein Zorn,
ein Ctreben: das Vaterland zu retten und Deutschland zu befreien.
Krien wollten die Preußen, Gefahr und Tod wollten sie; den Frieden
fürchteten sie weil sie von Napoleon keinen ehrenvollen Frieden hoffen
konnten. Jünglinge, die kaum wehrhaft waren, Männer mit grauen
Haaren und wankenden Knieen, Offiziere, wegen Wunden und Verstümm—
lund la entlassen, reiche Gutsbesitzer und Beamte, Väter zahl—
reite. milien und Verwalter weitläufiger Geschäfte, in Hinsicht jedes
Kric, nsies ischuldigt, wollten sich selbst nicht entschuldigen. Die
Gymnan, J. örsäle der Universitäten entleerten sich; denn Schüler
und Later sen 34 Flinte und Schwert. Der Landmann verließ
den Raug, ..Arbeiter die Werkstätte, der Kaufmann das Gewölbe,
der Veamte d. Schreibstube; alles, was Büchse und Säbel führen
konnte, eilte nach Breslau, Kolberg, Berlin und anderen Sammelplätzen.
den Landstraßen drängten sich die Freiwilligen, welche zu den
Fahnen eilten; wer nicht selbst in das Feld ziehen konnte, steuerte zur
Ausrüstung unbemittelter Freiwilligen bei: arme Landleute gaben ihr
letztes Pferd hin, Kinder den Inhalt ihrer Sparbüchsen, ja sogar Jung—
frauen unter mancherlei Verstellungen und Verlarvungen drängten sich
zu den Waffen.“ Frauen und Jungfrauen strebten, es der heim—
gegangenen Königin nachzuthun, die dem Vaterlande ihr Geschmeide
21 102. Die deutsche Erhebung 1813.
zum Opfer gebracht hatte; ein armes schlesisches Fräulein brachte den
Erlös ihres schönen Haupthaares. Was an Geld und Gut nur irgend
entbehrlich schien, ward willig dahingegeben. Die Zahl der Trauringe
und Schmucksachen, die damals eingingen, wird auf 160000 geschätzt.
Wer einen goldenen Ring gab, erhielt einen eisernen mit der Inschrift:
„Gold gab ich für Eisen, 1813*
Dazwischen hinein erklangen die Kampflieder Theodor Körners:
„Frisch auf, mein Volk! die Flammenzeichen rauchen!“ und gleich einem
Orkan brauste es durch die Lande: „Das Volk steht auf, der Sturm
bricht los!“ In die Herzen von hoch und niedrig aber zog gläubiges
Gottvertrauen und todesmutige Zuversicht ein Und Theodor Körner,
der junge Dichter, der herzerhebend das Volk zu den Waffen gerufen,
er selbst stellte sich bald darauf in die Reihen der Freiheitskämpfer,
und gab sein Leben hin für sein Vaterland. Neben seiner Leier tönte
am erhebendsten Arndts Stimme im Chor der deutschen Freiheits—
sänger. Wie er in den Jahren der Knechtschaft gleich einem Propheten
des alten Bundes mit donnernder Rede Fürsten und Völkern in das
Gewissen gesprochen, so begleiteten im Jahre 1813 seine Gesänge das
bewaffnete Volk zur heißen Feldschlacht. Von Mund zu Mund, soweit
die deutsche Zunge klingt, gingen seine Dichtungen: „Es zog aus Berlin
ein tapfrer Held“, „Deutsches Herz verzage nicht“, „Durch Deutschland
flog ein heller Klang“, „Was blasen die Trompeten? Husaren heraus!“
Vor allen aber zündete sein zu Königsberg entstandenes Lied: „Was
ist des Deutschen Vaterland?“ — Die Jahrhunderte alte Sehnsucht des
deutschen Volkes nach Einigung fand darin den kernigsten, gewaltigsten
Ausdruck
Auch der fromme Max v. Schenkendorf, Friedrich Rückert
und noch manche andere riefen das Volk durch begeisternde Lieder zum
Kampfe für seine höchsten Güter auf. Es war eine erhebende, lichte Zeit
nach den trüben Tagen des Druckes und der Knechtung.
(Aus Kaiser Wilhelm“ v. Ferd. Schmidt u. Fr. Otto.)
Ergänzungen, Nachdem Napoleon 1816 zum zweitenmale besiegt war, kehrten
die Bourbonen wieder nach Frankreich zurück. In Deutschland wurde die Kaiser
würde nicht wieder hergestellt, ondern ein aus 39 einzelnen souveränen Staaten bestehender
Staatenbund gegründet. Vertreten war dieser Staatenbund durch den Bundes—
tag in Frankfurt a. M.,, der aus den Gesandten der verschiedenen Staaten zusammen⸗
gesetzt war. Das Präsidium stund Osterreich zu. Von 1816 an erfreute sich Deutsch—
land einer langen Friedenszeit, in der vieles für Förderung des Volkswohles geschaffen
und große Fortschritte auf dem Gebiete der Wissenschaften und Künste, der Rechtspflege
und Volksbildung, des Gewerbs- und Verkehrswesens erzielt wurden.
In Bayern wirkten segensreich König Maximilian J. Joseph (1799 1805
Kurfürst, v. 106—25 König), der dem Lande 1818 eine zeitgemäße Verfassung gab,
24
103. Die Wiederaufrichtung des deutschen Kaisertums. 25
sodann Ludwig J. (1825 48), der in hervorragender Weise die Kunst pflegte und
unterstützte, und Maximilian U. (1848 1864), der großherzig die Wissenschaften
förderte.
103. Die Wiederaufrichtung des deutschen Kaiserlums.
Herrlich war die Frucht der glorreichen Siege der Jahre 1870 und
1871. Ale Schmach, die uns der übermütige Erbfeind seit drei Jahr—
hunderten zugefügt, war gerächt und getilgt, und deutsche Lande an
unserer Westgrenze waren für Deutschland wiedergewonnen: noch herr—
licher aber war die Frucht, die aus dem glücklich beendeten Kriege für
den innern Ausbau unseres Vaterlandes hervorging, die Wiederaufrich—
tung des ehrwürdigen, durch Frankreichs Gewaltthätigkeit und Frevelmut
zertrümmerten deutschen Kaisertums.
Schon im Beginne des heiligen Krieges zur Verteidigung des Vater—
landes durchdrang alle deutschen Herzen das lebhafte Gefühl, daß die
Staaten des Nordens und des Südens zu einer einheitlichen Macht sich
berbinden müßten. Die süddeutschen Fürsten hatten, treu den mit Preußen
geschl enen Verträgen, an dem gewaltigen Waffengange gegen Frankreich
den ruhmlichsten Anteil genommen; das Band der Waffenbrüderschaft,
der gemeinsame Kampf gegen Frankreich, die ruhmvollen Siege hatten
das Vewußtsein der Zusammengehörigkeit zwischen Nord und Süd mit
solch r Stärke erwachsen lassen, daß fortan von einer politischen Grenze
durc, ven Main keine Rede mehr war. In der ganzen Nation lebte
das Streben, die seit so langer Zeit ersehnte Einigung des gesamten
Vaterlandes zu verwirklichen. Wie das Volk jetzt sich unter einem
obersten Führer und Kriegsherrn zur Verteidigung des vaterländischen
Bodens erhoben hatte, so wollte es auch für alle Zukunft, ein einig
Volk von Brüdern, zu einem staatlichen Ganzen fest verbunden sein
und bleiben
Schon im November 1870 kamen die Verträge zum Abschluß, durch
welche vie süddeutschen Staaten mit dem Nordbunde sich zu einem deutschen
Reiche verbanden. Als König Wilhelm in den Herrscherpalast der alten
Bourbonen eingezogen war, da richtete der mächtigste der übrigen
deutschen Fürsten, der jugendliche patriotische König Ludwig II. von
Bayern im Namen sämtlicher deutschen Fürsten an das Bundesoberhaupt
die Bitte, die im Gedächtnis des deutschen Volkes nie geschwundene Herr—
lichkeit deutscher Nation durch Erneuerung der Kaiserwürde und Übernahme
der Kaiserkrone zu vollenden. Am 18. Dezember nahm König Wilhelm
dieselbe Bitte von den Abgesandten des norddeutschen Bundes entgegen
und verhieß, er werde sich dem Rufe des gesamten Vaterlandes nicht
17
12 103. Die Wiederaufrichtung des deutschen Kaisertums.
entziehen. So ward denn auf Frankreichs blutgetränkten Gefilden der
Grundstein zum neuen deutschen Reiche gelegt, und der Krieg hatte gerade
das Ziel so herrlich gefördert und verwirklicht, das der Nationalfeind
in seiner Tücke und Arglist hintertreiben wollte.
Am 18. Januar 1871, im Schlosse Ludwigs XIV. zu Versailles,
von wo so viele unheilvolle Pläne zur Erniedrigung und Zersplitterung
Deutschlands ausgegangen sind, erklärte König Wilhelm im Kreise deutscher
Fürsten, Heerführer und Abgeordneten, daß er für sich und seine Nach—
folger auf dem Throne Preußens die ehrwürdige deutsche Kaiserwürde
annehme. Ganz Deutschland jubelte auf bei der frohen Kunde, und
alle Herzen begrüßten mit Preis und Dank die Worte, mit welchen die
kaiserliche Proklamation schloß: „Wir übernehmen die kaiserliche Würde
in dem Bewußtsein der Pflicht, in deutscher Treue die Rechte des Reichs
und seiner Glieder zu schützen, den Frieden zu wahren, die Unabhängigkeit
Deutschlands, gestützt auf die geeinigte Kraft seines Volkes, zu ver—
teidigen. Wir nehmen sie an in der Hoffnung, daß dem deutschen Volke
vergönnt sein wird, den Lohn seiner heißen und opfermutigen Kämpfe
in dauerndem Frieden und innerhalb der Grenzen zu genießen, welche
dem Vaterlande die seit Jahrhunderten entbehrte Sicherung gegen erneute
Angriffe Frankreichs gewähren. Uns aber und Unseren Nachfolgern an
der Kaiserkrone wolle Gott verleihen, allezeit Mehrer des deutschen Reichs
zu sein, nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an den Gütern und
Gaben des Friedens, auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit
und Gesittung.“
Am 21. März 1871 wurde der erste allgemeine deutsche Reichstag
eröffnet. In der Eröffnungsrede sprach Kaiser Wilhelm J. in Demut
den Dank gegen Gott aus für die weltgeschichtlichen Erfolge, mit denen
seine Gnade die Eintracht der deutschen Bundesgenossen, den Heldenmut
und die Mannszucht der Heere und die opferfreudige Hingebung des
Volkes gesegnet hatte, und schloß dann mit den Worten: „Möge die
Wiederherstellung des deutschen Reiches für die deutsche Nation auch
nach innen das Wahrzeichen neuer Größe sein! Möge dem deutschen
Reichskriege ein nicht minder glorreicher Reichsfriede folgen, und möge
die Aufgabe des deutschen Volkes fortan darin beschlossen sein, sich in
dem Wettkampfe um die Güter des Friedens als Sieger zu erweisen!
Das walte Gott!“
Der innere Ausbau des Reiches machte rasche Fortschritte. Die
Gesetzgebung und Verfassung des norddeutschen Bundes wurde auf das
ganze Reich übertragen; Heer, Flotte, Post- und Telegraphenwesen steht
unter kaiserlicher Verordnung; einheitliches Maß-⸗, Gewichts- und Münz—
26
104. Georg Stephenson. 427
ystem ward eingeführt. Elsaß und Deutschlothringen wurden deutsche
Reichslande und erhielten ihre eigene Verwaltung. Straßburg, der alte
Sitz deutscher Kunst und Wissenschaft, erhielt eine glänzend ausgestattete
Universität.
Das deutsche Reich steht in einer Wehrhaftigkeit und Machtfülle da,
wie nie zuvor, so daß sich ihm kein anderes an die Seite stellen kann.
Möge unser teures deutsches Vaterland in seiner aus blutiger Saat
erwachsenen Neugestaltung unter Gottes Gnade die Segnungen des
Friedens genießen, einig im Innern und stark nach außen. Möge in
unserer Jugend für alle Zukunft der Geist fortleben, der die Kämpfer
des letzten Krieges von Sieg zu Sieg führte: der Geist der Frömmigkeit,
der Tapferkeit und der Treue! . Stade.)
Ergünzungen; In Frankreich war 1830 das ältere Haus der Bourbonen
vertrieben, und das Bürgerkönigtum unter Louis Philipp aus dem Hause Orleans
errichtet worden; 1848 wurde auch Louis Philipp vertrieben und die Republik einge—
führt. Der 1849 zum Präsidenten gewählte Prinz Louis Napoleon (Neffe Napoleons L.)
machte sich 1852 zum Kaiser von Frankreich.
In Deutschland war 1866 ein Krieg zwischen Preußen und Osterreich ausgebrochen,
aus dem ersteres siegreich hervorging. (Schlacht bei Königsgrätz oder Sodowa, 3. Juli.)
Die Folge dieses Krieges war das Ausscheiden Osterreichs aus dem deutschen Bunde
und die Gründung eines norddeutschen Bundes unter Preußens Führung. Bayern,
Württemberg, Baden und das südliche Hessen gehörten dem Bunde nicht an, hatten
aber Schutz· und Trutzbündnisse mit demselben abgeschlossen. Aus Eifersucht auf die
Machterweiterung Preußens erklärte Frankreich unter nichtigem Vorwande den Krieg
an Preußen (1870). Die süddeutschen Staaten standen Preußen treu zur Seite, und
die Deutschen erfochten Sieg auf Sieg. Am 2. September gab sich Nupoleon III. bei
Sedan dem König Wilhelm von Preußen gefangen. Die Franzosen führten wieder
die Republik ein und setzten den Krieg fort, bis nach Besiegung ihrer sämtlichen Heere
Paris übergeben und Friede geschlossen wurde. In diesem kam Elsaß mit Metz wieder
an Deuschland. Die Neubegründung des deutschen Kaiserreiches war schon vor dem
Friedensschlusse ins Werk gesetzt worden.
104. Georg Stephenson)).
Die ersten Dampfmaschinen waren stationäre, d. h. feststehende; sie
wurden da aufgestellt, wo sie gebraucht wurden, und man verwendete
sie namentlich bei Bergwerken, um das Wasser aus den Gruben zu
heben. Durch die Erfindung der Hochdruckmaschine war man im Stande,
auch mit kleinen n einen bedeutenden Erfolg zu erzielen, indem
mit weniger Kraft größere Lasten gehoben werden konnten. Diese neue
Erfindung führte am Anfang dieses Jahrhunderts zu Versuchen, den
Dampf zu Zwecken der Güterbeförderung zu benutzen, also einen Dampf—
wagen zu erfinden.
) spr. stivinsn.
5 104. Georg Stephenson.
Dem Engländer Georg Stephenson war es beschieden, dem
Dampfwagen die Einrichtung zu geben, die ihn zum wirklichen mechanischen
Last- und Rennpferde machte. Er ist ein glänzendes Beispiel dafür,
daß Talent und Geistesgaben jedem Sterblichen verliehen sind und durch
beharrliche Ausdauer entwickelt und zu hoher Ausbildung gebracht
werden können.
In ärmlichen Verhältnissen, als Kind eines Maschinenheizers, wurde
Georg 1781 in dem Kohlenarbeiterdörfchen Wylam bei Newcastle) geboren.
Seine Kinderjahre verlebte der aufgeweckte Knabe unter Mangel und
Entbehrungen. Seine Lieblingsbeschäftigung war, kleine Wasserräder,
Windmühlen u. dgl. zu schnitzen und die Maschinen, die er in den
Bergwerken sah, in Lehm nachzubilden. Frühzeitig mußte er sich nach
kleinen Verdiensten umsehen; so war er bald Hirtenknabe, bald Feld—
arbeiter, bald Hilfsbursche in den Kohlenwerken. 17 Jahre alt, wurde
er Wärter einer Dampfmaschine an einem Kohlenschacht. Sein Lieblings—
wunsch, sich ganz dem Maschinenwesen widmen zu können, fing an in
Erfüllung zu gehen. Unablässig studierte er seine Maschine, zerlegte,
reinigte sie und setzte sie wieder zusammen, so oft es sich thun ließ.
In dem Streben sich weiter auszubilden, empfand er hemmend,
daß er weder lesen, noch schreiben und rechnen konnte; da ging er als
19jähriger Bursche dreimal wöchentlich zu einem Abendschulhalter und
machte rasche Fortschritte Jede freie Stunde, ja manche Nachtstunde
orrwendete er auf seine Fortbildung und nicht minder auf unmittelbar
.Arbeit; er betrieb nebenher die Schuhmacherei und beschäftigte
37 mit dem Reparieren von Uhren. 22 Jahre alt, hatte er sich
so v zusammengespart, daß er sich häuslich einrichten und heiraten
konnte. Da saß er denn abends an der Seite seiner Frau und baute
Modelle, machte Schuhe und reparierte Uhren. Schon nach 3 Jahren
verlor er sein treues Weib, aber es verblieb ihm sein Söhnchen Robert.
Die Sorge um denselben war ihm ein neuer Sporn zu fernerem rast—
losem Schaffen und Sparen. Denn der Sohn sollte etwas Rechtes
lernen.
Einst gelang es Georg Stephenson, auf einem Kohlenwerke eine
untaugliche Dampfmaschine wieder in Gang zu bringen. Dies begründet
seinen weiteren Ruhm; er wurde nun vielfach als Maschinenmeister
gesucht und erwies sich stets als ein erfindungsreicher und pratktischer
Mann. Sein Häuschen war voll von Modellen und Apparaten. Den
Sohn schickte er frühzeitig in eine gute Schule nach Newcastle, und der
V spr. njukaßl.
58*
105. Alois Sennefelder, der Erfinder der Lithographie. 12
Vater fühlte sich glücklich, wenn derselbe Sonntags kam, Bücher und Zeit—
schriften mitbrachte, aus denen sich etwas lernen ließ. Da wurde eifrig
berhandelt, gezeichnet und modelliert, und immer klarer entwickelte sich der
Gedanke, wie der Dampfwagen, die Lokomotive, eingerichtet werden müsse.
1824 gründete er in Newcastle eine Maschinenfabrik, und im folgenden Jahre
wurde nach seinen Darstellungen die erste Eisenbahn zur Beförderung
von Personen zwischen Stockton und Darlington angelegt, zu deren
Betrieb aus Stephensons Maschinenfabrik 5 Lokomotiven geliefert wurden.
Die damaligen Dampfrosse waren freilich noch nicht so vollkommen wie
die heutigen; sie gingen kaum rascher wie ein Pferd. Aber Stephenson
verfolgte seine Erfindung weiter und gab ihr die Vollendung, die sie
zur Lokomotive im heutigen Sinne machte.
Allgemein bekannt und berühmt wurde Stephenson durch die
Erbauung und Einrichtung der ersten, 7 Meilen langen Eisenbahn zwischen
der wichtigen Hafenstadt Liverpool und der bedeutenden Fabrikstadt
Manchester, welche am 15. September 1830 als nationales Fest unter
dem Zustrome einer erstaunten Volksmenge im Beisein der berühmtesten
Männer Englands eröffnet wurde. Zwischen beiden Städten war nach
und nach ein ungeheurer Verkehr entstanden, welchen die gewöhnlichen
Transportmittel nicht mehr bewältigen konnten. So kam man auf den
Plan, eine Eisenbahn zu erbauen, und übertrug Georg Stephenson die
Ausführung. Hiermit war das System von Eisenbahnen, wie wir es
setzt vor Augen haben, begründet, und diese erste Bahn wurde das Muster
aller späteren. Von da an leitete Stephenson den Bau der bedeutendsten
Eisenbahnen in England, oder baute Lokomotiven für dieselben und
wurde zu gleichem Zwecke nach Belgien, Holland, Frankreich, Deutschland,
Italien und Spanien berufen.
Stephenson, welcher sich aus den ärmlichsten Verhältnissen zu
einem der berühmtesten Erfinder aller Zeiten emporgearbeitet hatte, starb
reich an Gütern und Ehren am 12. August 1848. Sein Sohn Robert
wurde der berühmteste Ingenieur seiner Zeit, der zur weiteren Ausbildung
des Eisenbahnwesens nicht wenig beigetragen hat. Louis Thomas.
105. Alois Sennefelder, der Ersinder der Lithographie.
Alois Sennefelder, geboren am 6. November 1771 zu Prag, war
der Sohn eines aus Königshofen im Grabfelde stammenden Schauspielers,
Peter Sennefelder, der in München eine Anstellung an der kurfürst—
lichen Bühne gefunden hatte. Mit bestem Erfolge besuchte der junge
Alois die lateinische Schule und das Gymnasium und bezog, unterstützt
von der hochherzigen Kurfürstin Maria Anna, die Universität Ingolstadt,
Marschall, Lesebuch für gewerbl. Fortbildungsschulen. Kl. Ausg.
28
9
130 105. Alois Sennefelder, der Erfinder der Lithographie.
um die Rechtswissenschaft zu studieren. Doch konnte er für dieses Fach
keine Vorliebe gewinnen, und als sein Vater mit Hinterlassung von neun
Kindern gestorben war, trieb ihn die Not zur Bühne. Nach herben Er—
fahrungen in zwei Jahren des Schauspielerlebens trat er von den Brettern
ab und suchte als Schriftsteller sein Fortkommen. Doch seine Bühnen⸗
stücke fanden keineswegs den erwünschten Beifall; er mußte sie sogar
auspfeifen hören. Nun gedachte er seine Geistesprodukte durch den Druck
zu veröffentlichen, und weil ein Verleger schwer aufzutreiben war, so
fann er auf ein billiges Mittel zur Vervielfältigung. Zuerst suchte er
seine Schriften auf Kupfer zu ätzen; aber da das Abschleifen der Ober—
fläche nach dem Gebrauch mühsam war und die Platten gar bald zu
dünn wurden, mußte dieses Verfahren aufgegeben werden. Eben so wenig
befriedigten Versuche auf einem Zinnteller. Endlich nahm er eine bisher
zum Farbenreiben verwendete Kelheimer Marmorplatte zu seinen Ver—
fuchen. Doch auch hier erreichte er sein Ziel lange nicht, bis ihn endlich
ein Zufall, wenn man's so nennen darf, auf seine wichtige Entdeckung
leitete. Er sollte seiner Mutter die zur Wäscherin gegebene Wäsche ver⸗
zeichnen. Aus zufälligem Mangel an gewöhnlicher Tinte schrieb er das
Wäscheverzeichnis auf den geglätteten Stein und zwar mit einer Tinte,
welche er aus Wachs, Seife und Ruß zusammengesetzt hatte. Als er
sich später eine Abschrift auf Papier genommen, wünschte er zu wissen,
was sich aus der Schrift auf dem Stein machen ließe. Er ätzte die
Platte mit Scheidewasser, und siehe da, dieses griff wohl den Stein an,
die von der Tiute bedeckten Stellen aber nicht; die Schrift stand erhaben
auf der Platte: der Steindruck war erfunden — 17961
Allerdings war noch gar manches zu verbessern, und namentlich
waren Vorrichtungen zu ersinnen, um reine Abdrücke zu erzielen. Senne⸗
felder aber, in die tiefste Armut herabgesunken, mußte seine Hoffnung
auf bessere Zeiten verschieben. So verzweifelt war seine Lage, daß er
als Stellvertreter eines Militärpflichtigen ins Heer eintreten wollte,
in welches er jedoch, als ein Ausländer, nicht aufgenommen ward. Er
fristete nun sein Leben mit Notenschreiben, und bei dieser Beschäftigung
kam er auf den Gedanken, ob er seine Erfindung nicht für den Noten—
druck verwerten könne. Er verbesserte seine Tinte und konstruierte auch
eine Presse, die allerdings bei seinem Mangel an Mitteln nur armselig
ausfallen konnte. Indes der Versuch gelang, und die erste Arbeit,
12 Lieder mit Klavierbegleitung, trug ihm vom Kurfürsten Karl Theodor
eine Belohnung von 100 fl. ein. Nach mehrfachen mißlungenen Ver—
suchen, eine geeignete Presse herzustellen, die beim Drucke den Stein nicht
zertrümmerte, erfand Sennefelder im Jahre 1797 die Stangen- oder
105. Alois Sennefelder, der Erfinder der Lithographie. 131
Galgenpresse, die einen gleichmäßigen Druck ausübte und täglich mehr
als 1000 Abzüge lieferte.
Freundlich stand dem strebsamen Manne der Schulrat und Inspektor
des Zentral-Schulbücher-Verlags, Steiner, zur Seite; dieser erteilte
ihm mehrfache Aufträge, und namentlich ließ er Bilderabdrücke für
Gebetbücher fertigen.
Versuche, das mit Bleistift und Rötel Geschriebene auf den Stein
zu drucken, um so das Verkehrtschreiben zu umgehen, führten auf den
Überdruck und Wiederdruck von Lettern, Kupferstichen u. dgl., und so auf
den Flachdruck, den chemischen Steindruck und die Autographie. Unter
fortwährenden Mühen und Sorgen kam Sennefelder durch viele Versuche
zu immer größerer Vervollkommnung seiner Erfindung. War er von
den Ergebnissen einer Prüfung nach unzähligen Versuchen befriedigt, so
führte ihn seine reiche Phantasie und seine scharfe Beobachtungsgabe
gleich wieder auf etwas Neues. Er kam auf die Kreidemanier, auf die
gestochene Manier, auf den Farbendruck, kurz auf alle jene wichtigen
Anwendungen seiner ersten Erfinduug, durch welche sich diese nach so
vielen Seiten hin nutzbar erweist.
Um seine Kunst zum Gemeingut zu machen, gab er 1821 sein „Lehr⸗
buch der Lithographie“ heraus. Dieses Buch wurde ins Französische
und Englische übersetzt und trug zur schnellen Verbreitung der neuen
Erfindung nicht wenig bei. So sehr vervollkommnete sich diese, daß
schon nach kurzer Zeit Kunstwerke von hohem Werte geschaffen wurden,
wie die von Piloty, Hanfstängel u. a. herausgegebenen Blätter beweisen.
Die Geschichte der menschlichen Kulturentwicklung zeigt uns auf
fast jedem Blatte die betrübende Erscheinung, daß diejenigen, denen die
Welt eine neue Entdeckung oder Erfindung verdankt, nur selten Aner—
kennung und Lohn gefunden, oft sogar in Armut und bitterster Not
ihr Leben beschlossen haben. Sennefelder hatte nach Jahren herbster
Entbehrungen doch noch das Glück, Früchte seines Ringens für sich
reifen zu sehen. Nicht nur reiche Anerkennung ward ihm zu teil, sondern
auch eine sorgenfreie Stellung im Dienste des Staates. Bei der Steuer—
vermessungs-Kommission ward 1801 eine eigene lithographische Druckerei
errichtet und Sennefelder als Inspektor derselben mit einem Gehalte
von 1500 fl. angestellt. Nach wie vor aber lag er seinen Arbeiten
und Versuchen ob, und noch gar manche Verbesserung an seinem Werke
gelangte durch ihn zur Anwendung, selbst als er 1827 in den Ruhestand
getreten war, setzte er seine Thätigkeit im Steindrucke unermüdet fort,
und erst der Tod steckte seinem Wirken ein Ziel. Nach kurzer Krankheit
starb er im 63. Lebensjahre am 26. Februar 1834
9.
106. Goethe und Schiller.
Nicht minder achtungswert denn als Künstler ist Sennefelder auch
als Privatmann. Er war einfach in seiner Lebensweise, genügsam mit
wenigem und mäßig, besonders im Genusse von geistigen Getränken;
dabei war er offenen Charakters und freigebig, mehr als seine Ver—
hältnisse ihm gestatteten, so daß er seiner Familie kein Vermögen hinter—
lassen konnte. Sennefelders Büste hat einen Platz in der Walhalla
gefunden, und in jüngster Zeit ist ihm auch in München ein Denkmal
errichtet worden.
Sein Name wird dankbar von Enkel zu Enkel sich fortpflanzen.
Strebsamen Jünglingen mag er als ein nachahmenswertes Muster des
ungebrochenen Mutes und der Ausdauer vorleuchten und sie anspornen
zu unverdrossenem Ringen.
(Nach Pleikh. Stumpf, „Denkwürdige Bayern“ und W. v. Waldbrühl, „Werkmeister“.)
106. Goethe und S5chiller.
1. Johann Wolfgang Goethe wurde am 28. August 1749 zu Frank—
furt a. M. geboren. Bei ihm trafen viele günstige Umstände zusammen, um
seine innere und äußere Bildung von früh an zu fördern, seine hohen
Dichtergaben zeitig zu wecken und die Entwickelung aller in ihm ruhenden
Kräfte zu erleichtern. Die Eltern des Knaben waren wohlhabend genug,
um ihren Kindern Wolfgang und Cornelie die ihnen wünschenswerte Er—
ziehung geben zu können. Der Vater, Doktor der Rechte und kaiserlicher
Rat ohne bindendes Amt, verständig ernst in allen Dingen, mit Strenge
auf Ordnung haltend und ausdauernd in dem, was er sich einmal vor—
genommen hatte, war selbst wohlgebildet und ein warmer Freund der Kunst;
die Mutter, mit den Vornehmsten der freien Reichsstadt nah verwandt, war
eine lebensfrische, heitere, geistreiche Frau, deren Erzählungsgabe früh durch
Märchen die Einbildungskraft des Knaben weckte und ihn reizte, das Gehörte,
wie er selbst es aufgefaßt hatte, niederzuschreiben und Neues zu erfinden.
Von dem Vater selbst unter dem Beistande einiger Lehrer in den Sprachen,
Wissenschaften und Künsten unterrichtet, wurde er frühe geübt, das Gelernte
selbstthätig wiederzugeben und das Gelesene durch freie Nachbildung in ver—
schiedenen Sprachen in Übung zu erhalten. Im Laufe des siebenjährigen
Krieges — dessen Held, Friedrich der Große, die ganze Bewunderung des
Knaben erregte — besetzten 1759 die Franzosen Frankfurt, und der fein—
gebildete, kunstliebende Graf Thorane nahm Quartier in dem Goetheschen
Hause; dies gab dem Knaben wieder viele neue Anschauungen und Be—
griffe, und zugleich lernte er auf die leichteste und angenehmste Weise den
Gebrauch der französischen Sprache. Um sich überhaupt in den verschiedenen
Sprachen gleichzeitig zu üben, erfand er schon in seinem zwölften Jahre
einen Roman in Briefen, die er in lateinischer, griechischer, deutscher, fran—
zösischer, italienischer, englischer Sprache und Frankfurter Judendeutsch
132
106. Goethe und Schiller. 122
abfaßte. Auch hebräisch lernte er und verfaßte damals schon eine epische
Dichtung von Joseph, dem Sohne Jakobs.
1764 erlebte er die Wahl und Krönung Josephs II. zum römischen
Könige. Bald nachher bezog er die Universität Leipzig, um dort die Rechte
zu studieren Aber Kunst und Naturkunde reizten ihn mehr, Klopstock war
der Gegenstand seiner Bewunderung, Lessing erschloß ihm eine neue Welt;
jedoch erst in Straßburg, wohin er von Leipzig ging, erwachte durch Herders
Anregung an der Bibel, der Natur und dem englischen Dichter Shakespeare)
der dichterische Genius mächtiger in ihm, Entwürfe zu großen Werken wurden
schon gefaßt. Mit Götz von Berlichingen trat er zuerst hervor, und damit
beginnt sein reiches Schaffen in immer vollendeteren Formen. Durch ihn
wurde Weimar, wohin er 1775 auf wiederholte Einladung des jungen
Fürs.enpaares, Karl August und Luise, ging, der Mittelpunkt des geistigen
und literarischen Lebens Deutschlands. Dort schuf er, besonders nach seiner
italienischen Reise 1786; jene Werke, welche Gegenstand der Bewunderung
aller Zeiten und Völker sein werden, und waltete, seit 1794 den Lorbeer—
kranz freudig mit Schiller teilend, als der Altmeister deutscher Dichtung,
geehrt und verherrlicht von seinem ganzen Volke und dessen Häuptern, be—
wundert vom Auslande, bis in die letzten Tage seines Greisenalters in viel—
seitiger und rastloser Geistesregsamkeit und Arbeit, auch darin glücklich, daß
sein Tod (22. März 1832) rasch. und schmerzlos war.
Von allen deutschen Dichtern besitzt keiner so ganz und voll die Liebe
allen eutschen bis in die weitesten Fernen der Erde, als Johann
Chrestoph Friedrich Schiller, geb am 10. November 1759 in dem
württembergischen Städtchen Marbach. Keiner hat so wie er, mit dem
Leben und um das Leben im Dienste der Kunst und Wissenschaft kämpfend,
nicht bloß für diese, sondern auch für die Freiheit und Selbständigkeit
unse?s nationalen Lebens Siege errungen. Der Sohn eines strengen,
ernsten Vaters der damals im württembergischen Heere eine Hauptmanns—
stelle bekleidete, und einer frommen, sinnigen Mutter, zeigte er schon als
Nnabe einen strebsamen, hochfliegenden Sinn. Die reiche Welt der Geschichte,
die Reise des Columbus, die Thaten Alexanders füllten seine junge, phantasie—
reiche Seele mit kühnen Plänen. Bei entschiedener Neigung für den geistlichen
Stand mußte er diesem doch entsagen, um die ihm angebotene Freistelle in der
von dem Herzoge Karl von Württemberg gegründeten Lehr- und Erziehungs—
anstalt zu erlangen, und er widmete sich nun der Rechtswissenschaft. Aber
mit freiem Geiste und frohem Herzen lonnte er sich nicht diesen Studium
widmen; war doch sogar das Lesen der Werke deutscher Dichter den Karls—
schülern verboten Jedoch was nicht offen geschehen durfte, das that man
heimlich; heimlich begeisterten sich Schiller und seine gleichgesinnten Freunde
an Klopstock und an Goethes Götz und Werther, bewunderten Schubert, den
) spr. schekspꝛr Der größte Dichter Englands, überhaupt der erste dramatische
Dichter der neuern Zeit 6 1616).
2*
3 106. Goethe und Schiller.
Gefangenen auf Asperg, und ergötzten sich an den Helden des Altertums
im Plutarch. Immer stärker regte sich auch in Schiller selbst der Drang
zu dichterischem Schaffen, namentlich im Drama. In dieselbe Zeit, wo er
nach Verlegung der Karlsschule nach Stuttgart das Studium der Rechts—
wissenschaft mit dem der Medizin vertauschte, fallen auch seine ersten
größeren Versuche, sowie er damals auch die Schriften Herders, Lessings
u. a. gründlich studierte Schon 1781, nachdem er kurz vorher Regiments—
medikus geworden war, ließ er das Drama „die Räuber“ erscheinen, an
dem ey nur verstohlen hatte arbeiten können. Der Erfolg dieses Stückes
auf der Bühne zu Mannheim, wohin er heimlich gereist war, ließ ihn
nicht länger an seinem Berufe zum dramatischen Dichter zweifeln. Als ihm
daher der Zwang, in welchem er und all sein Denken gehalten werden
sollte, immer lästiger ward, entfloh er, Pläne zu neuen Werken mit sich
tragend und schon daran schaffend. Damit jedoch begann auch eine Zeit
bittrer Not und Entbehrung für ihn; aber sein Geist erlag nicht unter
den Widerwärtigkeiten des Geschicks; männliches Selbstvertrauen, Stand—
haftigkeit und Ehrgefühl hielten ihn aufrecht. Sein begeistertes Hochgefühl
für Freiheit und Ehre schlug warm an die Herzen des Volkes, während er
selbst sich und seine Ideen immer mehr läuterte und der Sprache und Form
Meister wurde. Auch gewann er Freunde, die sich seiner annahmen, daß
er in Muße schaffen konnte 1789 wurde er als Professor der Geschichte
nach Jena berufen, und damit beginnt die reichste Periode seines Lebens,
indem er, endlich und allmählich der drückendsten Nahrungssorgen enthoben,
an der Seite seiner edlen Frau, im Umgange mit den tüchtigsten Männern,
namentlich mit Wilh. v. Humboldt, an Einsicht wachsend, die Kraft seines
Geistes immer reicher entfaltete, obgleich er fortwährend mit schwerem
Siechtume zu kämpfen hatte. Als er dann auch 1794 mit Goethe in nähere
Verbindung trat, erwachte sein Drang, dichterische Werke hervorzubringen,
so mächtig, daß er sich ihm ganz überließ, und diesem Wetteifer zwischen
den zwei größesten Meistern deutscher Dichtung, die sich in Weimar (seit 1799)
immer enger befreundeten, entsprang eine Reihe von Dichtungen, wie kein
Volk der Neuzeit sich gleicher rühmen kann Aber mitten im Vollgefühl
seiner geistigen Kraft und auf dem Höhepunkt seines dichterischen Wirkens
ergriff ihn der Tod; Schiller starb an einem heftigen Anfall seiner lang—
jährigen Brustkrankheit am 9. Mai 1805. Wilhelm Tell war sein
letztes Werk.
Noch wenige Jahre, und die deutsche Jugend sollte auf den blutigen
Schlachtfeldern, in dem ganzen mutigen Siegeslauf bis nach Paris be—
weisen, daß alle die herrlichen Männer nicht umsonst gelebt und gesungen
hatten, daß vor allem durch Schillers erhabene Gedanken und begeisterndes
Wort das deutsche Volk zu neuem Leben und ausdauernder Kraft erwacht
und erwachsen war. Deutsches Lesebuch von Rengshausen.)
31
107. Bayern. 153
IV. Aus der Vaterlands-, Lünder- und Völkerkunde.
107. Bayern.
„Weißt du, wo gleich Paradiesen
Ein deutscher Gau entgegen lacht?
Der Berge schön gelrönte Riesen,
Der Seen wechselvolle Pracht?
Wo stolze Ströme sich ergießen
Durch reiche Fluren weltmeerwärts?
Wo tausend Bäche lieblich fließen? —
Sieh, das ist Bahern, Deutschlands Herz!“
Ed. Frhr. v. Schreut.)
Vom Fichtelgebirge an gegen Süden, umgrenzt vom Böhmerwald,
Jura und den Alpen, erstrecken sich zu beiden Seiten der Donau die
uraltbayerischen mit den schwäbischen Gauen; vom Fichtelgebirge gegen
Westen bis zum Spessart und Odenwald, durchströmt vom Main, die
fränkisch-bayerischen Gebiete.
Ein von dem Hauptlande getrenntes Gebiet, die Rheinpfalz, breitet
sich, durchzogen vom Hartgebirge, am linken Rheinufer aus.
Kaum ein anderes Land bietet in dieser Ausdehnung und Größe
einen so reichen Wechsel der Natur, eine solche Fülle der verschiedensten
Produkte, ein so manchfach geartetes Volksleben, als unser Bayerland.
Nicht bloß im allgemeinen weist Bayern den Gegensatz von Gebirgsland
und Ebene auf; nein, die ganze Stufenleiter der Bodengestaltung vom
eis⸗ und schneeumstarrten Hochgebirge bis hinab zum welligen Hügelland,
von der rauhen Hochfläche bis zur milden Tiefebene finden wir hier
vertreten.
Dort erblicken wir das Hochgebirge der Alpen mit seinen majestä—
tischen Bergriesen, seinen schimmernden Schneefeldern, seinen saftigen
Almen, seinen klaren Seen und seinen schäumenden Rinnen und Berg—
flüssen; — hier breitet sich eine große, von mächtigen Wasseradern
durchfurchte Hochfläche aus, auf welcher anmutige, waldbewachsene
Höhenzüge mit ausgedehnten Ebenen abwechseln. Dort wieder steigen
aus der Ebene allgemach die vielfach verzweigten Höhen des Mittel—
gebirges auf, bekleidet hier mit dem dunklern Gewande der Nadel- dort
mit den hellern der Laubholzwaldungen. — Hier windet sich in sorgsam
gepflegten Anpflanzungen an einem Walde schlanker Stangen die würzige
Hopfenranke empor, und dort, wo die Sonne ihre Strahlen glühender
zur Erde sendet, schmücken blühende Obsthaine die Thalgründe und üppige
Rebgelände die Höhen.
Wenn die alten Deutschen meinten, das Land sei glücklich zu preisen,
in dem folgende fünf W gefunden würden: Wald, Wiese, Wasser,
—13.
136 107. Bayern.
Wein und Weizen, dann darf man Bayern gewiß ein gesegnetes
Land nennen, denn an alledem fehlt es bei uns nicht, und wir können
daher gewiß mit Zufriedenheit auf unser Heimatland blicken. Sind auch
nicht alle Gegenden Bayerns gleich freigebig von der Natur bevorzugt,
so stiefmütterlich ist doch auch keine bedacht, daß sie ihren Bewohnern
nicht wenigstens den nötigsten Lebensbedarf darböte. Weitaus die
Mehrzahl der Einwohner Bayerns erfreut sich eines befriedigenden
Wohlstandes und Lebensgenusses. Die Behäbigkeit des altbayerischen
Bauern ist sprichwörtlich geworden, und doch ist es eine Frage, ob der
Hopfenbauer Mittelfrankens oder der Weinbergbesitzer vor der Hart
sich in einen Tausch mit ihm einließen. Bei den Berg- und Wald—
bewohnern finden wir allerdings selten ein so ergiebiges Besitztum; allein
dafür ist ihnen eine andere Gabe zu teil geworden, köstlicher wahrlich
als Reichtum an Gut und Geld: ein heiterer, freier Sinn, Genügsamkeit
und Zufriedenheit, und das Volk der Berge fühlt sich daher, trotz
äußerer Armut, meist glücklicher und wohler, als das Volk der Ebene.
An Quellen ausreichenden Erwerbes mangelt es aber auch den Gebirgs—
bewohnern nicht.
Arm an Vegetation sind nur wenige Strecken in Bayern; allenthalben
lohnen reiche und mannigfache Erzeugnisse die Pflege und den Anbau
des Bodens Bayern ist überhaupt vorzugsweise ein Ackerbau und
Viehzucht treibender Staat, und mehr als die Hälfte seiner Bewohner
ist diesen Beschäftigungen zugewandt. Der Gewerbsbetrieb früher
meistens auf die nächsten und notwendigsten Bedürfnisse beschränkt, hat
sich in neuerer Zeit, seitdem durch die Eisenbahnen der Austausch der
Produkte rascher und umfassender geworden, sehr erweitert und an vielen
Orten und in manchfachen Produkten zur Fabrikindustrie erhoben. Die
Städte Nürnberg, Regensburg und Augsburg, in früheren Tagen schon
durch Handel und Gewerbfleiß weltberühmt, haben ihren ehrenvollen
Ruf nicht nur zu erhalten, sondern selbst zu steigern gewußt. Ihnen
eifern jüngere Fabrikstädte rühmlich nach, so Kempten, Kaufbeuren,
München, Hof, Fürth, Schweinfurt, Kaiserslautern. St. Ingbert,
Frankenthal u. a. m. Nach allen Richtungen durchziehen die Eisenstraßen
und Telegraphenlinien das Land, alle namhaften Städte mit einander
verbindend, und fortwährend wird rüstig gearbeitet, das Eisenbahnnetz
zu vervollständigen.
Wenn wir all das überblicken, dann dürfen wir gewiß sagen:
Bayern ist ein glückliches Land, glücklich durch seine zu—
gleich schöne und gesegnete Natur, glücklich auch durch
die Thätigkeit und den Wohlstand seiner Bewohner.
Mach Riehl, Bavaria u. a.)
108. Die bayerischen Volksstämme.
108. Die bayerischen Volksstämme.
L. Die Altbayern sind ein lange nicht genug gewürdigter, ja oft
verkannter und unbillig beurteilter Volksstamm. Es ist wahr, in seinem
ausserên Auftreten macht der Altbayer, namentlich dem feinen Norddeutschen
gegenũber, eben nicht den günstigsten Eindruek. Von Haus aus unzugäng-
lich und zurückhaltend und sehwer ins Gespräch zu bringen, ist er kein
hreund von schönen Worten und Komplimenten, im Gegenteil derb und
im Bewusstsein seiner innern Kraft stolz und kur- angebunden. Aber
unter der rauhen Schale birgt sieh ein gesunder, kräftiger Kern echt
deutschen Wesens. Das Kurzangebundensein des Bayern ist Polge einer
gewissen Geradheit; ehrlich und offen, jeder Hinterlist und Verstellung
fremd, setzt er auch bei anderen Biederkeit voraus, und sein Wört und
flandsehlag bindet ihn so fest als ein Eid. Weicher, als man bei seinem
derben Kussern vermuten sollte, thut er um gute Worte alles: Falschheit
verabscheut er, und Hohn oder Spott können ihn zu heftigem Zorne
reizen.
Mit Stol- auch darf der Bayer auf seine Vergangenheit hinweisen.
Sein Volksstamm ist einer der ältesten Germaniens, deutsch dureh und
durch, kernhaft und mutvoll, und seit den frühesten Tagen hat sieh der
Ruhm bayerischer Tapferkeit auf dem Schlachtfelde bewährt. Magyaren
und Türken, Welsche und Franzosen, Schweden und Dänen haben die
Wucht des bayerischen Armes kennen gelernt. VWas aber noch Bebter
strahlt als die Lapferkeit gegen äussere FPeinde, das ist der treue Bürger-
sinn der Bayern, der niemals erschüttert vurde, weder in guten noch in
hösen Tagen.
2. Nahe verwandt dem Altbayern an Charakter und ditte ist der
Schwabe; er ist bieder und treuberzig wie jener, hat aber einen streb
zameren, rũhrigeren Geist, ist berechnender, unternehmender und hängt
zcehon meht mehr mit der Zahigkeit am Ererbten, wie sein Nachbar öst-
lieh aes Lechs. Schon frühe, da dureh Sehwaben der grosse Handelsweg
ron Hahen naeh dem Norden führte, erblühten hier Handel und Gewerb—
fleiss, und bis zum heutigen Tage baben sie dort eine hervorragende Pflege
gefunden. Darum ist es denn auch erklärlieh, dass der Schwabe beweg-
licher, zugänglicher und leutseliger sieh zeigt als der Altbayer und Ver—
besserungen im Gewerbs- und Landwirtschaftsbetrieb weit zugänglicher
ist, denn jener.
3. Schon auffallender unterscheidet sich der Pranke und der diesem
stammverwandte Rheinpfälzer vom Altbayern.
Seit den altesten Zeiten wird der fränkische Volksstamm als derjenige
genannt, weleher allen übrigen in Deutschland an geistiger Beweglichkeit,
an Bildungstrieb und Bildungsfähigkeit voran stand, und diese Eigen-
schaften sind ihm bis auf den heutigen Dag als wertyolles Erbe verblieben.
Wenn der Althayer zurückhaltend, verschlossen, schweigsam sich zeiet,
2
13
108. Die bayerischen Volksstämme.
so der Franke entgegenkommend, zutraulieh, gesprächig. Des letztern
Benehmen ist schon im Lussern fein und gewandt; er ist mehr gewürfoelt
und abgeschliffen als der naturwũchsige Bewohner der bayerischen Hoch-
ebene. Dabei hat er aber keineswegs den guten RKern echt deutschen
Wesens eingebũsst. Frei und frank, „von der Leber weg“ spricht der
Bewohner des Mainlandes; Die Gastfreundschaft, weleche man an den alten
Deutsehen so sehr gerühmt, ist ein hervorragender Charakterzug des
fränkischen Volkes. Der rege Bildungsdrang des Franken wird unterstützt
dureh eine grosse Leichtigkeit der Auffassung und eine gewisse Fahigkeit,
Premdes sich anzueignen.
Als Schattenseité des fränkischen Charakters hat man schon öfter
Unbeständigkeit bezeichnet und in gewissem Sinne eben nicht mit Unrecht.
Gegenüber dem heimatseligen Festhalten des Altbayern an der vaterliehen
Scholle, wie überhaupt am Hergebrachten, bekundet sieh die Beweglichkeit
des Franken in der VWanderlust und in der Leichtigkeit, mit welcher er
seinen Wohnplatz wechselt. Wenn er sein Glück oder sein Fortkommen
an einem Orte und in der einen Weise nieht findet, so sueht er es
sben an einem anderen Orte und in einer anderen Weise, und der
alte Volksspruch
„Den Franken und bös Geld
Führt der Teufel durch alle Welt —
trifft in dieser Hinsicht schon das Richtige.
4. Beim Rheinpfälzer zeigen sich die Charaktereigentüũmlichkeiten
des Franken, Heiterkeit und Beweglichkeit des Geistes, in noch höherem
Grade, und derselbe erinnert schon vielfach an das leichte französische
Blut. Ist der Franke gesprächig, so der Pfälzer redselig, und Schlag-
fertigkeit im Entgegnen wird von jedem gefordert, der nieht als ein
schwacher Kopf angesehen werden soll. Allein das laute, Larmige Wesen
des Pfälzers ist durehaus nieht so gefährlich, als es dem Fremden scheint.
„Ein Wort ist kein Pfeil,“ sagt man dort mit Recht, und wenn nur erst
der erregte Pfälzer seinem Herzen Luft gemacht hat, dann ist er wieder
der beste Mensch von der Welt. Er trägt nichts nach. und mit einem
flüchtigen Scherz schneidet er einen Wortwechsel ab, ehe dieser bedenk-—
lich werden könnte. Die Wanderlust ist in der Pfalz- noch mehr zuhause
als in Franken, und aus diesem Rreise allein sind vielleicht mehr Aus-
wanderer über den Ozean gezogen, als aus allen ührigen Bayerns zu—
sammen. Gleieh dem Franken hält auch der Pfälzer viel auf Bildung,
und es ist ein Ehrenpunkt für ihn, als aufgeklärt zu gelten. Kein Pfälzer
will sich für beschränkt oder ungebildet ansehen lassen. Folgende Anek—
dote zeichnet hierin das pfälzische Wesen ganz treffend. Als einst ein
französischer General über die Neustädter. weil sie List und Verrat geũubt
hatten, als Strafe aussprach, dass die drei Gescheidesten des Stadtehens
gehängt werden sollten, lef die ganze Einwohnerschaft davon, weil siech
jeder unter diese drei rechnete. Bei all ihrer Heiterkeit und Beweglichkeit
38
109. München 139
sind die Pfälzer fleissige, arbeitsame Leute. Wie oft aueb ibhr Land
dureh Krieg zu einer Wüste verödet worden: sie haben es in kurzer Zejt
immer und immer wieder in einen blühenden Garten umgewandelt. Bhre
Arbeitsamkeit und Betriebsamkeit machen es mögliech, dass sich auf engem
Raum verhältnismässig viele Menschen nähren, und wie man sagen muss,
gut näahren.
Von der Gesamtmasse des bayerischen Volkes gilt heute noch, was
der Geschiebtsschreiber Joh. v. Müller von ihr gesagt: „Ein Volk von
Nationalgefũbl, verständig, beharrlich und zu allem fähig, wenn ihm wohl
rorgeleuchtet wird.“ Naeh Bavaria, V. Rienl u. a.)
109. München.
München ist eine verhältnismäßig junge Stadt und kann sich im Alter
mit den meisten bayerischen Städten nicht messen, weder mit Augsburg,
Regensburg und Passau, welche ihre Entstehung bis zur Römerzeit, ja selbst
noch weiter zurück datieren, noch mit dem benachbarten Freising, das schon
zur Karolingerzeit in Blüte stand. Wo jetzt die Hauptstadt eines König—
reiches sich ausbreitet, da lag vor etwa 700 Jahren auf erhöhtem Rücken
des Isarbeckens ein unscheinbares Dorf, in alten Urkunden Munihinga,
Munichen genannt. Weit bedeutender war das 12 Stunden tiefer an
der Isar gelegene Föhring, wo die alte Salzstraße über den Fluß führte.
Hier übte mit kaiserlicher Bewilligung der Bischof von Freising Münz-,
Markt- und Zollrecht aus; Heinrich geriet hierwegen mit dem Bischofe
Otto L. in Streit, überfiel 1158 Föhring, zerstörte den Marktflecken und die
Brücke Darauf legte er eine neue Brücke bei Munichen an, gründete daselbst
auch Salzhalle, Zoll- und Münzstätte und umgab die Siedlung mit Mauer
und Graben. Zwar wurde Otto wider Heinrich beim Kaiser Friedrich klag—
bar; allein dieser bestätigte des letzteren Unternehmen. Zu größerer Be—
deutung gelangte München, als nach der Teilung des Landes in Ober- und
Niederbayern 255 Ludwig der Strenge seine Residenz hierher ver—
legte. Kaiser Ludwig der Bayer war München zum Dank für die Treue
seiner Bewohner besonders zugethan und stets bestrebt, es groß und reich
zu machen. Zwar trat bald darauf infolge der Landesteilungen und der
vielfachen innern Unruhen einiger Stillstand im Wachstume der Stadt ein;
aber als dieselbe wieder Hauptstadt der vereinigten Gebiete geworden, erhielt
sie neue Zierden und mehrfache Erweiterungen. Herzog Sigismund legte
im Jahre 1468 den Grundstein zur Frauenkirche. Albrecht V. gründete
die Hofbibliothek, Schatzkammer, Gemäldegalerie, das Münzkabinet, den
Antikensaal und legte so den Grund zu jenen Sammlungen, welche unter
König Ludwig J. zu großartigster Entfaltung gebracht wurden. Herzog
Wilhelm V erbaute 1583 die prachtvolle St. Michaelskirche und für sich
eine Burg, jetzt Maxburg genannt; Kurfürst Maximilian J. schmückte die
Brunnen mit Statuen, den Marktplatz mit der schönen Mariensäule, die
140 109. München.
Frauenkirche mit Kaiser Ludwigs Grabmal; er baute das Josephs-⸗ und
Herzogsspital und die neue Burg oder Feste in der Residenzstraße. Kurfürst
Ferdinand Maria ließ die Theatinerkirche, Maximilian III. ein
prächtiges Opernhaus bauen; unter Karl Theodor entstand der englische
Garten; die Wälle wurden teilweise niedergerissen und viele neue Gebäude
errichtet; auch unter König Max Josef J. erfuhr die Stadt namhafte Ver—
größerun, und so war aus dem unansehnlichen Dorfe eine stattliche Residenz
mit 40000 Einwohnern entstanden. Staunenswert aber ist das Wachsen und
Aufblühen der Stadt seit dem Regierungsantritte Ludwigs 1. Dieser hat
wahr gemacht, was er einst als Kronprinz zu Rom verheißen: „Ich will
aus München eine Stadt machen, die Deutschland so zur Zierde gereichen
soll, daß keiner Deutschland kennt, wenn er nicht München gesehen.“ Eine
Reihe ausgezeichneter Künstler wurde nach München gezogen, und es ent—
faltete sich eine Blüte der Kunst, die heute noch fortdauert. Wer kennt nicht
die Namen eines Klenze, Gärtner, Schwanthaler, Cornelius, Schraudolph,
Rottmann, Schwind, Schnorr, Kaulbach, Stiglmeier, Miller u. a?
Der Eindruck, den München hervorruft, ist ein wahrhaft großartiger.
Sind auch die Straßen der alten Stadt zum Teil noch eng und winklig,
und geben ihnen die hohen Giebeldächer ein ziemlich altertümliches Aus—
sehen, so erregen doch die prachtvollen Läden und Auslagen, ausgestattet
mit allen Gegenständen der Kunst und des Luxus, unser Staunen. Hier
hauptsächlich pulsiert der lebendige Verkehr Münchens; hier drängen sich auf
den Fahrstraßen Equipagen aller Art, auf den Trottoirs Menschen aus
allen Gegenden Bayerns, ja Deutschlands; denn der Fremdenzufluß in
München ist ein außerordentlicher und beläuft sich an manchen Tagen auf
mehrere tausende. An den Kern des alten Münchens hat sich das neue in
anscheinend natürlicher und doch überaus künstlerischer Weise angeschlossen.
Man kann nicht leicht durch hellere, luftigere, anmutigere Straßen wandeln,
als man sie in München trifft. Die beiden großartigsten sind unstreitig die
Lun und die Maximiliansstraße, letztere eine Schöpfung des
stön 5Wcaximilian IL, beide in der Nähe der königlichen Residenz von ver—
schied.ner Richtung her einmündend. An das alte, unscheinbare, fast düstere
Schl. haben sich prachtvolle Neubauten angeschlossen: der Königsbau
und de Festsaalbau. Die Kunst hat das Innere mit meisterhafter bild—
licher Hurstellung geschmückt; die Krone aller Schönheiten ist der große,
herrliche Thronsaal, geziert mit zwölf überlebensgroßen, aus Erz gegossenen
und prachtvoll vergoldeten Standbildern von Ahnen des bayerischen Königs⸗
hauses, von denen drei die Zeichen der deutschen Kaiserwürde in den Händen
tragen. Im rechten Winkel zu dem Königsbau erhebt sich die Giebelfronte
des Hof- und Nationaltheaters; der freie Platz zwischen beiden Palästen, der
Max-Joseph-Platz, trägt das Standbild des Königs Max Joseph L, in
sitzender Stellung, sein Volk segnend. In der Nähe, gegenüber dem alten
Schlosse, ist die Feldherrnhalle mit den Statuen Tillys und Wredes. Von
der Feldherrnhalle aus führt die Ludwigsstraße bis zum Siegesthor, auf
109. München. 141
welchem eine von vier Löwen gezogene Bavaria thront. Die Ludwigsstraße
ist eine Straße von großartigen Palästen, wir nennen nur: die Staats—
bibliothek, die Universität, das Priesterseminar, die Ludwigskirche, das Blinden—
institut und das Damenstiftsgebäude. Die Maximiliansstraße ist reizend
durch das wohlthuende Grün der Alleen und Gartenanlagen, das liebliche
Farbenspiel der Rasenplätze, Blumenbeete und Bosketts, welche die regel—
mäßig zu beiden Seiten wiederkehrenden rechtwinkeligen Einschnitte zieren.
Von deren Prachtbauten ragen besonders hervor: das neue Regierungs⸗
gebäude, der neue Münzanbau, das Nationalmuseum. Auf massiver Brücke
die Ziar überschreitend, steigt sie zu dem in würdigster Weise sie abschließenden
Mar milianeum empor. Von diesem aus ziehen sich die lieblichen Garten—
anla-⸗»n hin, in welche König Max II. den vorher öden Gasteig umwandeln
lie — Von den vielen Palästen Münchens seien nur noch angeführt: die
Gi thek für die Sammlungen alter Meisterwerke der Bildhauerkunst,
die beiden Pinakotheken, die alte für die Sammlungen altdeutscher,
altniederländischer, italienischer, französischer und spanischer Gemälde, die
neue für Bilder neuerer Meister seit Anfang dieses Jahrhunderts. Das
neue Rathaus am Marienplatze mit seinem prächtigen Balkon. Unter den
Kirchen ragen außer den schon genannten hervor: die Mariahilfkirche in der
Vorstadt Au im gothischen Stil mit herrlichen Glasmalereien, die Basilika
zum hl. Bonifazius mit trefflichen Wandgemälden, die reiche neue Hofkapelle
oder Allerheiligenkirche, die beiden protestantischen Kirchen. Großartig ist auch
der neue Thorbau der Propyläen in der Briennerstraße. An Monumenten ist
München besonders reich. Außer dem Monument des Königs Maximilian I.
finden wir in der Ludwigsstraße das von der Stadt München errichtete des
Königs Ludwig L., im königlichen Ornate, zu Pferde sitzend, auf dem Wittels—
bacherplatz die Reiterstatue des Kurfürsten Maximilian J., auf dem
Karolinenplatz den 28 m hohen Obelisken, zur Erinnerung an die in Ruß—
land gefallenen 30000 Bayern, auf dem Promenadeplatz die Standbilder
des Kurfürsten Max Emanuels, der Tonkünstler Gluck und Orlando di
Lasso, des Geschichtsschreibers Westenrieder und des Staatsmannes Kreit—
mayer, in der Maximiliansstraße endlich die Monumente des Feldherrn
Deroy und be Kgilosophen Schelling und am Ende derselben das groß—
artige Denkmal fur Maximilian II., welches diesem „König mit dem
besten Herzen“ sein treues Volk errichtete.
Wahrlich, man wird müde vom vielen Wandern und Schauen, und
man sehnt sich nach Erholung in Gottes freier Natur, und es fehlt nicht
an freundlichen Orten, die dem Naturfreund Genuß und Erholung bieten.
Wird uns der Staub und die Hitze der Stadt zu lästig, so wandern wir
durch den Hofgarten, den englischen Garten entlang in die unteren Isar—
auen. Da haben wir eine schattige Kühle, so erfrischend, wie nur irgend—
wo im Gebirge; oder wir gehen die Isarauen aufwärts zur Menter—
schweige, von wo wir die kühne Überbrückung der Isar bei Großhessel—
lohe und das reizende Schwaneck uns beschauen können. Jedenfalls aber
4 110. Augsburg.
bersäumen wir nicht, über die Theresienwiese zur Ruhmeshalle zu pilgern.
Hier haben wir eine entzückende Aussicht vor uns: im Süden erblicken
wir die Spitzen der Alpen, deren schneebedeckte Häupter mächtig in den
blauen Horizont ragen; vor uns im Norden erstreckt sich die Stadt mit
ihren Türmen, Kirchen, Palästen, Häuserreihen, zwischen denen allwärts
das Baumwerk seine grünen Zweige hervorstreckt, und über der Stadt weg
überblicken wir die in duftiger Ferne verschwimmende Ebene. Die Höhe
selbst, halbkreisförmig eingebuchtet, dient als natürlicher Sockel für die
Ruhmeshalle, einen dorischen Tempel von Marmor, der dem Ehrengedächtnis
jener Bayern bestimmt ist, welche sich bleibende Verdienste um ihr Vater—
land erworben haben. Vor dem Gebäude steht auf erhöhtem Postamente
der Koloß der Bavaria, jenes Kunstwerk des Erzgusses, welches wie an
Größe, so an Schönheit alles übertrifft, was die neuere Zeit derartiges
hervorgebracht. In inponierender Stellung, — in der linken hoch erhobenen
Hand einen Kranz, in der rechten einen Köcher mit Pfeilen haltend, rechts
zur Seite den bayerischen Löwen — so steht die Riesengestalt da, hinschauend
über Bayern und seine Hauptstadt. 1560 Zentner wiegt die Erzstatue; ihre
Höhe beträgt 15, bis zur Spitze des erhobenen Kranzes 181/2 m. Auf 66
Stufen steigt man durch das Fußgestell zur Figur und in dieser auf 60
eisernen Sprossen in den Kopf. In diesem sind zwei Ruhebänke angebracht,
und sechs Personen finden da bequem Platz. Bei heller Witterung hat man
durch die angebrachten Offnungen eine reizende Aussicht über das ganze
Oberbayern. Vom Herausgeber.)
110. Augsburg.
Stattlich nimmt sieh das grosse Augsburg auf seiner weiten, vom Lech
durcehstõmten Thalebene von ferne aus. Wohl fehblt der Landschaft ein
Hauptschmucek, die Höhen e mit den Mauerkronen, die, wie 2. B.
die Kaiserburg zu Nürnberg, herrlieb über die Giebel hereinschauen;
doeh wenn man der schönen, kräftigen Gestalt der alten Stadt unäher
tritt, denkt man nicht mehr an den Mangel. Wer noch keine altdeutsche
Stadt gesehen hat, dem thut sieh in augsburg eine Welt auf voll Neuhbeit.
Bald stebhen die Häuser vor, bald zurüek; bald ist dort ein weit über—
hängender Giebel, bald da ein weit hervorstehender Erker; die Fenster
sind bald klein, bald grols; bald nahe zusammen, bald weit aus einander
gerüũckt; bunter Anstrich farbt häufig die Häuser, und manche zeigen
alte Freskomalerei von Meisternand. Einige Häuser mit platten Dächern
tragen Statuen auf dem Gesims; andere haben Türmehen oder Turm—
spitzen oder altmodische Wetterfahnen auf den hohen Giebeln; wunder—
liches Schnitzwerk windet sich häufig um Thüren und Fensterbekleidungen,
und an den Eckhäusern fehlen auch die Holzbilder niebt. Häufig sieht
man Wappen über den Thoren, hie und da wohl auech eine Nische für
den Schutzpatron des Hauses. Schöne, mit Kaiser- und Heiligenbildsäulen
12
110. Augsburg. 143
verzierte steinerne Brunnen stehen auf Stralsen, auf Märkten, auf den
Höhen alter Paläste. Jedes, auch das gemeine Bürgerhaus ist in der
kegel stattlich und lasst der Bewohner Tüchtigkeit, Wohlhabenheit, Fleils
und Ordnungssinn schon von aussen erkennen. Dasjenige Gebãude, in
welehem sich Augsburgs vergangene grolsse Zeit am deutlichsten wieder—
erkennen lässt, ist das Rathaus, zu dessen aulserer und innerer
Verzierung alle Künste des 16. und 17. Jahrhunderts ihr Bestes steuerten.
lm sogenannten goldenen Prunksaale, der, ohne von saulen getragen
zu sein, eine Lànge von 31 m hat, weilt man staunend und begreift
nicht, vie der Rat einer einzelnen Stadt es vermochte, solehe kõnigliche
Pracht um sich zu häufen. Das Zeughaus und die Fuggerschen
Paläste stammen aus der nämlichen Zeit; der ehemalige Bischofs—
hof dient jetzt als Schloss und Sitz der königlichen Oberbehörden
des RKreises.
Von der Geschichte Augsburgs seit zwei Jabrtausenden nur Folgendes:
Als blühende Römerstadt — als Augusta Vindelicorum — zeigt sich's
in der Geschichte zuerst, und schon im 2. Jahrhundert ward in Augsburg
die erste ehristliche Gemeinde gegründet. Als Rom sank, ging auch
seine Augusta unter; in den Verheerungsstürmen der eindringenden
Barbaren erlag dieses als erste Beute. Lange blieb sie wüst; unter
Theôdorieh erst gelangte Augsburg als ostgothische Stadt wieder zu
einiger Bedeutung; Karl der Grosse befestigte die Stadt, und im 8. und
10. Jahrhundert rauschen die blutigen Wogen der Entscheidungssehlachten
Karls gegen die Bayern unter Thassilo, und der Deutschen gegen die
neuen Weltstürmer, die Ungarn, an ihren Mauern hin über das Lech-
keld. Später, bei der Zertrümmerung des Reichs, entwiekelte sich,
obwohbl unter häufig wiederkehrenden sehweren Bedrängnissen, die RKraft
des Gemeinwesens. Hand in Hand damit ging der Zuwachs an Handel
und Reichtum in Augsburg, weleher aus der im 12. Jahrhundert begonnenen
engen Verbindung mit Venedig, Genua und den freien sStaädten der
Lombardei sich entwickelte. In allen Landern galt Augsburgs Ansehen,
und seineé Handelsherren mochten es stolz mit Fürsten aufnehmen, die
öfters auch an sie Gesandte schiekten. Daneben standen Kunst und
Gelehrsamkeit in verdienter Anerkennung.
Die Fugger schwangen sieh vom Webergesellen an dureh Geist,
hleils und Glück in neun Jahrzehnten zu den reichsten Kaufherren in
Augsburg, ja vielleicht in der Welt, empor; sie wurden die Rothschilde
ihrer Zeit, die den Kaisern Max 1. und Karl V. oft die erschõpften
Schatzkammern wieder füllten. Ganze Handelsflotten segelten unter
buggerscher Flagge nach Indien und Amerika, und die Fugger prügten
ihr Gold und Silber in eigenen Münzstätten aus. Die Raiber erhoben
sie zu Reichsgrafen, und ihr Geschlecht bluühet noch in mehreren Zweigen.
Damals entstand auch die Fuggerei, ein geschlossener Stadtteil mit
144 111. Regensburg, die Walhalla bei Donaustauf und die Befreiungshalle bei Kelheim.
Thoren und eigener Gerichtsbarkeit). — Aber die überschwengliche
Macht sollte niebt lange dauern. Augsburg batte mit Venedig einerlei
Schicksal. Der Handel, der sieb nach Auffinden des neuen Weges nach
lndien und nach Amerikas Entdeckung der alten Bahn entfremdete,
zuchte andere Hauptsitze auf. Augsburgs Verkehr kleinerte sich von
Jahr zu Jahr, zugleieh sein Wohlstand. Viele Kaufleute zogen weg nach
den Mederlanden. nach Hamburg. Die Reformation und ihre Folgen, der
dreissigjahrige Krieg, halfen dazu, den Verfall der Stadt zu beschleunigen.
Zu Ende dieses Krieges war die Bevölkerung von 100000 sSeelen
auf 30000 zusammengeschmolzen. Zwar erhob es sich dureb Gewerb—
fleiss vieder; doeh der Glanz, velehen ihm der Welthandel gegeben
hatte, var dahbin. Im Jahre 1805 erlosch auch seine seit 1276 als freie
Reichsstadt ununterbrochen behauptete Unabhängigkeit. Aber seine Ver—
einigung mit dem Königreich Bayern, infolge deren es Hauptstadt des
Kreises Schwaben und Neuburg (früher Oberdonaukreis) wurde, hob seine
Bedeutung wieder, und diese sstieg noch mehr, seitdem es Mittelpunkt
eines nach allen Richtungen auslaufenden Bahnverkehrs geworden. Als
Wechselplatz hat Aaugsburg deutschen Rang, und als Fabrik- und Handels-
stadt reiht es sich Nürnberg und Fürth an; für den Buchhandel ist es
die erste Stadt Bayerns und eine der namhaftesten Deutschlands. Gross-
artig sind die Augsburger Spinnereien und Webereien; daran reihen sieh
Tabaksfabriken, Geschũtægielereien, Verfertigung von Messing- und Fisch-
beinwaren, Gasapparaten und Ohemikalien. Reicht auch das heutige
Augsburg in merkantiler und gewerblicher Bedeutung bei weitem nicht
an den Glanz des alten, so nimmt es doch immerhin eine der ersten
Stellen in Sũddeutschland ein. os. Maver.)
111. Regensburg, die Walhalla bei Donaustauf und die Befreiungs
halle bei Kelheim.
1. Regensburg steht in der Reihe der ältesten und geschichtlich merk—
würdigen Orte nicht bloß Bayerns, sondern Deutschlands mit oben an, und
seine altersgrauen Mauern sind jung zu nennen im Vergleich mit dem
Alter der Stadt. Die Römer trafen hier schon eine von Kelten gegründete
Niederlassung und wandelten diese der günstigen Lage wegen in einen ver—
schanzten Waffenplatz um, castra regina, woraus sich die Stadt entwickelte,
umgürtet mit festem Turm- und Mauerwerk. Nach der Teilung der fränki—
schen Monarchie (8343) war es Sitz der karolingischen Könige und der
Agilolfinger und Hauptstadt des Herzogtums Bajuwarien. Nach der Teilung
der großen fränkischen Monarchie hielten die Karolinger deutschen Stammes
vorzugsweise Hof in Regensburg und dieses mag daher füglich für jene
Zeit als Hauptstadt des deutschen Reiches betrachtet werden, wie es denn
in der That von Schriftstellern jener Zeit „königliche Stadt“, „Hauptstadt
VS. Nr.128.9.
111. Regensburg, die Walhalla bei Donaustauf und die Befreiungshalle bei Kelheim. 145
Bermaniens“ genannt wurde. Noch lange hin blieb Regensburg Residenz
der bayerischen Herzoge. Den Höhepunkt seines Wohlstandes erlangte
Regensburg unter Rudolf von Habsburg; Streitigkeiten mit den bayerischen
derzogen und innere Zerwürfnisse schwächten seine Macht, und mit dem
Falle Venedigs teilte auch es das Los der Schwesterstädte Augsburg, Ulm,
Nürnberg. Noch mehr litt die Stadt unter den Greueln und Schrecknissen
des dreißigjährigen Krieges, in dem es abwechselnd von Schweden und
Kaiserlichen gebrandschatzt wurde. Verödung des Verkehrs, Brand und
Pest thaten das Übrige, und so minderte sich die Bevdlkerung der Stadt
während dieser Unglückszeit auf die Hälfte. Doch die Stadt besitzt eine
zähe Lebenskraft; sie hat es vermocht neue Lebensquellen sich zu öffnen und
an Stelle der abgehauenen Zweige neue lebensfrisch zu treiben. Mancherlei
Gewerbe blühen hier: Fabriken für Zucker, Tabak, Bleistifte, Porzellan,
Werkstätten für Messerschmiedwaren und Gewehre, Bierbrauereien und
Brennereien, Wachsbleichereien und Türkischrotfärbereien. Auch der Handel
hat einen neuen Aufschwung genommen, und die äußerst günstige Lage
Regensburgs an Wasser- und Eisenstraßen, beherrschend auf der einen Seite
die oberpfälzische, auf der anderen die bayerische Ebene, verheißen der Stadt
steigende Entfaltung für die Zukunft.
Durch besondere Schönheit im Innern zeichnet sich die Stadt eben
nicht aus. Und doch ist sie anziehend durch die historischen Erinnerungen,
welche sie auf jedem Schritte in uns wach ruft. Vor allem lenken sich
unsere Schritte dem Dome zu, einem der herrlichsten Glieder der großen
Tempelkette, mit welcher die Frömmigkeit und der Glaubenseifer des Mittel—
alters unser deutsches Vaterland von Wien bis Straßburg und Köln umzog.
Hochauf im Innern streben die riesigen Pfeilerbündel, die Gurten mit den
Spitzbögen tragend. Das Halbdunkel des Tempels wird verklärt durch die
Farbenglut der Glasmalereien in den hohen Fenstern. Unter den Denk—
mälern des Domes lenkt vorzüglich das des ehrwürdigen Bischofs Sailer
unsere Aufmerksamkeit auf sich, welches dankbare Liebe noch immer mit
frischen Kränzen schmückt. Über dem prachtvollen Portale — von einem
Schriftsteller mit einem kunstvollen, aus Stein gewebten Spitzenschleier ver—
glichen — ragen die zwei hochstrebenden Türme empor. Gegen diesen Dom
gehalten müssen die übrigen Gotteshäuser Regensburgs allerdings in Schatten
treten; denno. sind einige immer noch henswert. Die Kirche des Bene—
diktinerstiftes St. Jakob, die sogenannte Schottenkirche, zeigt ein Portal im
Rundbogenstil mit einer überwuchernden Fülle von Menschen- und Tier—
gestalten, den Sieg des Christentums über das Heidentum symbolisch dar—
stellend. Die Kirche des ehemaligen Emmeransklosters enthält nebst dem
Grabmale Aventins ein Meisterwerk von Dannecker, den Heiland mit erho⸗
bener Rechten, am Sockel die Worte: „Durch mich zum Vater!“ Zu den
hervorragendsten Gebäuden der alten Reichsstädte gehören überall die Rat—
häuser. Das Regensburger entspricht nun in seinem Äußern unsern Er—
Marschall, Lesebuch für gewerbl. Fortbildungsschulen. Kl. Ausg.
10
146 111 Regensburg, die Walhalla bei Donaustauf und die Befreiungshalle bei Kelheim
wartungen nicht sonderlich; es ist ein düsteres, unregelmäßiges Gebäude
und auch nicht gerade günstig gelegen. Um so höher steht seine geschichtliche
Bedeutung. In den obern Räumen sind die Säle, wo der deutsche Reichstag
einige Jahrhunderte hindurch seine Sitzungen gehalten. Doch ist dieser
Anblick nicht geeignet uns zu erheben. Es ziehen die unglücksvollen Zeiten
unsers deutschen Vaterlandes seit dem dreißigjährigen Kriege an unserer
Seele vorüber. Hier stritt man sich um leere Formeln, während das Reich
im Innern schon anfing zu zerbröckeln, und während von außen im Osten
und Westen grimmige uund hinterlistige Feinde ihre Arme räuberisch aus—
streckten nach unseren Grenzen.
Ein bitteres Gefühl ergreift uns; es drängt uns hinab ins Freie, er—
freulichere Bilder aufzusuchen. Wollen wir einen Gang machen um die
Stadt zu den freundlichen Anlagen, an denen Regensburg so reich ist?
Da können wir uns das Bildnis des Astronomen Keppler, von Dannecker
gefertigt, in der schönen Rotunda zwischen Stadt und Bahnhof anschauen.
— Nein, auch das würde keine erhebende Erinnerung sein. Denn wie so
viele große Männer, so hatte auch Keppler, der scharfsinnige Astronom und
Mathematiker, der die Bahnen der Sterne berechnete und die Gesetze des
Weltbaues erforschte, mit des Lebens Notdurft zu kämpfen bis an seiner
Tage Ende. Wir wenden uns dem entgegengesetzten Ausgange der Stadt,
der Donaubrücke zu. Diese, Regensburg mit Stadtamhof verbindend, und
von Heinrich dem Stolzen in einträchtigem Zusammengehen mit den Bürgern
Regensburgs erbaut, war lange Zeit die einzige steinerne Überbrückung,
welche die Donau von Ulm bis zu ihrer Mündung auf sich geduldet. So
fest ist der Bau, daß weder die beständig wühlenden Fluten, noch die mächtig
anprallenden Eismassen, noch die Kugeln der Belagerer ihn zu erschüttern
vermochten.
2. Die Wogen scheinen uns zu winken, ihnen zu folgen, bis dorthin,
wo sich die Walhalla in ihnen spiegelt. Es sind zwei Stunden dahin. Auf
der Landschaft, so reich an schönen Baumgruppen, fetten Wiesengründen,
bewaldeten Höhen, Dorfschaften und gothischen Kirchen, liegt ein Frieden,
wie der eines stillen Sabbats. Wir haben Donaustauf erreicht. Auf schat—
tigen Waldgängen gelangen wir zu der freien Höhe, welche die Walhalla
trägt. Eine überraschende Aussicht entzückt uns da oben. Über die Donau
hinweg schweift das Auge die reiche Getreideebene von Regensburg bis
Straubing enlang. Im Nordosten umsäumt als dunkler Kranz das bayerische
Waldgebirge die Ebene, im Süden tauchen aus blauem Duft in schwachen
Umrissen die Alpen empor. Wahrlich, keinen geeigneteren Punkt hätte man
für die Ruhmeshalle deutscher Nation wählen können, als diese Höhe, auf
welcher mächtige Eichen flüstern von vergangenen Tagen und wo uns zu
Füßen der Strom wallt, in welchem die ganze Geschichte unseres Vaterlandes
vorüberrauscht! Wir stehen auf der Plattform vor dem Tempel. Eine über
40 m hohe und 83 m breite Marmortreppe führt zu demselben empor. Im
dorischen Baustil aus grauweißem Marmor aufgeführt, erhebt sich der
111. Regensburg, die Walhalla bei Donaustauf und die Befreiungshalle bei Kelheim. 147
Prachtbau zu einer Höhe von 70 m. An jeder der schmalen Seiten sind 8,
an jeder der langen 17 canelierte riesige Säulen, darüber die Giebel mi
Marmorgruppen von Schwanthalers Meisterhand; im südlichen Felde gegen
die Donau eine Darstellung der Germania, nach der Schlacht von Leipzig
die Freiheit gewinnend, im Giebelfelde der Rückseite die Hermannsschlacht.
Hat uns schon das Äußere in Staunen gesetzt, so werden wir entzückt von
dem Glanze und der Hoheit, dem Ebenmaß und der künstlerischen Vollen—
dung des Innern. Der Fußboden ist aus huntem Marmor mosaikartig
zusammengesetzt, drei Inschriften sind ihm eingefügt, das Jahr des Ent—
schlusses zu diesem Bau — 1807, die Zeit von Deutschlands tiefster Er—
niedrigung, — das Jahr der Grundsteinlegung — 1830, 18. Okt. und das
Jahr der Vollendung — 1842, 17. Okt. Der Dachstuhl ist durchaus von
Eisen, mit Kupferplatten gedeckt. Der Saal, 49 m lang, 14 breit und 9m
hoch, wird durch vorspringende Pfeiler in mehrere Felder geteilt, die mit
kostbarem roten Marmor bekleidet sind. In diesen Feldern prangen in zwei
Reihen die Büsten deutscher Männer und Frauen, welche auf die Entwicklung
unseres Volkes einen hervorragenden Einfluß ausgeübt haben, 162 an der
Zahl; über den Büsten sind auf grauem Grunde 64 weiße Marmortafeln
angebracht, in goldnen Lettern die Namen solcher Helden und großen
Männer der Vorzeit vorführend, von denen, weil keine Bildnisse sich vor—
fanden, Büsten nicht angefertigt werden konnten.
Hier, wo hunderte von gefeierten Namen auf allen Gebieten mensch⸗
lichen Wirkens uns an die Größe unserer Nation erinnern, fühlen wir uns
gehoben, ja stolz als Deutsche. Und wir danken es dem erhabenen Erbauer
dieser Ehrenhalle, daß sein deutscher Sinn Erinnerungsmale aufgestellt, an
welchen sich in trüben Tagen die Hoffnung des Vaterlandsfreundes auf—
richten mochte.
3. Und noch einen Nationaltempel hat König Ludwig L. an der Donau
dem gesamten deutschen Volke zum Gedächtnis und den Kämpfern der
Befreiungskriege zu Ehren errichtet: die Befreiungshalle auf dem Michaels—
berge bei Kelheim. Der Tag, an welchem die Walhalla als vollendet
eingeweiht wurde der 18. Okt. 1842, war der Gründungstag für die Be—
freiungshalle. am 18. Okt. 1863 konnte, da die Ereignisse der bewegten
Jahre 1848 und 49 dem Bau Stillstand geboten hatten, die feierliche Ein—
weihung des Denkmals stattfinden, und dem greisen Gründer desselben war
es vergönnt, diese in eigener Person vorzunehmen.
Dieses Bauwerk hätte kaum irgendwo einen passenderen Platz finden
können. Auf der einen Seite steigt der Berg schroff und unersteiglich von
der Donau empor, dort, wo diese ihre großartigste Felsgruppierung bildet;
auf der andern senkt er sich, auch ziemlich steil, zum lieblichen Thale der
Altmühl hinab. Gegen Osten, der Siadt zugewandt, führt eine breite Frei—
treppe zur Hauptterasse des Unterbaues. Das Gebäude selbst, eine achtzehn—
eckige Rotunda, mißt im Durchmesser gegen 50 m, in der Höhe gegen 60 m.
104
148 112. Nürnbergs und Fürths Industrie.
Außen stehen auf halber Höhe 18 kolossale weiße Figuren, in den gefalteten
Händen Schilde haltend, auf welchen die Namen deutscher Provinzen ein—
gegraben sind. Darüber erhebt sich eine Galerie von 54 Säulen, und um
die in vollkommener Rundung aufsteigende Kuppel ragen 18 Trophäen frei
in die Luft. In das Innere führt ein ehernes Thor, über welchem die
Widmung steht: „den teutschen Befreiungskämpfern König Ludwig 1863.“
Auf nahezu 2m hohem Sockel treten aus tiefen Nischen 34 Siegesgöttinnen
hervor, aus carrarischem Marmor gearbeitet und in der Art unter sich
verbunden, daß je zwei mit einer Hand einen Schild halten, während sie
die andere der Nachbarin zureichen. Diese 14 aus erobertem Geschütze ge—
gossenen Schilde tragen die Namen der bedeutendsten Schlachten aus den
Befreiungskriegen; oberhalb der Nischen sind auf großen Marmortafeln die
Namen der verschiedensten deutschen Feldherren aus jener Zeit verzeichnet
und noch weiter oben im Gesimsfriese die Namen von 18 festen Plätzen,
welchen in den Befreiungskämpfen eine besondere Rolle zugeteilt war.
Zum ganzen Bau ist nur Stein und Metall, durchaus kein Holz ver—
wendet. Die Befreiungshalle erhält ihr Licht von oben durch eine Offnung
von 9 m Durchmesser. Der Fußboden aus buntem Marmor trägt in der
Mitte, gerade unter der Licht spendenden Laterne, in großen römischen
Buchstaben den Gruß, welchen der patriotische Gründer gleichsam als Wahl—
spruch des ganzen Werkes der deutschen Nation für Gegenwart und Zukunft
zuruft. Möchten die Teutschen nie vergessen, was den Be—
freiungskrieg notwendig machte, und wodurch sie gesiegt!“
Vom Herausgeber.)
112. Nürnbergs und Fürths Industrie.
Nürnberg verdankt sein Emporkommen nicht der Gunst äußerer
Verhältnisse; im Gegenteile, es stellen sich uns diese im ganzen ge—
nommen als wenig förderlich dar. Kein starker Strom bietet dem Handel
eine bequeme Wasserstraße; der Boden birgt weder nützliche Metalle,
noch Kohlen, ja er lohnte in seinem ursprünglichen Zustande selbst den
Anbau nur spärlich; denn er ist eine sterile Sandfläche und nur mit
dünner Humusschichte bedeckt. Aber vielleicht lag gerade in dieser Un—
gunst der äußeren Verhältnisse für die Bewohner Nürnbergs ein Sporn
zu möglichster Kraftentfaltung. Weil ihnen die Natur nicht mit frei—
gebiger Hand Schätze gespendet, suchten sie sich dieselben durch größere
Rührigkeit des Geistes und der Hände zu verschaffen.
Dem Unternehmungsgeiste und der Bildung seiner Bürger ver—
dankt Nürnberg seinen Wohlstand. Besonders günstig auf die Blüte
seiner Gewerbe wirkte der Umstand, daß die Kunst mit dem Handwerke
sich eng verschwisterte. Daß der Nürnberger Gewerbestand sich nicht
damit begnügte, nur auf bereits bekannten, breit getretenen Wegen fort—
*
112. Nürnbergs und Fürths Industrie. 149
zuwandeln, sondern daß er sich selbst neue Bahnen suchte, beweisen die
vielen Erfindungen, die in Nürnberg und von Nürnbergern gemacht
wurden, so das Drahtziehen, die Taschenuhren, die Windbüchse, die
Klarinette u. a. m.
Die Industrie der Stadt Fürth ist viel jüngeren Datums und
gelang?e erst nach dem dreißigjährigen Kriege zu einiger Bedeutung.
Gefördert durch die größere Freiheit ihres Gewerbes, Nürnberg gegen—
über, durch billigere Lebensweise und niedrigere Besteuerung, sowie durch
die Vorsorge, welche sowohl die markgräflich ansbachische als später
preuß he Regierung der Stadt angedeihen ließen, hob sich diese rasch
und kann sih jetzt der älteren Schwester ebenbürtig zur Seite stellen.
Übrigens bestand zwischen beiden Städten keineswegs ein freundnach—
barliches, sondern vielmehr ein sehr gespanntes Verhältnis, und eine
suchte der andern den Rang abzulaufen und den Erwerb zu schmälern.
Seit aber Nürnberg und Fürth unter einem Scepter vereinigt sind,
hat sich dieses geändert; sie reichen sich nun schwesterlich die Hand und
unterstützen und ergänzen sich gegenseitig in ihrer Gewerbthätigkeit. Die
Masse der Gewerbserzeugnisse, welche in Fürther Werkstätlen für Nürn—
berger Kaufleute gefertigt wird, kommt vielleicht derjenigen gleich, welche
Nürnb⸗g auf Fürther Vestellung liefert.
Qewerbthätigkeit Nürnbergs und Fürths beschränkt sich aber
nich auf die beiden Städte, sondern hat sich allmählich auf einen
wei. Umkreis ausgedehnt und umfaßt nun verschiedene Orte in
gzrẽ r oder geringerer Entfernung von diesen beiden Hauptmittel⸗
pun. der Industrie und des Handels: Zu diesem Nürnberg-Fürther
Industricbezirk gehören noch Stein, Doos, Farnbach, Kadolzburg, Lauf
und andere Orte. Die Manchfaltigkeit der Gewerbserzeugnisse dieses
Distrikts ist außerordentlich groß, und kann man sich von derselben
einen Hegriff machen, wenn man erfährt, daß ein wohl ausgestattetes
Mu alturwarenlager über 14000 Nummern zählt, wobei die Größen—
un u,de der einzelnen Artikel noch gar nicht gerechnet sind. Die
Bers. Jzunn dieser Waren geschieht teils fabrikmäßig, teils aber auch
in weugeyender Zergliederung der Artikel handwerksmäßig in
lleine.n Werkstätten. Mit dem Vertrieb befassen sich in der Regel
Laufleute, auf deren Bestellung verschiedene Werkstätten arbeiten. In
dem Packlokale eines solchen Handlungshauses kann man die verschie—
densten Artikel neben einander liegen sehen, die nach wenigen Wochen
in alle fünf Erdteile wandern. Da stehen Kisten, nach Madras oder
Hongkong bestinmt, neben andern, welche nach New-York, Mexiko
oder San Francisco gehen, und ein Kundiger erkennt oft schon an
150 112. Nürnbergs und Fürths Industrie.
der Art der Waren und an der Verpackung deren künftigen Be—
stimmungsort.
Mancher Gewerbszweig hat seinen Sitz hauptsächlich in Nürnberg,
ein anderer mehr in Fürth, viele aber sind beiden Städten gemein.
Den ersten Platz behauptet die Metall-Industrie, und zwar steht
in erster Reihe die Messingfabrikation und die Verfertigung von
Messingwaren. Man hat lange Zeit den Nürnberger Erasmus
Ebner für den Erfinder des Messings gehalten, aber irrtümlich; denn
schon vor diesem haben die Nürnberger Messing aus den Niederlanden
bezogen und verarbeitet; wohl aber hat Ebner wesentliche Verbesserungen
bei Herstellung dieser Legierung angewendet. Das bedeutendste Hand—
werk war von jeher das der Rot- und Gelbgießer. Der eigent—
liche Kunst-Erzguß ist durch die Gießerei von Lenz und Herold,
den Nachfolgern Burgschmiets, vertreten. Von den zahlreichen
Kunstwerken, welche aus dieser Werkstätte hervorgegangen, sei nur des
Radetzky⸗Denkmals zu Prag und des Prinz Albert-Denkmals zu Koburg
erwähnt. Sehr bedeutend sind Gürtlerei, Drahtzieherei und
namentlich Metallschläge rei. Aus dem Gürtlerhandwerk ist die
Stahlbrillen-Industrie hervorgegangen, und es werden sowohl
die Brillengestelle als Brillengläser im Nürnberg-Fürther Bezirk massen—
haft verfertigt. Draht wird aus Eisen, Stahl, Messing, Kupfer, Gold,
und Silber gezogen; ein besonderer Zweig dieses Geschäftes sind die
sogenannten leonischen, nämlich versilberte, vergoldete und zementierte
Drähte, rund und geplättet, wie sie im großen außer in Nürnberg
nur noch in Lyon und Wien verfertigt werden. Metallschlägereien
findet man in Nürnberg und Fürth an 180. Aus den Abfällen der
Metallblätter, Schawin genannt, gewinnt man Bronzefarben, und in
neuerer Zeit fertigt man auch — aber nicht aus Schawin — eine der
Bronzefarbe ähnliche Metallfarbe, den Brokat. Die Erzeugnisse der
Feilenhauer, Ahlenschmiede, Flaschner, Zinngießer und
Kompaßmacher finden ebenfalls im Großhandel Absatz; die Zirkel—
und Reißzeugverfertigung ist Gegenstand eines eigenen Handwerks
geworden; wegen seiner chirurgischen, mathematischen, opti—
schen und physikalischen Instrumente hatte Nürnberg von je guten
Ruf und der berühmte Astronom Joh. Müller, genannt Regio—
montanus, wählte 1471 zum Teil deshalb diese Stadt zum Aufenthalte,
weil er sich da am besten mit den erforderlichen Apparaten versehen konnte.
Für Bleistift-Fabrikation ist Nürnberg der erste Ort der
Erde. Die bedeutendste Fabrik, die Fabersche zu Stein, hat von
der russischen Regierung das Recht der Ausbeute eines sibirischen Graphit⸗
112. Nürnbergs und Fürths Industrie 151
bergwerkes erworben und bezieht ihr Rohprodukt vom Sayangebirge
auf dem weiten Wege über den Amur, den großen, indischen und atlan—
tischen Ozean bis Hamburg. Kaum weniger umfassend ist die Glas
industrie, namentlich das Schleifen und Belegen von Glasplatten
für Spiegel. Nach Fürth allein gehören 40 Schleifwerke an fränkischen
und oberpfälzischen Flüssen, und für Spiegelbelege verwendet diese Stadt
jährlich über 1000 Zentner Quecksilber und gegen 3000 Zentner Zinn⸗
folie. Die Zinnfolie wird gleichfalls in einigen benachbarten Hämmern
gefertigt. Auch die Herstellung von Spiegelrahmen in allen Größen
und Formen beschäftigt eine Menge von Händen. Manchfach sind die
in den Handel kommenden Erzeugnisse der zahlreichen Schreiner-,
Drechsler- und Kammacherwerkstätten. Die Papier-Indu—
striß t auch eine reich verzweigte: Tapeten, Buntpapiere,
Bil Jen und Bilderbücher, in neuester Zeit die so beliebten
Ab ilder, Papparbeiten, Buchbinder- und Porte—
fen zaren, Spielkarten, allerlei Gegenstände aus Papier—
ma nden einen weit verbreiteten Absatʒ Von besonderer Wich⸗
tig.t d dieschemischen Fabriken geworden, und unter diesen
stehe Farbfabriken oben an. Die Zelt nersche Ultra—
marinfabrik ist die größte ihrer Art in Europa und liefert jährlich
wenigstens 15 000 Zentner ihrer herrlichen Farbe. Großartig sind auch
die in neuerer Zeit entstandenen Maschinenfabriken. Die beden
tendste, überhaupt eine der namhaftesten auf dem europäischen Festland,
ist die von Klett & Komp., welche über 2000 Arbeiter beschäftigt.
Damit ist die Reichhaltigkeit der Nürnberg-Fürther Gewerbsthätig—
keit nur in allgemeinen Umrissen und lange nicht erschöpfend vorge—
führt, und es lassen sich noch gar viele namhafte Industriezweige auf—
zählen, die jeder andern Stadt schon den Stempel einer Fabrikstadt
aufdrücken würden; so die Baumwollen- und Strumpfwaren—
fabriken, die Weberwerkstätten — über 150 —, Spinnereien
und wirnereien, Lebküchnereien, Zigarren- und Tabak—
fabriken, Fabriken für Handschuhe, Oblaten, Siegellack,
Guttapercha- und Kautschuk-Waren, Kaffesurrogate,
Schwesclholzer und Zündhütchen u. s. w. Doch das Auf—
gezählte mag hinreichen, einen Einblick in das bewegte Treiben dieser
beiden Fabrik- und Handelsstädte zu verschaffen. Wer Nürnberg oder
Fürth an einem Werktage besucht, dem tritt überall ein Hämmern,
Rasseln und Summen, überhaupt eine Beweglichkeit entgegen, welche
man mit der eines Bienenstockes vergleichen möchte. Die Straßen aber
sind, abgesehen von den dahinrollenden Frachtwägen und den geschäftig
152 113. Der Kaiserdom zu Speier und die romanische Baukunst.
vorüber eilenden Arbeitern, verhältnismäßig nur schwach belebt. Ein
ganz anderes Bild bieten sie dagegen an Sonntagen. Da eilt alles
aus den rauchigen und staubigen Werkstätten, um nach den arbeitsvollen
Wochentagen auch einen Ruhe- und Erholungstag zu genießen. Und
wenn auch der Nürnberger oder Fürther sechs Tage ernst und rührig
seiner Arbeit obgelegen, am Sonntage verleugnet er seine heitere Franken—
natur nicht; da gibt er sich gerne in ungezwungener Heiterkeit den
Freuden des geselligen Lebens hin. Bei ihm trifft das Dichterwort zu:
„Saure Wochen — frohe Feste.“ Nach Beeg)
113. Der Kaiserdom zu Speier und die romanische Baukunst.
1. Der Kaiserdom zu Speier ist eines der wertvollsten Denkmale
der romanischen Baukunst, jener Baukunst, die aus der griechischen
hervorging, indem die Römer griechische Bauwerke nachahmten, namentlich
bei öffentlichen Säulenhallen am Markt, bei Theatern und Börsengebäuden
GBasiliken)
Als mit dem Christentum das Bedürfnis rege geworden war, Gott
in Gemeinschaft anzubeten, mußte man sich eine Stätte suchen, die zu
solchen Versammlungen geeignet war. Das betreffende Gebäude mußte einen
großen Raum für die Laien und einen kleineren für die Geistlichkeit und
die heiligen Handlungen haben. Das Nächste wäre allerdings gewesen,
griechische Tempel zu nehmen; aber diese waren gar nicht dazu angelegt,
besonders auch viel zu klein. Viel besser entsprach dem Bedürfnis die eben
erwähnte altrömische Kauf- und Gerichtshalle, Basilika genannt. Diese
bildete ein längliches Viereck und enthielt eine erhöhte Tribüne für die
Richter, unter deren Fußboden sich eine Höhle für die schuldigen Gefangenen
befand, fexner einen großen Raum mit Säulengängen für die Kaufleute,
welche hier Handelsgeschäfte machten. Aus diesen öffentlichen Hallen haben
sich aller Wahrscheinlichkeit nach die christlichen Basiliken entwickelt. Die
Vorhalle wurde zum Portal, die Nische für das Tribunal zum Altarplatz,
die Höhle das Grab des Heiligen; das Mittelschiff wurde erhöht, und die
drei Schiffe durch Wände geschieden, deren unterer Teil von Bogen durch—
brochen war, wie auch die Umfassungsmauern der Kirchen bogenförmige
Fenster erhielten. Zwischen Altar und Hauptschiff wurde noch ein Querschiff
eingeschoben, um die Kleriker noch mehr von den Laien zu sondern, und
so war die altchristliche Kirche vollständig fertig.
In Griechenland, besonders in Byzanz Konstantinopel) bildete man
diesen Stil weiter aus, indem man die Halbbogen kreuzweise über einander
legte, so daß man eine Kuppel erhielt. Die Kirche selbst baute man in
Kreuzform und ließ über dem Durchschnittspunkte des Kreuzes die Kuppel
sich erheben. Die Fenster waren schmal, niedrig und in der Mitte durch
eine kleine Säule getrennt. Aus der Grabhöhle entwickelten sich die Krypten,
E
113. Der Kaiserdom zu Speier und die romanische Baukunst. 153
kleine, niedrige Gewölbe unter der eigentlichen Kirche, die besonders für
den Gottesdienst in der Passionszeit bestimmt waren.
Sehr ähnlich dem byzantinischen, entwickelte sich aus jenem alt—
christ?n Stile im zehnten bis zwölften Jahrhundert der romanische.
In bel mBauarten, die im Grunde genommen eins sind, ist der Halbkreis—
bogen das charakteristische Merkmal; die Decke ist gewölbt; die Pfeiler der
Bogenhallen an den Wänden des Mittelschiffes reichen bis zur Decke und
schwingen sich in breiten Bogen über das Schiff, so daß jeder Zwischen—
raum zwischen solchen Bogen ein abgeschlossenes Kreuzgewölbe bildet.
Ähnlich sind die niedrigen Seitenschiffe überwölbt und die Decke über den
Altar gerundet.
Halbsäulen steigen an den Seitenflächen der Pfeiler schlank empor,
damit von ihnen die Gewölbbogen ausgehen können. Die byzantinische
Kuppel ist aus ihrer runden Form in eine achteckige umgestaltet, überhaupt
ist de rechtwinkelige und runde Form in eine spitzwinkelige übergegangen,
wele 68Streben nach oben noch besser bezeichnet. Großer Fleiß ist meist
auf e ngangsthüren, die Portale, verwendet worden, und phantastische
Tier⸗ und Menschengestalten, Drachen und Teufelsfratzen, wunderbares
Vlattwerk schmücken die Mauerränder und zahlreiche Figuren die Portale,
In Deutschland finden sich dergleichen Bauten in Quedlinburg, Goslar,
Köln, Trier Regensburg, Augsburg, Bamberg, Worms,
Mainz, Speter u. s. w In Speier ist der obengenannte Kaiserdom,
den wir nun noch näher kennen lernen wollen.
Der Dom zu Speier ist ein sehr altes Bauwerk; denn schon
1030 Ge Kaiser Konrad I. den Grund zu demselben und Heinrich III.
und „es vollendeten ihn in dem zur Zeit der fränkischen Kaiser in
Deuts.land weiter ausgebildeten romanischen Stil. Im Jahre 1450 wurde
jedoch das herrliche Gebäude durch einen Bränd zerstört, aber bald wieder
erbaut. As Ludwig XIV. die Brandfackel in die Pfalz trug, fiel der
prächtige Dom (1686) abermals in Trümmer. Erst als die Pfalz nach den
Napoleonschen Kriegen an ihr angestammtes Herrscherhaus zurückkehrte,
wurde er wieder hergestellt und im Jahre 1822 wieder dem Gottesdienste
übergeben.
Wirkt der Dom vermöge seiner gewaltigen Größe schon aus weiter
Ferne auf das Auge, so imponiert er noch mehr, in der Nähe betrachtet,
durch seine edle Form; das Ganze steht da in seiner Großartigkeit und
Einfachheit als echtes Gotteshaus.
Das Hauptportal ist auf. der Westseite gelegen und führt mit drei
Thoren zur Vorhalle. Tritt man aus dieser durch die große Pforte in das
Innere des Domes, so stellt sich die ganze Größe und Erhabenheit des
herrlichen Gotteshauses den überraschten Blicken dar. Durch die hohen
Gewölbe an den mächtigen Pfeilern vorüber schaut das Auge hinauf zum
Königschor; über diesem erblickt es den Hochaltar und hier zwischen den
Seitenthüren hindurch das Schiffschor. Durch das richtige Verhältnis der
154 114. Eine Arbeiterstadt im Elsaß.
Breite des Mittelschiffes zu seiner Höhe erhält das Ganze eine Leichtigkeit
und ein so kräftiges Emporstreben, wie man es nicht leicht in einer Kirche
dieses Stils wieder finden wird.
Was aber unter allen Sehenswürdigkeiten des Domes die Aufmerk—
samkeit und Bewunderung des Beschauers am meisten in Anspruch nimmt,
das sind die Freskomalereien vom Meister Schraudolph, mit welchen
das ehrwürdige Gotteshaus geschmückt ist.
Auf zehn am östlichen Ende des Mittelschiffes gelegenen Stufen gelangt
man zunächst in das geräumige Königschor. Hier ist der Ort, wo nicht
weniger als acht deutsche Kaiser ruhen. Das Grab Rudolfs von Habs—
burg ist das wichtigste. König Ludwig von Bayern hat dem ebenso frommen,
als starken und mächtigen Kaiser durch Schwanthaler ein Denkmal von
seltener Schönheit errichten lassen. Noch schöner als das Denkmal Rudolfs
ist das des Nassauers Adolf, der ebenfalls hier ruht. Es steht auf der
rechten Seite im Königschor und wurde vom Bildhauer Ohnmacht aus
Straßburg gefertigt.
Auf einer Treppe von neun Stufen schreitet man aus dem Königschor
hinauf in das Hauptchor. Im Hintergrunde des Chores erhebt sich unter
dem Baldachin der bischöfliche Stuhl, an welchen sich links und rechts die
Plätze der Domkapitulare und des übrigen Klerus reihen.
Die Krypta dehnt sich unter den Chören in Kreuzesform aus; man
steigt auf einer aus einem Seitenschiffe zu ihr führenden Treppe hinab,
erblickt aber dort nichts als alte, größtenteils beschädigte Monumente, die
im ehemaligen Kreuzgange standen. Unter den beiden am Dome angebauten
Kapellen ist die auf die Nordseite gelegene von Interesse, weil sie die Leiche
des im Kirchenbann verstorbenen Kaisers Heinrich IV. in sich barg, bis im
Jahre 1111 das feierliche Kirchenbegräbnis gestattet wurde. Außerhalb des
Domes, an der Südseite, steht noch eine bedeutende Ruine. Man sieht da
die Reste des Olberges, der 1509 hier mitten in dem mit Grabmalen und
Kapellen verzierten Kreuzgang erbaut und seiner außerordentlichen Schönheit
wegen ein Wunderwerk der Welt genannt wurde. Die Überreste der Figuren,
welche den betenden Heiland, die schlafenden Jünger, den Verräter und
seine Rotte vorstellen, sind noch jetzt zu sehen. Kutzner, geoar. Bilder.)
114. Eine Arbeiterstadt im Elsass.
In fruchtharer Landschaft, auf velehe die blauen Berge des Wasgen-—
waldes herabschauen, liegt an der I1I1 die Stadt Mälhausen, deren
Fabrikthãtigkeit im laufenden Jahrhundert sieh zu solcher Höhe entwickelte,
dass sie den ersten Industriestädten des deutschen Reiches beizuzählen
ist. Im Jahre 1798 belief sich deren Einwohnerzahl auf 6000 Köpfe, und
heute hat sie die Ziffer von 60000 schon überschritten. Dies staunens-
werte Wachstum ist lediglieh Folge der Gewerbthätigkeit des Orts, als
deren Schöpfer drei seiner Bürger, Jatob Köchlin, Jakob Sehmalzer
114. Eine Arbeiterstadt im Elsaß. 155
und Heinrich Dollfus zu bezeichnen sind. Diese haben im Jahre 1746
die Fabrikation gedruckter Baumwollenzgeuge, den sogenannten Rattun,
eingeführt und dadureh der Stadt ihr eigentümliches Gepräge aufgedrückt.
Gleich einem Mastenwalde umgeben kolossale Dampfschlöte den am Fluss
sich hinziebenden Häuserkern und verkünden mit den vielfensterigen, vier
und fünf Stockwerke hohen, einförmigen Gebäudefronten dem Ankömmling,
dass er sieh einem Zentrum moderner Betriebsamkeit nähert.
Dass soleh eine ausserordentliche gewerbliche Thatigkeit nicht ohne
die mancherlei sozialen Ubelstände blieb, die mit dem Fabrikwesen im
allgemeinen verbunden zu sein pflegen, lässt gieh leient ermessen. Zu
Tausenden strömten fort und fort aus Deutsehland, aus der Schweiz und
mehr noeh aus Frankreich die Arbeiter nach Mülhausen, und es trat neben
anderen Gefahren zunächst empfindliche Not an Wohnungen auf. Da kam
Hilfe von Seiten einer bereits vor einem halben Jahrhundert in Mülhausen
gegründeten gemeinnũtzigen Gesellschaft, die sieh nicht allein dureh Hebung
der gewerblichen Thätigkeit der Stadt, sondern auch durch ihre mannig-
fachen Bemühungen zur Verbesserung der Arbeiterverhältnisse schon viele
Verdienste erworben hatte. Die „Gesellsehaft für Industrie“
unternahm es mit einem ibr unverhofft gewährten staatlichen Beitrage
von 300000 EFrs., eine Anzahl zweckmälsiger Arbeiterwohnungen zu
érbauen, die binnen kurzer Zeit zu einer völligen „Arbeiterstadt“ von
mehr als tausend Häusern anwuchsen.
Jeder Arbeiterfamilie sollte wo möglich der Genuss einer eigenen
Wohbnung nebst dazu gehörigem Hofe oder Gärtehen gewährt werden;
zugleien wollte man den Arbeitern auch den Vorteil eigenen Besitztums
verschaffen, indem man sie durch geringe allmähliche Abzablungen die
erbauten Häuser käuflieh erwerben liels. Wer bei dem Beziehen einer
solechen Vohbnung, je nach deren Beschaffenheit und Grölse, eine Summe
von 22—300 Franken entrichtete, der sah sich damit in alle Rechte des
Hausbesitzers eingesetzt und konnte den natürlich weitaus beträchtlicheren
Rest des RKaufschillings in Raten abtragen, die sich auf die lange Prist
von 16, unter Umständen gar von 20 Jahren verteilten. Auf solehe Weise
érwarb sieh der Arbeiter Grund und Boden, gewissermalsen obne dass
er es merkte; die 18 25 Franken, die ihm monatlich abgefordert wurden,
betrugen ja nieht viel mehr, als was er vordem für die Miete einer
sehlecuren Wohnung hatte aufwenden müssen. Dabei wurde die Bedingung
au. ebtuut, dass der Kaufer innerhalb 10 Jahren ohne Ermũchtigung des
Verwaltungsrates der Gesellschaft sein Haus nieht veräulsern, aueh nieht
anuore Arbeiter als Aftermieter bei sien aufnehmen darf. Desgleichen
hat er sieh bestimmten, auf Aufrechterhaltung von Ordnung und Rein-
liehkeit, auf aussere Symmetrie der Anlagen und Gefälligkeit des Ganzen
u. 8. V. abzweckenden polizeilichen Vorschriften zu unterwerfen und muss
nach einer später getroffenen Verfügung sieh verpflichten, für den regel-
massigen Schulbesuch seiner Kinder zu sorgen.
114. Eine Arbeiterstadt im Elsaß.
Wie anmutsvoll nehmen sieh die vielen kleinen und grölseren Häuser
wischen dem reichen Grün der Baumgruppen und inmitten der zierlichen
Garten und Weinlauben aus! Ein wahrhaft herzerquickender Anblick nach
dem Eindruck, den die Fabrikkasernen und die meist engen, düsteren
Gassen des eigentlichen Mũlhausens mit ihrem Wagengerassel und Maschinen-
geklapper auf uns machen, eine wunderliebliche Verschmelzung von Stadt
und Land, diese merkwürdige Arbeiterstadt mit ihrer Frische und Stille
und den prächtigen Lindenbaumen, die, in doppelter Reihe auf allen
ihrèn Strassen gepflanzt, mit ihrem köstlichen Blütenduft die innersten
Raume der freundlichen Wohnstätten ringsum erfüllen!
Jedes einzelne Gartehen wird von einem sauber angestrichenen Latten-
zaun umfriedigt, hat seine Laube oder seinen kleinen Pavillon und bringt
dem Besitzer an Gemüse und Obst juhrlich 40 — 50 Franken ein. Ja,
manche Arbeiterfrauen, die sieb der Kultur ihrer Gartentflecke mit beson-
derem Rifer und Geschick annehmen, treiben mit den Produkten derselben
inen Neinen Handel; namentlieh hat sich die „Arbeiterstadt“ dureh die
Zucht rer mannigfaltigen Rosen einen Namen gemacht. Unter allen
mstanden aber ist der geistige und sittliche Gewinn, der den Arbeitern
dureh diese Gärten und ihre Pflege erwächst, niebt hoeh genug anzu—
sehlagen; nieht allein, dass dieselben den Kindern einen ungefährliehen
und gesunden Tummelplatz- darbieten, sie ziehen auch die Arbeiter vom
Besuche der Wirtshäuser und Schenken ab und lehren sie mehr und
mehr die reinen Freuden des Familienlebens kennen. „dSeit wir unser
Haus haben,“ erzuhlte eine Arbeiterfrau mit Freudenthränen im Auge
dem französischen Unterrichtsminister Duruy, der im Jahre 1864 die
Kolonie besuehte, „ist mein Mann alle Abende zuhbause bei uns.“ Schon
diese Ihatsache allein zeugt von dem Segen. den die Anlage der Mũlhauser
Arbeiterstadt hat.
Vnter den vielfachen Veranstaltungen, welehe der Verein ausserdem
für die Gemeinschaft der Arbeiterstadt ins Leben gerufen hat, seien noch
folger genannt: an erster Stelle das öffentliche Bade- und Waschhaus,
das z sahre 1855 in der zweckmassigsten Meise aufgeführt vurde; eine
r Loxei mit Pastauration, die das Brot von 29. Kilogramm um 5 bis
19 Gentimes woblfeiler lüefert als die billigsten Bäckereien der Stadt,
Seblachthaus, Apotheke, ein grosses Logierhaus für unverheiratete Männer,
die darin ein anständig möbliertes Zimmer mit Bett und Bettwäsche zu
Pranken monatlich mieten können, ein Pensionshaus für ledige Arbeite-
rinnen, welehe für 139. Franken daselbst für 14 Tage Kost, Wohnung
und Wasche êrhalten, ein Asyl für Greise und verschiedene Rleinkinder-
und EPlementarschulen nebst mohreren Unterstützungsanstalten für besondere
Zwecke. Anstatt eines unruhigen, fortwährend gehenden und kommenden
Proletariates exfreut ssioh Mũlhausen jetzt einer sesshaften, im allgemeinen
gut gestellten. zufriedenen und intelligenten Arbeiterbevölkerung, die Ord-
156
115. Auf unsre Schwaben sind wir stolz. 1567
nung und Reinlichkeit, haushälterischen Sinn und Sparsamkeit, vornehmlich
aber Liebe zur Secholle, zum häuslichen Herde und zur Heimat schätzen
gelernt hat. (H. Thüringer, Bibl. der Unterb. u. des Wissens.)
115. Auf unsre Schwaben sind wir stolz.
Das deutsche Sprichwort sagt: „Was sich liebt, das neckt sich.“
Weil nun die Schwaben von alter Zeit her unserem Volke große Ehre
gemacht und Tüchtiges geleistet haben, so sind sie allen Deutschen lieb
und wert, und wir treiben dem Sprichworte nach gern mit ihnen Scherz
und Spaß, wozu auch sie immer aufgelegt sind. Wir behaupten, die
Schwaben würden vor dem vierzigsten Jahre nicht klug und machten
überall nur Schwabenstreiche, wenn sie etwas Gescheides auszuführen
gedächten. Wir erzählen von den sieben tapfern Schwaben, die einen
Löwen erlegen wollten und sich vor einer Schnecke fürchteten, von den
närrischen Schildbürgern u. dgl,, und das hört der gemütliche Schwabe
gern und stellt sich thöricht, um dem Erzähler den Spaß nicht zu ver—
derben. Aber es wäre ein großer Irrtum, wollte man jene Schnurren
und Späße für Ernst und Wahrheit halten; denn die Schwaben sind
in jeder Weise tüchtige Männer, und wo etwas Großes vollbracht wurde
in unserem Vaterlande, da waren gewiß Schwaben dabei. Ariovist, vor
welchem sich Cäsars sieggewohnte Krieger fürchteten, war ein Schwaben—
häuptling, wie jener Odoakar, welcher den letzten römischen Kaiser absetzte
und sich selbst zum König von Italien machte. Denn schon in uralten
Zeiten, die wir nur aus Götter- und Heldensagen kennen, galten die
Sueven für ein schlachtenkühnes Volk, welches sich Schwertmänner nannte,
woraus die Namen Suave und Schwabe entstanden. Ihr langes Schwert
faßten sie mit beiden Händen und schlugen so gewaltig darein, daß sie
oft einen Reiter vom Kopfe bis zum Sattelknopfe durchhieben, wie Augen—
zeugen berichten, die solche Schwabenstreiche in Italien und später in
Kleinasien während der Kreuzzüge mit Entsetzen sahen. Der Feldherr
Frundsberg, welcher im sechzehnten Jahrhunderte lebte, stritt mit seinen
unbesiegbaren Landsknechten, meistens schwäbischen Bürger- und Bauern—
söhnen, noch nach altschwäbischer Weise, und einer der Vorfahren Uhlands
zerhieb im Jahre 1688 vor Belgrad einen Pascha in zwei Hälften.
Unter den schwäbischen Hohenstaufen erlebte Deutschland die glanzvollste
Zeit des Kaiserreichs; die Schwaben bewahrten das Vorrecht, in der
Schlacht die Sturmfahne des Reichs voran zu tragen. Kaiser Friedrich
Rotbart blieb dem Volke so unvergeßlich, daß die Volkssage erzählt,
er sitze im Kyffhäuser verzaubert Jahrhunderte lang, werde dann aber
hervorkommen und das deutsche Reich wieder herstellen. So ist es denn
—
14
115. Auf unsre Schwaben sind wir stolz.
auch wirklich geschehen; denn aus dem Schwabenlande entstammt das
kriegstüchtige Geschlecht der Hohenzollern, deren Grafenburg nicht weit
von der der Hohenstaufen steht. Ein Hohenzoller, an Alter und Gestalt
an Kaiser Rotbart erinnernd, hat die blutigen Schlachten geliefert,
welche die Sage vorher verkündete, und das deutsche Reich hergestellt.
Die Schwaben aber waren von jeher nicht nur tüchtige Krieger,
sondern auch sehr kluge Leute, die in Kunst und Wissenschaft Großes,
Unsterbliches leisteten. Der berühmte Astronom Kepler, der Sprachgelehrte
Reuchlin, der Gelehrte Melanchthon, die Erbauer der herrlichen Dome
und Münster am Rheine und in der Lombardei waren Schwaben, der
Bildhauer Dannecker, unser hochgefeierter Schiller und der gedankenreiche
Dichter Hölderlin, unsere tiefsten Denker, und viele beliebte Dichter und
Schriftsteller stammen aus dem lieblichen Schwabenlande. Die schönsten
Volksweisen ersann das Schwabenvolk, und unser bester Volkslieder- und
Balladendichter Uhland ist ein Schwabe. In ganz Deutschland kennt
und singt man seine Lieder, welche unserem Volke so ganz aus dem
Herzen und von den Lippen genommen sind, und in allen Erdteilen,
soweit die deutsche Zunge klingt, hört man Uhlands Lieder. Kein Volk
der Erde besitzt einen so volkstümlichen Dichter, welchen man in Palästen
und in Hütten mit gleicher Freude liest, dessen Lieder die Jugend in
den ersten Schuljahren mit Jubel hört und lernt, die den Jüngling
entzücken und den Greis mit stiller Freude erfüllen. Wir ehren in
Uhland nicht nur den unerreichbaren Balladendichter, an dessen Liedern
das Volk sich erquickt und die Jugend heranreift, sondern auch einen
Vaterlandsfreund, der uns mit der Vorgeschichte unseres Volkes erst
recht bekannt gemacht hat. Als sich unsere Volksstämme noch fremd
oder gar feindlich gegenüber standen, da waren es unsere Dichter, wie
Arndt, Rückert, Uhland u. a., welche uns gemahnten, daß die ver—
schiedenen deutschen Stämme ein großes, reichbegabtes Volk bilden, und in
diesen Liedern und Gesängen fühlte dasselbe zuerst wieder seine Zusammen—
gehörigkeit.
Uhland aber vor allen dichtete aus dem Herzen und Sinne des
deutschen Volkes und lehrte es seine große Vergangenheit lieben, indem
er die Herrlichkeit und Geistestiefe des deutschen Wesens schilderte. Seine
Lieder sprechen unser Gemüt an wie Heimatsklänge aus schöner, thaten—
und poesiereicher Zeit. Da empfinden wir erst die Freude an der schönen
Welt; da erscheint uns edle Menschlichkeit als das edelste Gut des
deutschen Herzens; da zieht das Leben mit Freud und Leid an uns
vorüber wie ein buntes Gemälde mit Kaisern, Helden, Rittern, Dichtern,
Hirten, Bettlern, und alle sehen uns treuherzig mit klaren Augen an,
116. Solingen. 159
wie alte, liebe Bekannte; wir fühlen uns heimisch unter ihnen, wir sind
in Deutschland.
Wir müssen also stolz, doppelt stolz sein auf unsere Schwaben, um
welche uns andere Völker beneiden. In Ungarn, wo ihrer nahe an eine
Million wohnen, hält man sie fast für Hexenmeister und ruft aus: „Der
Blitzschwab kann alles und bringt alles zustande!‘' Wie würde unsere
Geschichte aussehen, wenn wir Hohenstaufen und Hohenzollern, Schiller
und Uhland und andere ausstreichen müßten! Halten wir darum unsere
Schwaben hoch, und lieben wir sie mit vollem, treuem Herzen!
Gr. Körner.)
116. Solingen.
1. Von Düsseldorf rheinaufwärts nach Köln liegt das Geleise der
Eisenbahn fast wagrecht im breiten Rheinthale, links aber erhebt sich der
Boden, und zwischen tiefen Schluchten ziehen Bergrücken in das alte „bergische
Land“ hinauf zu den Werkstätten der Solinger Schmiede.
Der Hauptfluß des Ländchens ist die Wupper; außer ihr zählt man
jedoch noch an 36 Bäche, die von den Bergen herabrinnen und von denen
keiner zu kraftlos erscheint, um nicht dem Menschen dienstbar zu sein. Da
sind Baraken über sie hingebaut, sogenannte „Koten“. Mittags siehst du
wunderliche Gestalten daraus hervortreten, Mittelding zwischen Köhler und
Schornsteinfeger, mitunter sogar Weiber in Hosen. Das sfind die Leute,
welche den Solinger Artikeln den blendenden Glanz geben, Schleifer und
Schleiferinnen.
Von dem Kreise Solingen nimmt besonders derjenige Teil unsere Auf—
merksamkeit in Anspruch, in welchem die eigentliche Stahlindustrie ihren
Sitz hat; es sind dies die Bürgermeistereien Solingen, Höchscheid,
Dorp, Wald, Merscheid und Gräfrathb mit einer Gesamtfläche von
etwa 19. Quadratmeilen. deren Bevölkerung so dicht gedrängt ist, daß nahe
an 29000 Menschen aum der Quadratmeile zu zählen sind.
D Lebenserwerh o vieler Menschen auf kleinem Raume ist hier einzig
und allein durch die geze Mannigfaltigkeit der Gewerbe bedingt. Die Ver—
bindung von weierlei Gewerben in einer Hand ist gleichsam Sitte gewor—
den, namentlu „ut dies von der Verbindung der Land- und Feldwirtschaft
mit industriellen Beschäftigungen. Gewiß haben die Solinger Stahlarbeiter
zu manchen Zeiten viel Geld verdient; aber sie hatten auch schlechte Zeiten
und hateen auswandern müssen, hätte ihr Grund und Boden sie nicht ge—
fesselt und ihr Feld und Garten sie nicht genährt. Auch umgekehrt kam
dem Landbauer, wenn die Ernten ihm fehlschlugen, der Erwerb seiner
kleinen Werkstatt zu Hilfe. Natürlich gehört immer noch große Kraft und
Ausdauer neben unermüdeter Rührigkeit dazu, sich hier zu behaupten, und
es wird gewiß in keinem Landstrich Deutschlands so gearbeitet als im
„bergischen Lande“. Dafür ist aber auch bei Sparsamkein und Nüchternheit
12
160 116. Solingen.
trotz angestrengter Arbeit ein behagliches Dasein der Lohn dieses Völkchens.
Man findet hier zwar nicht großen Reichtum, aber auch keine Armut.
Ein Gewerbe vor allen hat den Namen Solingen zu Berühmtheit
gebracht, und es steht darin fast unerreicht da, das ist die Fabrikation
feiner Stahlwaren. Wer hörte wohl den Namen Solingen, ohne zu—
gleich seiner trefflichen Klingen, wahrer Eisenhauer zu gedenken und all
der stechenden und schneidenden Instrumente, die es in alle Weltteile ausführt.
Solinger Häuser haben ihre Niederlagen in der Levante, in Brasilien, in
Schweden. Die englische Regierung hat sich von der Güte der Solinger
Waffen überzeugt und macht jährlich große Bestellungen. Fast sämtliche
Fürsten Europas tragen Prachtdegen aus den Solinger Werlstätten.
Die Solinger rühmen, daß sogar der Flamberg, mit welchem der Erz—
engel Michael die ersten Menschen aus dem Paradiese trieb, eine Solinger
Klinge gewesen. Die nüchternen Geschichtsforscher freilich sind anderer
Meinung und behaupten, daß die Wiege der Solinger Industrie in Damaskus
stand. Durch Kreuzfahrer, namentlich durch zwei Grafen von Berg, soll
sie von dort in die heimischen Berge verpflanzt worden sein.
2. Um zu erfahren, wie so ein gutes Solinger Schwert entsteht, darf
man sich einige Mühe nicht verdrießen lassen; man muß zu verschiedenen
fleißigen Leuten gehen; denn nicht ein einzelner macht es fertig; es wandert
vielmehr aus einer Hand in die andere, wie sich überhaupt die Arbeit fast
bei allen Solinger Stahlfabrikaten vielfach verteilt.
Je nach der Größe und Stärke der Klinge wird der für dieselbe be—
stimmte Stahl unter den Reckhämmern zu längeren oder kürzeren Stangen
ausgeschmiedet. Diese erhält dann der „Schwertschmied“, der dem Stahlstück
die erste Form einer Klinge gibt; er wird bei dieser Arbeit durch einen Vor—
schläger unterstützt, welcher den schweren Hammer zu führen hat Dieser
erste Vorgang heißt sehr bezeichnend „das Stempeln“, indem hiedurch der
Stahl gleichsam für seine kriegerische Bestimmung gestempelt wird. Zugleich
wird nun auch der Griff auf „Erl oder Angel“ angeschweißt, was man das
„Anschießen“ nennt. Das genauere Ausschmieden der Klinge schafft der
Schwertschmied allein mit seinem Arme. Ein Mann ist im Stande, 1012
Klingen, je nach ihrer schwierigeren oder leichteren Form, in einem Tage
auszuschmieden Von da wandern dieselben zum „Härter“. Der Stahl
war bis dahin weich und biegsam; dieser Mann gibt ihm die Federkraft,
indem er denselben rotglühend macht und in kaltem Wasser abkühlt. Das
Härten ist keine so leichte Kunst, als sich ein Professor der Physik, der
einmal oben in Solingen zum Besuch war, einbildete; der wußte wohl aus
seinen Büchern, was Härten sei, konnte es aber nicht fertig bringen; denn
von sechs Klingen, die man ihm zur Probe übergab, brachte er auch nicht
eine ganz aus dem Wasser. Ein tüchtiger Härter steht bei seinem
Fabrikanten in hohem Ansehen und kann ihm von großem Nutzen sein.
Nachdem die Klingen gehärtet sind, wandern sie in Bündeln von 30—60
Stück, „Bürden“ genannt, in die „Schleifmühle“. Der Schleifer bearbeitet
117. Berlin, die deutsche Kaiserstadt. 161
sie zuerst vor dem großen Steine, dann auf dem Hohlstein, um ihr die
Höhlung zu geben.
Da beim Schleifen, namentlich beim Höhlen, sich das Stück stark erhitzt,
so verliert es seine Federkraft, und die Klinge muß daher nochmal zurück
zum Härter, der ihr jetzt die blaue Härtung gibt. Sie geht hierauf zum
zweitenmale zur Schleifmühle um daselbst ihre Politur zu erhalten. Man
sagt die Klinge wird gepließt“. Damit ist die Klinge gewöhnlicher Art
fertig, und es handelt sich nun noch darum, ob sie auch die Probe bestehen
wird. Diese wird in höchst ungekünstelter Manier ausgeführt: Ein kräftiger
Mann faßt die Klinge am „Erl“, um den er des Prellens wegen ein Stück
Zeug gewickelt hat, und hauet aus Leibeskräften damit auf einen am Boden
liegenden Holzklotz los. Hat die Klinge auch nur den geringsten Riß, so
kann man versichert sein, ihre Splitter in der Zimmerdecke wieder zu finden.
Hat sie das „Hauen“ glücklich überstanden, so wird sie gebogen, und zwar
dermaßen, daß sie fast einen Zirkel bildet. Nachdem sie wieder in ihre
ursprüngliche Lage zurückgesprungen, muß sie so völlig gerade geblieben sein,
als wenn nichts mit ihr geschehen wäre. Wenn sie's nicht ist, so heißt's
„sie ist lahm“ und somit unbrauchbar.
Die feineren Klingen, welche noch Verzierungen erhalten sollen, werden
vom Schleifer noch feingepließt, d. h. auf einer mit Feuerstein und Holz—
kohlenpulver beriebenen Scheibe abgeschliffen; sie kommen hierauf zum Ätzer,
welcher mit Säuren die Verzierung aufätzt; hierauf werden sie wieder poliert
und schließlich im Feuer vergoldet. Echt damaszierte Klingen verfertigen
am Platze nur wenige Arbeiter.
Für die Herstellung der Griffe sind die „Griffmacher“ thätig; man
nannte sie früher „Kreuz- oder Knopfschmiede“; die Scheiden verfertigen
die „Scheidenmacher“; und damit ist die lange Arbeit vollendet.
Außer den Waffen werden hier auch Messer in tausenden von Mustern
verfertigt und zwar von den größten bis zu den kleinsten, so klein, daß
man ein ganzes Schock bequem in der hohlen Hand halten kann. Die
Scheren fabrikation entwickelte sich später; aber man hat es darin so
weit z oracht, daß man die Scheren nicht mehr schmiedet, sondern aus
Gußstahl in Formen gießt. So ein Ding sieht blaßbläulich aus, schneidet
einmal und dann nie wieder. Von vorzüglicher Güte fertigt man hier
Rasiermesser, und die Messerschmiede anderer Städte können es darin
den Solingern nicht gleich thun.
Die Gesamtmasse der Solinger Fabrikate von einem Jahr läßt sich
nur annäherungsweise angeben, gewiß aber ist, daß 400 Eisenbahnwagen
kaum im Stande sein möchten, dieselbe fortzuschaffen.
(Aus „Unser Vaterland“ v. Herm. Pröhle.)
117. Berlin, die deutsche Kaiserstadt.
Berlin ist die volkreichste Stadt in ganz Deutschland und eine der
größten in Europa. Wie — von Osterreich abgesehen — die größte
Marschall. Lesebuch für gewerbl. Forfbildungsschulen. Kl. Ausg. 11
1e 117. Berlin, die deutsche Kaiserstadt.
und schönste Stadt des deutschen Südens, München, auf einer eintönigen
Kiesfläche sich erhebt, so liegt die größte Stadt des deutschen Nordens,
Berlin, inmitten einer trostlosen Sandebene, und wenn abgewogen werden
soll, ob in landschaftlicher Beziehung die Lage Münchens oder Berlins
den Vorzug verdiene, so wird sich die Schale zu Gunsten der süddeutschen
Königsstadt neigen; denn diese hat doch ihre üppigen und schattigen
Isarauen und im Hintergrunde den Kranz der riesigen Alpen. In
Bezug auf Alter und rasches Wachstum lassen sich beide Residenzstädte
auch in Parallele stellen.
Zur selben Zeit, als Heinrich der Löwe den Grund zu Münchens
Bedeutung legte, gab Albrecht der Bär den Anstoß zum Emporkommen
Berlins, und wie München so ist auch Berlin, und zwar rascher noch
als jenes, hauptsächlich in den beiden letzten Jahrhunderten groß ge—
wachsen; 1640 zählte es erst 6000 Einwohner. Wichtig für die Ent—
faltung der Stadt ward die Ansiedelung der aus Frankreich geflüchteten
Hugenotten, und mehr noch die Erhebung der märkischen Hauptstadt zur
königlichen Residenz 1701. Mit der Erweiterung der preußischen Monarchie
— 1688 erst 2000 Quadratmeilen mit 132 Million Einwohnern, jetzt
6325 Quadratmeilen mit nahezu 25 Millionen Bewohnern — hat auch
die der Hauptstadt gleichen Schritt gehalten. Aber nicht bloß der
Umstand, daß Berlin der Sitz einer so kräftig aufstrebenden Königsmacht
war, wirkte vorteilhaft auf dessen Wachstum, sondern auch die trotz der
Ode seiner Umgebung keineswegs ungünstige Lage. Es liegt nämlich
nahezu in der Mitte des preußischen Staates und in der Mitte zwischen
Oder und Elbe, mit welch beiden großen Strömen es durch Spree,
Havel und deren Kanäle aufs vorteilhafteste verbunden ist. So bildet
Berlin einen wichtigen Verkehrs-Mittelpunkt zwischen Frankfurt a. d. O.
und Stettin einerseits und Magdeburg und Hamburg anderseits, und
wie es für den Bahnverkehr einer der wichtigsten Knotenpunkte ist, so
hat es sich auch zu einer der ersten Fabrik- und Handelsstädte Deutschlands
erhoben.
TFrüher war Berlin mit einer Mauer umgeben, die jetzt, nachdem
sich „e Stadt über dieselbe hinaus erweitert hat, stückweise niedergerissen
worden ist. Stellen wir uns auf die Kurfürstenbrücke, in deren Nähe
die Reiterstatue des großen Kurfürsten sich erhebt, so stehen wir zwischen
dem alten Berlin und Köln, zwischen der alten nördlichen Stadt des
bürgerlichen, gewerblichen Verkehrs und der südlichen Stadt moderner
Pracht und Feinheit. Im alten Berlin ist die Königsstraße die Haupt—
pulsader. Ein ununterbrochener doppelter Wagenzug bedeckt den Damm
der Straße; ein rastlos sich verändernder Menschenstrom wogt an
83
117. Berlin, die deutsche Kaiserstadt. 133
beiden Seiten auf den Bürgersteigen. Gehen wir über die Kurfürsten—
brücke, so gelangen wir auf die Spree-Insel, das alte Köln. Ein Gang
von da aus quer durch die Stadt nach dem Brandenburger Thore
läßt uns die Hauptstadt in der Großartigkeit ihrer Prachtbauten und
Denkmäler erblicken.
Das königliche Schloß, auf der entgegengesetzten Seite der Insel
gelegen, ist ein großes, längliches Viereck mit 5 Portalen. Hohe Feste
des königlichen Hauses werden hier gehalten, und im großen weißen
Saale werden die Reichs- und Landtage eröffnet und geschlossen. In
der Nähe des Schlosses ist der Schloßplatz und der Lustgarten. An
der Nordseite des letzteren liegt das alte und neue Museum, von Schinkel
im Stile eines griechischen Tempels erbaut; in demselben befinden sich
kostbare Sammlungen von Gemälden, Kupferstichen, Statuen, ägyptischen
und nordischen Altertümern und das ethnographische Kabinet. Einen
herrlichen Schmuck des neuen Museums bilden die Kaulbachschen Wand—
gemälde. Vor der Treppe des alten Museums steht die 1500 Zentner
schwere Granitschale, die aus einem großen erratischen Blocke gearbeitet
worden ist.
Von da gehen wir über die Schloßbrücke, auf welcher acht alle—
gorische Marmorgruppen den Lebenslauf des Kriegers darstellen. Wir
haben nun zur Rechten das imposante Zeughaus, ein großes Quadrat
von fast 100 m Seitenlänge; dann folgen rechts und links die Königs—
wache, die Kommandantur, das Kronprinzenpalais, das Opernhaus,
das Universitätsgebäude, die Akademie und die Bibliothek; in der Nähe
stehen die Denkmäler von Gneisenau, York, Blücher, Scharnhorst und
Bülow und das kolossale Reiterstandbild Friedrichs des Großen. Dicht
dabei liegt der einfache Palast des Kaisers, in welchem er in der
Regel wohnt.
Von diesem großartigsten Teile der Hauptstadt zieht sich bis zum
Pariser Platze am Brandenburger Thore die Prachtstraße Berlins,
„Unter den Linden“ hin. Sie hat eine fünffache Teilung. In der
Mitte eine breite, nur für Spaziergänger bestimmte Allee. Neben
dieser laujt zu beiden Seiten ein Weg für Reiter, den abermals Baum—
reihen emfassen, alsdann folgt auf jeder Seite die Fahrstraße und dann
erst das Trottoir. Sie wird von drei Hauptstraßen durchschnitten, von
welchen die Friedrichsstraße über eine Stunde lang ist. Herrliche Läden,
hinter deren mächtigen Scheiben die kostbarsten Erzeugnisse der Kunst
und Industrie prangen, befinden sich in den Untergeschossen der palast—
artigen Häuser. Endlich kommen wir zum Brandenburger Thor. Es
ist ein prächtiger Sandsteinbau mit fünf Durchgängen, der oben einen
1
11*
164 118. Bremen als Handelsplatz.
von 4m hohen Rossen gezogenen Triumphwagen trägt, gelenkt von der
Viktoria, der Siegesgöttin, mit dem preußischen Adler und dem eisernen
Kreuz; von Napoleon entführt, kehrte sie 1814 mit anderen Trophäen
wieder zurück.
Unmittelbar vor dem Thore beginnt der Tiergarten, ein großer
Lustwald mit schönen Anlagen und Wasserpartien, Lusthäusern und Gast—
wirtschaften. Eine Allee rechts führt nach dem Königsplatze, und wir
erblicken hier schon von weitem die auf demselben errichtete großartige
Siegessäule. Dieselbe wurde zur Verherrlichung der drei siegreichen
Kriege 1864, 1866 und 1870— 71 aufgeführt und erreicht mit der sie
krönenden Viktoria eine Gesamthöhe von 51m.
Das wäre eine Wanderung quer durch Berlin. Daß es in Berlin
außer dem bereits Erwähnten noch viele nennenswerte Straßen, Plätze,
Gebäude, Denkmäler (z. B. das schöne Denkmal auf dem Kreuzberge),
Vorstädte, Fabriken ꝛc. gibt, kann sich der Leser von selbst denken.
Wollten wir sie alle mit ihm aufsuchen, wir würden bald mit ihm
ermüden. Zu dem kommt noch hinzu, daß der ungeheuere Wagenverkehr
für Fremde nicht ungefährlich ist. Außer 3000 Droschken fahren noch
einige hundert Omnibusse und Pferdebahnwagen auf mehr als 30 Linien
von dem äußersten Ende in das Zentrum der Stadt und umgekehrt.
In dem unausgesetzten donnerähnlichen Getöse der Wagen kann man
keinen einzelnen durch das Ohr unterscheiden und sich also nur durch
die Augen vor dem Überfahrenwerden hüten. Um eine der belebtesten
Straßen zu überschreiten, muß man oft längere Zeit stehen bleiben,
bis der Wagenzug eine Lücke zeigt; dann traben die unterdessen zu
Haufen angesammelten Fußgänger in größter Eile über die Straße.
An den Kreuzwegen namentlich ist es keine Kleinigkeit, sich vor den von
vier Seiten her eilenden Wagen zu hüten, und die zwei Augen, mit
denen man sich sonst überall doch leidlich durchschlägt, sind für Berlin
eigentlich gar nicht ausreichend. MNach Kohl un. Daniel)
118. Bremen als Handelsplatz.
Ein kleiner Staat von 42)3 Geviertmeilen und mit nicht über
122 000 Einvohnern, oder richtiger eine Stadt mit einem angehängten
Gebiet, besitzt Bremen für Deutschland eine Wichtigkeit, die weit über
die Zahlenverbältnisse von Land und Leuten hinausgeht. Bremen ist
das eine der beiden grossen Eingangs- und Ausgangsthore Deutschlands
an der Nordsee. Wie Hamburg, das zweite Thor, die Elbe, so henutzt
Bremen die Weser, diesen eipnzigen aller grossen deutschen Ströõme,
welceher von seinem Ursprung bis zur Mündung nur Staaten des deutschen
Reiches berũbrt und frei in das Meer strömt. Bremerhafen, der
118. Bremen als Handelsplatz 165
Seeplatz für Bremen, besitzt eigentümliche Vorteile, velehe anderen
Hafenorten fehlen. Unter diesen Vorteilen ist nicht der kleinste der,
dass die Weser verschiedene Teile unseres Vaterlandes berũhrt oder
durehfliesst, in denen der Eichbaum, dieses vorzügliche Material für den
Schiffshau, noch sehr häufig ist. Diesem Umstande mit verdankt es
Bremen, dass es nächst Hamburg von allen deutschen Städten die grölste,
zahlreiehste und schönste Handelsmarine besitzt. Ein weiterer Vorteil
ist, dass die Mündung der Weser, als des südwestlichsten unserer grossen
Ström 2 vir ganz bis zu ihrem Ausgange heherrschen, weniger von
Prost up Lis belästigt wird, als die Mündung irgend eines anderen. Die
Wesor un Bezug auf das Klima und andere Verhältnisse viel von den
benac »rten holläandischen Gewässern. Die in die Ostsee mündenden
Strömo ben noch lange ihre Eisdecke zu tragen, wenn die Weser längst
freies isser hat. velbst die Elbbe, die doch so nahe ist, friert leichter
zuer lhrt namentlich stärkere Eismassen. Uber die Weser dagegen
bi. u pwischen Vegesack und Bremerbafen nur bei sehr bharten
Vin. me Eisbrücke, und von Bremerhafen abwärts gefriert der Strom
niemt ser Eisgang wirft seine Schollen regelmässig auf die gegenũber-
liegen. wüste der oldenburgischen Landschaft Butjadingen; Bremerhafen
bleibt verschont. Endlich können Schiffe jeden Tiefgangs dorthin gelangen
und sind gegen alle Stürme gesichert. Die Geeste, welehe hier einmündet,
ist zwar nur ein kleiner Fluss, aber weil die Ebbe und Flut in sie ein-
dringt, ist lhre ündung sehr ausgetieft und zum Einlaufen grolser Schiffe
geeignet. Die Veserschiffe suchten daber auch schon seit alten Zeiten
diesen Zufluchtsort auf, und es lag hier schon immer ein kleiner Hafen,
„dat Geestendoon“, der für die Weser wichtig war. Das jetzige Bremer-
hafen ist etwa .9 Jahre alt.
Bremen besass nämlich bis 1827 keinen Hafen, so dass die Schiffe
auf c m sStrome selbst im Vinter vor Anker liegen mussten, weil die
Versanaag weiter nach Bremen hinauf zu stark ist, so dass das Fahr-
was r von Bralee bis Bremen an TViefe von 5 bis Um abnimmt. Da
diessr ustand gor Entwiekelung des Handels sehr hemmend in den
c. 6o0 kautre Bremen nach umsichtigen und energischen Verhand—
hun n Hannoyer am 11. Januar 1827 einen Distrikt an der Mündung
der e zu einer Hafenanlage. Das Stück ist nicht grölser, als was
einst d an der Küste von Afrika bekam, und es könnte eine einzige
Kuhhaut uie Riemen zu seiner Umgrenzung hergeben; dock ist binnen
kurzem ein Ort auf diesem Fleckehen Erde geschaffen worden, weleher
eine sehr bedeutende Rolle in der deutschen Handels- und Auswanderungs-
geschichte spielt.
Ein alter, schwunghaft betriebener Handel hat in Bremen viel Wobl-
habenheit erzeugt. Dieser Wohblsstand ist ziemlieh gleichmassig ũber alle
Schichten und Klassen der Bevõölkerung verteilt. Bremen besitzt nicht
viele sehr reiche. aber sehr viele reeht vohlbabende Bürger und Lkenut.
166 119. Die Leipziger Messe.
da alle Geschäftszweige blühen, kein Proletariat, keine Bettelarmut.
Kaufmãnnische Tũchtigkeit, geschäftlicher Bifer, zãhe Ausdauer, ein
scharfer Blick zur Spekulation sind auszeichnende Eigenschaften der
Bremer. PEin Hauptnerv des hanseatischen und speziell des Bremer
Handels besteht darin, dass die jungen Bremer Kaufleute in ũüberseeische
Laànder gehen und dort Vermögen und Geschäftserfabrung sammeln.
Von den Geschäften, welebe Bremen sich zu verschaffen gewusst hat,
ragen hervor die Rhederei und der Zwischenhandel. Eine nicht
geringe Förderung erhält dieser Geschäftszweig dureh die Auswanderung
nach Amerika, deren Hauptzug über Bremen gehbt. Diese hat der Rhederei
und dem Ausfubrhandel wesentlich mit zu ihrem Aufschwunge verbolfen.
Durch die Auswanderer erhält der Schiffer eine gewinnbringende Pracht
und braucht nur eine Rückfracht zu suchen, die er in Amerika leicht
findet, um so leichter, als die Hinfahrt sein Hauptverdienst ist und er
es bei der Rückfahrt nicht so genau zu nehmen braucht. Bremen hat
i. J. 1871 60516 Auswanderer befördert. Es unterhält prachtvolle Post-
schiffé, die regelmässsige Fahrten nach England, FPrankreich, Amerika
einhalten, und die meisten seiner Schiffe sind aus der unvergleichlichen
westfälischen Eiche gezimmert, auch zu neun Zehnteilen mit deutschen
Kapitänen und Matrosen besetzt. Rutzner, geogr. Bilder.)
119. Die Leipziger Wesse.
Wie von Zauberhand berührt, verdoppelt sich die Thätigkeit von Mil—
lionen Menschen, wenn die Leipziger Messe naht.
Leipzig ist in dieser Zeit die Hauptstadt von Europa; denn alle Erdteile
senden ihre Käufer und Verkäufer oder mindestens ihre Produkte zur Messe.
Mancher Amerikaner, mancher Armenier, Perser, Inder, Japanese weiß
nichts von Sachsen, kaum etwas von Europa, aber von Leipzig und seinen
Messen hat er wohl reden hören. Goethe hat diese Stadt einmal „Klein—
paris“ genannt, aber während der Meßzeit läßt sie sich vergleichen mit der
Welthandelsstadt an der Themse, sie wird zum „Kleinlondon“. Was London
für den Seehandel, das ist Leipzig für den Landhandel — ein Weltmarkt
ersten Ranges.
Leipzig in solcher Zeit zu sehen, lohnt schon eine kleine Reise; merk—
würdig ist, wie die Stadt Leipzig kurz vor Beginn der Messe ihr Aussehen
verändert, namentlich zu Ostern und Michaelis, denn die Neujahrs—
messe gilt nur für eine halbe Messe. Alles drängt und eilt, sich auf
den Einzug der Meßfremden gehörig vorzubereiten, alles will verdienen.
Daher wird während der Meßzeit auch vermietet, was irgend zu ent—
behren ist, und gar mancher Wohnungsinhaber erhält auf diese Weise
6— 800 Mark Mietgeld; dafür begnügen sich die Hauseigentümer aber
auch, wenn es sein muß, in der Waschküche, im Holzstalle ꝛc. zu schlafen.
Auf allen freien Plätzen sieht man nun Buden aufgebaut; es entsteht
in der Stadt gleichsam eine zweite Stadt, und die mit Firmen aller Art
119. Die Leipziger Messe. 167
behangenen Wände der Häuser gewähren einen seltsamen Eindruck und zeigen
nun ein festliches Aussehen. — Waren aller Art sieht man aufgestapelt,
und besonders bedeutungsvoll ist die Ledermesse, der Tuch- und Pelz—
warenhandel. Amerika, Rußland, der Norden Europas schicken
Hunderttausende von Häuten auf die Leipziger Messen. Im Jahre 1876
betrug die Gesamtzufuhr an rohen Häuten 22 000 Ztr. an Leder 26000 Ztr. —
Ein einziges riesiges Tuchwarenlager schon zählt selten weniger als
100000 Stück zu einem Gesamtwert von 6—9 Millionen Mark, meist Er—
zeugnisse Deutschlands und der Niederlande, und in diesem Fabrika—
tionszweig des vaterländischen Gewerbfleißes nimmt Sachsen den ersten
Rang ein. Da kaufen der Orient, die Länder des Mittelmeeres, das ferne
China, Ostindien, Südämerika und Mexiko, Nordamerika, das füdliche,
östliche und westliche Europa ihren Bedarf an Tuchen der verschiedensten
Gattungen, und nur der Norden Europas versorgt sich gegenwärtig von
Hamburg aus mit diesem Artikel.
In Vetreff des NRelzwarenhandels ist Leipzig der erste Platz der
Welt geworden. Deutschland liefert Pelzfelle vom Fuchse, Edel- und
Steinmarder, Iltis, Otter, Dachse und Hasen; dann Kaninchen-, Katzen—
und Lammfelle; Rußland sendet die Felle der Hermeline, Zobel, der
weißen und blauen Füchse, Hasenfelle, persische, astrachanische und russische
Lammfelle; auch Grönland, Schweden und Norwegen bieten ihre
Vorräte; ebenso die Staaten von Nordamerika, diese namentlich Pelze
des Bibers, des Bisam, der roten, schwarzen, weißen und blauen Füchse,
der Bären, Seeottern, Luchse, Wölfe, Zobel u. s. w.
Mittlerweile sind die Meßbesucher immer zahlreicher eingetroffen; auf
Schritt und Tritt begegnen ww nunmehr fremden Gesichtern. Leicht er—
kennbar i? besonders der gevan. Arliner, der Hamburger Großhändler, der
heitere Rheinländer, Ur gemütliche Süddeut der bewegliche Franzose, der
gemessene Sohn Englands, der pfiffige Nankeen), der russische Händler und vor
allem der polnische Jude in langem Talar und spitzigem Bart. Die Zahl der
anwesenden Fremden an jedem Tag darf man immer auf 30—50000 rechnen.
Bei solchem Andrang von Menschen finden sich auch jene verschmitzten
Bürschchen ein, die das Geschäft der „Fingerfertigkeit“ ganz besonders ver—
stehen. Unzählig sind daher die großen und kleinen Gaunereien, die zu
dieser Zeit ausgeübt werden. Besonders ist es Berlin, welches zu dieser
Sorte Meßfremder ein großes Kontingent stellt. Große, wohlorganisierte
Gaunerbanden arbeiten sich gegenseitig in die Hände und nicht selten er—
eignet sich's, daß ganz fein aussehende, goldene Ringe und Uhren tragende
Herren als Taschendiebe entlarvt werden.
Aber auch an Musikbanden fehlt es nicht. „Ohne Meßmusik keine
Leipziger Messe.“ Wo man nur hinhorcht, singt's, dudelt's, bläst's oder
harft's einem entgegen. Hier dreht ein armer Blinder, dort ein Lahmer,
J spr jänki, (Spottname für die Nordamerikaner)
120. Böhmische Glasindustrie.
hier wieder ein Stelzfuß einen verstimmten Leierkasten; dazwischen hinein
jauchzt's, trompetet's, schreit's in allen Tonarten, daß man schier taub
werden möchte.
Dort wieder auf hohem Gerüste schreit ein Ausrufer mit heiserer Stimme
uns an: „Immer heran, meine Herrschaften! Hier werden Sie sehen, was
noch nie nicht dagewesen ist!“
Hier ist wieder eine Reihe Tierbuden; dort kündigt eine andere Bude
an, daß eine 400 pfündige, noch niemals gesehene kolossale Riesin zu sehen
sei; weiter entfernt produzieren sich Seiltänzer und Athleten; aber auch
Feueresser und Schwertverschlinger laden uns in ihre Buden ein.
Dort lockt uns wieder ein Zirkus mit seinen prächtigen Pferden, seinen
Kunstreitern, seinen Spaßmachern an. Doch wir würden nicht fertig werden,
wenn wir all die Buden sogar mit den tanzenden Flöhen, den weißen
Mäusen, den Wahrsagerinnen, Automaten und Taschenspielern aufzählen
würden. Noch viel weniger vermögen wir allen Stereoskopensammlungen,
Kasperletheatern, russischen Schaukeln, Panoramen, Fleckenvertilgern, Bänkel—
sängern und den Buden mit den angestrichenen Mohren und gebändigten
Menschenfressern, die vielleicht im benachbarten Dorfe das Licht der Welt
erblickten, Aufmerksamkeit zu widmen.
Bald jedoch hat die Flut einströmender Menschen und Waren ihren
Höhepunkt erreicht, und man merkt, daß die Messe ihrem Ende entgegen
geht. Jetzt kommt der eigentliche Zahltag — der Donnerstag — an dem
mancher Geschäftsmann zugrunde geht.
Mit dem Ende der allgemeinen Leipziger Ostermesse beginnt die Buch—
händlermesse. Von der Großartigkeit der Preßerzeugnisse in Leipzig
kann man sich einen Begriff machen, wenn man bedenkt, daß mit deren
Herstellung und Vertrieb dort weit über 10000 Personen beschäftigt sind.
Leipzig ist noch immer der Hauptplatz des Bücherhandels. Während der Messe
allein gelangen dort ca. 15 Millionen Mark zur Zahlung; innerhalb eines
Jahres ergibt sich die enorme Summe von 30 Millionen Mark.
Auch die Zahlwoche ist vorüber. Am Sonnabend Nachmittag müssen
alle Verkaufsstände geräumt sein, und bei hoher Geldstrafe darf nach dieser
Zeit nichts mehr verkauft werden.
Leipzig beginnt wieder sein Alltagsgesicht anzunehmen. Aller Orten
wird nun Scheuerfest abgehalten, d. h. es werden die Läden und Wohnungen
vom Schmutze der letzten Woche gereinigt. Die ausgewanderten Familien
nehmen wieder Besitz von ihren alten Lokalitäten, die ehrsamen Stamm—
gäste eilen zu ihren gewohnten Plätzen, und am Montag früh hat die Stadt
überall wieder ihr gewöhnliches Aussehen gewonnen. Mach E. H. Stötzner.)
120. Böhmische Glasindustrie.
Nur wenige Gegenden bieten auf einer verhältnismäßig kurzen Strecke
eine so interessante Gewerbthätigkeit, wie die Thäler der Neiße und Iser,
die sich von Reichenberg in Böhmen östlich bis zur schlesischen Grenze
68
120. Böhmische Glasindustrie. 169
hinziehen. Einer der bedeutendsten Zweige von Böhmens altberühmter
Glasindustrie hat in jenen Thälern seinen Sitz, und von hier aus werden
unglaubliche Massen von Perlen, imitierten Edelsteinen in allerhand Fassungen,
Milliarden von Glasknöpfen, sowie Krystallglasartikel jeder Art nach allen
Weltteilen gesandt, und man kann dreist behaupten, daß es kein Land der
Erde gibt, welches nicht von hier aus wenigstens mit irgend einem dieser
glänzenden und dabei doch so billigen Artikel versorgt wird.
Reichenberg hat sich in neuerer Zeit zum Range einer der ersten
Fabrikstädte Osterreichs aufgeschwungen, eine Stufe, die jene Stadt schon
im Mittelalter einmal behauptete, wo die Reichenberger Tuchweberei sich
eines Weltrufes erfreute. Abgesehen von ihrer industriellen Bedeutung setzt
die Stadt Reichenberg ihren Stolz darein, die Vertreterin und Beschützerin
deutscher Interessen gegenüber den tschechischen Bestrebungen zu sein.
Während nur wenige Stunden weiter nach Süden die Bevölkerung eine
überwiegend tschechische ist, herrscht in Reichenberg und Umgebung die deutsche
Sprache vor. Der lebhafte Verkehr mit den Bewohnern tschechischer Ort—
schaften macht jedoch auch für die Deutschböhmen die Kenntnis der böhmischen
Sprache notwendig, während umgekehrt die gebildeteren Klassen tschechischer
Städte ihre Kinder gern schon in der Jugend die deutsche Sprache erlernen
lassen. Um diesen Sprachunterricht zu erleichtern, ist man auf ein sehr
praktisches Auskunftsmittel verfallen; deutsche Familien schicken nämlich eines
oder mehrere ihrer Kinder zu Familien in böhmischen Städten, wie Gitschin,
Semil und Pardubitz u. s. w. und nehmen dagegen eine gleiche Anzahl
Kinder jener böhmischen Familien während dieser Zeit zu sich in das Haus,
so lange bis die erforderliche Sprachfertigkeit auf beiden Seiten erlangt ist.
Anerbietungen und Gesuche in Betreff dieses sogenannten „Kindertausches“
kann man fast täglich in der „Reichenberger Zeitung“ finden.
Von Reichenberg führt unser Weg anfangs aufwärts im Thale der
Neiße, welche trotz ihres kurzen Laufes schon eine ansehnliche Kraft erlangt
hat. Aus allen Nebenthälern stürzen munter Bäche, die ihre Gewässer mit
denen der Neiße vereinigen. Die Industrie hat die mächtige Wasserkraft
wohl zu benutzen verstanden; denn häufig begegnen wir großartigen
Spinnereien und Tuchfabriken, deren weiße Gebäude freundlich aus der
dunkelgrünen Umgebung der Nadelwälder hervortreten. Trotz der geringen
Fruchtbarkeit des gebirgigen Bodens kommen auf die noch nicht vier Quadrat—
Meilen umfassenden Bezirke Gablonz und Tannwald etwa 50000 Bewohner,
worunter über 10000 Glasarbeiter. Im ganzen aber finden auf diesem
verhältnismäßig kleinen Gebiete ungeführ 30000 Menschen ihren Lebens—
unterhalt durch die Glasindustrie und ihre Nebenzweige. Schon aus diesem
Zahlenverhältnis ersieht man, daß hier jung und alt, groß und klein thätig
mit eingreifen muß, um den oft karg genug bemessenen Lohn zu erringen.
Die Landstraße führt stündenlang durch Ortschaften, die sich bis hoch
zu den Gipfeln der Berge hinaufziehen, und deren Einwohner ebenfalls
nach Tausenden zu zählen sinde nur wenig Häuser düxrfte man auf dieser
170 120. Böhmische Glasindustrie.
ganzen Strecke finden, wo nicht Glas gepreßt, geschliffen, gefaßt oder
irgendwie verarbeitet würde.
Nun darf man sich freilich unter diesen Hütten und Arbeitsstätten keine
großen Fabrikgebäude vorstellen. Im Gegenteil verdienen namentlich die
Glasdruckhütten ihren Namen im wahrsten Sinne des Wortes, da in
solch einem vom Rauch vollständig geschwärztem Holzbaue oft nur ein
Arbeiter mit seinem Gehilfen Platz hat. Die Fabrikation der Glaskurzwaren
ist eben fast ausschließlich Hausindustrie. Zwar ist es von einzelnen Unter—
nehmern versucht worden, die verschiedenen Arbeitszweige fabrikmäßig in
größeren Gebäuden zu vereinigen; allein man fand sehr bald, daß die
Einrichtungs⸗ und Betriebskosten solcher Fabriken in keinem Verhältnisse zu
den meist überaus geringen Hausarbeitslöhnen standen, und deshalb wurden
diese Versuche immer wieder aufgegeben. Den besten Eindruck von der
Bedeutung des hiesigen Gewerbfleißes erhalten wir jedoch, wenn wir uns
Eintritt zu einem der großen Handelshäuser verschaffen, welche den Vertrieb
dieser Waren nach allen Weltteilen vermitteln.
Große Lagervorräte darf man in jenen Handelshäusern nicht erwarten,
weil fast alle hier gefertigten Waren dem schnellen Wechsel der Mode, wie
wenig andere, unterworfen sind. Erstaunlich ist dagegen die fabelhafte
Menge der glänzenden Modelle und Muster, welche jene Kaufleute zur
Übernahme von Aufträgen in langen Reihen von Kasten sorgfältig geordnet
aufbewahren. Wir haben bei einigen der bedeutenderen Exporteure
40 50 000 solcher verschiedener Probeartikel gesehen.
Außer den zahllosen Sorten Glasperlen aller Farben und aller Größen
bilden Broschen, Ohrringe, Knöpfe, Tuchnadeln, imitierte Edelsteine, Krystall—
sachen u. dgl. eine vollständige Ausstellung, welche nicht allein die Wilden
Afrikas und die transatlantischen Völker, sondern auch unsere europäischen
Damen in Entzücken versetzen müssen. Der Bereich des Absatzes für alle
diese glänzenden Gegenstände umfaßt aber im wahrsten Sinne die ganze
Welt. Nach England und selbst nach Frankreich gehen Massen dieser billigen
Schmuckgegenstände, um als fremde Erzeugnisse, drei- oder vierfach verteuert,
bald darauf wieder nach Deutschland zurück zu kommen. Die großen bunten
Glasperlen sind ein besonders gesuchter Artikel für die wilden Stämme
Afrikas, welche dafür die kostbaren Erzeugnisse ihres Landes mit Freuden
vertauschen. Weiß man doch, daß die Sklavenhändler um einige Schnüre
Perlen, die ihnen auf kaum einen Thaler zu stehen kamen, von den kriegerischen
Fürsten an der afrikanischen Westküste leicht einen gefangenen Neger erhalten
konnten, den man in Amerika dann gern mit 300 Dollars) und höher bezahlte.
Die Mehrzahl der armen Arbeiter, welche diese Glasperlen in Böhmen
verfertigen, sind kaum viel besser daran, als die beklagenswerten Sklaven im
heißen Afrika. Es ist ein schweres Leben, das die Bewohner der Gebirgsdörfer
schon von Kindsbeinen an führen. Die armen Kleinen müssen bereits daheim
y Ein Dollar — 44 250.
121. Uhrenfabrikation in Genf und Neuenburg 17—
von frühester Jugend an schaffen helfen und zum Erwerbe des oft kargen
Lebensunterhaltes beitragen. Die Perlen, welche Vater und Mutter oder
größere Geschwister gesprengt oder geschliffen haben, müssen die kleinen oft
nur drei- oder vierjährigen Kinder auf Fäden reihen, Knöpfe oder allerhand
Schmuc sachen auf Kartonagen befestigen; die etwas älteren Kinder müssen
sogar m den schweren Scheren die beim Pressen des geformten Glases
zurg ebliebenen Ränder entfernen, um so diese Gegenstände zum Schleifen
von bereiten. Es ist oft rührend zu sehen, wie diese armen Kinder voll
Aufmerksamkeit die ihnen übertragenen Arbeiten emsig verrichten. Nur ver—
stohlen werfen sie zuweilen einen sehnsüchtigen Blick hinaus nach den schönen
Bergen oder auf das Stückchen Garten vor dem Hause, wo nur Schmetter—
linge und Käfer ungestört spielen dürfen. Das Spiel der fleißigen Kleinen
hier heißt — Arbeit, und das Leben stellt ihnen meist für die Zukunft nur
eine endlose Kette von Mühe und Anstrengung in Aussicht.
So interessant die verschiedenen Arbeiten in einer großen Glashütte
stets fur die Zuschauer sind, so anstrengend und aufreibend sind sie für die
Arbeiter selbst. Die gewöhnlich 5-7 Stunden anhaltende Beschäftigung vor
dem weißglühenden Ofen, dem wir kaum bis auf einige Schritte zu nahen
wagen, ferner das für die Lungen auf die Dauer so schädliche Glasblasen
sind leider nur zu sehr dazu angethan, auf Gesundheit und Leben jener
Leute einen keineswegs günstigen Eindruck auszuüben.
Nirgends wird uns das Bild gemeinsamer Arbeit so geboten, als auf
der altbewährten gräflich Harrachschen Glashütte zu Neuwelt. Hier
können wir auf kleinem Umkreise alle Manipulationen der Glasbereitung
beobachten, von der Quarzstampfmühle bis hinauf zum gewaltigen Hochofen
und zu den kunstvollsten Schleifereien und Malereien. Die Neuwelter
Fabrikate genießen einen Weltruf, und das dortige Musterlager gleicht einer
glänzenden Ausstellung, und namentlich in der Glasmalerei wird sie kaum
irgendwo übertroffen werden. In allen Häusern Neuwelts regen sich fleißige
Hände für die Glasfabrik, welche fortwährend 400 Arbeiter beschäftigt, für
die in anerkennenswerter Weise ein Pensionsinstitut für den Fall des Alters
oder der Arbeitsunfähigkeit besteht. u. B. in der Garlenlaube 1876.)
121. Ahrenfabrikation in Genf und Neuenburg.
Wenn man in Gedanken ein paar Jahrhunderte zurückgeht in jene
Zeit, wo die Taschenuhren weder Spiralfeder noch Unruhe und
Schnecke hatten und statt der Kette eine Darmseite gebraucht wurde,
oder wo die „Nürnberger Eier“ sehr zierliche Uhren waren und zwei
bis drei Gehäuse die Schwere der kleinen Maschine noch vermehrten,
und wenn man nun unsere neuen Uhren betrachtet, in denen durch
sorgfältig eingerichtete Hemmung von Cylindern bereits die Schnecken
wieder entbehrlich geworden, die Hauptzapfenlöcher in Rubin gebohrt
sind, und durch den sinnreichsten Mechanismus es möglich geworden ist,
72 121. Uhrenfabrikation in Genf und Neuenburg.
die Uhren so klein und flach zu machen, daß man sie in einen Finger—
ring oder auf ein Armband einfügen kann: so erstaunt man billig über
die rastlose Arbeit und den staunenswerten Fortschritt des Menschen—
geistes Wer auf der Industrie⸗Ausstellung in Bern (1857) war, konnte
dort silberne Cylinder-Uhren mit 4 Steinen für den geringen Preis
von 30 Franken ausgestellt finden, aber auch die schönsten goldenen
Repetieruhren für 220 Franken; für 1000 Franken war eine Uhr zu
haben von nur 8 Linien im Durchmesser mit einem funkelnden Brillanten⸗
besaß. Und während ein Chronometer (der genaueste Zeitmesser für
wissenschaftliche Zwecke) schon für einen Preis von 140 Franken feil
war, sah man die winzigsten Luxusuhren in Brochen'), Braceleten') ein⸗
gefnt zu Preisen von 2000 bis 3000 Franken! Ein Sachverständiger
bür! der nicht minder die ausgezeichneten, höchst feinen Instrumente
und WMaschinen bewundern, mit denen man jene Uhren hergestellt hatte,
und auch darin den Gewerbfleiß, die Erfindungsgabe und Geschicklich—
keit der französischen Schweizer erkennen. Denn Uhren und Uhren—
Instrumente werden namentlich in den kleinen Kantonen Genf und
Neuenburg erzeugt.
Genf ist das schweizerische Paris, das mit seinem Urbilde den Ge—
schmack, die Feinheit und Beweglichkeit teilt, aber den ausdauernden
Fleiß und die Solidität vor ihm voraus hat. Nicht bloß die Uhren,
sondern die meisten Gold- und Silberwaren und viele andere feine
Luxusarbeiten in den prächtigen Pariser Läden sind Genfer Arbeit.
Zuerst that sich das industrielle Talent der Genfer im Handel und in
der Anfertigung von Leder- und Seidenwaren, Spitzen und Messer—
schmiedarbeiten kund, doch wurden nebenbei auch nicht wenig Stand⸗
und Pendeluhren verfertigt. Da geschah es, daß sich im Jahre 1587
Charles Cusin') aus Burgund in Genf niederließ, der einer der geschick—
testen Uhrmacher war und sich zuerst auf die Zusammensetzung von
Taschenuhren verlegte. Seine Uhren wurden mit Gold aufgewogen;
lange Zeit blieb die Kunst bei seinen Arbeitern und Schülern ohne
Konkurrenz von anderer Seite und ward für Genf eine Hauptquelle
des Wohlstandes. Niemand hätte geglaubt, daß im benachbarten
Ländchen Neuenburg (Neufchatel“) in den öden, verlassenen Jurathälern,
wo eine dürftige Bevölkerung dem armen Boden mit Mühe ihr Dasein
abrang, ein glücklicher Rivale der Genfer erstehen würde!
As im Jahre 1630 die erste Turmuhr nach Locle') gebracht wurde,
versuchten sich sogleich mehrere Handwerker in der Zusammensetzung
spr. broschen. ) spr. braßeletten — Armbänder. 9) spr scharl küsäns
9 Ipr. nöschatäl. ) spr lok'l.
122. Die Straße über den St. Gotthard. 173
hölzerner Schlaguhren, und besonders that sich als mechanisches Talent
ein junger Mann hervor, Namens Richard), dem die Nachahmung am
besten gelang. Im Jahre 1690 kehrte ein Bürger von Locle von einer
weiten Reise heim und brachte eine Taschenuhr mit, die erste, welche
die armen Bergbewohner zu sehen bekamen. An das Nachbilden eines
soelchen Kunstwerkes wagte sich aber keiner, bis die Uhr repariert werden
muß e und Meister Richard sich erbot, die Reparatur zu versuchen.
Er nahm die Teile sorgfältig auseinander, untersuchte den Bau und
nach langem Studium machte er sich an die Arbeit, die freilich sehr
langsam von statten ging, da er die nötigen Werkzeuge sich selber erst
erfinden und anfertigen mußte. Endlich gelang das Werk, und nun
wollten's auch andere versuchen.
Es entstand ein reger Wetteifer, der jedoch die aufgewandte Mühe
und Arbeit schlecht lohnte, bis man sich aus Genf das taugliche Metall
und die entsprechenden Instrumente zu verschaffen wußte. Die Neuen—
burger machten bald so gute Fortschritte, daß ihre Werkzeuge noch die
der Genfer übertrafen. Mehr als 120000 Stück Uhren im Wert von
12 Millionen Franken werden alljährlich vom Kanton Neuenburg aus
verschickt.
Genf und Neuenburg zusammen haben im Jahre 1856 Uhren im
Gewicht von 1913 Zentner versandt; nach Rußland allein gingen für
1800000 Franken fertige Uhren, für 60000 Franken Uhrenbestandteile
und für 30000 Franken Spieluhren.
Die Schweizer Uhren-Industrie steht einzig da. Durch sie
ist jene öde Berggegend kostbar und dicht bevölkert geworden, und wo
früher nur ärmliche Hütten standen, befinden sich jetzt reiche, ansehn—
liche Häuser. (A. W Grube))
122. Die Straße über den St. Gotthard.
Der St. Gotthard ist nicht etwa ein einzelner Berg, sondern eine
erhabene Berggruppe, welche mit Recht als der Zentralknoten des ganzen
Hochalpengeflechts angesehen wird. Von allen Seiten schließen sich hier
Gebirgsstrahlen wie zu einem Stern zusammen, und wiederum entsendet
der Gotthard Flußstrahlen nach allen Himmelsgegenden.
Über den Gotthard führt eine der berühmtesten Alpenstraßen von Norden
nach Italien. Die neue Gotthardsstraße ist 9—10 Ellen breit und hat
auf der deutschen Seite eine Steigung von 6, auf der italienischen von
7 10 Prozent. Nur etwa acht Tage des Jahres, und das nicht in jedem
Jahre, zur Zeit des heftigsten Kampfes zwischen Frühling und Winter, ist
der obere Teil der Straße gesperrt. Auch zur Zeit des Lawinenfalls im
P spre rischar.
122. Die Straße über den St. Gotthard.
Mai ist sie nicht ohne Gefahr zu passieren; doch rechnet man nur etwa
sechs Unglücksfülle auf ein Jahrzehnt.
Die Gebirgsstraße beginnt mit Amsteg, wo der Kästelenbach in
die Reuß stürzt und die hohe Pyramide des Breitenstockes ragt. Von
da bis zum Eingange ins Urs erenthal, in einer Weglänge von fünf
starken Stunden, auf der die Straße zehnmal über die Reuß und ihre
Seitenbäche setzt, sind bloß ganz kurze Strecken, auf denen sie nicht aus dem
steilen Felsenufer herausgesprengt oder durch hohe Mauersätze über das Be—
reich der Verheerungen des Stromes gehoben, durch Untermauerungen vor
seinen Auswaschungen geschützt werden mußte. Unterdessen sind die Laub—
bäume mehr und mehr verschwunden und Nadelwaldungen an ihre Stelle
getreten; immer häufiger öffnen sich Blicke seitwärts in Schluchten, aus
denen eisige Winde und schäumige Wildwasser hervorbrechen. Gleichzeitig
werden die Felsen immer schroffer, zeigen keine Matten, sondern nur schmale
Grasbänder, hie und da ärmliches Gestrüpp. Bald treten wir in den
stundenlangen Felsenschlund der Schölblenen. Es wird immer enger und
düsterer; ohne alle Vegetation starren die Felswände senkrecht empor. Und
hier schwingt sich die Straße, gerade an dem mächtigsten Sturze der Reuß,
auf dem kühn gewölbten 8mm weiten Bogen der weltbekannten Teufelsbrücke,
1270m „hoch über den Rand der furchtbaren Tiefe gebogen“, zum zehnten⸗
mal über den Strom. Völlig aufgelöst in Gischt stürmt die Reuß einen
mehr denn 32m hohen Fall hinab. Dicht an der Felsenwand klebt die auf⸗—
gemauerte, durch Bogen untersetzte Brustwehr der neuen Straße, zum Teil
auf dem Mauerwerk der alten Brüstung ruhend. Die untere Brücke, schmaler,
tiefer, wird nicht mehr gebraucht. An dieser Schauerstelle mußten die
Maurer, als sie die Brücke bauten, an Seilen über dem Abgrunde hängend,
wie Spinnen am Faden arbeiten und große Massen Granitquader mußten
versenkt werden, ehe das eigentliche Aufmauern beginnen konnte. Oberhalb
der Teufelsbrücke, wo auf eine weite Strecke noch Wasserfall sich an Wasser—
fall reiht und der glatte Felsen fast senkrecht gegen den Strom abstürzt, ist
das 70m lange Urnerloch gesprengt, seit Anlage der neuen Straße 5m hoch
und 6m breit. Unmittelbar aus der Dunkelheit des Urnerlochs tritt man
plötzlich in die Sonnenhelle des Urserenthales mit seinen freundlichen
Dörfern und grünenden Matten, deren Umkreis freilich wieder von Schnee—
bergen gebildet wird. Die Straße geht über Andermatt nach Hospen—
thal: dort erreicht sie den Fluß des Gotthardplateaus. Der weitere Weg
zum Hospiz ist einförmig. Die Reuß macht zwar hin und wieder noch
malerische Fälle, aber sie sieht nun mehr einem Bache, als einem gewaltigen
Flusse ähnlich. Bald erreicht man die Paßhöhe. Auch hier keine Fernsicht.
Sie bildet ein etwa eine Stunde langes, kahles, von Norden nach Süden
gestrecktes Felsenplateau, in dessen seltsamen Vertiefungen und Hügelungen
zahlreiche Wasser ihre Rinnsale, an zwanzig kleine Seen ihre Betten haben.
Sellat und Scura-See heißen die beiden, an denen die nur als Lager—
und Wirtshaus benutzte Dogäna oder Sust, das ehemalige Zollhaus,
123. Aus Venedig 175
sowie das Hospiz liegt. Daneben ein achteckiges Steingebäude, gleichzeitig
Lawinenbrecher und Stall für fünfzig Pferde. Sonst hielten im Hospiz
zwei Kapuziner haus; der Pächter ist jetzt ein tessinischer Bauer. Die
Gegend um das Hospiz ist traurig und öde. Kein Gewächs säumt die
Ufer der Gotthardseen, kein Nachen, kein Fisch, selten ein Frosch oder eine
Kröte belebt ihre traurigen, kaum zwei Monate eisfreien Wasser in dieser
Höhe von 1987m. Nur kine schmale Leiste von Urgetrümmer trennt sie von
einander; von allen Bergabhängen fließt und sickert ihre Nahrung herab.
Der Abfluß des einen geht zur Reuß; der andere gießt sich in raschem
Schwalle aus, worauf das Wasser sofort in die Tr emsölaschlucht,
eine Felsenspalte von höchster Wildheit, und in hundert Katarakten nach
Aurosa Nsom hinunter fällt. Das ist der Tessin. So mag es geschehen,
wenn e ocho irgswetter beide Kessel bis auf ihren Grund aufwühlen,
daß de Seen iun einander brodeln und Mittelmeer und Nordsee zugleich
speisen. Das enge Valdi Tremöla geht es abwärts. Nach zahlreichen
Windungen öffnet sich nach Osten das prächtige Thal von Arrdlo, deutsch
Eriels, vom Tessin durchflossen. Von Nordosten her mündet hier das
Canartathal. Dort beginnt der Engpaß von Stalvédro; die Straße
führt durch vier gegen 100 Schritt lange Galerien, die dicht auf einander folgen.
Hinter Dazio grande beginnt eine zweite den Schöllenen zu ver—
gleichende Felsenschlucht, wo der Tessin in einem Durchbruche des Platifer
in prächtigen Wasserstürzen herabfällt. Weiterhin im Livinen- oder Le—
vantinerthale folgt Faido, deutsch Pfaid, in herrlicher Landschaft,
und endlich das wunderschön unter drei mit Kastellen besetzten Bergen
gelegene Bellinzona, deutsch Bellenz, von wo aus der Tessin sich
westlich zum Lago Maggiore) wendet.
Die im Bau begriffene St. Gotthardsbahn von Zug und Luzern
über Bellinzona nach Locärno und Chiassa?) wird die großartigste der
Eisenstraßen über die Alpen werden, gleichwie der Tunnel, den dieselbe
zwischen Göschenen und Atrölo erhält, mit seiner Länge von 2 Meilen
die bedeutendste Durchbohrung von Bergen sein wird.
Mach Daniel und Berlepsch.)
123. Aus Venedig.
Venedig, 29. Sept. (1786), Michaelistag, abends.
Dieses Geschlecht hat sieh nieht zum Spals auf diese Inseln geflũchtet,
es war keine Willkür, velehe die folgenden trieb, sieh mit ihnen zu ver
einigen; die Not lehrte sie ihre Sicherheit in der unvorteilhaftesten. Lage
suchen, die ihnen nachher so vorteilhaft ward und sie klug machte, als
poch die ganze nördliche Welt im Düstern gefangen lag; ihre Vermehrung,
ihr Reiehtum war notwendige Folge. Nun drängten sich die Wolnungen
empor und empor; Sand und Sumpf wurden dureh Felsen ersetzt; die
) spr. maddschöre. ) kiassa.
176 123. Aus Venedig.
Hauser suehten die Luft, vie Baume, die geschlossen stehen; sie mussten
an Höhe zu gewinnen suchen, was ihnen an Breite abging. Auf jede
Spanne des Bodens geizig und gleich anfangs in enge Räume gedrängt,
liesssen sie zu Gassen nicht mehr Breite, als nötig war, eine Hausreihe
von der gegenüberstebenden zu trennen und dem Bürger notwendige
Durcehgange zu erhalten. Übrigens war ihnen das Wasser, sstatt Stralse,
Platz und Spaziergang. Der Venetianer musste eine neue Art von Ge—
sehöpf werden, wie man denn auech Venedig nur mit sich selbst ver—
gleichen kann. Der grosse, schlangenförmig gewundene Kanal gleicht
keiner Strasse in der Welt; dem Raum vor dem Markusplatze kann wohbl
niehts an die Seite gesetzt werden.
Nach Tische eilte ieb, mir erst einen Eindruck des Ganzen zu ver—
sgiehern, und warf mieh ohne Begleiter, nur die Himmelsgegenden merkend,
ins Labyrinth der sStadt, welche, obgleieh durehaus von Kanalen und
RKanalehen durehschnitten, dureh Brucken und Brüekehen wieder zusammen-
hangt. Gewöhnlien kann man die Breite der Gasse mit ausgestreckten
Armen entweder ganz oder beinahe messen, in den engsten stölst man
schon den Ellbogen an, venn man die Hände in die Seite stemmt; es
gibt wohl breitere, auch hie und da ein Plätzehen, verhältnismässig aber
kann alles enge genannt werden.
Ieh fand leieht den grosssen Kanal und die Hauptbrücke Rialto; sie
besteht aus einem einzigen Bogen von weilsem Marmor. Von oben her—
unter ist eine grosse Ansicht, der Kanal gesäet voll Schiffe, die alles
Bedũrfnis vom festen Lande herbeiführen und hauptsächlich anlegen und
ausladen; dazwischen vimmelt es von Gondeln. Besonders heute, als am
Michaelisfeste, gab es einen Anblick, vunderschön lebendig.
Nachdem ich mũde geworden, setzte ich mich in eine Gondel, die
engen Gassen verlassend, und fuhr, mir das entgegengesetzte Schauspiel
zu bereiten, den nördlichen Teil des grolsen Kanals dureb, um die Insel
der heiligen Klara, in die Lagunen, den Kanal der Giudecca) berein
bis gegen den Markusplatz, und war nun auf einmal NMitherr des adria⸗
tischen Meeres, wie jeder Venetianer sich fühlt, wenn er sich in seine
Gondel legt. Alles, was mich umgibt, ist würdig, ein grosses respektables
Werk versammelter Menschenkraft, ein herrliches Monument, nicht eines
Gebieters, sondern eines Voltkes. Und wenn auch ihre Lagunen sich
nach und nach ausfüllen, böse Dünste über dem Sumpfe schweben, ihr
Handel geschwacht, ihre Macht gesunken ist, so wird die ganze Anlage
der Republik und ihr Wesen nieht einen Augenblick dem Beobachter
weniger ehrwürdig sein. Sie unterliegt der Zeit, wie alles, was ein er—
scheinendes Dasein hat.
Giudecca sspr. dsehudekka), Gruppe von sechs kleinen Inseln vor
Venecdig.
124. Paris 177
Deu 7. Oktober 1786.
Auf heute Abend hatte ich mir den famosen Gesang der Schiffer
bestellt, die den Tasso und Ariost) auf ihre eigenen Melodien singen.
Dieses muss virklich bestellt werden; es kommt nicht gewöhnlich vor, es
gehört vielmehr zu den halbverklungenen Sagen der Vorzeit. Bei Monden-
schein bestieg ich eine Gondel, den einen Sänger vorn, den andern hinten;
sie singen ihr Lied an und sangen abvechselnd Vers für Vers.
Mit einer durchdringenden Stimme — das Volk schätzt Stärke vor
allem — sitzt ein Schiffer am Ufer einer Insel, eines Kanals, auf einer
Barke und lässt sein Lied érschallen, so weit er kann. Uber den stillen
Spiegel verbreitet sich's. In der Ferne vernimmt es ein anderer, der
die Melodie kennt, die Worte verstebt und mit dem folgenden Verse
antwortet; hierauf exwidert der erste, und so ist einer immer das Eebo
eines andern. Der Gesang währt Nächte dureh, unterhält sie, ohne 2zu
ermüden. Je ferner Sie also von einander sind, desto reizender äann
das Lied verden; wenn der Hörer alsdann zwischen beiden steht, so ist
er am rechten Hlecke. Um dieses mieh vernehmen zu lassen, stiegen
sie am Ufer der Giudecca aus; sie teilten sieb im RKanal hin; ich ging
en ihnen auf und ab, so dass ich immer den verliess, der zu singen
antfangen sollte, und mieh demjenigen vieder näherte, der aufgehört hatte.
vard mir der Sinn des Gesangs erst aufgeschlossen. Als Stimme aus
Acr Herne Klingt es höchst sonderbar, wie eine Klage ohne Drauer; es
ist darin etwas Unglaubliches, bis zu Thränen Rührendes. Mein Sschiffer
e Ansehte, dass ich die Weiber vom Lido?) hören möchte; auch diese
sungen ahnliche Melodien. Er sagte ferner: Sie haben die Gewohnbeit,
wenn ihre Manner aufs Fischen ins Meer sind, sieh ans Ufer zu setzen
und mit durehdringender Stimme abends diese Gesänge erschallen zu
lassen, bis sie auch von ferne die Stimme der Ihrigen vernehmen und
sich so mit ihnen unterhalten. Ist das nicht sehr sehön?!
J. W. v. Goethe.)
124. Varis.
Paris mit seinen nächsten Umgebungen bildet einen Kreis, dessen Peri—
pherie jene liebliche Hügelreihe ist, wo der Hof seine Sommerresidenzen
in St. Cloud?) Versailles), Meudon), Malmaison?) wählte,
und wo die Geschichte des Hofes ungleich mehr ihren Schauplatz hatte, als
in Paris. Der Durchmesser des Kreises ist der Fluß, auf dessen Inseln
der erste Grund zu der heutigen Weltstadt durch Fischer und Schiffer gelegt
ward, wie dies noch das dreimastige Schiff im Stadtwappen von VParis
).Tasso ( 1595) und Ariost ( 1533) zwei der bedeutendsten italieni-
schen Dichter.
2) Lido, eine langgetreckte Insel vor den venetianisehen Lagunen
) spr. säns klu. ) wärßa'j. ) mödonz 9) malmäson
Marschall, Lesebuch für gewerbl. Fortbildunasschulen Kl. Auss
12
178 124 Paris
bekundet. Die Stadt selbst besteht wieder aus drei concentrischen Kreisen.
Der erste und weiteste derselben schließt die zahlreichen Vorstädte ein, welche
zwischen der Festungsmauer und den Barrièren) liegen. Der zweite Kreis
wird von den äußeren und inneren Boulevards?) umschlossen und enthält
die vierzehn älteren Vorstädte. Der dritte und kleinste Kreis enthält die
eigentliche Stadt im Norden der Seine?), die Altstadt auf der Insel
Notre Dame?) und die Université oder das sogenannte lateinische Viertel
im Süden der Seine.
Diese Benennungen der Südseite führen uns auf den innern Unterschied
der Hauptteile der Stadt. Auf der Südseite des Flusses haben sich von
jeher alle großen Lehranstalten zusammengedrängt: hier werden in der
Sorbonne, welche auch l'université) im engeren Sinne heißt, noch jetzt
Vorlesungen über Theologie, Philosophie und Literatur gehalten; hier sind
die Schulen des Rechts, der Medezin, der Pharmazie, des Bergbaues; hier
die polytechnische Schule, hier die Sternwarte, hier die Kriegsschule und die
Kunstschule mit ihren wahrhaft königlichen Palästen. Hier sind alle Gym—
nasien. Hier werden Blinde und Taubstumme, so weit dies möglich ist, zu
nützlichen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft ausgebildet.
Ferner gibt es hier die vielfachste Gelegenheit zu praktischer Ausübung
der Wissenschast in den eben so zahlreichen als großartigen Hospitälern,
unter denen das der Salpétrière?) auf einem Flächenraume von 110000
Quadratmetern fast eine eigene Stadt bildet mit Gassen, Plätzen, Spazier—
gängen, einer Kirche und einer Bevölkerung von 6000 bis 7000 Seelen.
In dessen unmittelbarer Nähe liegt der botanische Garten, jardin des plantes),
der ungleich mehr darbietet, als sein einfacher Name erwarten läßt; denn
er vereinigt alle Sammlungen, welche zum Studium der verschiedensten
Zweige der Naturwissenschaften dienen, und hier werden die meisten Vor—
lesungen über Zoologie, Botanik, Mineralogie, Chemie, Physik, Physiologie,
Geologie, zum Teil durch Männer von europäischem Rufe, öffentlich gehalten,
während die ungelehrten Freunde der Natur, die Pariser Bonnen mit ihren
Pfleglingen, die Rekruten und Handwerksburschen sich an der reichen Me—
nagerie ergötzen und vorzugsweise das Affenhaus und die Bärengruben
umlagern.
Hier finden sich auch die Paläste der französischen Kammern. Der
Senat verhandelt in der Regel im Palast Luxemburg, der von einem herr—
lichen Garten umgeben wird, die Deputiertenkammer im Palast Bourbon.
Nicht weit von diesem nach Westen ragt die Kuppel des Doms vom Juvaliden—
Hôtel über die Wipfel der Bäume hervor. Das Pantheon auf dem höchsten
) ⸗ Schranken; in Paris die Zollgrenze für Abgaben auf eingeführte Lebens—
mittel. ) Boulevards (spr. bulwar) — Bollwerke, die nun in Straßen und Anlagen
umgewandelten alten Festungswerke. ) spr. ßän. 9 spr. not'r dam — Unsere Frau.
) spr. l'üniversitè ) —⸗ Salpeterhütte. 9) spr. schardäns dä plant — Pflanzen⸗
garten, botanischer Garten
124. Paris. 179
Punkte der Südseite greift in die ältere Geschichte von Paris zurück; denn
es war die Kirche der heiligen Genofeva, der Schutzheiligen der Stadt Paris,
die man nicht mit der bei uns bekannten Pfalzgräfin verwechseln muß. Sie
soll nun die Grabmäler der verdientesten Männer der Nation in sich auf—
nehmen. Sie ist mit prachtvollen Fresken ausgeschmückt und gewährt von
ihrem Turm den schönsten überblick über die Stadt. Die Altstadt, in der
Mitte der beiden Hauptteile, bildet den Übergang von der Südseite zu der
Nordseite, indem sie einerseits die Kathedrale Notre Dame sowie in dem
Hoͤtel Dieu das älteste Spital von Paris, vielleicht von ganz Europa,
enthält, anderseits den Justizpalast, wo das Revolutionstribunal seine
schrecklichen Sitzungen hielt, mit der berüchtigten Conciergerie), wo nicht
nur die Königin Marie Antoinette, sondern auch Robespierre seine letzten
Stunden verlebten.
Treten wir über den mit der Reiterstatue Heinrichs IV. geschmückten
Pont-neufꝰ) auf die Nordseite, so befinden wir uns mitten in der geschicht—
lichen Region der Stadt. Auf dem Gröveplatz nämlich, von welchem
während der Schreckensherrschaft das Blut, das hier die Guillotine?) vergoß,
buchstäblich stromweis in die Seine floß, steht das Stadthaus, d. h. das
Zentrum des Pariser Bürgertums. Das bewegteste Leben aber entfaltet
sich auf den Boulevards, wo Restaurationen, Cafés, Theater, Magazine,
ambulante Krämer das genußsüchtige Publikum fesseln. Die Boulevards
teilen sich in die für die vornehme und in die für die arbeitende Bevölkerungs—
klasse Auf den ersteren stolzieren von morgens zehn Uhr bis Mitternacht
die Pentiers und Börsenspekulanten, die Literaten und Künstler, die Stutzer
und Fremden umher; die letzteren sind am Tage ziemlich menschenleer;
aben dagegen füllen sie sich mit ungeheuren Massen von Kleinbürgern
und usenmännern, die sich hier ergehen und die Kassen der hier gelegenen
Volksheater umdrängen. Auf dem Bastille-Platz begann am 13. Juli 1789
mit rstörung der Zwingfeste, die hier stand, die Revolution ihre Gewalt—
thaten; jetzt steht hier die Julisäule mit den Namen der sechshundert Bürger,
welche 1830 für die gesetzliche Freiheit des Volkes fielen. Auf dem Concorde—
Platz fiel das Haupt Ludwig XVI., und an eben diesem Orte steht jetzt der
Obelisk von Luxor mit seinen vergoldeten Hiöroglyphen. Auf jeder Seite
desselben sprudelt eine Kaskade in mehreren Absätzen den Silberstrom in
ein Becken, aus welchen kräftige Nympyen) und Tritone) hervorragen.
Paris ändert sich übrigens unaufhörlich. Jeder Abschnitt der Geschichte
Frankreichs vertilgt und schafft in ihm Gebäude, Straßen, Brücken, Monu—
mente; jeder ändert die Namen derselben; jeder läßt Gärten, Häuser wie mit
einem Zauberschlage aus dem Nichts in das blendendste Licht der Gegen—
wart treten, während andere in das Dunkel des Vergessens sinken; jeder
) spr konssjärschiri. — das Kriminalgefängniß von Paris. 2) —ü neue Brücke
) spr. gijotin, — Fallbeil, benannt nach dem Erfinder, dem Arzte Guillotin (spr gijotäns.
—ñ Wassergöttinnen. ) — Meeragötter.
12*
180 125. Die Spitzen und die Spitzenklöpplerinnen in Belgien.
erzeugt einen besonderen Typus der Bauart, der in dem Architektur-Gebirge
der Stadt gleichsam seine Schicht absetzt.
Dieser Beweglichkeit wegen läßt sich von der chamäleonartigen Stadt
immer nur ein zeitweise wahres Bild geben.
Gütz, Charakteristiken zur vergleich. Erd- u. Völkerk nach Karl Rosenkranz).
125. Die Spitzen und die Spitzenklöpplerinnen in Belgien.
Die feuchte Atmosphäre der Niederlande scheint der Entwicklung
eines feinen elastischen Fadens in der Flachsstaude besonders günstig zu
sein. Die Niederländer führen freilich noch Flachs aus dem Luslande
ein; allein der feinste für ihre Spitzen wird bei ihnen selbst gezogen.
Und vor allen Dingen müssen sie ihn selber spinnen.
er die Finger der belgischen Männer und Frauen haben das
Gesc t zur Herstellung jenes spinnenwebfeinen Spitzenmaterials. Die
allerfonete Gattung desselben wird in Brüssel in feuchten Kellergewölben
hergest . Der Paden ist so zart, dass er in der trockenen Luft über
dem Nagen brechen würde. Die feuchte Kelleratmosphäre hält ihn aber
bestäp id biegsam und geschmeidig. Durch sorgfältiges Hecheln und
Bürsten, durch wiederholte Teilung und Spaltung der zarten Plachs-
fasern und endlieh durch die genaueste Auswahl und Ausspinnung dieser
Hasern geben die belgischen Flachsspinner dem Flachsgarne einen Wert
von mehreren tausend Franks pro Pfund. Die gewöhnlichen Preis-
courante der brabantischen Spinner führen eine Reibe von verschiedenen
Syienzwirnsorten von 60 bis 1800 Franks pro Pfund auf. NMan hat
aber in einzelnen Fallen, vie man mir in Brüssel sagte, schon bis
10000 Franks für das Pfund solchen Garns bezabhlt. Dies ist ein Preis,
den die bestgesponnene Seide nie erreicht.
e vieles bei der Spitzenfabrikation nicht nur yon der Geschiek-
keit or Bevölkerung, sondern auch vermutlieb vom Klima abhängt, zeigt
sĩi bon in Belgien selbst, wo gewisse Spitzenprodukte mit grolser
aut an einer und derselben Ortlichkeit haften. So hat man sieh
viol Mũhe gegeben, die Brüsseler Spitzen, die bekanntlich an Güte
be * allen belgischen Spitzen stehen, aueh in andern belgischen
dtasen vacbzuahmen. Alle oft wiederholten Versuche dazu sind aber
vollstäng gescheitert. Nur in Brüssel selbst und in einem kleinen
Umbreise der Nachbarschaft können die echten Brüsseler Spitzen er—
zielt werden.
Die Spitzenfabrikation ist in allen Städten der niederdeutschen oder
flämischen Hälfte Belgiens verbreitet. In der wallonischen Hälfte ist
sie nicht hbeimisch, nur dorthin verpflanzt. svie geht aueh so weit
nach Prankreieh hinein, wie der flandrische Volksstamm. Es ist eine
wesentlich flandrisehe, also eine germanische Industrie, wie denn üher—
haupt der Flachs und die Leinwand mit allem, was damit zusammen-
hãangt, weseutlich derjenigen Nation anzugehören scheinen, die s0 viele
125. Die Spitzen und die Spitzenklöpplerinnen in Belgien. 181
fleissige Handweber und dabei so viele Spinnstuben besitzt, nämlich der
deutschen. Als Familien- und Hausindustrie heimisch ist die Spitzen-
klõppelei nur bei den Völkern deutschen Stammes, bei den Flämingen,
bei den Bewohnern des Erzgebirges, bei den Deutschen in Schleswig und
bei den Angeln der Insel Wight').
Die Feiospinnerei für die Spitzenproduktion erfordert menschliche
Überlegung und Einsient in so hohem Grade, dass es glücklicherweise
fast unmöglich ist, diese Industrie zu einer Maschinenarbeit zu machen.
Um dies zu begreifen, muss man nur einmal einer Brabanter Pein—
spinneèrin bei ihrer Arbeit zuschauen. die prüft alle Faäden, die sie aus
ihrem Wocken hervorzupft. Sie hat als Hintergrund ihres Flachses ein
dunkelblaues Papier, auf dem jeder hervorgezupfte Faden deutlieh absticht;
sie beobachtet und untersueht ihn beständig. Wo sie die geringste
Unebenheit entdeckt, da halt sie an und bricht diese feblerhafte Stelle aus,
bevor sie fortfahrt. Eine Maschine könnte dies alles nie verriehten. Bei
der Baumwolle, Seide und Wolle, vo die Urfäden immer gleich diek sind,
ist dies anders.
bitzenklöppelei ist eine Industrie, vwelehle weder dureh REin—
sperr die Freiheit des Mensehen beschränkt, noeh aueh die Bande der
Familo zerreisst. Sie lasst den Menschen vielmehr die grölste Freiheit.
Die leicht transportierbaren Spinnräder und RKlöppelkissen gestatten es,
dass man die Arbeit im Zimmer, oder im Garten, oder auf der Strasse
betreibe; dass man sieh damit allein in seinen Schlupfwinkel begebe, oder
dass man sieh gesellig wit den Schwestern oder Nachbarinnen zusammen-
setze. Da die Spitzenklöppelei és mit einem kostbaren Stoffe, der feinen
Flachfaser, thun hat, so erfordert sie viel hausbälterisehe Ordnung
und parsaml t und impft dem Volke diese Eigenschaften, sowie aueh
dẽe RLeinlichkeit ein. Weil Vingerfertigkeit, Auge und Urteil sehr dabei
in Aeyrueh —nommweon werden, so wecekt und pflegt sie im Volle Kunst-
fertigkeit. vehmeet und überhaupt geistige Regsamkeit und stumpft
die Sinne nicht F manche andere einförmige Beschaftigung. Da
es eine gerauschlose Arbeit ist das vehnurrende Spinnrad und die
kleinen, stets zusammenschlagenden vpelbölzer machen keinen unbe—
scheideneren Lurm als ein murmelndes Bächlein —, so erlaubt sie und
beföõrdert sogar vertrauliche Unterhaltupg und geselligen Gesang.
Gevwõhnlieh findet sich in den belgischen sStädten ein Quartier, in
welehem die Spitzenindustrie hauptsächlieh ihren Sit— aufgeschlagen hat,
und da gewähren denn bei gutöm Wetter die Stralsen und öftentlchen
Platae geradezu einen reizenden Anblick von Fleils und stiller Geschaftigkeit.
In der Regel ist irgend eine breite Gasse der Hauptschauplatz dieser
Thatigkeit. Dies ist naturlich. denn da gibt es mehr Luft und Lieht
spr u-eit.
182 126. Großbritanniens Weltmacht als Handels- und Fabrikstaat.
und mehr Geselligßeit. Und dorthin kommen die Klöpplerinnen dann
gern aus den engen Nachbargässchen mit ihren Stühlen und Rissen.
Welchen wohblthuenden Gegensatz bieten diese Stralsen mit den
lärmenden Sälen unserer Wollen- und Baumwollenfabriken, wo alles nach
Alter und Geschlecht gesondert ist, vie in den Regimentern der Soldaten;
wo die Familienbande zerrissen sind, wo nach den Launen des Vabrik-
herrn oder des Zufalls die Arbeiterin eine ihr ganz fremde Nachbarin
und Genossin erhält; wo Gespräch und Gesang im Lärmen der Maschinen
verstummen und aueh am Ende die Gedanken verdummen.
. G. Konl, Reisen in den Niederlanden.)
126. Großbritanniens Wellmacht als Handels- und FJabrikstaat.
„Herrsche, Britannia, beherrsche das Meer, ja, das Meer sei dein!“ —
so singt der Brite mit Stolz in jeder Strophe seiner Nationalhymne.
Und er hat ein Recht, stolz zu sein auf sein Vaterland; denn zum ersten
und mächtigsten Reiche der Erde hat sich dieses aufgeschwungen. Von einem
kleinen Gebiete aus beherrscht es unermeßliche Länder; seine Flagge weht
auf allen Meeren; die Erzeugnisse seines Gewerbfleißes sind über die ganze
Erde verbreitet.
Während in der Regel die Inseln in politischer Abhängigkeit von den
benachbarten Kontinenten stehen, hat sich Großbritannien seit dem Unter—
gange des Römerreiches in Unabhängigkeit von dem Kontinente erhalten.
Keine Nation hat je den Ozean sich in gleicher Weise dienstbar gemacht,
keine mit solchem Scharfblicke scheinbar unbedeutende Punkte im und am
Meere für politische und Handelszwecke zu benutzen verstanden, keine so
viele und so erfolgreiche Seefahrten ausgeführt, als die britische. Die
Folge davon war, daß Großbritannien zuletzt alle andern Staaten in Ver—
mittlung ünd Beherrschung des Weltverkehrs überflügelte.
Der Scepter Englands herrscht in allen fünf Erdteilen über ein Ge—
samtgebiet von mehr als 200000 Quadratmeilen mit einer Bevölkerung
von nahezu 175 Millionen. Nur von zwei Staaten, von Rußland und
China, wird es an Größe und nur von einem, von China, an Bewohner—
zahl übertroffen; aber an Macht ist es beiden so überlegen, daß kein Ver—
gleich zulässig ist, weder mit dem in viertausendjährigem Schlafe erstarrten
„himmlischen Reiche“ des Ostens, noch mit dem nordischen „Kolosse auf
thönernen Füßen“. Nur eine Macht gibt es, auf welche Britannien mit
Eifersucht und Besorgnis blicken mag: der zu gewaltiger Riesenkraft auf—
strebende nordamerikanische Bundesstaat, entstanden aus englischen, vor
hundert Jahren vom Mutterlande abgelösten Kolonien. Noch aber ist Groß—
britannien die erste Macht der Welt! Sein Arm umspannt das ganze
Erdenrund. Es gibt keinen Hafen, keine Bucht des Ozeans, wo nicht die
englische Flagge wehte; kein Land, wo nicht Englands Boten und Geschäfts—
träger thätig wären. Der britische Unternehmungsgeist schreckt vor keinem
126. Großbritanniens Weltmacht als Handels- und Fabrikstaat. 183
Aufwande an Kapital, vor keiner Entfernung des Ortes, vor keiner Mühe
und Gefahr, vor keinem Hemmnis zurück. Die Großartigkeit des Handels
und der Schiffahrt Englands übertrifft alles, was die seefahrenden Völker
der Vergangenheit und Gegenwart hierin geleistet.
inniastem Zusammenhange mit dieser ozeanischen Macht Bri—
tanr en industrielle Größe. Beide sind aufs engste ver—
schwi bedinacn, fördern, beleben sich gegenseitig. Der Fabrikant beschäftigt
den Schufer und Kaufherrn. Diese bringen nicht nur die Rohprodukte aus
den fernisten (egenden nach Englands zahlreichen und riesigen Fabrikstädten,
sondern verführen und verschleißen auch die massenhaften Gewerbs—
erzeugnisse nach allen bekannten Orten der Erde. England ist auch der
erste Fabrikstaat der Welt; doch ist seine industrielle Größe jüngeren Datums.
Erst nachdem seine Meeresherrschaft kaum mehr bestritten wurde, in der
zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, begann seine Gewerbthätigkeit sich
zur Dluüte zu entfalten. Dazu trugen zwei Umstände vorzugsweise bei: die
Anwendung r Steinkohlen und die Erfindung der Dampfmaschinen. Un—
geheuer e Ausbeute an Steinkohlen in England; sie berechnet sich auf
1300 ulior n entner per Jahr. Diese Masse ist so fabelhaft groß, daß
man 17 vermögen auf einem Umwege zu Hilfe kommen muß.
Wär näm ichzeitig auf eine Reihe Wagen verteilt, so würde diese
meh· um den Erdäquator, reichen! Und von dieser Ausbeute wird nur
i. ausgeführt, das übrige im Lande selbst verwendet. Schon aus diesem
Verbrauch läßt sich ein Schluß auf die Zahl der thätigen Dampfmaschinen
ziehen. Am großartigsten zeigten sich die Erfolge in Anwendung von Ma—
schinen in der Baumwollen-Industrie. Im Jahre 1771 verarbeitete
man in England 30000 Itr. Baumwolle, im Jahre 1861 war der Verbrauch
schon über 19 Mill. Ztr. gestiegen, und in den letzten Jahren betrug
die Einfuhr an Rohbaumwolle über 1292 Mill. Ztr. Neben die Baum—
wollenindustrie stellt sich würdig die Verarbeitung der Wolle, sodann von
2—inen und Seide. Die Metall-Industrie wird durch den Reichtum
des Landes an Erzen im Zusammenfluß mit der Steinkohlenausbeute un—
gemein begünstigt. Großartig sind die Geschäfte, welche die Bereitung von
Lebensmitteln, namentlich von Getränken, zum Zwecke haben, und unter
diesen ragen die Bierbrauereien besonders hervor. In eine Londoner
Brauerei gebracht, würde das berühmte Heidelberger Faß als Zwerg er—
scheinen gegenüber den Riesen, welche nicht zu müßigem Anschauen, sondern
zu täglichem Gebrauche hingestellt sind. Zerspringt einmal so ein Faß—
ungeheuer, so wird die ganze Nächbarschaft überschwemmt, und schon öfter
sind bei solchen Anlässen Menschen in den Kellerwohnungen im Gerstensaft
ertrunken. Es gibt kaum einen Zweig europäischer Industrie, der nicht in
England auf ausgezeichnete Weise vertreten wäre, und die Bezeichnung
„englisch“ gilt überall als eine Empfehlung für die verschiedensten Fabrikate.
Vom Herausgeber.)
184 127. Zwei englische Fabrikstädte.
127. Zwei englische Jabrikstädte.
Manchester
Nach London ist in ganz Großbritannien keine Stadt, die auf
den Fremden einen tieferen Eindruck macht, als Manchester. Nie, so
lange der Strom der Weltgeschichte fließt, gab es auf der Erde einen
Ort, der Manchester ähnlich war in der äußeren Erscheinung, in der
merkwürdigen Thätigkeit, in der Warenfülle und in der Masse wunder—
samer, nutzbarer Erfindungen. Dieses Manchester, welches so viele
Wunder der industriellen Thätigkeit in sich schließt, ist selbst das größte
Wunder. Vor 150 Jahren noch ein kleiner, unansehnlicher Ort, hat es
sich jetzt zur ersten Fabrikstadt der Welt aufgeschwungen und zählt
gegen 400000 Einwohner, mit den ringsherum aufgeblühten Fabrik—
städten, 20 an der Zahl, nahezu 1 Million. Den ersten Rang unter
allen Industriezweigen Manchesters, wie Englands überhaupt, nimmt die
Baumwollen-Industrie ein. Noch vor hundert Jahren hatte die
Welt keine Ahnung davon, daß ein so leichter Gegenstand wie die
Baumwolle zu einer solchen Bedeutung erwachsen würde. Das Kapital,
welches durch die Baumwolle jährlich in Umlauf gesetzt wird, berechnet
sich auf 1909 Millionen Mark. Manchester allein verarbeitet täglich
über 15000 „r., und mehr als 1000 Schiffe dienen der Herbei—
schaffung des Rohmaterials aus Indien, China, Ägypten und besonders
aus Amerika. In England sind über 152 Millionen Menschen allein
mit Verarbeitung der Baumwolle beschäftigt, und doch wird die meiste
Arbeit durch kunstvolle Maschinen verrichtet, deren manche 100000Spindeln
hat, also die Arbeit von 100000 Menschen ausführt. Um das Fünf—
fache wird der Wert des Rohprodukts durch seine Verarbeitung in
Kleidungsstoffe vermehrt, und es läßt sich hieraus leicht ermessen, welchen
ungeheueren Gewinn England nur allein aus der Baumwollen-Industrie
zieht. Und dabei sind die Preise der Baumwollenzeuge seit 50 Jahren
auf den vierten Teil herabgemindert worden.
Wodurch aber ist dies möglich geworden? Durch die wichtigen
Erfindungen auf dem Gebiete der Naturwissenschaften und ihre An—
wendung auf die Industrie, durch die Fortschritte auf dem Gebiete der
Mechanik und durch Verbreitung der technischen Bildung. In Manchester
wurde die erste polytechnische Schule gegründet, die ersten Arbeiter—
und Gewerbevereine eingeführt, zuerst Vorträge über Physik und Chemie
in ihrer Anwendung für das praktische Leben eingerichtet, die ersten
Modell- und Mustersammlungen für Technik angelegt, die ersten Sonntags—
9 spr. männtscheßt'r
127. Zwei englische Fabrikstädte. 185
schulen organisiert, und von einer Stadt, die zum großen Fabrikbezirke
Manchesters gehört, von Rochedale) gingen die Arbeiter-Associationen?)
zur Selbsthilfe aus, die auch in Deutschland, namentlich durch die
Bemühungen von Schulze-Delitzsch, schon weit verbreitet sind.
Ebenso großartig als die Spinnereien und Webereien sind die
Färbereien und Kattundruckereien.
Neben die Baumwollen-Industrie stellt sich die Seiden-Industrie,
die über 4000 Stühle beschäftigt. Auch die Maschinenfabriken
sind großartig. Man fertigt Dampfmaschinen von 400 Pferdekraft und
die feinsten Maschinen für Verarbeitung der Baumwolle. Über 6090000
Zentner Eisen werden jährlich in diesen Werkstätten verbraucht.
Nirgends ist auch die Teilung der Arbeit weiter gediehen als in
den Fabriken von Manchester, und im Zusammenwirken all jener mächtigen
Hebel der Produktion, wie sie dieser Stadt zu Gebote stehen, verbunden
mit der Leichtigkeit des Transports auf Kanälen und Eisenbahnen nach
allen Häfen des Landes, insbesondere nach Liverpool?), dem eigentlichen
Hafen Manchesters, liegt die Möglichkeit für die Fabrikanten dieses
Distrikts, auf allen Märkten der Erde, trotz der Zölle, Frachten und
Unkosten mit Vorteil feilzubieten und jede Konkurrenz niederzudrücken.
Doch auch diesem glänzenden Bilde fehlt die Kehrseite nicht. Hinter
den Nalästen und Spiegelfenstern der reichen Fabrikherren wohnt nichts
so sclten, als wahre Tugend, und nur zu häufig begleiten Selbstsucht
und Habgier den Millionär durchs Leben, wie anderseits viele Arbeiter
in Liederlichkeit, Dürftigkeit und Sittenlosigkeit versinken. Selbst fleißige
und brave Arbeiter können in Not kommen, wenn durch Geschäfts—
stockung oder durch sonstige Unfälle Arbeiterentlassungen oder namhafte
Lohnherabsetzungen eintreten. (J. Meyer, Vollsbibliothet.)
2. Birmingham.
In Birmingham erscheinen alle die verschiedenen Kräfte der englischen
Gewerbthätigkeit vereinigt, während in anderen Fabrikstädten immer ein
Gewerbszweig vorherrscht: Manchester spinnt, webt und druckt Baum—
wolle; Nottingham zeichnet sich in der Strumpfweberei aus; Leeds) spinnt
Flachs und webt Tuch; Coventry?) ist berühmt durch seine Bandfabrikation;
Newcastle) gräbt und versendet Steinkohlen. In Birmigham dagegen
sind die Beschäftigungen der Gewerbthätigkeit zahllos. Nichtsdestoweniger
macht sich auch hier der Umstand geltend, daß diese Stadt seit Jahr—
spr. rotschdẽl. ) Vereinigungen. 9) spr. liw'rpul. ) spr. börmingäm
) spr. lids. ) towentri. ) njutaßl.
186 127. Zwei englische Fabrikstädte
hunderten Eisen, Kupfer und Messing schmiedete. Da man überall in
England mehr oder weniger Eisen findet, so ist die Bearbeitung dieses
Metalls überall mehr oder weniger verbreitet und nach gewissen Haupt
zweigen verteilt. Für die schweren und groben Eisenwaren, z. B.
eiserne Schiffe, eiserne Brücken, große eiserne Ankerketten für Seeschiffe
hat man die ausgedehntesten Eisengießereien in Südwales), als dem
eisenreichsten Strich in England. Lancashire?) und namentlich Manchester
ist die Seele des ganzen englischen Maschinenwesens mit allen seinen
Teilen. Lancashirer Instrumente und Werkzeuge sind weit und breit
berühmt. Für die Schmiedewerkzeuge sind die 70000 messerschmiedenden
Einwohner von Sheffield die Hauptleute. Für alle die übrigen kleinen
und großen Dinge, die man aus Eisen, Kupfer, Messing und anderen
Metallen verfertigt, ist endlich Birmingham der vornehmste Ort. „Von
Ambossen widertönend“ nennt ein alter Geograph die Stadt. Allein
diese Ambosse und Hämmer der Alten haben sich auf der einen Seite
in so gewaltige Maschinerien umgewandelt und sind auf der andern
Seite zu so kleinen Ambößchen und Hämmerchen zusammengeschrumpft
und in so viele Feilen und Feilchen, Poliersteine, Schleifsteine, Draht—
ziehereien zerbröckelt, daß jener poetische Ausdruck nicht mehr genug sagt.
Bei dem von den Engländern so außerordentlich weit getriebenen Grundsatz
der Arbeitsteilung gibt es fast keine Art von Nägeln und Stiftchen,
keine Klasse von Schrauben oder Metallknöpfen, die in Birmingham
nicht ihre eigenen Bearbeiter und ihre gesonderten Werkstätten hätte, und
die nicht ein Gewerbe für sich bildete. So unterscheidet man unter den
Knopfmachern die Gold-, Silber-, Metall- und Perlmutter-Knopfmacher,
ferner die Flintenlauf-, Flintenschwanzschrauben- und Flintenschaftmacher,
die Flintengraveure, Flintenpolierer, Flintenschmiede und Flintenfeiler
Daß es besondere Hammermacher gibt, wird jeder erwarten, nicht so,
daß auch die Tintenfaßverfertiger ihre eigene Klasse bilden; ebenso
erwähnen wir noch die Sargnägelmacher, die Ringdrechsler, die Hunde—
halsband⸗Fabrikanten, die Zahnstocherbüchsen-, die Fischangel-, die Steig
bügel⸗, die Hahnsporn-, die Hunde- und Karrenketten-, sowie die Pack—
nadelmacher. Nach diesen Andeutungen wird man begreifen, woher die
Metallwaren von Birmingham diesen außerordentlichen und unübertroffen
hohen Grad von Vollkommenheit und Billigkeit erreicht haben. Wenn
mancher sein ganzes Leben hindurch bloß Sargnägel gemacht hat, so
muß er wohl endlich als vollkommener Sargnägel-Fabrikant ins Grab
steigen. Freilich gibt es auch große Werkanlagen, in denen alle Artikel
J spr. Süd⸗ u⸗ls 2) länkäschir.
127. Zwei englische Fabrikstädte. 187
zu gleicher Zeit gemacht werden; aber dann ist doch die Arbeit unter
den verschiedenen Arbeitern wieder auf dieselbe Weise geteilt.
Die Leute arbeiten hier natürlich für die ganze Welt, und man
bekommt daher auch Artikel zu sehen, die für das wilde Volk im Innern
eines entfernten Erdteils berechnet sind. So sah ich hier wunderlich
gestaltetes Geld, wie es einige Negervölker in Afrika gebrauchen. Ein
Artikel, der in neuester Zeit zu außerordentlicher Verbreitung gelangt
ist, sind die Stahlfedern. Es gibt hier eine Fabrik, welche 250 Arbeiter
in diesem winzigen Artikel beschäftigt und jährlich 40 Tonnen (800 Zentner)
Stahl in Stahlfedern verwandelt. Aus jeder Tonne werden 10000 Gros
oder 1440000 Stahlfedern gemacht. Dieser Fabrikant fertigt also in
jedem Jahre nicht weniger als 57600000 Stahlfedern, wodurch er die
Ausbeute von beinahe 2 Millionen Gänsen überflüssig macht. Von dem
Betrish einer andern Fabrik, einer großen Nagelfabrik, kann man sich
einen Vrgriff machen, wenn man hört, daß wöchentlich im Durchschnitt
42 Tonnen Eisen verarbeitet werden. Wie viele Hammerschläge mochten
sonst nötig sein, um einen Nagel zu schmieden, und hier sieht man
gan;e Säle von Maschinen durch Dampfkraft getrieben, wo jeder Druck
und Ruck einen Nagel aus einer Eisenschiene herausbeißt. Die Nägel
werden vom stärksten Durchmesser bis zu einer Kleinheit verfertigt, daß
60000 auf ein Pfund gehen. Der Lärm in solchem Saale, wenn
alle Maschinen arbeiten ist freilich ungeheuer, und manche Arbeiter
werden taub.
Ein Hauptzweig der Birmingham Manusattur-Thätigkeit ist die
Verfertigung von Feuergewehren, und diese Stadt lieferte sowohl
den Engländern als ihren Feinden mehr Kriegsmaterial und Mord—
gewehre, als alle anderen Fabrikstädte der Welt zusammen, man sagt
von 1804 bis 1815 nicht weniger als 5 Millionen Stück, welche Summe
sonderbarer Weise gerade mit der Summe der durch die Napoleonischen
Kriege umgekommenen Menschen übereinstimmt.
Birmingham hat nahe an 200000 Einwohner. Die Mehrzahl
derselben sind nur Arbeiter und Magazinbesitzer. Die Stadt bedeckt
einen Raum von 9 englischen Quadratmeilen, und ganze weite und
große Teile dieses Raumes sind mit einer ungeheuern Masse von
kleinen, meist ärmlichen und schmutzigen Arbeitshäusern angefüllt, selten
von einem freundlichen Gebäude unterbrochen.
Gausschatz der Länder- und Völkerkunde von Schöppner nach: C. G. Carus, Engaland und
Schottland, J. G. Kobl, Englische Stizzen.)
18 128. Das Eisenbergwerk zu Dannemora.
128. Das Eisenbergwerk zu Dannemora.
In Europa ist das schwedische Eisen das vorzüglichste und gewährt
dem Lande große Vorteile. Überhaupt sind die Bergwerke eine Quelle
des Reichtums für Schweden, der es für die geringe Fruchtbarkeit seines
Bodens entschädigt. Man zählt 586 im ganzen Lande, und die Zahl
der Arbeiter, welche in Schweden mit Gewinnung der Metalle beschäftigt
sind, kann man auf 35000 rechnen.
Die bedeutendsten aller Eisenminen sind die von Dannemora. Danne—
mora, in Dorf, einige Meilen von Upsala entfernt, zählt auf seinem
Gebie siebenzig Eisenminen, von denen zwanzig gegenwärtig benutzt
werden. Das Bergwerk von Dannemora kann mit keinem anderen ver—
glichen werden, und kein anderes, so viele man deren auch gesehen haben
m: bietet einen so malerischen Anblick dar. Hier sieht man keine
fin »n Schachte oder unterirdischen Stollen, sondern eine große Schlucht,
wo 5 Fisen unter freiem Himmel gegraben und in großen Kübeln, die
r durch Pferde in Bewegung gesetzten Maschine hangen, zu Tage
t wird. In einen solchen Kübel setzt man sich, wenn man in
einfahren will, die 130 Meter beträgt, und in welcher die
aar beim Fackelschein zwar deutlich, aber in außerordentlich ver—
leimertem Maßstabe erscheinen. Der Augenblick, wo der Kübel flott
wird, das Rad sich zu drehen beginnt, wo man das Getöse der Maschinen
hört und über dem Abgrunde schwebt, hat etwas wahrhaft Grausenhaftes
Bald sieht man sich von Felsen umgeben, die wild durch- und aufeinander
getürmt sind, und wie von Zauberkraft getragen, schwebt man in diesem
malerischen Chaos abwärts. Zwei oder drei Bergknappen sitzen rittlings,
oder knien auf dem Rande des Kübels, indem sie sich am Seile oder
an den Ketten, in denen er hängt, festhalten und wachen darüber, daß
man auf der Fahrt nicht an vorspringenden Felsen anstößt. Bald
kann man die Menschen näher unterscheiden, die auf dem Boden des
Bergwerks arbeiten, das Geräusch der Hämmer und den klagenden Gesang
der Bergknappen hören. Man fährt ziemlich schnell, gleichmäßig und
ohne Anstoß; das ungeheure Seil, an dem der Kübel hängt, schwingt
sich über den Köpfen, wie ein Band, das im Winde flattert, und wenn
man es mit den Augen verfolgt, so sieht man es immer dünner werden,
und endlich fast ganz verschwinden, so daß es scheint, als schwebe man,
durch nichts getragen, über dieser schauerlichen Tiefe. Endlich berührt
der Kübel den Boden; er wird ausgeleert und ein anderer, mit Erz
gefüllt, an seine Stelle eingehängt, der nun die Fahrt aufwärts macht.
Das Schauspiel, welches sich unten in der Grube dem Auge dar—
stellt, ist eins der außerordentlichsten. Ihre Wände scheinen große,
12
129. Die chinesische Kultur. 189
eiserne Mauern zu sein. Der Boden ist stets mit Eisen belegt. Gegen
Mittag sollte eine Mine gesprengt werden. Ich begab mich mit den
Grubenarbeitern in eine durch Felsen bedeckte Höhle, wo sie sich gegen
die Explosion sicher stellten. Nie habe ich ein großartigeres Getöse ge—
hört. Es war gleichsam ein Organ des Krachens, der sich durch den
Abgrund ergoß und ihn auszufüllen schien. Ich stieg zugleich mitten
in dem Rauche und dem Staube auf, den die Explosion erzeugt hatte,
der in Wolken unter, neben und über mir wogte und durch die malerische
Wirkung der Felsen noch erhöht wurde, zwischenhin ich emporgehoben
ward. Von Zeit zu Zeit war ich ganz in die Dampfwirbel einge—
hüllt; ich sah weder den Himmel noch das Tau, das mich hielt; und
es war, als schwebte ich zwischen dem Himmel und dem Abgrunde.
Endlich kam ich aus dem Dunstkreise heraus, war froh, die Erde zu
betreten, und nach wenigen Minuten flog ich in meinem kleinen Karren
längs eines reizenden Sees mitten durch ein hübsches Eichen- und
Birkengehölz dahin, das von der Sonne erleuchtet wurde.
Mach dem Archiv für Natur u. s. w.)
12). Die chinesische Kultur.
China bietet das Bild einer rein materiellen Kultur, die sieb mit
dem aussern Leben abfindet, so gut es gehen vwill, ohne alles höhere
Streben, somit ohne allen wahren lebendigen Portschritt. Eine Haupt-
ursache der Versumpfung chinesischer ultur liegt in der Abgeschlossen-
heit dieses grossen Reichêès. Ohina ist ein sehr fruchtbares, an Erzeug-
nissen aller Art ungemein reiches Land; aber nie kann sich ein Land
zum eigenen orteil von der übrigen Welt abschliessen. Nicht einem
Volko, und zahle es auch 400 Millionen, ist es gegeben, alles zu erfinden,
alles zu vervollkommnen. RKein Volk hat mehr Erfindungen gemacht, als
die Qhinesen; aber es ist ein Gesetz, dass eine Erfindung durch die Welt
gehen muss, um sieh zu vervollkommnen. Abgeschlossen auf der Land-
seito dureh eine berübmte Mader und dureh Wästeneien, abgeschlossen
auf Meerseite dureh tyrannische Verordnungen, hat China einen
gresae Leil seiner Erfindungen in ihrem ursprünglichen Zustande behalten,
ja wanche wieder eingebülst. Der Kompass, den uns die Araber im
ittelalter aus China zufũhrten, mag hier sechon 1700 Jahrè vor Christus
boekannt gewesen sein; Schiesspulver und andere brennbare Züsammen-
zefzungen zu glänzendem Feuerwerk hatten in China sehon längst An-
wendung gefunden, bevor das Schiesspulver in Europa auf das Kulturleben
umgestaltend einwirkte; aber die chinesischen Feuergewehre sind Kinder—
spielzeuge geblieben, die vor europäischer Artillerie aus einander stieben.
Die Qhinesen haben sich von jeher auf das Schneiden und Polieren von
Steinen und Metallen verstanden; aber zu grossen Maschinen, wie sie
190 130. Bei den Söhnen der Sonne.
das europaische Fabrikwesen kennt, haben sie es nicht gebracht. Ihre
mechanischen NMittel beschränken sich auf den Hebel, die Rolle, den Well-
baum und auf das einfache gezahnte Rad. In der Optik haben sie nie—
mals die Konstruktion eines Fernglases oder Teleskopes begreifen können.
Ihre Mathematik umfasst blols das Rechnen und die ersten Elemente
der Messkunst.
Die Bereitung des Porzellans aber erreichte bei den Ohinesen einen
so hohen Grad von Vollkommenbeit, dass man in Europa die grölste
Mühbe hatte, sie nur einigermalssen nachzuahmen. die hatten da längst
die ilung der Arbeit, wie vir sie jetzt in unsern Fabriken anwenden.
Do gestehen sie, dass heutzutage ihre Arbeiter nicht mehr so vorzüg-
LVorzellanvaren liefern, als es vor mehreren Jahrhunderten der
war. Es ist bewunderungswert, was der Chinese mit geringen Nitteln
zu οn versteht. Aus dem Bambus verfertigt er tausenderlei Sachen,
soren feines Papier; das chinesische Baumwollenzeug, der Nanking
ist r ganzen Welt berühmt; der geblümte Atlas, auf einem einfachen
Webstuhle bereitet, ist noch heute musterhbaft. Aber die europäische
Kultur wird sie bald hierin überflügelt haben, und auch das Geheimnis
ihrer Tusche und trefflichen Farben ibnen ablauschen.
Die Chinesen sind der Bilder- und Symbolschrift treu geblieben, mit
welcher alle Völker begonnen haben, vweil ein Bild für den bezeichneten
Gegenstand das Einfachste schien, so lange man noch wenig zu bezeichnen
hatte. Aber sobald ein Volk sieh aus dem Zustand der Robeit heraus
gearbeitet hat, muss es zu den Lautzeichen übergehen und ein Alphabet
haben, das mit einer geringen Anzahl von Zeichen alle möglichen Sprach—
laute darstellt. Die Chinesen haben das Uberlieferte zäh festgehalten
und nichts weiter gethan, als dass sie neue Zeichen erfanden für die
neuen Begriffe die ihnen zuströmten, womit ihr Vorrat von Schriftzeichen
so anwuchs, dass das Erlernen und Behalten derselben immer schwieriger
wurde.
Der Chinese ist verstandig, aber es fehblt ihm das energisché Tem-—
perament; er ist nicht so weich wie sein Nachbar, der Hindu, aber doch
viel zu weich, kräftigeren Stammen Asiens gegenüber. Darum wurde das
Reich der Mitte mehreremale von einer handvoll Tartaren erobert; darum
ertrügt es die Tyrannei; darum bat es sich dureh argwöhnische und
gebieterische Llerren von andern Nationen abschliessen lassen, obwohl
die Chinesen ein echtes Handelsvolk sind. lganin Nin Iiteralur Aen Analaudea
130. Bei den Söhnen der Sonne.
Japans Volk ist ein Kulturvolk, dessen Sitten und Gebräuche
meist von den unserigen abweichen, und an dem uns manches höchst
sonderbar erscheint. Jahrhunderte lang blieb es den Völkern Europas
unbekannt, weil es sich streng gegen jede ausländische Berührung ab—
⸗
130. Bei den Söhnen der Sonne. 191
schloß. Erst in diesem Jahrhundert ist es mit Gewalt gezwungen worden,
in den Weltverkehr einzutreten, und nachdem es seine Scheu vor den
Fremden aufgegeben, eignet es sich mit großer Lernbegierde und vielem
Verstande alle die Vorteile an, welche die europäische Kultur vor der
seinigen voraus hat. Es schickt seine Söhne auf die deutschen Hoch—
schulen und Kadettenhäuser, in amerikanische Werkstätten, nach englischen
Handelsplätzen; es besucht die großen Weltausstellungen mit seinen
eigenartigen kunstvollen Produkten, unter denen sich namentlich die Lack—
und Papierwaren auszeichnen. Es hat übrigens ein geordnetes und
reicha gliedertes Staatsleben mit einem Kaiser an der Spitze und schon
seit Jahrhunderten manche segensreiche Einrichtung, die wir Europäer
erst in neuerer Zeit kennen lernten. So gibt es dort Zivilstandsregister,
die in Eüropa neueren Datums sind. Seit vielen Jahrhunderten sind
Geburten, Heiraten und Sterbefälle in der Gemeinde verzeichnet worden.
Das Finanzwesen hat sich allezeit in musterhafter Ordnung befunden,
und ehe das Land mit den Fremden in Berührung kam, hat es außer—
ordentliche Ausgaben kaum gekannt. Pässe und Urkunden, die in
Euroya Geld kosten, liefern die japanesischen Behörden immer gebühren—
frei. Auch gab es von jeher Wasserleitungen, Posten, Landstraßen,
Volksschulen, Bücher, Karten und alljährliche Volkszählungen. Die
Buchdruckerkunst ist seit Jahrhunderten bekannt; doch hat man keine be—
weglichen Typen, sondern Holztafeln, auf denen die Zeichen eingeschnitten
sind. Die Schauspielkunst steht noch auf niedriger Stufe; dagegen sind
die Turn- und Gauklerkünste der Japaner in so hohem Grade ausge—
bildet, daß sie in Europa Vorstellungen geben, die hohe Bewunderuug
erregen.
Die Japaner gehören dem mongoslischen Menschenstamme an;
sie haben ein breites, flaches Gesicht mit einem großen Munde, einer
etwas eingedrückten Nase und schief geschlitzten, tiefliegenden Augen.
Ihre Farbe ist gelb, bei den Vornehmen, die sich wenig der Sonne
aus n, weiß, der Kopf groß, der Hals kurz, das Haar röthlichbraun
und teilweise oder ganz schoren. Die Augenbrauen sitzen höher
uns. Ahr Charakt.. mild und heiter; Fleiß, Geschicklichkeit,
Neeit, Vildung, Lernlu zeichnen sie vor anderen Asiaten vorteil—
„aus Arzneikunde und Astronomie erhalten große Pflege. Das
Baden wird zur Beförderung der Gesundheit weit allgemeiner angewandt
als bei uns. Mit einheimischen Kräften baut Japan seine Dampfmaschinen
und Schiffe. Das Land ist wie ein Garten bebaut. Reis, Thee, Tabak
und Seide bilden die Haupterzeugnisse. Im Bronzeguß und in der
Fabrikation des Papieres, das sie aus den Bastfasern eines Maulbeer—
192 131. Der Araber und seine Heimat.
baumes bereiten und nicht nur zum Schreiben und Drucken, sondern
auch zu Fensterscheiben, Taschentüchern, Kleidungsstücken, Lichtdochten,
Bindfaden u. s. w. gebrauchen und als Leder benutzen, leisten sie ganz
Außerordentliches.
Volksschulen gibt es bei dem lernbegierigen Volke in Überfluß,
in jedem Dorfe sicher eine, und in den Städten findet man sie fast in
jeder Straße, so daß mindestens drei Vierteile des Volkes lesen und
schreiben können. In den Schulen herrscht eine wohlthuende Ordnung;
der Lehrer wird ehrfurchtsvollst behandelt und ist seinerseits wieder
liebreich gegen die Kinder. Gesetz und Sitte verlangen, daß man den
Lehrern ehrerbietig entgegenkomme. Sie bilden einen hochgeachteten Stand.
Der Japaner macht sich das Leben leicht. In seinen Freuden liegt
eine kindliche Lebhaftigkeit. Mißgeschick drückt ihn nicht zu Boden,
Entbehrurg duldet er ohne Murren; der Tod hat für ihn keine Schrecken.
Namentlich herrscht unter den Kindern große Heiterkeit, und die
Eltern gönnen ihnen gerne die Lust. Im Hause dürfen sich die Kleinen
nach Herzenslust umhertummeln; alle Zimmer und Gänge sind mit dicken
Matten belegt; an Stühlen und Tischen können sie sich nicht beschädigen,
denn diese fehlen in Japan. Die Eltern sorgen für Spielzeug und
Feste; aber auch auf den Schulbesuch wird streng gesehen.
Die Gesetze sind streng. Viele Verbrechen, die Europa kaum für
Verbrechen hält, werden mit dem Tode bestraft. So wird z. B. der
Kutscher, der jemand überfährt und dadurch tötet, als Mörder hinge—
richtet, weil durch ihn ein Mensch ums Leben gekommen. Ebenso wird
der Gefangenwärter, welcher einen Verbrecher entkommen läßt, hinge
richtet. Mit Todesstrafe belegt man den Diener, der gegen seinen
Herrn die Hand erhebt, den Dieb, wenn die gestohlene Summe bedeutend
ist, und noch viele andere Verbrechen. Für die leichteren Vergehen sind
Brandmarkung und Prügelstrafe angedroht. Geldbuße wendet man in
Japan nicht an, weil der Reiche vor dem Armen einen ungerechten
Vorzug bekommen würde. Mit der Todesstrafe verbindet sich Vermögens—
einziehung, und die Familie des Verbrechers wird von unauslöschlicher
Schande betroffen. Karl Andree.)
131. Der Araber und seine Heimat.
Da Arabiens Grenzgürtel an drei Seiten das Meer, gegen Norden und
Nordwesten Sandwüste ist, so hat es die Sicherheit einer Insel. Die Land—
schaften am roten Meere haben wohl fremdes Joch getragen, aber keine
Heeresmacht ist jemals durch die Wüste vorgedrungen; der Araber hat nur
die Brunnen derselben zu verschütten, und der Tod lagert sich zu seinen
131. Der Araber und seine Heimat. 193
Feinden. Kern und Mark des arabischen Volkstums ist bei den Bewohnern
der Wüste zu suchen. Dorthin also unsern Blick, zum Gepräge der Ein—
förmigkeit, wo keine Ströme die Landschaft befruchten und überschwemmen,
keine Fruchtebenen den Bebauer an die fetten Schollen heften, keine wechselnde
Farbe des Bodens das Auge erquickt. Der Himmel ist unbewölkt und
glänzend heiter; aber es ist nicht behaglicher und milder Hauch, den der Tag
ausströmt, sondern brennende Glut; freundlicher ist dem Araber die Nacht
mit ihrem flimmernden Sternenmantel; sie bringt ihm erquickenden Tau, und
nur durch diesen werden die Tamarisken und Akazien am Saume der Wüste
genährt. Die Erde, nicht befruchtet durch des Himmels Ergüsse, hat nur
wenige lebendige Quellen; manche von diesen haben salziges Schwefelwasser;
was von dem seltenen Regen in Cisternen gesammelt wird, bleibt nur geringe
Zeit frisch. Zu seßhaftem Leben lockt keine Stätte; wer in jener Natur
leben will, muß wandern. Dazu aber bietet die Natur ihre Hilfe: das
Kamel, in der Wüste heimisch und ihr verwandt, mit seinen breiten Füßen
auf den Sand angewiesen, ebenso geduldig als häßlich, ebenso schnell als
sicher, das Tier des Verkehrs und Handels; das Roß, edler als irgendwo,
voll Schnellkraft in Nerv und Sehne, ohne beschwerendes Gewicht der Fülle,
über den lockern Sand flüchtig dahin eilend, ohne seine Fußtapfen tief ein—
zudrücken, bei Hunger und Durst schnellkräftig, dem Menschen sich anschmiegend,
ungestüm zum Rennen, aber im Nu festgewurzelt, wenn der Reiter herab—
stürzt. Vom Roß und Kamel ist der arabische Beduine unzertrennlich;
sein Mut ist am vollkommensten, wenn er zu Rosse sitzt.
Die Beduinen nebst den Bewohnern der Westküste leiten sich ab von
Ismael. Auf Wahrung der Reinheit ihres Geschlechts waren die Araber
stets bedacht; auch die Lebensweise hat sich mit ungemeiner Stetigkeit Jahr—
tausende hindurch erhalten, so daß der Araber unserer Zeit und der aus den
Tagen Hiobs wenig von einander verschieden sein mögen.
Der Araber ist mittelgroß, hager, sein Bedürfnis in Speise und Trank
geringe, der Körper ganz Flechse und Muskel, die Gliederung vom schönsten
Ebenmaß, das Antlitz ein regelrechtes Oval, die schwarzen blitzenden Augen
scharf gespalten, Hand und Fuß zierlich gebildet, die Geberden behende. Der
Geist aber ist seiner Hülle würdig; der anständigen Körperhaltung des
arabischen Mannes entspricht Adel und Stolz der Seele. Es ist wahr, der
Beduine ist Räuber, Gewalt geht ihm vor Recht; wie der Deutsche in die
römischen Landschaften einfiel, um Beute zu machen, so lauert der Beduine
der Karawane auf; aber Plünderung bei Nacht und Diebstahl ist ihm ein
Abscheu; den Besiegten und Beraubten läßt er nicht verschmachten, er gibt
ihm Obdach und Unterhalt; wer aber vor der Wanderung seinen Schutz sich
erkaufte, den geleitet er treu und läßt ihm kein Haar krümmen. Immer
bedacht auf Raub, ist er eben so willig wieder zu geben; auch der AÄrmste
bietet von seinem Brote und seinen Datteln den Zuschauern seines kargen
Mahls; Almosen geben galt dem Araber aller Zeit für eine seiner vorzüg—
Marschall, Lesebuch für gewerbl. Fortbildungsschulen. Kl. Ausg.
13
194 132. Mrika.
lichsten Verpflichtungen. Auf Ehre des Mannes hält der Araber nicht minder
als der Deutsche, so auch auf Sittlichkeit der äußeren Erscheinung. Aber
reger als bei den Deutschen war und ist bei dem Araber das Gefühl für
Beleidigung; Durst nach Blutrache ist der Fluch des arabischen Volkstums
Der Araber ist ausgezeichnet durch das furchtbare Talent, glühenden Haß
Jahre hindurch nähren zu können, ja, manche arabische Stämme führten in
Verfolgung der Blutrache Jahrhunderte lang Krieg mit einander, manche
bis zur gänzlichen Vertilgung. Verpflichtung zur Blutrache haben noch jetzt
die nächsten Verwandten, und Verachtung trifft die, welche sie nicht erfüllen.
Es ist alter Volksglaube der Araber, daß, so lange die Blutrache für einen
Erschlagenen unerfüllt ist, die Stätte, wo ihn der Tod traf, nicht benetzt
würde vom Tau. Ganz eigentümlich aber ist dem Araber der poetische
Schwung: in der einförmigen Dürftigkeit der äußeren Natur um ihn her ist
seine Einbildungskraft mit den buntesten Bildern erfüllt. Poesie ist Anfang
und Ende der Weisheit des Arabers; poetisch ergießt sich sein Gefühl über
Einsamkeit der Wüste, Roß und Kamel, Lanze und Schwert; sein Stolz
nährt sich durch poetische Verherrlichung der Großthaten seines Stammes,
der Weisheit und der Tugend, insbesondere der Gastfreundschaft und Groß—
mut, der Abenteuer und Reichtümer der Vorfahren. Neben dieser Richtung
aufs Abenteuerliche dringt ein scharfer Verstand hervor im sinnvollen Spruch
und ergötzt sich am Rätsel und an der poetischen Fabel. Die Sprache
aber ist dem poetischen Ausdruck förderlich durch ungemeinen Reichtum an
Formen und bildlichen Bezeichnungen. Der ersteren gibt es vielleicht nicht
weniger, als im Griechischen, der letzteren werden achtzig für Honig, zwei—
hundert für Schlange, vierhundert für Unglück, fünfhundert für Löwe, tausend
für Schwert gerechnet, daher denn auch große Willigkeit der Sprache zum
Reimspiel. So sehen wir denn des Arabers Ausstattung und Reichtümer
in seiner Persönlichkeit allein, und mit grellem Abstich erhebt dieser sich
über die Armseligkeit des äußeren Lebens Unter Hütte und Zelt, bei
Entbehrung und Mühseligkeit ist der Araber stolz auf sein Geschlecht und
seine Freiheit. Wilh. Wachsniuth.)
132. Afrika.
Afrika, das alte Libyen der Griechen, machte schon auf die Alten
den Eindruck des Rätselhaften und Geheimnisvollen. Und noch immer
ist Afrika für uns das verschlossene Reiech der Wunder und Geheimnisse;
denn noch immer sind trotz der zahlreichen Erforschungsreisen der
neuesten Zeit grosse Gebiete dieses merkvürdigen Erdteils für uns gän-—
lieh, andere nahezu unbekannt und unerforscht geblieben.
Das uns kaum dreihundert Jahre erschlossene Amerika kennen wir
längst schon gründlicher, als das so nahe liegende Afrika.
Kein Erdteil ist aber auch so entschieden in sieh abgeschlossen, als
gerade Afrika. Es streckt keine wichtige Halbinsel in den Ozean aus,
132. Mrika. 195
noch lässt es dessen Wasser in sein Inneres einschneiden; dazu sind die
Kustenstriche fast überall mehr geartet, abzustossen, als anzuziehen. In
der Nordhalfté sind die Küsten meistens niedrig und sandig, oder die
Wüste hat Sandbänke in das Meer vorgeschoben; in der Sũdhalfte dagegen
fallen diese grösstenteils sehroff ab. Die sonst dem Verkehre so förder-
lichen Meeresströmungen erschweren durch ihre Heftigkeit und die dadurch
entstehende Brandung die Anfahbrt, und der günstigen Hafenbuchten sind
verhältnismälsig nur wenige.
Grosse Ströme weist das dürre, wasserarme Afrika auch nur spärliech
auf, und die wenigen bieten für die Schiffahrt viele Hindernisse und
gestatten also kein Vordringen bis ins Herz des Erdteiles. Bedenken
wir nöch, dass im Norden eine ungeheure Müste sieb quer düreh den
ganzen Erdteil zieht, im Süden aber unwegsame Randgebirge gleich mäch-
tigen Vallen das Hochland umschliesssen, dann werden wir es sehr er—
klärlich finden, warum das Innere Afrikas bis jetzt von allem Voölker-
verkehr abgeschlossen geblieben ist. Nur da, wo Afrika seine Uferstrecken
europaischen und asiatischen Binnenmeeren zuwendet, also ein Gegen-
gestade zu zivilisierten Ländern bildet, vorzüglich in dem durch ein
grossartiges Stromsystem gesegneten Nordosten hat sich ein selbständiges
Kulturleben entfaltet, velebes aber unter der Herrschaft des Islam im
Laufe der Jahrhunderte ebenso einem unhbeilbaren Siechtum verfiel, als
die frühere Blüte und Macht Asiens. Im Innern Afrikas sind die patriar·
chalischen Urzustände der menschlichen Gesellschaft noch allgemein ver—
breitet und sie werden sieh dort noeh lange gegenũüber der fortgeschrittenen
Kultur Europas und Amerikas ja selbst asiens erhalten. Afrikas Völker-
leben ĩt im grossen und ganzen auf der Stufe der RKindheit stehen
geblieben, und es ist kKaum zu boffen, dass es sieh über dieselbe in Jahr-
hunderten merklieh erheben werde: denn seine natürlichen Verhältnisse
sind weni geeignet, die Volkerentwieklung zu fördern. Bei weitem der
grõsc: eil Afrikas, vier Lünftel seiner Flache, liegt in der Tropenzone.
Da e gerade unter der Glut der Tropensonne der Mensch in Er—
schla“ und Qeistessstumpfheit sinkt, so erklärt es sieh leieht, dass
Afrye kerschaften fast durehgehends im Zustande der Barbarei ver-
bliꝰa gind. Drei Vierteile der Bevölkerung gehören dem am wenigsten
bildus igen Negerstamme an, und die Mehrzahbl derselben lebt noch
im Adentume mit sehr verschiedenen Abstufungen der religiösen Be—
griffe solbst an Petischanbetern fehlt es nieht, und die Kaffern scheinen
gar cane alle Religion zu sein. Auf gleich niedriger Stufe stehen die
Võölkerechaften Afrikas in gesellschaftlicher und politischer Beziehung.
Zwar bestehen einigermalsen geordnete Staaten im Norden des Prdteils;
in Jor Mitte aber und im Süden berrschen Häuptlinge mit völlig despo-
tischer Gewalt über grössere oder kleinere Gebiete: da gilt der Wille,
ja die blosse Laune des Herrsehers als einziges Gesetz, und er ist unbe—
dingt Herr über Leben und Gut seiner Unterthanen.
13*
196 133 Der Nilstrom
In umgekehrtem Verhältnisss mit der Entwieklung des Menschen-
geschlechtes steht in Afrika die Entfaltung des Pflanzen- und Tierlebens
Hier erhebt der Boab oder Affenbrotbaum, der „Elefant der Gewächse“,
auf einem Stamme von 24 —27 m Umfang seine Krone, die oft einen
Durehmesser von 40 m erreicht; riesige Schlingpflanzen vinden sich um
die verschiedensten Arten von Palmen; neben dem riesigen Drachenblut—
baum strebt der Seidenbaumwollenbaum in die Lüfte; das edelste Farbe—
kraut, der Indigo, hat hier seine Heimat; es gedeihen Feigen, Melonen
und Ananas, Zuckerrohr und Kaffee; bei geringer Mühe des Anbaues
liefern reichliche Nahrung der Pisang und die Banane, die Vamswurzel,
der Maniok, die Erdpistazie und die Batate; ebenso die mehlreichen
Gräser, Reis, Mais, Mohren- und Durrahirse. Eine glänzende Blüten—
pracht entfalten die vielen Arten von Eriken und silberfarbenen Proteen,
dazwischen verschiedene Liliengewächse und andere tropische Pflanzen
mit glühenden Farben und zum Leil mit herrlichem Duft.
Die Tierwelt ist in Afrika mit ihren riesigen Gattungen vertreten:
in Flüssen und Sümpfen tummeln sieh mächtige Hippopotamen und RKro—
kodile, an lichten Stellen weiden Elefanten, in den Urväldern Innerafrikas
haust der Riese des Affengeschlechtes, der Gorilla; in der Wüste hat
der Strauss seine Heimat; der Löwe herrscht von der Berberei bis zum
Kap; Leoparden und Panther, Hyänen und Schakale stellen den flüch—
tigen Gazellen und zierlichen Antilopen nach; in Afrika finden wir die
seltsam gestaltete Giraffe, endlich das Schaf mit dem plumpen Fettschwanz.
Dem Menschen dienstbar sind das edle Berberross und das Dromedar,
das Schiff der Wüste. In Norden Afrikas überwintern unsere meisten
Zugvõgel, insbesondere unser Hausfreund, der Storeh, der auch bei Arabern
und Mauren in hohen Ehren steht. Doch auch den Wandervögeln scheint,
es bei uns Europäern besser zu gefallen, als bei den sonngebräunten
Afrikanern; denn jedes Jahr suchen sie ihre alten Wohnsitze in unsern
Gegenden wieder auf. Vom Herausgeber.
133. Der Nilstrom.
Von den 40 Riesenströmen unseres Erdballs nimmt der Nilstrom
eine der ersten Stellen ein. Unter den Stromgebieten Afrikas ist das
seinige der Bedeutung nach das erste; nach seiner Ausdehnung hat der
Strom fast die doppelte Länge der europäischen Donau, die vierfache des
Rheinstromes, und ist eben so weit aufwärts schiffbar, wie der größte Strom
der Erde, der Amazonenstrom Amerikas. Seine reichen Quellflüsse, deren
Ursprung trotz der neuesten Forschungen noch immer in Dunkel gehüllt ist,
treten aus dem äthiopischen Hochlande und von den Mondgebirgen
in der Äquatorial-Zone in mächtigen Doppelarmen hervor, die bis zu ihrer
Vereinigung im obern Laufe durch zahllose Gebirgszugüsse nicht nur reichlich
genährt, sondern auch durch jährlich wiederkehrende tropische Regenzeiten zu
133. Der Nilstrom 197
unglaublicher Fülle von Wassermeeren gesteigert werden. So kann der nun
vereinigte Strom im mittlern und untern Laufe, wo ihm kein Fluß, kein
Bach, keine Quelle mehr zuläuft, wo aber unzählige Befruchtungs-Kanäle
von ihm abfließen, dennoch die ganze Breite der nördlich vorgelagerten
Wüsten und Thalspalten durchbrechen und das Meer noch erreichen. Der
Weg, den er so durch die äthiopischen Gefilde, durch die Wüsten von
Sennaar, Nubien und Ägypten zurücklegt, über 500 geographische Meilen,
ist gleich der ganzen Breite Europas, vom Nordkap am Eismeer bis zur
Südspitze des Peloponnés.
Kein Strom der Welt steht in einem so innigen und einflußreichen
Verhältnis zu seinem Stromgebiet, als der Nil in Ägypten. Der Nil ist
gleichbedeutend mit Ägypten; er hat es geschaffen, die Wüste nach Westen
zurückgedrängt, dem Anbaue, der Ansiedelung Raum gegeben. Ohne den
Nilfluß gäbe es kein Ägypten; denn dieses ist nichts als das Flußbett des
Nils, und was dieser nicht bewässert, ist Wüste. Der Nil ernährt das
Volk, er weckt seinen Verstand und entwickelt seine Phantasie.
Das Merkwürdigste und zugleich Eigentümlichste am Nil sind seine
regelmäßigen Überschwemmungen. Es ist wunderbar anzusehen, wie jedes
Jahr regelmäßig unter einem heitern Himmel, ohne irgend ein Vorzeichen,
ohne eine wahrnehmbare Ursache, wie durch eine übernatürliche Gewalt die
bis dahin klaren und durchsichtigen Gewässer eines großen Flusses um die
Zeit der Sommernachtsgleiche mit einemmale die Farbe wechseln, anschwellen,
bis zur Herbstnachtgleiche allmählich steigen, das ganze umliegende Land
überschwemmen, und dann in einem ebenso bestimmten Zeitraume wieder
abnehmen, nach und nach zurückweichen und um die Zeit, in der andere
Flüsse anfangen auszutreten, in die früheren Ufer zurückkehren. Darum
feierten und feiern auch heutzutage die Ägypter um die Mitte des Juni die
Nacht des wunderbaren Tropfens, jene Nacht, in welcher nach alter Sage
der Depfen vom Himmel fällt und die Fluten des Nils anschwellen macht,
daß sie de Ufer durchbrechen und das ganze Thal segensreich bedecken. Nicht
Regengüsse, nicht andauerndes Sturmwetter in Ägypten bewirken die Über—
schwemmmung; denn in Ägypten fällt fast gar kein Regen, und namentlich
Oberägypten kennt denselben nicht; immer und immer strahlt der Himmel
in unveränderlichem blauen Glanze herab, wolkenlos bei Tage, wolkenlos
bei Nacht. Te Sterne funkeln so kräftig, daß man dort sieht, wie sie frei
im reinen Äther schweben, während es bei uns scheint, als ob sie am
Firmamente befestigt wären.
Die Alten haben sich mit vielerlei Erklärungsversuchen dieser Erschei—
nung regelmäßiger Überschwemmungen abgemüht; jetzt weiß man, daß die
periodischen Regen in Kordofan, Abessinien und den noch südlicher gelegenen
Ländern die einzige Ursache derselben sind. Diese tropischen Regen beginnen
im Monat März, ihre Wirkung spürt man in Ägypten aber nicht vor Ende
Juni. Während der Überschwemmung ist der Anblick Ägyptens höchst
originell; es gleicht einem großen Meexe, aus dessen Schoße Städte,
198 134 Die Insel St. Helna,
öffentliche Gebäude und Inseln, durch die Überschwemmung gebildet, her—
vorragen, sowie Straßen, welche die Verbindung zwischen diesen Punkten
unterhalten.
Dieses Süßwassermeer verwandelt sich alljährlich in ein ‚Blumengefilde“,
und dieses wieder nach vollzogener Ernte, wenn sich die Wirkungen monate—
langer Trockenheit fühlbar machen, in ein ungeheures „Staubfeld“, worauf
mit dem Steigen des Nils der regelmäßige Kreislauf von neuem beginnt.
Aber noch ein Vorzug zeichnet den Nil aus: die süße Beschaffenheit
seines Wassers und dessen angenehmer Geschmack; auch ist es gesund und
sehr leicht, und der Vergleich eines Reisenden ist nicht unpassend, es sei
unter den Wassern, was der Champagner unter den Weinen. Es wird
daher auch wie das Gangeswasser versendet und gleich einer Kostbarkeit
aufbewahrt.
Der Nil gilt auch noch heutzutage den Arabern heilig, wie er den alten
Ägyptern göttlich erschien, und der auf ihn geleistete Schwur wird für den
höchsten, den bindendsten gehalten. ¶E. Ritter, Blick in das Nilland.)
134. Die Insel St. Helena.
Die Insel sieht von fern wie eine gewaltige Festung aus. Hohe, steile
Felsenmauern erheben sich von allen Seiten; der eine Bergklumpen steht
neben dem anderen, getrennt durch tiefe, enge Thäler. Ales spricht von
gewaltsamen Erschütterungen, als diese Massen gebildet wurden, alles ist
noch heute kalt und unfreundlich. Man sieht auf diesem harten Gestein
keinen Grashalm, keinen grünen Fleck; nur zufällig kann das Auge aus—
ruhen auf wenigen Spuren einer lebenden Natur und lebender Menschen,
welche weithin in den tiefen Thälern zum Vorschein kommen, und oben auf
dem Felsenscheitel stehen, einer Krone gleich, einige Tannenwälder.
Der Weg nach Langwood, wo Napoleon gefangen gehalten wurde,
schlängelt sich, größtenteils ausgehauen in steile Lavaklippen, im Zickzack
längs der scharfen Seite des Berges empor. Die Hitze, welche in der
Tiefe drückend ist, geht hier in eine milde, erfrischende Kühle über. Man
sollte es kaum für möglich halten, daß dasselbe St. Helena, das von der
Seeseite so rauh und abschreckend aussieht, so reizende Plätze umschließen
könne, wie dieser hier oben. Freundliche, weiße Häuser liegen gruppiert
auf den Höhen wie kecke Vorposten, und zwischen den rötlichen Bergrücken
schlingen sich tiefe Thäler, durchkreuzt von kleinen Bächen, wo Trauerweiden
mit ihren niederhängenden Zweigen stehen, als ob sie noch heute über
St. Helenas Bestimmung wehklagten. Hier oben öffnet sich das napoleonische
Grabthal, jenes weltberühmte Longwood, wo der große Aar, dessen gewal⸗
tiger Flügelschlag von der ganzen Welt gehört ward, eingesperrt, gepeinigt
wurde und starb. Der Ort hat seinen Namen bekommen von einer kleinen
Waldstrecke, welche sich ehemals vorfand; jetzt ist alles eine einzige unfrucht—
bare, einförmige Ebene, nur kümmerlich mit einer kleinen Reihe von Nadel—
2
134. Die Insel St. Helsna 199
holz, einigen andern zerstreut stehenden Bäumen und dürftigem Rasen
bedeckt. Auf dem Abhang gen Westen breiteten sich einige bebaute Acker
aus, eingehegt von Alos- und stachlichten Kaktushecken; Longwood besteht
aus einer Anzahl unbedeutender Häuser, größtenteils von einer ziemlich
hohen Steinmauer eingeschlossen. Das Gebäude, das Napoleon angewiesen
wurde, ist ein einstöckiges Steinhaus mit fünf Fenstern auf der einen Seite,
woran ein anderes sich in rechtem Winkel mit der Rückwand schließt. Das
Haus, welches der Arzt bewohnte, liegt auf der anderen Seite des Hofplatzes,
und das, welches das Dienerpersonal einnahm, stößt an das, worin sich das
Schlafgemach befindet.
Wie sieht nun dieses alles jetzt aus? Kaum eine Scheibe ist in den
Fenstern; der Kalk auf den äußeren Wänden ist abgefallen; die Tapeten auf
den Wänden sind nicht mehr; selbst die Steine in den Mauern sind zu
Schutt geworden, die Fußböden mit Schmutz bedeckt, die Dächer eingefallen.
Das Zimmer, worin Napoleons Leiche lag, ward seit kurzem von einer
Dreschmaschine eingenommen; in dem, worin er seinen letzten Seufzer aus—
stieß, hat man ein Gerüst aufgeführt, um Korn zu trocknen. Das Bibliothek—
zimmer ist voll von Korn und Gerümpel, das Schlafgemach ist gepflastert
und zu vier Stallständen eingerichtet, worin einige magere Pferde stampfen
und kauen. Nebenan liegt der sogenannte neue Palast, welchen man für den
gefürchteten Gefangenen bauen ließ, in welchen aber Napoleon niemals
ziehen wollte, und welchen er nur ein einzigesmal betrat. Draußen auf
der Ebene kampierten die Truppen, welche den eigentlichen Sicherheitskordon
um den Gefangenen zu Longwood bildeten, und die Flaggenstange, die jeden
Besuch hier oben der Stadt genau meldete, thut noch dieselben Dienste.
Aut der anderen Seite des von Napoleon bewohnten Hauses ist eine
kleine Coene, auf welcher einige verwachsene Cypressen und ein hoher
Tannenbaum stehen. Am Fuße des Letzteren ist eine halbmondförmige Ver⸗
tiefung von einigen Ellen Umfang, ehemals als Teich benutzt, in welchem
Fische aufbewahrt wurden. An dessen Rande pflegte der Kaiser, in un—
gestörte Träume versunken, auf einem Stuhl zu sitzen und seine Fische zu
füttern. Im Jnl des Grabes steht ein kleines schwarzes Holzgebäude, wo
die Hüter der Stätte wohnen, und wo man die englische Abgabe von
19 Schilling erlegt, wozu noch ein kleines beliebiges Douceur gefügt wird
für die Reliquien von Weidenblättern, Blumen, Napoleons-Geranium,
Cypressenzweigen, Blei-, Stein- und Ziegelstückchen, die man, sich und
den Seinigen zur künftigen Erinnerung, einsteckt. Und so steht man an
dem Platze, wo sie ihn niedergelegt haben. Es ist ein kleiner, runder,
grüner Fleck von ungefähr 12 Ellen im Durchmesser, umhegt von einem
grau-schwarzen Holzgeländer. Den inneren Rand entlang stehen 8 oder
9 Cypressen, und weiter hinein an der einen Seite die beiden weltbekannten
Trauerweiden. Unter ihrem Schatten liegt das Grab. Es ist jetzt leer,
und man steigt daxin hinab auf einer Leiter, beschattet gegen die Strahlen
der Sonne durch ein Zeltdach, das darüber gespannt ist. Am Rande des
200 135. Die Nordamerikaner.
äußeren Geländers liegt die kühle, erfrischende Quelle, überschattet von
dunklen Weiden. Napoleon hatte sich diese Stätte selbst zu seiner einstigen
Grabesruhe erwählt und zwar aus folgender Veranlassung.
Die frische Quelle in diesem Thale und der Schatten der Weiden zogen
ihn öfters hieher, um in einsamen Stunden seinem Herzen und seinen Ge—
danken Erholung und Ruhe zu gönnen. So saß er einst hier. Das Buch
entfiel seiner Hand, er schlummerte ein. Ein Traum führte das Bild seiner
ersten Gemahlin Josephine vor sein inneres Auge. Das Bild schien sich
zu erheben und von dieser Stelle aus ihn zu sich zu rufen. Von dieser
Zeit an war der Platz zu seinem Grabe gewählt.
Am 18. Oktober 1815 hatte Napoleon die Felseninsel bestiegen; am
5. Mai 1821, abends 6 Uhr, während ein Orkan über die Insel dahin
raste, verschied er.
Am 15. Oktober 1840 wurde sein Sarg aus dem Grab genommen,
nach Frankreich gebracht und im Dome der Invaliden zu Paris beigesetzt.
Mach Andersson.)
135. Die Nordamerikaner.
Dieses Volk beherrscht und bearbeitet ein Land, fast so gross als
ganz Europa, aber zehnmal reicher an fruechtbarem Boden. an Eisen und
Kohlen, — voll der Produkte der Tropenländer im Süden, der Manu-—
fakturen im Norden, der Fischereien an den Küsten, der Weizenfelder
und Bergwerke, der Waldungen und der Prärien im Innern, gelegen
mitten zwischen den zwei grossen Weltmeeren, durchschnitten endliebh von
gewaltigen Strömen, den herrliebsten Handelsstralsen, deren Zahl täglich
durch Eisenbahnen und Kanäle vermehrt wird. In diesem, so ungeheuern,
reichen und wohblgelegenen Gebiete gilt eine Staatsverfassung, welehe
darauf angelegt ist, niemand in seiner natürlichen Freiheit zu beschränken,
sondern jedermann anzuregen, dass er seine Kräfte anspornt, um Reichtum
und Geltung zu erwerben. Der Nationalgeist, der das gesamte Volk
beseelt, ist selbstsüchtig, eroberungstüchtig, zufahrend auf jegliches, vas
dem Volk Bereicherung und Machtyermehrung verheisst. In keinem
andern Volk ist auch das Handelstalent so entwickelt. Schon die Kinder
feilschen und handeln miteinander in einer Weise, die in Deutschland
für unsittlich oder doch für unanständig gelten würde. Sobald unter den
Farmern ein Knabe fähig ist, selbst etwas Geld zu verdienen, wird er
dazu angespornt und muss für seinen Gewinn sich selbst Hut und Schube
kaufen. Rasch rechnen zu können und pfiffig zu sein. wvird bei einem
Knabhen höchlich belobt und als günstiges Vorzeichen für dessen Zukunft den
Freunden und Nachbarn erzählt. Neben dem Eifer für Ruhm und Grölse
seines Landes richtet sich daher sein ganzer Ehrgeiz darauf, einen guten
Handel zu machen. Seine Augen hat er nach allen Seiten offen und
zammelt aus dem täglichen Leben wie in der Schule eine Menge von
135. Die Nordamerikaner 201
Kenntnissen, veleche dem Geschaftsmann nützlich sind. Statt klassischer
Studien treibt er mit Vorliebe Mathematik und Mechanik, Physik und
CQhemie, und aus der Geographie lernt der junge Amerikaner zuerst, was
ein Land an Produkten und Handelswaren hervorbringt; daher jenes
unnachahmliche Geschiek der Amerikaner, aus allen Dingen in der Welt
Geld zu machen, jene unersättliche Unternehmungslust, jene feurige
Kũhnheit und Raschheit in Geschäften. Auf den Geschmack des Publikums
hin svekulieren, das lernt der Amerikaner aus dem Grunde. dein Land
gleicut dem unabsehlichen Markte, wo es jedem Händler zunächst nur
dereut ankommt, dass die Leute einen Augenblick vor seiner Bude stehen
hleiben. Deshalb muss er irgend ein Lärmzeichen aushängen, um auf—-
w a zu machen, und sollte er aueh die Beine in die Luft strecken.
andelsmann hat der Amerikaner auch den Vorteil, dass ihn keine
matsliebe, kein Freundschaftskreis auf einem Platze festhält; sein
iEwesen ist da, vo Geld zu gewinnen. Man kann den Amerikaner in
eschaften mit seiner aussern Ruhe und velbstbeherrschung bei tiefer
eidenschaft keinem besser, als dem ausgelernten Spieler vergleichen, der
kalten Blickes, venn ihm aueh heimlich alle Nerven beben, die Geldhaufen
auf dem Tische kommen und gehen siebt. Wie dieser, so vwird der
Amerikaner in Geschäften von der unersättlichen Lust des Wagspieles
hingerissen. Gleich wie aber Spieler untereinander Schulden, welehe das
Gesetz nicht anerkennt. zur Ehrensache machen, so besitzt der Amerikaner
das feinste Ehrgefühl in Geschäftssachen dieht neben grenzenlosem Leicht-
sinn. Er denkt nieht daran, ungeheuere Lieferungen, die er mit zwei
Worten mündlich bestellt hat, später wieder abzusagen, wenn er seinen
baren Schaden einsiebt. Im gesamten Geschäftsverkehr herrscht eher
etwas Ritterliches, als Kleines; man kennt kein ängstliches Misstrauen,
wohl aber Kreditgeben in weitester Anwendung. Durch den persönlichen
Kredit sind die Geldwittel hundertfach gesteigert. Wie aber die Spielwut
tief entsittlichend wirkt, so bringt auch das amerikanisehe Geschaftsleben
eine so grosse Menge von abgefeimten Sehwindlern hervor, dass andere
Völker dagegen wie unschuldige Kinder orscheinen. Der englisehe Geschafts-
mann gedeiht unter den Amerikanern am wenigsten; es fehlt ihm die
Raschheit des Handels; der Schotte und Franzose findet dort eher seine
Rechnung; auch der Deutsche eignet sieh leieht die amerikanische Weise
des Geschaäftsbetriebes an; er ist nicht minder genial. wenn auch nieht
50 sehnell im Eründen, aber er bleibt solider. Unter zwölf 4merikanern
verden zieben reich, aber nür zwei vererben ihre Reiehtümer auf die
kinder. Für zwölf Deutsche stellt sich das Verhältnis so. dass höchstens
drei reieh und fünf vohlhabend werden, aber sümtlieh ihr Vermögen bis
zum Tode behalten. Franz Löher. Land und Leute in der alten und neuen Welt.)
28 136. Die australischen Kolonien.
136. Die australischen Kolonien.
. Es gibt vielleicht keinen interessanteren Stoff für den Geschichts—
schreiber, als das wunderbare Aufblühen der australischen Kolonien; denn
die Weltgeschichte bietet uns kein ähnliches Beispiel einer so raschen Ent—
wickelung, eines so schnellen Fortschreitens dar. Wo noch vor weniger als
hundert Jahren der große Weltumsegler Cook) nur einige fast auf der Stufe
der Tierheit stehende Wilde antraf, erheben sich Städte, deren Pracht mit
der der Metropolen des Mutterlandes wetteifert, und die Häfen, wo noch
vor 50 Jahren nur der Auswurf der Menschheit zur gezwungenen Arbeit
ausgeschifft wurde, sehen jetzt jährlich tausende von freien Auswanderern
aus allen Weltteilen herbeiströmen.
Die echten Merinoschafe, die ursprünglich ein unternehmender Emigrant
einführte, sind zu Millionen herangewachsen; das Land, welches keine einzige
wilde Frucht oder Wurzel hervorbrachte, die dem Menschen als Nahrung
hätte dienen können, und mit Ausnahme eines wandernden Känguruhs oder
scheuen Emus keinen Vierfüßler oder Vogel, der des Schusses wert war,
führt jetzt für viele Millionen Pfund Sterling an Wolle, Talg, Kupfer und
Gold aus, und ein zahlreiches Volk lebt im Vollgenuß aller Produtte,
welche der Kunstfleiß oder die Natur in allen Weltteilen erzeugen. Der
Verbannungsort der Verbrecher, der verrufene Aufenthalt der Thränen und
der Verzweiflung, wo der Mangel an Nahrungsmitteln oft so groß war,
daß Mordthaten für eine einzige Mahlzeit begangen wurden, die Hölle
auf Erden, die verabscheute und verachtete Missethäter-Kolonie ist jetzt zu
dem Lande geworden, wo die Arbeit am besten belohnt wird, die Bevölkerung
am raschesten zunimmt, und der Lebensunterhalt mit den geringsten Sorgen
sich gewinnen läßt.
Dieser wunderbare Aufschwung erklärt sich aus dem fabelhaften Gold—
reichtum Australiens. In Australien hat das Feuer nach einem ungeheuren
Maßstabe gewirkt, und seinem Einfluß ist wahrscheinlich die Bildung des
Goldes zuzuschreiben. Die ergiebigsten Goldfelder Viktorias trifft man dort
an, wo die älteren Formationen von feurigflüssigen Massen durchbrochen
worden sind, und das kostbare Metall findet sich vorzüglich in den Quarz—
adern, welche in großer Ausdehnung die untern Lager durchziehen.
Die Wirkung des Wassers, welche im Verlauf unzähliger Jahrhunderte
die großen Bergmassen und deren mineralische Bestandteile zerstückelte und
zu feinem Sand zerrieb, hat mitunter in den tieferen Rinnen einen Gold—
reichtum angehäuft, der fast allen Glauben übersteigt So wurden aus
einem einzigen Schacht auf einem Flächenraume von 7m nicht weniger
als 55 200 Pfund Sterling?) an Gold gewonnen.
Ein Schlächter, Namens Dawborn, hatte mit einigen Freunden eine
kleine Gesellschaft gebildet, welche einen Schacht bis zu einer Tiefe von 40 m
trieb. ohne Gold zu finden. Die Mittel der armen Spekulanten waren
N spr. kuck. 2) 1Pf. St. ist etwas über 20 A
202
136. Die australischen Kolonien 203
böllig erschöpft, und sie selbst gänzlich entmutigt. Es ist ein gewöhnlicher
Bebrauch bei den Quarz-Bergleuten, das Tagewerk mit Sprengen zu be—
schließen, damit die Arbeit am folgenden Tage nicht aufgehalten werde, bis
der Rauch sich verzieht, und dieser Sitte gemäß feuerten spät an einem Nach—
mittass Dawborn und seine Genossen ihr letztes Bohrloch. Denselben Abend
ging der arme Schlächter nach einer Kneipe, wo er sich die größte Mühe gab,
seinen Viertelanteil für 15 Pfund zu verkaufen, jedoch überall mit Hohngelächter
abgewiesen wurde. Als er aber am folgenden Tage die Grube besuchte, um seine
Gerätschaften wegzuholen und noch einen letzten Blick in das Grab seiner
Hoffnungen zu werfen, wurde er fast überwältigt durch ihren glänzenden
Anblick. Das erste Zerstampfen von 6 Tonnen Quarz lieferte 370 Unzen?)
Gold oder ungefähr 1480 Pfund Sterling. Seit der Zeit ist der Reichtum
der Gesellschaft schnell gewachsen und die Aktie, die für 15 Pfund keinen
Käufer fand, würde gegenwärtig gerne mit 10000 Pfund bezahlt werden.
Erfreulich ist es, daß auch unsere Landsleute beim Ausfschließen der
australischen Schätze nicht leer ausgehen, da unter anderen ein Deutscher
Namens Weißenharm genannt wird, der in einer Woche aus einer Tiefe
von 90 m nicht weniger als 4 Zentner Gold hervorholte.
Die Schätze, welche Cortez in Mexiko?) und Pizarro in Peru der Welt
offenbarten, sind unbedeutend gegen die unerschöpflichen Reichtümer jenes
ungeheuren Landes, wo noch vor Jahrzehnten keiner von dem Vorhandensein
des edlen Metalls etwas wußte, und welches schon in den ersten Jahren
von 1851 bis zum 30. Juni 1858 nicht weniger als 17565 538 Unzen
Gold, ungefähr 1250 Millionen Mark an Wert, dem Weltverkehr überlieferte.
Die größte aller neueren Goldentdeckungen verdankt man den Chinesen
Die Einwanderungssteuer brachte sie auf den Einfall, sich auf Umwegen in
R Kolonie zu schleichen; sie landeten in Südaustralien, und von dort über
die Grenze wandernd, kamen sie in der Nähe des Berges Ararat auf ein
Goldlager von wunderbarem Reichtum. einem ihrer ersten Lagerplätze,
während sie das Gras entwurzelten, um den Boden zu untersuchen, fanden
id das berühmte „Thinesenloch“, welches in wenigen Stunden 3000 Unzen
180000 Marhh lieferte. Diese glänzende Entdeckung führte zur bedeutendsten
Lewegung unter den Goldgräbern, die man gekannt hat; denn in wenigen
Wochen waren 60000 Menschen versammelt, und ehe noch ein Monat ver—
llossen war, hatte man schon den Grundplan einer großen Stadt systematisch
entworfen. Kaufläden, Gasthäuser, Restaurationen erhoben sich wie die
mystischen Bäume der indischen Taschenspieler, worauf bald Theater, Billard—
Immer, eine tägliche Eilpost und eine täglich erscheinende Zeitung folgten
So verwandelte sich innerhalb zweier Monate eine wilde Bergschlucht in die
regsamste Stadt, wo gut gelegene Baulose fast so teuer bezahlt wurden, wie
in denjenigen Straßen Londons, wo der Weltverkehr am lebendigsten rauscht.
) LUnze ⸗ 2 Lot alten Gewichts ) spr. mechiko
4
204 136. Die australischen Kolonien.
2. Neben ihren außerordentlichen mineralischen Schätzen ist die Provinz
Viktoria kaum minder merkwürdig durch die Ergiebigkeit ihrer Kornproduktion,
da sie an verhältnismäßigem Reichtum des Ertrages sowohl den Staat
New York, als Californien übertrifft. Südaustralien ist aber vorzugsweise
die Landbaukolonie des fünften Weltteils. Bei einer Bevölkerung von nur
110000 Seelen waren im Jahre 1855 187 560 Morgen allein mit Weizen
beste““ und in einem Jahre führte die Kolonie 30000 Tonnen!) Mehl vor—
zügli«, nach Viktoria aus, um sich dieselben dort mit Goldstaub reichlich
bezahlen zu lassen. Der Weinbau macht in vielen Teilen Australiens be—
deutende Fortschritte; doch erscheint Süd-Australien sich am besten für diese
Kultur zu eignen. Die Weine aus dieser Provinz sollen von den Sach—
kundigen bei der Pariser Ausstellung den besten dort ausgestellten Rheinweinen
vorgezogen worden sein.
Ein ungeheurer Aufschwung wurde natürlich. dem Ackerbau durch die
enormen Preise gegeben, welche durch das plötzliche Anschwellen der Be—
völkerung von Viktoria in den ersten Zeiten nach der Goldentdeckung hervor—
gerufen wurden, wo man Heu mit 1000 und Kartoffeln mit 500 Mark
die Tonne bezahlte, wo der einzelne Kohlkopf 2“/2 Mark galt, ein Paar
Hühner 30 Mark und ein Truthahn nicht weniger als 60!
Doch jene Zeiten sind nicht mehr, und die Preise der Landbauprodukte
haben sich schon längst wieder ins Gleichgewicht gestellt.
Neben dem Golde wird die Schafzucht immer noch die größte Quelle
des Reichtums für die australischen Kolonien bleiben, und sie wirkt noch
schneller als das Gold dahin, die Strecken zu erweitern, welche die Zivili—
sation der Wildnis entreißt. Die Anzahl der Schafe verdoppelt sich in un—
gefähr zwei und ein viertel Jahren, so daß sie alsdann einen doppelten
Raum erfordert, und so geht es fort in geometrischer Progression. Es liegt
etwas Erhabenes in jenem regelmäßigen Fortschreiten des Menschen und
seinen friedlichen Herden über die Wildnis, die er seinen Bedürfnissen zins—
bar macht. Vor ihm flieht in die noch unbekannten Einöden der schwarze
Schwan mit lautem Trompetengeschrei, das scheue Känguruh mit gewaltigen
Sprüngen und der träge Ureinwohner mit seinem Speer und seiner Wurf—
keule. Wo eben noch eine Wüste war, erheben sich Hütten, die allmählich
zu Weilern und Dörfern heranschwellen und wo vor kurzem bunte Papa—
geien und schneeweiße Kakadus ihr ohrzerreißendes Geschrei ertönen ließen,
singt der Kanarienvogel in seinem Käfig von chinesischem Bambusrohr das
liebliche, wohlbekannte Lied. Man hat nicht nur das peruanische Alpaka in
Australien eingeführt, sondern auch unsere Nachtigall nebst den andern be—
liebtesten Sängern unserer heimatlichen Fluren, gleichwie man die Ströme
Australiens mit Lachsen zu bevölkern bestrebt ist. Man kann sich denken,
daß Schäfer sehr gesucht sind und einen Lohn erhalten, um den mancher
Höhergestellte in Europa sie beneiden möchte. Das ruhige Leben in der
) 1Tonne ⸗ 20 Zentner oder 1000 Kilogramm
m 4
137. Der Golfstrom. 205
Wildnis hat für manche einen unaussprechlichen Reiz, und unter den Hütern
der Herden befinden sich einige, die in Cambridge) oder Orford studiert
hatten und nun, wie die alten Einsiedler der thebaischen Wüste, fern von
der Welt und den friedlichen Schafen folgend, ein glückliches, beschauliches
Leben führen. Viele der großen australischen Schafzüchter — Freiherren
in der vollen Bedeutung des Wortes — die Besitzer von ganzen Quadrat—
meilen Weideland und Eigentümer von hunderten von Pferden, tausenden
von Rindern, und zehntausenden von Schafen, lebten früher in einem fast
barbarischen Zustande; doch nun gibt es unter diesen vermögenden Familien
manche von feiner Erziehung, die sich mitten in ihren einsamen Triften mit
Blumengärten und schönen Anlagen umgeben.
Süd-Australien ist, wie bereits erwähnt, vorzugsweise die Provinz des
Ackerbaues. Es hat nur wenig Gold aufzuweisen, dagegen aber einen er—
staunlichen Reichtum an Kupfer. Die ungeheure Ergiebigkeit der Burra—
burra-Minen macht sie zu einem würdigen Stellvertreter des Goldes und
sucht in der Geschichte des Bergbaues ihresgleichen. Bemerkenswert ist
es, daß das Klima Australiens, infolge der Ansiedelung des Menschen sich
bedeutend zu bessern scheint. Die mittlere Temperatur mag dieselbe ge⸗
blieben sein, aber die unausstehlichen heißen Winde und Staubgestöber ver—
mindern sich von Jahr zu Jahr, wenigstens in der Nachbarschaft der Städte,
sowie die Sandhügel und Wüsten mehr und mehr überbaut und in Korn—
felder und Gärten verwandelt werden. Georg Hartwig.)
137. Der Golfstrom.
Unter den Meexesströmungen ist diejenige des nordatlantischen Ozeans
die bemerkenswerteste und für uns die weitaus wichtigste.
Die Äquatorialströmung, welche ihn südlich begrenzt, geht aus
von der Westküste Afrikas; sie bewegt sich anfänglich nach Südsüdwest, biegt
aber weiter sie fortschreitet, immer mehr nach Westen um. Bevor sie
die asritanische Küste verläßt, entsendet sie einen Zweig in südlicher Richtung
in den Meerbusen von Guinea. Der Hauptstrom aber wendet sich, der
Küste von Guyana folgend, ein wenig nach Norden, und ergießt sich, nachdem
er die Gewässer des Orenoko und Amazonas in sich aufgenommen, in das
Meer der Antillen; ein Teil desselben geht im Norden dieser Inseln vorüber,
ein andrer dringt südlich in den Golf von Mexiko ein, indem er den Küsten
desselben nachfolgt.
Auf diesem langen Wege, den fast scheitelrechten Strahlen der Tropen—
W ausgesetzt, gelangt das Wasser stark erwärmt in den mexikanischen
Meerbusen, welcher in der That die höchste Temperatur des ganzen atlan—
tischen Ozeans besitzt (bis 309). Zugleich wird durch die lebhafte Ver—
dampfung, welcher weder die tropischen Regengüsse noch die einmündenden
) spr. kembridsch.
206 137. Der Golfstrom.
Süßwasserströme vollständig das Gleichgewicht zu halten vermögen, der
Salzgehalt des Wassers beträchtlich erhöht.
Diese heiße, im mexikanischen Bassin sich sammelnde Salzflut entweicht
nun in nordöstlicher Richtung durch die Enge zwischen Cuba und Florida
und bildet einen majestätischen Strom, den Golfstrom, der rascher dahin—
fließt als der Mississippi und Amazonas und diese wohl tausendmal an
Wassermasse übertrifft. Zuerst folgt er in einiger Entfernung der nordameri—
kanischen Küste in nordöstlicher Richtung bis Long-Island, und wendet sich
dann gerade nach Osten; in der Gegend der Azoren spaltet er sich in zwei
Teile: der eine lenkt südwärts nach der afrikanischen Westküste zu und schließt
den Wirbel um das Sargassomeer, indem er in die dort entspringende
AÄquatorialströmung einmündet; der Hauptstrom aber setzt seinen Weg nord—
östlich fort nach den Westküsten Europas, bespült Irland, England und
Norwegen und sendet seine Ausläufer in die Polarmeere. Sein Bett ändert
sich ein wenig mit den Jahreszeiten, indem er im Winter weiter nach Süden
zurückweicht.
Die Breite des Golfstroms ist zwischen den Bahamabänken und Florida
nur gering, etwa 50 Kilometer; östlich von Kap Hatteras beträgt sie 120,
wächst aber dann rasch bis über 1000 Kilometer. In den Engen von Bemini
strömt er mit einer Geschwindigkeit von 7, bei Kap Hatteras von 5 Kilometer
per Stunde, welche aber in offener See bei sehr erweitertem Bett auf
3— 1 Kilometer abnimmt. An seiner engsten Stelle ist die Tiefe des
strömenden Wassers etwa 360, bei Kap Hatteras noch 200 Meter.
Die klaren Gewässer des Golfstroms zeichnen sich aus durch ihre tief—
blaue Farbe; längs der Küste von Karolina hebt er sich dadurch so
scharf von dem helleren Wasser des Meeres ab, daß man deutlich sehen
kann, wie sich die eine Hälfte eines Schiffes im Golfstrom, die andere im
stromfreien Meere befindet. Diese dunkelblaue Farbe, welche der Golfstrom
mit den Meeren der Passatregion und mit dem indischen Ozean gemein
hat, scheint von seinem hohen Salzgehalt herzurühren. In der That wird
in den Salinen der Concentrationsgrad der Sole nach dem Grade der
bläulichen Färbung beurteilt, welche sie bei steigendem Salzgehalte annimmt.
Es soll jedoch auch wärmeres Wasser eine mehr bläuliche Farbe haben als
kälteres. Vielleicht wirken beide Ursachen zusammen, um das Golfwasser so
tief gefürbt erscheinen zu lassen.
Nicht minder scharf als durch seine Farbe unterscheidet sich der Golf—
strom durch seine hohe Temperatur von dem umgebenden Meere. Bei
seinem Austritt aus dem Busen von Mexiko hat er eine Temperatur bis
zu 302, welche diejenige des Ozeans in gleicher geographischer Breite um
5 übertrifft. In der Nähe des Kap Hatteras besitzt er noch 26—27
Wärme und bis zur Neufundlandbank ist sein Wasser selbst im Winter
10 — 150 wärmer als das stromfreie Meer. Vermöge seiner geringeren
Dichte erhält sich das warme Wasser des Stromes auf der Oberfläche
137. Der Golsstrom 20
und erhebt sich sogar flach dachförmig über das Niveau des angrenzenden
Meeres. Ein Boot treibt von der Mitte des Stroms stets östlich oder
westlich, je nachdem es sich auf der östlichen oder westlichen Abdachung
befindet.
Für unsern Weltteil hat der Golfstrom die Bedeutung einer groß—
artigen Wasserheizung; das milde Klima Europas ist wohl zum
größten Teile seiner erwärmenden Wirkung zuzuschreiben. Die Gestade der
„Smaragdinsel“ Irland und die englischen Ufer prangen in immer grünem
Schmuck, während unter gleicher Breite die Küste von Labrador in starrendes
Eis gehüllt ist. Am meisten ist Norwegen, auf gleicher Breite wie Grön—
land, durch die Golfstromheizung begünstigt. Die Birke kommt noch fort
bis zur Nordgrenze des Landes, die Tanne noch jenseits des Polarkreises,
Kartoffeln gedeihen mit Ausnahme des äußersten Nordens überall, und
die Insel der Lofoden (unter 680 Nordbreite) haben sogar Kartoffeln und
Gerste zur Ausfuhr übrig. Drei Meilen nördlich von Drontheim kommen
noch die Kirschen zur Reife, und in Drontheim selbst zieht man feinere
Sorten von Äpfeln und Birnen. Bis zum Nordkap hinauf sind an der
norwegischen Küste die Häfen und das Meer im Winter von Eis frei,
während die Häfen von Hamburg und Bremen nicht selten zufrieren.
Die amerikanische Ostküste hat sich, obgleich der Golfstrom in so großer
Nähe an ihr vorbeizieht, ähnlicher Vorteile nicht zu erfreuen. Der Golf—
strom berührt nämlich dort die Küste nirgends, sondern zwischen ihn und
sie zwängt sich, von Norden kommend, der arktische Eisstrom ein,
der auf das Klima der östlichen Staaten der Union einen abkühlenden
Einfluß ausübt. So erklärt sich, warum an der amerikanischen Küste
das Treibeis bis zum 41. Breitegrad herabkommt, während es an der vom
Golfstrom bespülten Küste Finnmarkens, diesseits des 71. Grades, zu den
Seltenheiten gehört.
Bis in diese hohen Breiten führt der Golfstrom als greifbare Beweise
seines tropischen Ursprungs Erzeugnisse der heißen Zone mit sich fort.
Allerhand Sämereien, namentlich von Mimosen, die an den Flußufern
Jamaikas wachsen, die sogenannten „Molukkabohnen“, werden an den Küsten
Schottlands, der Hebriden und Norwegens angeschwemmt. Sogar an der
Nordküste von Spitzbergen wurde im Jahre 1861 eine westindische Hülsen—
frucht aufgefunden. Unter den Treibhölzern, welche sich an den vom Golf—
strom bespülten nordischen Gestaden ablagern, begegnet man auch dem
Brasilien- und Fernambukholz; das Treibholz dagegen, welches an der Nord—
küste Islands oft mehrere Ellen hoch aufgeschichtet liegt, befteht zum größten
Teil aus Nadelhölzern, welche durch die polare Gegenströmung von den
Küsten Nordasiens hergeschwemmt werden. Sabine berichtet, daß 1823
bei Hammerfest in Finnmarken einige Fässer Palmöl aufgefangen wurden,
welche einem im Jahre vorher an der afrikanischen Küste bei Kap Lopez
gestrandeten Schiffe angehörten, und sonach fast den ganzen Kreislauf der
atlantischen Gewässer mitgemacht hatten. (E. Lommel, Naturkräfte. X. Bd.)
E 138. Vom Bau des menschlichen Körpers
V. Aus der Naturkunde.
a. Vom Menschen und der Pflege seiner Gesundheit.
138. Vom Bau des menschlichen Körpers.
Unser Körper verdankt seine feste Grundlage den Knochen, sowie
an einzelnen Stellen den Knorpeln. Beide sind mit einer festen sehnigen
Haut (der Knochen- und Knorpelhaut) überzogen, welehe die Blutgefälse
für die Ernährung dieser Teile enthält. Zur Vereinigung der Knochen unter
einander zu einem festen Gerüste, zum Gerippe oder Skelett, dienen die
festen, aber biegsamen Knochenbänder. dvie verbinden die meisten
Knochen beweglich mit einander, bilden auf diese Weise die Gelenke und
machen so aus dem Gerippe ein in allen seinen Leilen sehr bewegliches
Gerüste. Um dessen Gewieht nicht zu schwer zu machen, bestehen die
Knochen nicht duren und durch aus Knochenmasse, sondern haben in
ihrem Innern eine Menge Räume, die mit leichtem, weichem Fette, dem
Knochenmarke, ausgefüllt sind, welches gleichzeitig auch ein weiches
schützendes Lager für die Gefälse und Nerven des Knochens bildet. An
das Knochen- und Knorpelgerüste sind teils die weichen LTeile, vorzugs-
weise aber die Muskeln oder das Fleisch angeheftet, teils bildet dieses
Gerüste samt den Muskeln Höhlen, in denen wichtige Organe geschũtzt
liegen. Die Muskeln verleihen unserm Körper nieht bloss seine Form
und umkleiden seine Höhlen, sondern vermitteln auch, indem sie sich
zusammenziehen und dadureh verkürzen können, alle Bewegungen, die
mit und in unserm Körper vor sich gehen. Im Innern der von Knochen,
Knorpeln und Muskeln umschlossenen Höhlen (Gehädel-, kugen-, Nasen-
Mund-, Brust-, Bauch-, Becken- und Rückgratshöhle) befinden sich die
sogenannten Bingeweide. Sie sind aus den verschiedenartigsten Geweben
aufgebaut und von der mannigfachsten Gestalt. Ihre Thätigkeit bezieht
sich entweder vorzugsweise auf die Unterhaltung unseres Lebens (wie die
Thatigkeit des Herzens, des Atmungs-, Verdauungs- und Harnapparates),
oder sie dienen der Wirksamkeit geistiger Vermögen (vie die Thätigkeit
des Gehirns, der Sinne und des Sprachapparates).
Alle die genannten Bestandteile unseres Körpers, die Knochen, Knorpeln,
Musiceln und Eingeweide, werden von einer grölsern oder geringern Anzahl
diekerer und dünnerer Röhren durchzogen. die sich entweder baumförmig
oder netzartig verbreiten.
Diese Röhren heissen Gefässe oder Adern und enthalten in ihrem
Innern entweder eine rote Flüssigkeit, das BIut, oder eine weisse milchige
Plũssigkeit, die Lymphe. Darnach werden sie als Blutgefässe und Lymph-
gefãsse bezeichnet. In den Blutgefüssen wird das Blut, die Quelle des
Lebens, mit Hilfé des Druckes des fleischigen Herzens, welches in der
208
139. Die Sinneswerkzeuge der Menschen. 209
Brusthöhle seine Lage hat, fortwahrend im Kreise herumgetrieben GBlut-
kreislauf, Zirkulation des Blutes.
Ausser den genannten Gefälsen durchziehen aber aueh noch weilse
haden vwie Telegraphendrähte alle Teile unseres Körpers. Es sind die
aus ganz feinen Fäserchen oder Röhrchen zusammengesetzten Nerven,
welehe die vereinzelten und sehr verschiedenartigen Teile unseres Körpers
zu einem innig zusammenhängenden Ganzen verbinden. die dienen ent—
weder den Empfindungen und Sinnen, oder den Bewegungen. Die aus
einer grölseren Portion Nervenmasse bestehenden Gebilde werden Nerven—
Mittelpunkte genannt; solehe sind: das Gehirn, das Rückenmark und die
Nervenknoten. Diese Nervenmittelpunkte samt den Nerven bilden das
Nervensystem und dieses vermittelt, aber immer erst infolge der An—
regung dureh äussere oder innere Reize, nicht nur alle Lebens-, sondern
auch die Verstandsthätigkeiten. Die äussere Oberfläche des Körpers hat
als allgemeine Bedeckung die aussere Haut, welehe aus drei übereinander
liegenden Schichten zusammengesetzt ist. Zu oberst befindet sich die
Oberhaut, darunter die Lederhaut, und unteèr dieser die Unter- oder Fett-
haut. Die innere Oberflache — als solehe werden die Wande der Höhlen
betrachtet, in velehe man von aussen dureh die natürlichen Offnungen an
unseren Körper eindringen kann — ist mit Schleimhaut bekleidet. Alle
die genannten Teile, velehe unsern Körper zusammensetzen, sind mehr
oder weniger von Zell- oder Bindgeweben durchzogen oder umhüllt und
mit der Prnahrungsflüssigkeit durchtrünkt.
Karl Ernst Bock. Bau. Leben und Pflege des mensehlichen Körpers.)
139. Die Sinneswerkzeuge der Menschen.
. Das schönste und bewunderungswürdigste von allen Körperteilen
ist das Auge, und dies nicht nur wegen seines Glanzes, seiner Beweg
lichkeit und kunstvollen Einrichtung, sondern besonders wegen seiner
bahigkeit, Gedanken und Gefühle auszudrücken. Mit Recht sagt man,
dass die Augen der Spiegel der Seele seien, und dass man in den Augen
eines anderen lesen könne, was er denkt. Das Auge ist fast vollkommen
kugelrund und liegt in der Augenhöhle eingeschlossen, s0 dass nur ein
kleiner Teil davon sichtbar ist. Man kann durch Befühlen leicht wahr-
nehmen wie das Auge rund herum von Knochen umgeben ist, und es
ist dies vom SsSchõpfer deswegen so geordnet, weil das Auge ein sehr
zarter und empfindlicher Körperteil ist, und weil es daher eines solchen
sschutzes gegen Druck und Stoss bedarf. Ausserdem ist es gegen Rauch,
staub, zu starkes Licht u. s. w. durch die Augenlider und die an
ihnen sitzenden Wimpern geschützt. Auch die Augenbrauen tragen
das ihre zur Beschirmung der Augen bei, indem sie von denselben den
sschweiss abhalten, weleher von der Stirne herabrinnt. Das Auge oder
Marschall, Lesebuch für gewerbl. Fortbildungsschulen Kl. Ausg.
14
210 139. Die Sinneswerkzeuge der Menschett.
der Augapfel selbst besteht aus mehreren übereinander liegenden Häuten,
welche eine Höhle umschliessen, worin sich die Augenflüssigkeit
und die Krystall-Linse befinden. Mitten im Weissen des Auges nach
vorne ist die helle, durchsichtige Hornhaut, welche blau oder braun,
grünlich oder schwärzlich ist und dem Auge seine Farbe gibt. Die runde
Offnung in dieser Haut wird die Pu pille genannt und erscheint schwarz,
weil das Innere des Auges dunkel ist. Unmittelbar hinter der Pupille
sitzt die Krystall-Linse, ein klarer, glasartiger Körper, velcher wie ein
Brennglas gestaltet ist. Durch die Hornhaut, die Pupille und die Linse
gelangt das Licht in das Auge und wirkt hier auf die Netzhaut oder die
hautartige Ausbreitung des Augennerven, so dass wir sehen. Zur
Bewegung des Augapfels nach allen Richtungen hin sind äusserlich an
ihm mehrere Muskel angebracht. Unter den obern Augenlidern nach
aussen liegen die Ihränendrüsen, vwvelche die Thränen absondern,
womit die Augen fortwährend befeuchtet und gleichsam bewässert werden.
Von dem Auge flielsen die Thränen durch mehrere feine Kanälchen
vom inneren Augenwinkel aus in die Nase herab.
Der Sinn des Gesichtes ist der kostbarste Sinn des Menschen, weshalb
wir auch den Blinden mehr bedauern, als 2. B. den Tauben. Das Sehver-
mõgen kann durch mancherlei Augenkrankheiten geschwächt oder verloren
werden. Zuweilen wird durch Entzündung, Verwundung u. dgl. die Horn-
haut getrubt, ganz verdunkelt, mit einer Haut überzogen oder in eine weilse,
auch wohl weilslichgraue Narbenmasse verwandelt, was zur holge hat,
dass die Sehkraft sehr geschwächt oder gänzlich aufgehoben wird. Durch
dieselben Ursachen kann die Pupille zuwachsen und sich ganz ver—
schliessen, so dass kein Licht mehr in das Auge einzudringen vermag
und dasselbe blind vird. Wenn die Krystall Linse trübe wird und grau
erscheint, so entssteht jene Art von Blindheit, velche man „grauen Star“
nennt, und welche der Arzt durch Herausnahme der Linse oder durch
Hinabdrũucken in die Liefe des Augapfels heilen kann. Die sehlende
Linse wvird alsdann durch den Gebrauch einer entsprechend starken
Brille ersetzt. Wenn aber der Sehnervy durch Lähmung seine RKraft, und
dadurch das Auge seine Fähigkeit zu sehen verloren hat, obwohl es für
den Nichtkenner unbeschädigt erscheint, so nennt man die dadurch er-
zeugte Blindheit schwarzen Star“, welcher nur höchst selten geheilt
werden kann. Viele Menschen, besonders alte Leute, sehen in der Nahe
schlecht, auf weitere Entfernungen aber gut. Diese nennt man weit-
sichtig oder fernsichtig. Kurzsichtig dagegen nennt man jene,
welche in der Nähe gut, aber in die herne schlecht sehen. Durch den
Gebrauch passender Augengläser kann diesen Fehlern in der Regel ab-
geholfen werden, und 2war bedarf der Kurzssichtige Gläser, die hohl
Konkav) geschliffen sind, entweder nur auf einer Seite, oder auf beiden
Seiten, der Weitsichtige dagegen bedarf Gläser, velche erhaben, linsen
förmig (konvex) geschliffen sind.
139. Die Sinneswerkzeuge der Menschen. 211
2. Von dem Werkzeuge des Gehöres sehen wir nur den äulsern
Ieil, die Obrmuschel, velche dazu dient, die Laute aufzufangen. Von
dem ausseren Ohr führt ein Gang tiefer hinein in den Kopf zum innern
Ohr. In dem ausseren Gehörgang vird fortwährend ein klebriger Stoff
abgesondert, velchen man das Ohrenschmalz nennt, und der dazu dient,
Staub, Haare u. dgl., welche sonst zu tief ins Ohr eindringen würden,
abzuhalten. Zwischen dem ausseren und inneren Ohr, auf dem Grunde
des ãusseren Gehõörganges, ist eine Haut ausgespannt, velche das Trommel⸗
fell heisst; die Laute verden im Ohr durch das Anschlagen der Schall-
wellen an diese Haut vahrgenommen. Das innere Ohr ist äulserst Lunst-
voll eingerichtet und besteht aus feinen Knöchelchen und gewundenen
röhrigen Gaängen, in welchen die Gehörnerven liegen. Von den innern
Ohrteilen gehen Gaänge in die Rachenhöhle, welche auf beiden Seiten
derselben einmũünden, und zwar in der Nahe des Ubergangs der Nasen-
gange in den Rachen. Schwerhörigkeit und Taubheit können aus
verschiedenen Ursachen entstebhen. Nicht selten kommen sie von zu
grosser Ansammlung des Ohrenschmalzes her, vodurch der Gehörgang
Verstopft wird, so dass der Schall nun nicht zum Trommelfell gelangen
kann. Vorsichtige Reinigung des Gehörganges von diesen Stoffen reieht
dann hin, das Gehör wieder herzustellen. Schlimmer steht es in vielen
andern Fallen, wo die Schwerhörigkeit einen tiefer liegenden Grund hat
und viel schwerer geheilt oder gebessert werden Kann. Angeborne oder
dureh Missbildung und zerstörende Krankheiten im Innern des Ohres
entstandene Taubheit ist unheilbar.
3. Der oberste Teil der Nase besteht aus Knochen, der untere aus
Knorpeln, innen isst sie durch eine senkrechte Scheidewand in zwei Teile
geteilt, velche sich nicht nur nach aulsen durch die Nasenlöõcher, sondern
auch nach innen gegen die Rachenhöhle öffnen. So geschieht es, dass
zuweilen beim Niessen Dinge, die vir im Munde haben, durch die Nase
heraus kKommen, oder dass derjenige, velcher aus der Nase blutet, auch
Blut in den Mund erhält. Innen ist die Nase mit einer Haut ausgekleidet,
welehe durch die von den Augen herabkommenden Thränen und durch
den Schleim, der aus einer Menge kleiner Drüschen abgesondert wird,
ztets feucht erhalten bleibt. In dieser Haut liegen die Geruchsnerven
ausgebreitet. Von den riechenden Dingen steigt fortwährend ein seiner,
unsiehtharer Duft auf, velcher sich in der Luft verbreitet und beim Atem-
holen in die Nase eingesogen wird, wo er auf die Geruchsnerven virkt.
Dureh bung kann der Geruchssinn ebenso wie die andern Sinne sehr
geschärft verden. Manche Wilde haben einen so feinen Geruch, dass
zie mit demselben, Hunden ahnlich, das Wild aufzuspuren vermõgen.
Durch häufiges Riechen starkriechender Dinge wird dagegen der Geruch
bedeutend geschwacht, besonders beim Gebrauche des sschnupftabaks,
welcher demnach den Nachteil bringt, die Krasft eines der Sinne zu ver-
mindern, die der Schöpfer dem Menschen zu seinem Nutzen gegeben hat.
*
¶
28 140. Von den Muskeln.
4. Das hauptsächlichste Werkzeug für den Geschmachk ist die Zunge.
Dieselbe ist durch Muskeln an dem Zungenbeine befestigt, velches unter-
halb des Kinns über dem Rehlkopf liegt; auf ihrer Oberfläche hat sie
viele Kleine Wärzchen, in denen sich die Spitzen des Geschmacksnerven
endigen. Auf dem Boden der Mundhöhle ist sie mit einer sehr aus-
dehnbaren Haut angeheftet, velche in der Mitte eine Falte, das sogenannte
Zungenbändchen bildet; über sich hat sie den Gaumen. Aulser der
Zunge scheinen auch die Lippen, die innern Hlächen der Backen und
der harte und veiche Gaumen an den Eindrücken, velche schmeckende
Dinge im Munde hervorbringen, teilæunehmen, und der Geruch ist gewiss
nicht ohne Einfluss auf die Beinheit des Schmeckens; denn bei ver—
stopfter Nase wird man weniger gut schmecken, als wenn dieselbe frei
ist. Unterstützend wirken dabei ferner die Speicheldrüsen, von denen
fortwãhrend Speichel abgesondert wird. welcher die Zunge und die Mund-
höhle feucht erhält. Letztere wird hinten durch das Gaumensegel
geschlossen, hinter velchem sich die Nasenhöhle öffnet. Von dem
Gaumensegel hängt das Zäpfchen herab, das bisweilen so lang wird, dass
es bis zur Zungenwurzel reicht, und man sagt dann, dass das Zäpfchen
herabgefallen sei. Zu beiden Seiten der Wurzel der Zunge liegen die
Mandeln, die bei Halsentzündungen oft so bedeutend schwellen, dass
das Schlingen unmöglich gemacht und selbst das Atmen in hohem Grade
erschwert wird.
5. Fast mit allen Leilen unseres Körpers sind wir im Stande zu unter-
scheiden, ob ein Gegenstand warm oder kalt, hart oder weich, glatt oder
rauh ist. Es geschieht dies mit Hilfe der Gefühlsnerven, welche überall
in der Haut verbreitet sind. Wo die meisten Nerven liegen, und wo sie
der Oberflache am nächsten sind, da haben wir das feinste Gefühl,
z. B. in den Fingerspitzen, und man bezeichnet das hier zu Tage tretende
Gefuhl mit dem Namen Tastsinn. Derselbe ist einer ausserordentlichen
Ausbildung fähig, was vir namentlich an Blinden beobachten können,
bei velchen der Tastsinn für eine Menge von Dingen den fehlenden
Gesichtssinn ersetzt. Man sagt aus diesem Grunde, dass die Haut das
WVerkzeug für das Gefühl oder für den Tastsinn ist.
(Lor. Tutschek „Die Natur“, vach dem Sechwedischen v. N. J. Berlin.)
140. Von den Muskeln.
1. Bei allen lebendigen Bewegungen dienen die Knochen lediglich
als Stũützpunkte und Hebel; die Bewegung selbst wird dureh die Muskeln
hervorgebracht. Diese bilden den grölsten Teil dessen, was im gewöhn—
lichen Leben „Fleisch genannt wvird. Jeder Muskel besteht aus sehr
vielen feinen Fasern, die gestreckt neben einander liegen. Betrachtet
man solehe Fasern unter einem stark vergrölsernden Mikroskop, s0
erkennt man, dass jede einzelne wiederum ein Bündel von noch viel
feineren Fasern ist. welebe aus einer zarten durehsichtigen Hälle und
12
140. Von den Muskeln. 213
einer beträchtlächen Anzabl aulserst dünner PFäden bestehen, die durch
ganz regelmässige Anschwellungen und Einschnürungen fast das Ansehen
feiner Perlschnüre gewinnen. Diese Urfasern liegen in ihren Bündeln so
regelmässig aneinander, dass immer die eingeschnürten Stellen einander
entsprechen und die Bündel quergestreift erscheinen lassen. Solche Muskeln
sind nun entweder mit beiden Enden an verschiedenen gegen einander
beweglichen Teilen, meistens an Knochen, oder aueh an der Haut, dem
Augapfel u. dgl. befestigt, oder sie bilden obhne Ende RKreise um gewisse
ferschliessbare Körperöffnungen, 2. B. die Muskelfasern um den Mund;
ein Muskel, dessen Fasern siech unentwindbar verflechten, bildet sogar
einen Hoblschlauch, das Herz. Manche Muskelfasern gehen in feste,
weisse Stränge, die Sehnen oder Flechsen, über. Diese, bald webr
rundlieh, bald glatt und hautartig, haben stets eine bedeutend geringere
Dicke als die Muskeln selbst, denen sie als wenig ausdebnsame Zug-
leinen dienen. Auceh gewähren die Sehnen noch den grossen Vorteil, dass
sie über Stellen hinweg gehen, welehe häufigem Druck ausgesetzt sind,
der die FPleischmasse der Muskeln beschädigen vürde. Aulser den quer—
gestreiften Muskeln finden sieb noch glatte Muskeln, die aus glatten
Hasern oder Plättehen bestehen, in der Haut und in den Eingeweiden,
2. B. im Magen und Darm, in den Blutgefässen und andern Teilen, deren
Bewegungen durch sie gewöhnlich hervorgebracht verden. Im Menschen
sind sie nirgends in so grossen Mengen zusammen gehäuft, dass sie mit
blolssem Auge deutlich zu erkennen vären; dagegen besteht der starke
Muskelmagen der körnerfressenden Vögel aus solehen glatten Muskel-
fasern. Ihre Wirkung ist unabhängig vom Millen, weshalb sie auch im
Gegensatz zu den quergestreiften, die fast alle villkürlich zu bewegen
sind, unwillkürliche Muskeln genannt verden.
2. So lange das Leben dauert, befinden sieh sämtliche Muskeln in
einer gewissen Spannung. Ein querdurchschnittener Muskel ziebt sieh
infolge dieser Spannung nach beiden Seiten von der Wunde zurück. Diese
Spannung hört auch im Schlafe nicht auf und gibt dem lebenden Körper
fortwährend eine gewisse Haltung und Pestigkeit, die erst mit dem Leben
erlischt. Wenn ein Muskel seine bewegende Kraft ausübt, so verden
seine Fasern straff und härter, und verkürzen sich, indem die Querstreifen
näher zusammenrücken. sSolehe Muskelzusammenziehungen geschehen
Vährend des Lebens nur infolge einer nregung dureh die Nerven der
Masi in, velehe vom Gehirn und Rückenmark herkommen, sich in den
Muskeln in zahlreiche, ausserst feine Zweige teilen und an den Urbũndeln
ihr Ende finden. Sind die Nerven eines Muskels durchsehnitten oder
zonst vie zerstört, so vermag der Wille keine Bewegung desselben hervor-
zurufen; der Muskel bleibt unthätig, wenn aueh die benachbarten Muskeln
noch dem Willen gehorehen: Die Kraft, vwelehe ein Muskel auszuüben
vermag, ist von der Zahl, Dieke und Länge seiner Fasern, so wie von
der Richtung seines Zuges abhängig. Je dicker ein Muskel ist, also je
214 140. Von den Muskeln.
zahlreichere und diekere Fleischfasern er besitzt, desto grölser ist die
Last, die er zu tragen im Stande ist, ohne gewaltsam gedehnt zu werden;
je länger aber seine Fasern sind, desto mehr kann er sich verkürzen,
und um so höher also seine Last heben.
Bei jeder Muskelthätigkeit spielen das Gehirn und die von ihm ab—
hängigen Bewegungsnerven eine äulserst wichtige Rolle, indem sie die
Muskeln zur Zusammenziehung veranlassen und Schnelligkeit, Kraft, Dauer
und Nachlass derselben bestimmen. Dabher ist jede Uuskelübung
zugleieh eine Nervenübung und stärkt mit den Muskeln zugleich
sowohl die Nerven, als auch Gehirn und Rückenmark, von velchen jede
Nerventhätigkeit ausgeht. Es ist allgemein bekannt, dass die Kraft der
Muskeln duren Ubung zunimmt und bis zu erstaunlichen Leistungen ent-
wickelt werden kann: durch die Ubung werden zunächst die Muskelfasern
kester, derber, und nehmen allmählich auch an Zahl zu. Ungeübte Muskeln
werden dagegen welk und schwach. Die Arme eines Grobschmiedes können
einem Herkules entsprechen, vährend seine Beine, die weniger geübt
werden, verhältnismässig schwächer sind. Auf den Turnplätzen können
wir täglich sehen, wie durch angemessene Ubung in kurzer Zeit die Muskeln
zu einem hohen Grade von Rraft ausgebildet werden, und zwar entwickelt
sich die Kraft rascher, als die Muskeln an messbarer Dieke zunehmen.
Es wechselt aber auch die Leistungsfähigkeit der vom Millen erregten
Muskeln sehr nach dem jeweiligen Zustande der Ernährung, und zwar
binnen so kurzer Zeit, dass von einer Vermehrung oder einer Verminderung
der Muskelfasern gar keine Rede sein kann; der stärkste Arbeiter wird
mũüũde und schwach, wenn er Hunger und Durst leidet, und wird durch ein
krãftiges Mahl oder gar nur einen erquickenden Trunk in kürzester Zeit
zu neuen Anstrengungen befähigt. Arbeitende Muskeln ermüden aber auch
dureh ihre Arbeit. Diese Ermũüdung erklärt sich daraus, dass die lebendigen
Muskeln fortwährend Veränderungen ihrer Bestandteile erleiden.
Durch genaue Versuehe ist bewiesen, dass die Muskeln nieht arbeiten
können, wenn ihnen niceht fortwährend freier Sauerstoff zugeführt vwird.
Der Sauerstoff verbindet sich mit den Grundstoffen der zusammenziehungs-
fähigen Muskelfaser, und was hiedureh zerstört — verbrannt — vird,
wird durch andere Blutbestandteile verdrängt und ersetzt. Dieser Stoff-
wechsel im Muskel ist es, weleher seine bewegenden Kräfte erzeugt: wenn
der Verbrauch schneller ist, als der Ersatz, so verliert der Muskel seine
leistungsfahigkeit, er ermũdet. Die vermehrte Arbeit stärkt aber den
Muskel dadureh, dass sie den Blutzufluss. das Austreten des Muskelsaftes
aus den Blutgefässen und den Stoffwandel im Muskel steigert. Kräftige
Muskelarbeit steigert aber auch das Bedürfnis nach Pleischnahrung
Fleisch, Eier, Kase u. dgl.); sie ssteigert auch die Ernährung der Knochen,
welehe dureb Muskeln bewegt werden, die dadurch an Pestigkeit, Dicke
und Schwere zunehmen; sie steigert endlieb. wenn sie mit angemessenen
141. Hautpflege. 215
Erholungszeiten abwechselt und mit guter Nahrung Hand in Hand geht,
die gesamten Körperkräfte, die Gesundheit und das Woblbefinden.
(Fried. Dornblũth. Sehule der Gesundheit.)
141. Hautpflege.
Das der Hautpflege förderlichste Mittel ist allgemeine
Reinlichkeit, velebe dureh Abwaschungen, Bäder und Abreibungen
der Haut, sowie dureh reine Wäsche erzielt wird. Tägliche Waschungen
des ganzen Körpers sind für das Woblbefinden und die Gesundheit
von grölster Wiehtigkeit. Seife nützt bei diesen Naschungen des-
halb, weil sie den fettigen Schmutz auf der Haut, den das blosse
WVasser nicht entfernen kann, auflöst.
Der Wechsel der Leibwäsche ersetzt in etwas das tägliche
WVaschen des Körpers. Die Wäsche saugt nämlich die Hautabson-
derung in sich ein, nimmt aueh den in der Luft schwebenden Staub,
der sich auf die Haut legen würde, auf und verhindert, besonders
durch das Trockenhalten der Haut, die Ansammlung von Schmutz.
WVährend der Nacht verdunstet aus dem ausgezogenen Taghemde
und wvährend des Tages aus dem ausgezogenen Nachthemde die
aufgesogene Hautausdünstung, und so werden beide zum Tragen
wieder geschickt.
Die Kräftigung und abhärtung der Haut, vobei deren
Fasern straffer und befähigt werden, verschiedene Witterungsver—
hältnisse, vorzüglich Temperaturwechsel, besser ertragen zu lernen,
um sieh nieht so leicht sogenannte Erkältungskrankheiten (Katarrhe,
Rheumatismen, Nervenschmerzen u. s. w.) zuzuziehen, kann nur
dureh allmähliche Gewöhnung der Haut an Rälte erreicht werden.
Diese Kälte in Form des kalten Wassers (als Waschungen und Bäder)
und der kalten Luft (leichte Kleidung) angewendet, verlangt aber
hinsichtlich ihrer Einvirkung nur naeëh und nach eine Steigerung,
so dass also kalte Bider und leichte Kleidung immer länger in die
kältere Jahreszeit hinein angewendet werden müssen. Mer sich
nieht ganz wobl fühlt, sollte diese Abhärtung ganz unterlassen oder
doch mit ãusserster Vorsicht vornebhnen.
UÜberhaupt bedenke man, dass Külte, zumal wenn sie plötzlich
und sehnell vorübergehend (als Begiessung) auf die Haut einwirkt,
ein sehr starkes Erregungsmittel ist. velebes durceh die zahlreichen
Empfindungsnerven der Haut auf das Gehirn und Rückenmark ein-
wirkt. Deshalb vendet wman bei Scheintoten auch kalte Uber—
giessungen zur Wiederbelebung an. Häufig wiederholte Reizung der
216 142. Vom Gehirn und von den Nerven.
Hautnerven dureh Kälte kann sehr leicht Uberreizung, Störungen
in der Hirn- und Nerventhätigkeit (Sogenannte Nervosität, Nerven—
schwäche) veranlassen.
Zum MNoblbefinden der Haut und des ganzen Körpers tragen
Bewegungen, besonders geregelte vie beim Turnen, und eine
passende Kleidung sehr viel bei.
Schnelles Abkũühlen der erhitzten, schwitzenden Haut, wie über—
haupt Unterdrückung der Hautthätigkeit kann insofern nachteilig,
sogar lebensgefährlich werden, als dadurebh neben fieberhbaftem
(akutem) Rheumatismus eine Herzentzündung hbervorgerufen werden
kann, die entweder sehr schnell den Tod hberbeiführt oder unbeil—
bare Herzfehler nach sich ziebt. Um den schädlichen Folgen einer
solehen Erkältung vorzubeugen, rufe man so bald als möglich eine
starke Schweissabsonderung dureh reichliches Trinken von heissem
Wasser oder Thee hervor, und zwar trinke man dieses heilse Ge-
tränk im Bette, bis an den Hals zugedeckt. ec a. 2. 0
142. Vom Gehirn und von den Nerven.
Das Gehirn ist eine veiche, markähnliche, weils und graue Masse,
welehe die ganze Schädelhöhle ausfüllt. Sie besteht aus zwei Teilen,
einem grölsern, weleher das grosse Gehirn, und einem kleineren, velcher
das kleine Gehirn genannt wird; von dem letzteren geht dureh eine Offnung
auf dem Boden des Schädels eine Art Strang ab, welcher die Höhle im
Rũckgrat ausfũüllt und Rückenmark genannt vird. Von dem Gebirn und
Rũckenmark laufen paarweise viele feine PFaden aus, immer einer links
und einer rechts, welche sich in die meisten Teile des Körpers verzweigen;
diese Fäden heisst man Nerven. Durch Gehbirn und Nerven virkt die
seele auf die Glieder des Leibes; anderseits virken die Gegenstände
um uns her durch die Vermittelung von Gebirn und Nerven auf die
Seele. VWenn man 2. B. die Beine in Bewegung setzt, um zu gehen, oder
wenn man mit den Händen etwas ergreift, so ist es das Gehirn, welches
dureh die Nerven auf die Muskeln wirkt, so dass sie sich zusammen—
ziehen und die Bewegung ausführen, die man wünscht. Wenn man aber
einen Gegenstand sieht, so wirkt dieser dureh einen Nerven im Auge auf
das Gehirn, oder vwenn man einen Finger drückt, dass es wehe thut, s0
sind es die gedrückten Nerven im Finger, welche dureh das Gehirn das
Gtefühl des Schmerzes verursachen. Aus diesem Grunde hat der Mensch
an jenen Körperteilen, zu welchen keine Nerven geben, vwie in den
Nägeln und Haaren, kein Gefühl. Man sieht aus dem Gesagten, dass es
hauptsächlich zweierlei Arten von Nerven gibt, nämlieh solehe, welche
die Bewegungen. und solehe, welebe die Empfindungen vermitteln, also
Bewegungs- und Empfindungsnerven. Eine dritte Art sind die Ernährungs—
143. Der Schlaf. 217
nerven. Gehirn und Räückenmark sind sehr wichtige und empündliche
Kõrperteile, weshalb sie auch wohl verwahrt innerhalb knöcherner Wände
liegen. Werden sie von einem Schlage getroffen, oder wird ein Druck
auf sie ausgeübt, so ist meistens Lahmung, Gefũhllosigkeit oder Bewusst-
losigkeit die Folge davon. Durch das Gehirn laufen viele Adern; venn diese
mit mehr Blut angefüllt werden als gewöhnlich, so drücken auch sie auf
das Gehirn. Es kommt dies bei gewissen Krankheiten vor, bei welehen der
Kranke anfängt irre zu reden und zu rasen; dasselbe geschieht auch, wenn
ztarke Getrünke im Ubermalse genossen werden. Hieraus lässt sich leicht
erklären, varum betrunkene Menschen verworren reden, gewaltthãtig verden
und ihrer selbst nicht mächtig sind. Zur Bewahrung der Gesundheit ist es
daher von grosser Wichtigkeit, alles zu vermeiden, vodureh das Blut zum
Gehirn getrieben vird. Uber gewisse Nerven, welehe vom Gehirn und Rũcken-
mark ausgehen, hat, wie bereits angedeutet wurde, der VWille vollkommene
Gewalt; es gibt aber auch eine Anzahl Nerven, welehe der Wille nicht
beherrschen kann. Soleche Nerven gehen zum Herzen, zu den Adern,
zu den Lungen und den Verdauungswerkzeugen. Es lãauft also das Blut
im Körper herum, das Atmen hat seinen Fortgang, und es werden die
Speisen verdaut, ohne dass wir mit unserm Willen etwas dazu beitragen,
und daher selbst vährend wir sehlafen. Merkwürdig ist, vie die Einwirkung
der Nerven auf die Blutbewegung bei gewissen Gemütsaufregungen sich
verstärkt. So wird, wenn jemand sieh schämt oder in Zorn gerät, das
Gesicht rot, indem das Blut in die feinen Adern der Gesichtshaut ge-
trieben vird; wenn dagegen jemand heftig erschrickt, so erbleieht sein
Gesicht, weil äureb die Wirkung des Gehirns und der Nerven das Blut
von der Haut zurück gegen die inneren Leile tritt. Die Nerven, welche
dem Willen nicht gehorchen, wirken ununterbrochen und bedũrfen keiner
Rube, so lange der Menseb lebt; das Gehirn und Rũückenmark dagegen
und jene Nerven, welche dem Willen gehorehen, müssen oft von ihrer
Thatigkeit ausruhen. Sie sinden ihre Erholung vährend des Schlafes.
or. Tutschek „Die Natur“, nach dem Sehwedischen von J. N. Borlin.)
143. Der Schlatf.
Finlen wir eu Abend die Rörperhraft im guneen schrinden, die
Augenlider sioh sohliesssen, s0 bedeutet dies, dass das Pulsaderssystem er—
m, der Blutdruch daher nachlusst, das Gehirn nieht melir die nötige
Belehun erfuhrt. Dieser Aistond, Sehlo maunmnt, telll sich in der Regel
einige nach Eintritti der Dunelheit ein und hngt am letaten Ende
mit einer noch mieht besprochenen Eigentimlichlßeit umseres Heiæuppurates
eusammon.
Diese Pigentimliehheit besteht numlich darin, dass die Wärmeregelumgq
im Verlauf des Tages sich steigert, um Mitlug etid ihren Höhepunht
erreicht, damn dllmdhlieh abnimmt und diese niedere Aufe uüber Nacsit
218 143. Der Schlaf.
beibenhult. Nicht ohne Schaden für das Gunee wird dieser nuturliohe Turnus
durch Mahlæeiten, Berausclunq; Oberaurbeit auf die Daouer gestöôt. Mit der
abendlichen Abnahme der Wärmebildumg Hund in Hand geht der Nachlauss
des Lutdruchs, den man aun Bleinen Kindern durch Betastung der Pontu-
nelle naghnoeisen hunn. Ein Naturforscher hat sch duαν durν n Qlus-
fenstor, das er Tieren in das Schädeldach setete, unmittelbar uberæcugt,
dass rαêν des Scllufes die Gehirnmausse blasser wird und viele Hirn-
adern mn sανν , duss abα bν rοα erstereè stur rot und
letetere deutlich geflll werden. Wenn gegenteils wuhrend des Schlafes viel
mehr Sauerstoff engeatmet wird, s0 lũsst sion dieser Zustond als die Zeit
beæeichnen, uo die Natur den Heieapparat nuch Einstellung des Getriebes
n inre stille Werlisttte nimmt, um denselben mit Vorrut eu fülloen.
Dass m du Pulsadersystem, nieht aber der gunee Rörper uie tot
ist. e fahrunq, indem wir im Scehlafe denben, reden, gehen
Amus), wie denn der sellufende Reiter die Zigel in der Hand
. ανν ν fortfur. Angesichts dessen
D genesgt, nen Hecht eu geben, welch im Sellufe die ursprumq-
ic bengorm liαα, wαν m nimicn beruchsicntqt, dass dus
M or monννν ααννανννν ανr un lunge fortfunrt,
men n eu w. Das Umgekehrte entiviohelt sich erst
von , ο mit sαανννον α Gnν der Blut-
drudè ßter αν d νmrαναν ο αο α α
periouν Abllaufe dusbldet. Geuwohmnheit tlut hier freilich selir viel; denn
man Lnmnte, wenn mun uwollte, einen Menschen s0 aiehen, dass er om Tage
SC. und die Nont uaochte, äse und trunse, uwie dies Bernadotte
von banueden sich angenο hο ο. Die Grimde auseimnoandereæuseteæen,
warum der qhyemeine Gebrauch voræuaiehen, uwũre uberflüssi, und wer
das Morgenstunde einheimsen will, muss fruüh eu Boett gehen,
eime beνννÚÌ der mun sich am bessten durch einen morgentlichen
Vaer vany vberetet. Das persönliche Bedurfnis nach dem Loitmause
des bSlafes richtet sich nuch RKräftigheit und Lomperamenl. Ausser-
ordentliche Geister, wie Prinæ Eugen, Tilly, Priedrich der arosse,
solen m b un uααανm ν. Vννανννν bαν bα r
sνrmααν ν mνr, n nον Alier nihort sα d
dem? n Grune dem Eindlichen Zustunde. Beiden sei audh eimne huræe
Soll pause in der Mitte des Dee gegönnt, æumal naon der Manlæeit, o
der Lntandrum, eæu den Onteribοννα οrνννναον Nνν dos
Blutdrucus im ehirne bewirlè. Vollsaftigen und Leleibten dagegen be-
bommt der Nachmittagssohluf in der Hegel schlecht, weil der volle Magen
Heræschlug und Atmumgq besclrume, daher hier das Wort gilt Moh dem
Essen sollst du stehen oder tuusend Schritte gehen.“ Diese Regel gilt
insofern für alle, als Steen, umα mit vrαννν Ober*öνpαr, eο—
falls nach der Mahleeit heinem rätlich ist.
144. Das Atmen. 219
Das Schnarchen, beildufig bemerlit, hommt vom Schlafen mit osfenem
Mimde, wo dann das Gaumensegel hinteèn in der Mundhoôhle uwie ein
Kaurtenblatt vom Alem, ähmlich wie von einem Violinbogen, gestrichen wird.
Man Lann das Schnarchen vermeiden oder sich wieder abgeiwöhnen, wenn
man mit geschlossenem Mumde sohluft, wie es denn überhaupt qut ist,
durch die Nase eæu atmen stutt durch den Mumd, weil dann die halte
Luft vor dem Eintritt in die Lamgen entsprechend erwormt vwird.
iemener, Gesundheitslohre. Naturhrũüfte Bd. XVIII.
144. Das Atmen.
Atmung nennt man denjenigen Vorgang im Leibe der Tiere und
Menschen, bei velehem in regelmässigem Wechsel luftförmige Stoffe in das
Blut aufgenommen und aus demselben entfernt werden. Dies geschieht
teils dureh die aussere Haut, teils dureh besondere Atmungsorgane. Letztere
ind bei den Menschèn die Lungen. Beim regelmässigen Atmen wird
Saueretoff aus der Luft aufgenommen und werden Kohlensäure und Wasser-
dunst als Ergebnisse des Verbrennungsprozesses ausgehaucht. Das Atmen
isst die für Leben und Gesundheit notwendige Verrichtung des Körpers.
Der erste und der letzte Atemzug bezeichnen die Grenzen des selbständigen
Daseins. Das Lungenatmen des Menschen besteht darin, dass die beiden
in der Brust befindlichen grossen Lungensäcke dureh die Luftröhre sieh
mit Luft füllen und diese auf demselben Wege von sich geben. Dies
geschieht teils dureb Erweiterung und Verengung des Brustkorbes, teils
dureh Zusammenziehung und Erschlaffung des Zwerehfells. Die Zahl der
Atmungen beträgt beim Erwachsenen 16—24 in der Minute, kann sich
aber bis ) verlangsamen oder bis 40 vermehren. Nit dem Lebensalter
andert sieh die Häufigkeit der Atemzüge, wie die der Pulssehlage. In der
Regel kommen 4 Pulssehläge auf einen Atemzug. MWas die Luftmenge anbe-
langt, so lässst jeder ruhige Atemzug ungefähr 500 eem in die Lunge ein-
treten und stölst ebeusoviel wieder aus. Wir können aber nach Wunsch
und Bedürfnis viel tiefer ein- und ausatmen, als wir gewöhnlich pflegen,
und vermögen dann 2000 — 4500 cem einzulassen und auszutreiben; bei
kerüftigen Männern beträgt dies durehschnittlieh etwa 3500. Auch dureh
die stärkste Ausatmung wird die Lunge nieht vollständig von der in ihr
befindlichen Luft geleert, sondern es bleiben immer noch 14002000 gem
rũckständige Luft in derselben. Die gesamte Luftmenge, welehe die
Lunge fassen kann, schwankt zwischen 3400 und 6000 cgem, von weleher
Menge ein Gesunder beim rubigen und regelmässigen Atmen vur etwa
500 cem ein- und ausatmet, also nur den 10. Teil auswechselt. Es geht
hieraus hervor, dass die Lunge nicht nur Atmungsorgan ist, sondern auch
ein Vorratsraum für Luft, in velebem sieh nur wenig kalte und trockene
Luft der schon vorhandenen warmen und feuchten beimiseht. Es geht
aber ferner hieraus hervor, dass wir für gewöhnlich die in unserer Lunge
220 145. Die Bedeutung der Luft für den Menschen.
befindliche Luft nicht vollständig erneuen, sondern nur teilweise, weil wir
die duren den Stoffwechsel unbrauchbar und verdorben gewordene Luft
nieht vollständig von uns geben, sondern nur einen geringen Teil anderer
ihr beimischen. Darum muss diejenige Luft, wvelehe vir dureh unser
Atemholen beimischen, d. h. die uns umgebende Luft unserer Arbeits-,
Wohn- und Schlafstuben, möglichst reiu, geruehlos und sauerstoffreich
sein, um die im Innern unserer Brust betndliche Luft in ihrer Mischung
zu verbessern.
Das Gefühl des Atmungsbedürfnisses, das Gefühl der Atemnot haben
wir dann, wenn unser Blut die in ihm befindlichen Gase in unriehtiger
Mischung enthält. Am bedeutendsten scheint die Atemnot dann einzu—
treten, wenn Mangel an Sauerstoff im Blute vorhanden ist; doch tritt aueh
beim Vorhandensein der gewöhnlichen Sauerstoffmenge Atemnot ein, wenn
unmäsg viel Kohlensäure im Blute angehäuft ist. Bei der Lungenatmung
wird ebensowohl die eingeatmete Luft verändert, als das in die Lungen
einströmende Blut. Bei der eingeatmeten Luft beträãgt der Sauerstoff ein
Vierteil der ganzen Luftmenge, in der ausgeatmeten nur noch ein Fünfteil.
Dieser bei jedem Atemzug aus der Luft versehvindende Sauerstoff geht
in unser Blut über, vwo er von den Blutkörperchen angezogen und zum
grössten Teile in neue chemische Verbindung aufgenommen wird. Dabei
entäussert sich das Blut seiner Kohlensãure, welebe duren die dünnen
Wandungen der Blutgefässe in den Innenraum der Lunge abdunstet.
Die Menge der zwischen Blut und Luft ausgewechselten Gase ist ver-
änderlieh. Ein Erwachsener mittleren Gewichtes nimmt bei ruhigem Atmen
in gesundem Zustande binnen einer Stunde etwa 23000 cem Sauerstoff
in sein Blut auf und gibt in der gleichen Zeit etwa 20000 cem Kohlen-—
sãure in die Luft ab. Je mehr wir uns bewegen, je stärker wir die
Muskeln anstrengen, um so mehr dunsten vir Kohlensäure ab. Auch nach
der Mablzeit ist die Kohlensäureausscheidung grösser als im nüchternen
Zustande, und beim Hunger ist sie sehr gering. Aulser der Lungenatmung
haben wir auch eine Hautatmung; allein vaährend die Menge des durch
die Haut abdunstenden Wassers in 24 Stunden 500 — 800 gr beträgt, ist
der Verlust an Kohlensäure dureh die Haut so gering, dass wir nur etwas
über den hundertsten Teil soviel Kohlensäure durch die Haut ausscheiden,
als durch die Lunge. Karl Reelam. Der Leib des Mensehen)
145. Die Bedeutung der Laft für den Menschen.
. Die Erdkugel ist bis au einer Holie von etiva 2 geographischen
Meilen mit einer gagormigen Hiille umgeben, avelche man atnmoglhärische
Luft nennt. Diese Luxft ist das allgemeinste Lebengut fiir die gesamte
Maoangen und Tieravelt.
Der Mensch braucht die Luft hauplsuchlich als Pebensmittel und
zur Ab Rν Sie it uns in der That nicli
145. Die Bedeutung der Lust für den Menschen 221
eniger nohuvendig als das ftägliche Brot. Trots alledem wird der hohe
αα vielfuch verhannt. Weil gie unsichtibar igt und nichls Roslet,
a n exuusstsein von ihrer Onentbelirlichkeit und gchũtaen Sie
e uns au fellen ginnt oder durcsi Verunreinigung um
ger rden ist. Der fir die Atmung wesentlichste hestandteil der
zu er veælckuer dem Volumen nach ungefulir ein Fii Stel
. aumαα, indem 100 Liter Luft etiva 21 Liter Sauer
. P unrliche hedeutung, welche der Sauerstoß im Haushalte
at, berubt auf geiner grosgen Fũhigkeit, Sich mit andern Korpern
u να νν hedurch verursacht er nicht nur
das Dlennen des Veuers im Ofen und der leuchtenden Flamme der Keraen
und Lampen, pondern er bewirkt auch das Rosten des Eigens, begiinstigt
dus Tuulen ac les, das Veruvesen der Leichen und uugsgert auch im
lebenden mensch cen Rorper geine Virhungen.
Qleichnoie oline lln die Zersetaung des hrennmaterials im Ofen, also
die hildung von Feuer und Warme, nicht gustande kommt, so beduinfen
auck gie Geuebe Rorprs ener, um das mit den Erniiirungssũften
nen austromende Materiol in geeigneter WVeise au gerlegen und hniedurc
die Lebengsäuserungen des Organimus — War mebildung und Arbeits
leisstun — au ermöglichen. Olne die nõtige Sauerstosfeufuir rann das
Leben nicht fortdauern; es erlischt uwie das Heuer im An, w ν
der Luftautritt abgeschnitten wird.
Die Luft ict atembar, so lange Sie nicht weniger als 14 Progent Sauer
o enthult; nimmt dagegen die Menge dieses Gases noch uveiter ab, 5
eten Alembesclnverden und Sclhliesslich Erstichung ein. In der freien Luft
omt eine so hocligradige Verminderuung des Sauerstop niemals vor,; im
Gegenteil, geine Menge schuanset im ropen und gangen innernralb ausgα
geringer Grenaen.
Eine besondere Form des Sauersstosss ist in der atuioriαα Luft
als Ogon v’h. Dieser ebenfalls gaggormige Rornper zeichnet Sich
dadurch aus, dass er noch mehr als gervöhnlicher Sauerstoß die Eigen-
chast beseiat, sich mit andern RKorpern aus vereinigen und dieselben au ger
legen. rhaltung des menschlichen Lebens Scheint das Oson nichit
unen n en, es miissten Sc Songt an Menschen, die gich vornviegend
m hdalten, gelmäsl bedenkliche Gesundseitsstorungen be
ν α in der Lut berwolinter Räume ist niemals Oson vor
aa nα i Oο fir ααααα νν
in re t be ανα Sοe in der Luft au
unl ανα Almoghure von Subsstansgen au befreien, welche
unte msünuen sesir gesundheilaggfuhrlich gein pönnen. Ros ist als ein
Reinigungsmittel der Atinoplare im grosen au betracsiten.
Die Menge des Osons in der Atiogplire t bedeutenden Schvankungen
unteriwonfen; voraugaueise hudft es Sich an aur Leit von Geuuittern; der
auffallend uvoliltliutige Rinfluss, welchen Geuvitter auf die Reinneit der
—
22 145. Die Bedeutung der Luft für den Menschen.
Atmosplhare ausüben, darf nicht allein dem ie begleitenden Winde ungd
Regen augeschrieben werden, gondern Fiilixt teillvene auch o Ogon er,
das Sich unter dem Einfuss der eleblvischen Vorçyunge in der Lauft bildet.
Das Ogon wrd in der Natu— bestuũndi neu erseugt und gelit eben so rusch
u νν uαν νν Substangen Rindet, mit dgenen es Sich ven
Anden hann. Lufftströmungen Sorgen fiir geine meli oder vwwuzm
nlr Verbreitung.
en der atuoxpluriscken Ladft iberaviggende Grundetop; ger Stie-
nnt fi die Aliung insofern leichgiiltiq, als er in Gagsorm im
Eeine beriendung ndet Mie aber unανÊ Atlnungsorgane be-
en ind, vermöchten gie eine Lugft von ail lioM Sauerstoßgenalt nicht
uen, und es it also der Stickstop au Verdinnung ges Sauer
n
An geringen Mengen ist in der atmosplüriscluen Liuft die Kohlen-
u . berll, ο m ie Luft im Freien untersuclite, rand
man ; 10000 Teile Luft TVeile Konlensure, elten melsir ode—
ven. elbot in der Luft groser Fabrikstudie, vo Hunderie pon Schorn.
gein fortiwulrend ihre Rauchksaulen in die Nule gcnicken, teigt die
Konlengauremenge in der freien Luft nicht wesentlich. Groösere An.-
r n dergelben ßnden ich nur ausnâ α SNellen,
v bei auxedehnten Erdbrunden, oger da, ο Gus masennat
aus tαν Mäßhtαν.
usũüure ict nicht fulig, die Atmuvo au unterhalten. der
4 ic m dgerslben, und dus Heuer —2
pedoca die Sich in ger Atmogphure finile. ν
und Mensch erträgt pogar noch ne——
chaeitig enug Sauers. Sporlandent *
zuemliche Mengen von Rolllengaure enclue, νÊ
e AtumααοÚο, αν a Grubenlampen tribe
aru nnene ha, νον b Kohlensaureæehalte der Luft von
oent aur nHall ist.
n αα atnoꝶphärischen Lauft ict der
a Vie Menge gegelben Je nach klimatischen VPerhlt.
Aresetten, Witterung, Lage der Orie im Verlilinis aui grosgeren
Aæcaen, bedeutenden Schnvankungen unæeruonsen, beträgt aber Quirq
ÿ g Volumprogent. Ralte Lift ann ueniger Wagerdamppf
ν νν/. Fiir jede Temperatun gaiut e ein Mauximuin
lasermenge, welche die Lauft in Dampfform enthallen hann; wenn vie
dieses Mauvxinum erreiclit hat, So Sagen wr, te s m Maserdamp
„gesättigt.
Die Atmossphũre ist ibrigens gelten und immer nur auf huurae Zeit mit
Heuchtigkeit gesättigt; gervolnlich enthult gie nue einen Bruchkteil derenigen
MWasermenege, vwelche gie bei der entoprechenden N emperatur au
D
T
—
145. Die Bedeutung der Luft für den Menschen. 223
önnte. Dies ist die sog. relative Reuchtigkeit der Luuft, welche einen gropgen
Einnuss anf die Wagerverdunstung vom Rorper ausiibl.
V Aun de αννναα öανανα bleibt iα i Zu
aruν Lat im Freien iberall und au jeder Zeit gleich. Ses
α[ν, als die Atmoghlũure fortivuirend nicsit unbedeulene
8 leidet, indem die ganse Tieruvelt auf Rosten des Luflsauerstos
—aduadrerseits die rinen Manaenteile unter dem Einflusse des Tages
lie be engen von Rolilensäure einatinen. Aber man danmf nichit
n, dass die genannten Gase in dem Masce, wie ie aus der Lauft
be , au α rt ναν. Das Tier und der Mensch,
ν αννÊνα, a α RÊνν u, und die
q, ulche Rohlensäure einatmet, gibt dafur der Luft Sauerstoß
eur Obrigens Sind die Gasmengen, um die es Sich Rier handelt, wie
æ an und fii gich gein mögen, im Vernaltnis aur Gesamtmasse
ëâ geringe der Sauerstosfoorrat der Atuioghhare ict o s)œ,
dass auch olne bestondige Neubildung durchi die Mangen die Menge des-
elben erst nach Tausenden von Jaliren von A9 2 vwrïœr*]eœ,
ν αα νëααναÚ di g Zet tuugend Millionen Menschen und
die gesamte Tieravelt an diesen Sauerstos a2ehren wirden.
In den menschlichen Wohnungen, die nur wenig Lutft einschligsgen,
derlt ic naturlich die Sache etivas anders. Ecs igt wichtig, dass die ein
guatinente I von gatter Beschapenseit xei. Die Iut im Preien ciillt
unter qνν ie ν emlich giit, obgleich von absolidter
Reinleit gerselben n tie R Ê . Die erunreinigongen der
atmoghnkurischen vind entiveder gasförmig oder ptaubarti. Hremde
Gasarten Schno, wasserstos. Ammoniak, gohnvesiige Sũure, Kohlenouxyd
inl im reien nur ausnalrnmnuuue in olc Mengen vornanden, dass sie
der Gesundlieit nac uerden hönnten; denn gelbst da, wο ν n
honagentriertem Qucande entivicheln, erleiden gie sofort nach hrem Obergange
in die tein qæ Verdüinnung.
auhren etet der Laftstaub. Dergelbe wird, je nach Grõsge
g , mr odr ααα leicht νανα. Der Svausen
— s s s s ss s
kel baunaveilen in grofen Masen aufgervirbell wird, ist leicht giur,
u au νperchen bestesit: feiner Sand, acgeriebene Qudle des
u, erdekot u. . Lr fũllt bei ger Ift bald uieder
und it mehr unangenehm als gchadlich, indem er die gen und
die emnn r Nase, der Relleu. S. . reist. Gute Masterung.
r eliren sam friien Morgen) und reichliche heghrengung der
Su mit Waser im Sommer machen das Obel bedeutend geringer.
ZAu dem ichibaren Staub gehoren auch die Rohlenteilchen, welche der Luuft
an vielen Orten durch Fabrikhamine mitgeteilt werden. Wie bekannt, ist
es in manchen englischen Städten unmöglich, die henster oßen u hnalten,
vweil in lurger Zeit die Zimmerluft mit schnurem Staub gefillt wäre, der
224 146. Die menschliche Nahrung.
von den Anwesenden eingeatmet und auf Moöbeln und Wänden abgelagert
uhre. Auf die Almungsorgane ann dieser Rollenstaub, der gaslreice
cckarfantige Teilchen enthält, verletend wirken, wenn er tiefer in die
Lungen eindringt; gliicklicheraveise ist dies in der Regel nicht der Hall, vweil
die taubteilchen in der Nase, im Mund und Rachen hängen bleiben und
adann au natirliche Weise ααν ανοαανναν ανανα.
Sind die Staubteilchen so Rlein, dass Sie genwolinlich nicht gesesien wwerden,
sondern nur im venßinsterten Zimmer in einem einfallenden Sonnenstrail
als leucktende RKörperchen erscheinen, so nennt man sie Sonnensstuubcnen.
Llrer Leichtigkeit wegen bleiben gie auch bei gehr αα Laut
in derselben schnveben und uwαrαν αον ονα Enfernungen don mensc.
lichen WVolnungen, auf lohen hergen u. a,l. nochi fuνναν.
Es Libt aber noch eine Art Laitfttaub von so lleinen Rorperchen,
dass αr nicht einnal im einfallenden Sonnenustral gehen Fonnen,
und dass Sie Sichk auch bei fast runiger Lagt noct ααναÚν lten.
Hieher gehören die Keime epidemischer Kranfpheiten, deren Vor
handensein in der Lagft mit hestiumtsieit angenommon wαrνν mss, unl
uelche man sSich als niedrigste, nun bei tausendfacher Tege, erung durch
das Mikrockop Siclibare Pilgformen vorstellt. Es unterlict peinem Zuveifel,
dass aie Lugft in Gogenden, ꝛo das Wechselsieber aunuu i, namentlich
abends nach Sonnenuntergang, Schädliche Stose noch unbekannter Natur
MAiasmen) enthult, deren Einatiuung den Menschen der Gefali auselet;
am Hieber au eræranken. Dochk scheinen diese Krankheitsheime durci die
enigstens in grösßern Mengen, nicsit au bedeutende Entfernungen
ννα αα. Vernutlich ruαr ν αr ονnsανâ
Snn, durch Ogon angegriffen und aerstört. Immerhin geht aus dem
Cescgen hervor, dass der unsichtbare Luftstaub der Schadlichste ist. Es gei
ibrigens eruvlint, dass durch Hiltrierapparate die Luft von allem Staub
gereinigt werden hann. Schon Watte hlt jedenfalls allen gröbeyn und
vermutlich auch gen feinen Lugftstaub auri[ noα‘ besur geschiehit dies
durch feinporige, nase Schivämmne und durch melinfach auννααοαν
Jeuchte Tiicher. idr. Rrismann. Qesundneitslenro fit Gebildete allor Stũndle,
146. Die menschliche Nahrung.
1. Damit die Kost des Menschen eine zweckmälsige Nahrung dar—
stelle, muss sie folgenden Forderungen genügen: sie muss die einzelnen
Nahrungsstoffe in hinreichenden Mengen und in der richtigen Mischung
enthalten, muss im Darme ohne zu grosse Belästigung desselben resor—
bierbar) sein, und muss endliech angenehm schmecken und den Appetit
erregen.
Der natũrliche Instinkt des Menschen, die Gefühle des Hungers und
der Sättigung, haben ihn im allgemeinen, wenn er in der Wabhl seiner
) —⸗ aufsaugbar.
146. Die menschliche Nahrung. 125
Kost frei ist, gelehrt, eine seinen Bedürfnissen entsprechende Nahbrungs-
menge zu geniessen. Der Hunger wird jedoch auech dureh Genuss von
Gegenständen gestillt, welehe den Körper nur unyollständig oder gar nicht
nahren, sondern bloss mechanisch den Magen anfüllen; die genannten Em-—
pfindungen und Driebe gewähren deshalb keine absolute Sicherheit dafũr,
dass dex Mensch sieh immer zweckmässig nähre, und so kommt es denn
in der That nieht selten vor, dass nicht nur einzelnye Menschen, sondern
ganze Devölkerungsgruppen unter dem Einflusse der Not sieh an eine un—
genũgende, einseitige Nahrungsweise gewöhnen, vwelche sie körperlieh und
geistig herunterbringt. Ebenso werden, wie schon oben angedeutet, ost
grobe Febler in der Ernährungsweise begangen in Fallen, vo der Mensch
in der Wahl seiner Kost niebt frei ist, sondern essen muss, was ihim vor-
gesetzt wird.
Es ist wichtig, dass sich in der Kost gerade diejenigen Mengen von
Sticksstoc und RKoblenstoff befinden, velehe zur Erhaltung des Rörpers
und zur „ewahrung seiner Leistungsfähigkeit nötig sind, — nicht weniger,
aber aueh nieht mehr. Aus dieser Porderung ergibt sieh, dass keines
unserer gebrauchlichen Nahrungsmittel im eigentlichen Sinne des Wortes
eine Mabrung ist, d. h. für sich allein, ohne Zugabe anderer Nahrungs-
mitt eine geeignete Kost bildet. Es gibt zwar eine grosse Menge
on hrungsmitteln (Fleisch, Brot, Mileh, Räse, Hũülsenfrücehte u. dgl.),
ie ues fũür sieh allein den Körper erhalten könnten, — aber eine solche
Prnahrung wäre wenig zweckmälsig, da keine dieser Ssubstanzen Stickstoff
und Kohlenstoff in demjenigen Verhaltnis enthalt, velehes für eine riehtige
Kost erforderlich ist (1 Teil Stickstofsf auf 15 bis 18 Leile Koblenstoff);
äherall ist zu viel oder zu wenig von dem einen oder anderen Nahrungs-
gtoff vorhanden, so dass man entweder eine zu geringe Menge von dem
einen oder andern geniessen, oder aber dem Magen eine ungeheure Uber⸗
ladung zumuten müsste.
PEs ist also am besten; die Kost aus verschiedenen Nahrungsmitteln
mischen. Da im allgemeinen die aus dem Tierreich stammenden Nab-
rungsmittel reich an Eiweils und oft auch reich an Fett, die vegetabilischen
Nahrungsmittel aber, mit wenigen Ausnahmen, arm an Eiweiss, dagegen
reieh an Kohllehydraten sind, so empfiehlt sieh am besten eine aus tierischen
und pflanzlichen Stoffen gemischte Nahrung. Im allgemeinen befolgt der
Mensch, wenn es die Verhältnisse erlauben, diese Regel instinktiv, ohne
von ihrer Bedeutung eine Ahnung zu haben: die italienischen Arbeiter,
die sehr viel Mais in der Form von Polenta essen, leben niemals aus-
schliesslieh von dieser Speise, sondern nehmen immer Käse dazu; die Reis
essende Bevölkerung Chinas und Japans geniesst ausser dem Reis nicht
unbhedeutende Mengen von Fischen, Schweinefleiseh, Bobnen, Erbsen u. s. u.;
bei ausschliesslicher Reisnahrung würde der Körper schon nach 14 Tagen
zur Arbeit unfähig. Eine rein animalische, aus getrocknetem Fleischpulver
Marschall, Lesebuch für gewerbl. Fortbildungsschulen. Kl. Ausg.
2
15
22 146. Die menschliche Nahrung
und geschmolzenem Fett bestehende Kost, wie sie die nordamerikanischen
Indianer auf ihren Jagdzũgen geniessen, liegt schwer im Magen und vird
niebht von jedermann ertragen.
2. Es fragt sich, in welehem Verhältnis sich animalische und vegeta—
bilische Stoffe in der Nahrung befinden sollen. VWären die Lebensmittel
aus dem Pflanzen- und Tierreich gleiech gut verdaulich, so würde im all-
gemeinen der Marktpreis darüber entscheiden, ob den ersteren oder den
letzteren der Vorzug zu geben sei. In VWirklichkeit ist es anders: die
animalischen und vegetabilischen Nahrungsmittel enthalten allerdings im
grossen und ganzen die gleichen Nahrungsstoffe. wenn auch in verschiedenen
relativen Mengen, — aber die Ausnützung derselben im Darm, vie man
gewöhnlich sagt „die Verdaulichkeit“ derselben, ist eine verschiedene. Aus
animalischen Lebensmitteln — Pleiseh, Milch, Eiern ete. — werden Eiweils
und Pett leicht und vollständig ausgezogen, so dass bei soleber Kost die
Entleerungen kein Eiweiss und wenig Fett enthalten; in den vegetabilischen
Lebensmitteln dagegen sind die Nahrungsstoffe meist in Hüllen aus Pflanzen-
faser (Oellulose) eingeschlossen, welehe den Verdauungssaften des Menschen
sehwer zugänglich sind; es geht daher bei Pflanzennahrung viel nũtzliche
Jubstauz wieder ab, ohne dem Organismus zu gute gekommen zu sein.
Bei langerem Aufenthalt im Darme könnten allerdings aueh aus pflanzlicher
Nahrung die Nahrstoffe ziemlich vollständig ausgezogen werden, und dies
geschieht in der That bei Pflanzenfressern, deren Darmkanal eine grolsse
Lange besitzt (20-30 mal so lang wvie der Körper); aber bei Fleischfressern
und beim Menschen ist der Darm kurz (nur 6mal so lang vie der Körper),
und ausserdem geht in demselben das Stärkemehl bald in saure Gärung
über, wodureh energische Darmbewegungen angeregt werden, so dass der
Dũnndarm rasch entleert vird und die Zeit zur gehörigen Ausnutzung der
Nahrung fehlt. Wenn etwa jemand die zum Leben hinreichende Menge
von Nahrungsstoffen nur aus dem Pflanzenreiche nebhmen wollte, so müsste
er so ungeheure Quantitäten zu sich nehmen, dass der Magen bald Wider-
sprueh erheben vürde. Wenn man also einen Menschen, dessen Ver—
dauungswerkzeuge nieht ungewöhnlieh viel ertragen können, ausschliesslieh
mit Schwarzbrot und Kartoffeln speisen wollte, so vürden Darmkatarrh,
unstillbare Diarrhböen und allgemeiner Verfall des Organismus die unaus-
bleiblichen Folgen sein. Dieselben Wirkungen ruft bei Kindern der im
Obermass genossene Meblbrei hervor, der im Darmkanale saure Gürung
eingeht.
Es folat aus dem Gesagten, dass unter allen Umständen ein Leil der
Nahrstoffe in Substanzen animalischen Ursprungs genossen werden muss.
Man kann zwar aus Brot, Reis, Mais, Hülsenfrüchten, Kartoffeln u. 8. V.,
mit Zusatz von etwas Pett. eine Kost bereiten, welehe die Nahrungsstoffe
in den nötigen Mengen enthält; aber eine solche Kost wird nur bei ganz
gesundeêm Darm ertragen, so dass selbst die Vegetarianer, die prinzipiell
lein Nahrungsmittel tierischen Ursprungs genielsen, meistens dem Genusse
26
146. Die menschliche Nahrung. 7
von Mileh, Käse und Butter doch nicht entsagen. Jedenfalls wird der
Organismus dureh eine aus Vegetabilien allein, ohne Zusatz von Fleisch
und Vett, bestehende Kost nicht auf die Dauer zu anstrengender Arbeit
fahig erhalten. Ein starker Arbeiter braucht viel Eiweils zur Erhaltung
Seiner bedeutenden Muskelmasse und grosse Mengen stickstofffreier Substanz,
wenn er nicht Fett vom Körper verlieren soll; es würde ihm nicht gelingen,
diese ganze Masse von Nahrungsstoffen auf die Dauer aus vegetabilischer
Kost auszuziehen, weil seine Verdauung sehr bald leiden müsste. Daher
zoll im allgemeinen die Kost um so reicher an Fleisch und PFett sein, je
mehr Anstrengung vom Rörper verlangt vird. Auch die Vegetabilien sind
dem Menschen unentbehrlich; man kann dies um so eher behaupten, als
es jetzt ziemlich sicher zu sein scheint, dass der Skorbut seine Entstehuns
dem Mangel frischer Gemüse in der Nahrung verdankt, — aber man soll
nur so viel Eiweils und Stärkemehl in der Form pflanzlicher Nahrung
aufnehmen, als ohne Beschwerde für den Verdauungsapparat möglich ist;
das übrige muss dureh Fleisch und Fett ersetzt werden. Namentlich hat
man cem Pett bis jetzt zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, indem man
glaub., s vollständig durceh Stärkemehbl ersetzen zu können. Bei starker
Arbeit ist eine fettreiche Nahrung unumgänglich notwendig. Im allgemeinen
zoll wV uigstens ein Drittel des nöôtigen Stiekstoffs in der Form von Fleiseh
und haupt zwei Dritteile desselben in Form animalischer Nahrungs-
mittel gonossen werden. Die Kost der armeren Bevölkerung ist fast ũberall
eine vorwiegend vegetabilische, weil der Marktpreis der animalischen
sebensmittel im Verhaltnis zu ihrem Nährwert bedeutend höher ist als
derjenige der vegetabilischen, so dass 2. B. animalisches Eiweils und Fett
ungefahr 4mal so teuer bezahlt werden als vegetabilisches. Leider vwird
jedoeh der Nährwert der Pflanzenkost, wie wir oben sahen, durch ihre
mangelhafte Ausnützung im Darm so sehr herabgesetzt, dass schliesslich
das Brot, venn man nicht die eingeführten, sondern die im Körper virklich
zur Verwendung kommenden Nährstoffmengen im Auge hat, eben so teuer
zu stebhen kommt wie das Fleisch. LTrotzdem werden die vegetabilischen
Nahrungsmittel schon aus dem Grunde von den Armen vorgezogen, veil
sie durch ihr grosses Volumen rascher das Gefühl der Sättigung hervor-
rufen, als die weniger voluminöôsse animalische Kost.
. Eine Kost, wenn sie auch die notwendigen Mengen von Nahrungs-
ztoffen in geeigneter Form enthält, ist noch immer keine Nahrung. Mir
würden uns bedanken, venn man uns zu einem aus reinem Eiweils, Fett,
Stürkemehl, Sal- und Wasser bestehenden Mittagsmahl einladen vollte,
und nur im Falle ausserster Not und drückendsten Hungers würden wir
uns entschliessen, ein solches Gemisch von Nahrungsstoffen zu verzehren.
Was ist es denn aber, das uns die Speisen angenehm macht, unsern
Appetit erregt und uns beim Anblick eines guten Mahles das Wasser im
Munde zusammenlaufen lässt? Es ist der besondere Geschmack der Speisen,
28
15*
146. Die menschliche Nahrung
der dureh die sog. Genussmittel und Würzen erzielt wird. Diese
Stoffe haben direkt mit der Ernährung nichts zu thun, weil sie den Verlust
von Körpersubstanz nicht verhüten können; sie haben also eine ganz andere
Bedeutung als die Nahrungsmittel, sind aber ebenso unentbehbrlieh wie
die letzteren, weil sie unsere Sinne reizen und die Absonderung der Ver-
dauungssafte in hohem Grade begünstigen. Ohne Genussmittel und VWürzen
könnten wir, auch bei vollgedecktem Tiseh, infolge von Widerwillen gegen
die unschmackhafte Kost, vor Hunger sterben.
Zu den Genussmitteln gehören, aulser Wein, Bier, Branntwein, Fleisch-
brübe, Thee und Raffee, auch die in allen Nahrungsmitteln enthaltenen,
chmeckenden und oft woblriechenden Substanzen. — die sog. Extraktiv-
gtoffe, die Pflanzensauren, atherischen ôle, das Kochsalz u.s. w. Viele der-
gelben entetehen erst bei der Zubereitung der Speisen infolge teilweiser
msetzung der Eiweisssstoffe und Fetteé: man erinnere sieh an den ein
ladenden eigentümlichen Geruch des Bratens, der gerösteten RKaffeebohnen.
der mit frischer Butter zubereiteten Mehlspeisen. Dieser riechenden und
woblschmeckenden Stoffe wegen lieben wir Abwechslung in der Zubereitung
der Speisen: aueh eine reichliche und gut zubereitete Kost raubt uns den
Appetit und verursacht Verdauungsstörungen,. wenn ihr Geschmack immer
derselbe bleibt.
In Beziehung auf die Bedeutung vieler Genussmittel, wvie 2. B. der
Pleischbrühe, der geistigen Getränke u. 8. w. hat man sieh früher viel⸗
fachen Tauschungen hingegeben, indem man sie als Nahrungsmittel be—
trachtete, und auch jetzt noch spricht man oft von einem „stärkenden“
Schluck Wein, von „kräftigender“ Bouillon u. dgl. im Sinne eines Nahrungs-
mittels, indem man sieh vorstellt, dass dureh Genuss von Wein und leerer
Fleischbrũbe wirklich der Kraftvorrat im Körper vermehrt werde. Dies ist
eine Tauschung: Alkohol und Fleischbrühe können keinen Nahrungsstoff
ersetzen; beide geben uns nur durch Erregung des Nervensystems vorũber·
gehend das Gefühl grösserer Kraft. Der Alkohbol wird verhängnisvoll für
den Armen, der nieht die Mittel besitzt, eine kräftige Nahrung zu ge—
piessen, aber dafür dureb einen Schluck Branntwein sieh vorübergehend
auf die Beine hilft; er muss schwer hiefür büssen, wenn er nieht von
Zeit zu Zeit die Verluste des Körpers durch grölsere Zufubr von Nahrungs-
gtosfen ausgleicht; er ist dann im eigentlichen Sinne des Mortes ein
Hungernder, und seine zunehmende Rraftlosigkeit kann vur immer auf
kurze Zeit dureh neuen Branntweingenuss verdeckt werden.
Damit die Ernahrung eine vollkommen zweckmalsige sei, ist sehliesslich
eine richtige Verteilung der Mahlzeiten auf die verschiedenen Lages-·
ztunden notwendig. Der Fleischfresser unter den Tieren kann in wenigen
Minuten seine volle Nahrung für den ganzen Tag versehlingen; aber der
Mensch, bei seiner aus animalischen und vegetabilischen Substanzen ge—
mischten Kost, vũrde seinem Verdauungsapparat eine zu grolse Last auf-
bürden, wenn er nur einmal täglieh Nahrung zu siech nehmen vollte.
228
147. Die Ernährung der Tiere im Vergleich zur Ernährung der Pflanzen. 229
Nach althergebrachter Sitte hat man fast überall drei Hauptmablzeiten,
deren Gehalt an Nährstoffen und deren Verteilung auf die Tageszeiten
gich nach der Art der Beschäftigung, der Grölse der Arbeit u. dgl. richten
muss. Wor schon vormittags viel und schwere Arbeit zu leisten hat,
sollte nieht ein zu sechwaches Frühstück einnebmen; andrerseits sollte das
Nachtmabl nieht zu reichlieh sein und nicht unmittelbar vor dem Sehlafen⸗
gehen genossen werden; Die Hauptmahlzeit sollte in die Mitte des Arbeits-
tages fallen; leider kommt diese gute Sitte immer mehr abhanden, und
as reilst der Gebraueh ein, das Mittagessen abends zwischen 4 und 6 Uhr
éinzunehmen. Dies fallt mit der in grossen Städten Mode gewordenen
Verschiebung des Tages zusammen, wobei man die Morgensonne verschläft
und dafür spät in die Nacht hineinlebt. (Friedr. Prismann. Gesundheitslehre ete.)
b. Aus den drei Reichen der VNatur.
147. Die Ernährung der Tiere im Vergleich zur Ernährung der
Vslanzen.
Vergleichen wir die Ernährung des Menschen und der Tiere mit
der der Pflanzen, so finden wir einen wesentlichen Unterschied nicht
nur in der Art der Aufnahme, sondern auch des Aufgenommenen. Wir
sehen die Ernährung der Pflanze nicht an ein einzelnes Organ gebunden,
wie bei dem Tier, sondern wir sehen fast die ganze Oberfläche derselben,
nämlich die Wurzeln und die Blätter, zur Aufnahme geeignet, während
mit wenigen Ausnahmen die Tiere nur durch eine einzige Offnung,
durch den Mund, ihre Nahrung zu sich nehmen.
Viel wesentlicher erscheint noch bei Vergleichung der Ernährung
von Pflanze und Tier der Unterschied in der Natur des Aufgenommenen.
Die Pflanze ernährt sich von gänzlich unorganischen Stoffen. Wasser,
Kohlensäure und Ammoniak, die drei Hauptnahrungsmittel der Pflanze,
sind ebenso unbelebte, unorganische Stoffe, wie die Minerale, sie sind
gänzlich unähnlich den Pflanzenteilen, zu deren Bildung sie verwendet
berden. Die Pflanze besitzt daher die Fähigkeit, unorganische Teile des
Erdkörpers aufzunehmen und dieselben zu organischen Gebilden zu ver—
einigen und zu gestalten. Aus Wasser, Kohlensäure und Ammoniak
bildet sie den Zellstoff, die Stärke, den Zucker, das Pflanzen⸗Eiweiß
und die vielen anderen Stoffe, die wir als Bestandteile der Pflanzen
kennen.
Diese Fähigkeit kommt dem Tiere nicht zu. Es kann aus jenen
ihm dargebotenen drei Nahrungsmitteln der Pflanzen weder sein Eiweiß,
noch seine Muskelfaser noch sein Fett bilden. Unmittelbar an die starre
Bruͤst der toten Natur gelegt, würde das Tier verschmachten. Es be—
230 141. Die Ernährung der Tiere im Vergleich zur Ernährung der Pflanzen.
darf zu seinem Bestehen eines Vermittlers, der die ihm unentbehrlichen
Stoffe zu organischen Gebilden vereinigt, und diese Stelle vertreten die
Pflanzen.
In der That, wenn man die Ähnlichkeit der chemischen Zusammen—
setzung des Eiweißstoffes, des Kaseins, des Fibrins und des Fettes
der Pflanzen mit den gleichnamigen Stoffen, die im Tierkörper ange—
troffen werden, vergleicht, so sieht man, daß das Tier, indem es die
Pflanzen verzehrt, darin alle zusammengesetzten Stoffe fertig gebildet
vorfindet, welche es zur Auferbauung seiner verschiedenen Körperteile
nötig hat.
Das Geschäft der Verdauung des Tieres erscheint daher einfacher
und leichter verständlich als das der Pflanze. Es besteht nicht darin,
daß das Tier aus den ihm gegebenen Elementen seine Muskelfaser,
sein Fett u. s. w. bildet, sondern darin, daß es diese in der Pflanze
bereits fertig gebildeten Stoffe in den Verdauungsorganen auflöst,
durch den Kreislauf an die erforderlichen Stellen bringt und ihnen
daselbst die geeignete Form gibt.
Noch mehr fällt dies in die Augen bei Tieren, welche von Tieren
leben, oder gar von dem Blute ihrer Mitgeschöpfe. Offenbar genießen
diese ganz dieselben Stoffe, aus welchen ihr eigener Körper besteht;
ihr ganzes Verdauungsgeschäft beruht auf einer Umgestaltung, nicht auf
einer chemischen Umbildung des von ihnen Aufgenommenen.
In der That wird uns das Geschäft der Verdauung um so
leichter, je mehr die genossenen Speisen jene Stoffe enthalten, aus
welchen unser Körper besteht. Die Verdauungswerkzeuge der gras—
fressenden Wiederkäuer sind in mancher Beziehung anders eingerichtet
als die der Fleischfresser. Die letzteren verzehren im Fleische fast aus—
schließlich verwendbaren (assimilierbaren) Stoff; ihre Verdauung geht
rascher von statten; ihre Mahlzeiten sind verhältnismäßig kleiner, ihre
Absonderung von Unbrauchbarem ist weniger reichlich, als dies bei den
Grasfressern der Fall ist.
Das von einem Ochsen verzehrte Heu enthält nur geringe Mengen
von Eiweißstoffen und Fett, welche für den Körper des Tieres ver—
wendbar sind; es ist dagegen reich an Holzfaser, die für seine Ernährung
unbrauchbar ist. Dieses Tier nimmt deshalb ungeheure Mahlzeiten zu
sich; allein es sondert einen großen Teil derselben als unverwendbar
wieder ab. Es bedarf ferner zur Auflösung dieser Stoffe, zur Trennung
derselben von der Holzfaser längere Zeit als das fleischfressende Tier
zur Verdauung seiner dem eigenen Körper ähnlichen Nahrung. Bei
dem eigentlichen Grasfresser verweilt deshalb die Nahrung sehr lange
148. Die Tiere als Spender menschlicher Bekleidungsstoffe. 231
im Magen, ja sie kehrt, nachdem sie eine zeitlang in einem besonderen
Teile desselben eingeweicht war, wieder zum Maule zurück, um hier
nochmals gekauet, mit Speichel vermischt und so zur Verdaunng ge—
eigneter gemacht zu werden, woher diese Tiere den Namen der Wieder—
käuer erhielten. Der Darm der Raubvögel und Raubtiere, wie namentlich
der Katzen, ist unverhältnismäßig kurz.
Genauere Untersuchungen bestätigen die Ungleichheit der Nahrungs—
bedürfnisse hinsichtlich deren Menge in auffallender Weise. Ein Pferd
bedarf an fester und flüssiger Nahrung Wasser) zusammen täglich o,
eine Kuh s des eigenen Körpergewichtes. Das Gewicht der in den
Eingeweiden eines Kaninchens vorgefundenen Speisereste betrug 4 bei
einer Katze dagegen nur 22 des Körpergewichtes.
(Friedr. Schödl, Buch der Natur.)
148. Die Tiere als Spender menschlicher Bekleidungssloffe.
1. Der von Haus aus nicht bekleidete Mensch hat fast alle Reiche der
Natur durchspürt und ausgebeutet, um für sich Bedeckung, Kleidung und
Schmuck zu finden. Aus dem Mineralreich hat er die Metalle, Eisen, Silber,
Gold, mit denen er sich panzert und schmückt, genommen. Aus dem Pflanzen⸗
reich hat er den Flachs, die Baumwolle und mehrere andere Stoffe gewonnen
und sie zur Umhüllung und Beschützung seines Körpers bearbeitet. Mehr
als diese hat ihm aber doch dabei das Tierreich mit seinen Fellen, seinen
Pelzen, seiner Wolle und seinen feinen Gespinsten gedient.
Zunächst liefert das Tierreich den Stoff zu der so äußerst wichtigen
Bedeckunn unserer nackten Füße. Es ist noch kein Stoff— gefunden worden,
der zur Veschuhung so geeignet wäre, wie die feste und zugleich elastische
und zaje Haut der Tiere. Die Verwendung von andern Stoffen dazu
z. D. von Holz, Gummi, Strohgeflecht) geschieht nur ganz gelegentlich und
ausnahmsweise.
Einen andern für seine Bekleidung äußerst dienlichen Stoff hat die
Natur dem enschen in der reichlichen Haarentwickelung der Tiere ver—
liehen. Aule und Wolltiere sind ihm zum Schutz gegen die Angriffe
der Witterun an öorderlich geworden.
Von allen „„„m in der Natur hat jedoch keiner für die Menschheit
eine solch Hedeutunn gewonnen, wie die Wolle des Schafes. Sie
exlangte dieselbe durch den eigentümlichen Bau ihres Haares, das in Folge
seiner Feinheit und zart gewundenen Kräuselung so äußerst geschickt ist,
gesponnen, verfilzt und verwebt zu werden, und das zugleich durch die
außerordentliche Mannigfaltigkeit seiner Beschaffenheit bei den zahllosen ver—
schiedenen Rassen der Schafe — die Wolle erscheint lang, kurz, trocken, fettig,
grobhaarig, zart, sehr zart — im Stande ist, allen Anforderungen des
Lebens und der so ungleichartigen Menschheit zu genügen. Man bringt
22
232 148. Die Tiere als Spender menschlicher Bekleidungsstoffe
damit starke, rauhe, billige, feine Stoffe bis zu den feinsten und kostbarsten
Gewüändern zuwege.
Wir mögen es als ein Glück betrachten, daß gerade das Tier, welches
diese wundervolle Behaarung trägt, auch zugleich so äußerst zahm ist, sich
dem Menschen so willig anschließt, dabei im Stande ist, sich mit ihm in
allen Weltteilen zu verbreiten, das sich selbst in großen Herden leicht hüten
und nhren läßt und sich auch schnell zu zahlreichen Familien vermehrt. — Bei
der Schafwolle haben die Menschen ohne Zweifel zuerst das Spinnen und
Weben gelernt. Alle Hirtenvölker verstanden es, noch ehe der Acker bear—
beitet und Flachs oder andere zum Spinnen geeignete Pflanzenfasern entdeckt
und angebaut wurden. Auch sind die Hirtenvölker Asiens fast nur in Gewebe
und Teppiche aus Wolle gehüllt. Wolle blieb überall neben dem Pelz- und
Lederwerk lange bis zum Flachsbau der vornehmste Kleiderstoff. Und selbst
jetzt noch, wo doch so vielerlei andere Stoffe in Schwung gekommen sind,
schafft das Schaf den Europäern wie den Asiaten, den Vornehmen und
Geringen, Männern und Weibern gerade die allerunentbehrlichsten Stücke
in den Kleiderschrank. Es erscheint durch dieses Angebinde als eines der
wichtigsten aller Vierfüßer
Außer der Schafwolle hat man zwar auch hie und da noch die Haare
des Kamels, des Lamas und einiger Ziegen zum Spinnen und Weben
tauglich gefunden. Aber diese alle sind doch äußerst beschränkte und schwache
Ersatzmittel der Wolle geblieben.
Ein kleines Tierchen jedoch, das man noch neben dem Schafe nennen
könn; die Raupe eines chinesischen Schmetterlings, das einzige unter all
den z3 ceichen spinnenden Insekten, dessen Gespinst für den Menschen Taug—
lichteit besitzt. Merkwürdigerweise ist auch unter all dem Pflanzenfutter nur
ein einziges, nämlich das Blatt des Maulbeerbaums, das dem Seiden—
wurm zu derjenigen Materie verhilft, aus welcher er den festen, schönen,
goldenen, glänzenden Faden bereitet, den der Mensch zu den köstlichsten
und begehrtesten Produkten und Kleiderstoffen, zu den schönsten Zierden der
Webe-Industrie verarbeitet hat. Lange Zeit war nur ein Volk auf Erden,
nämlich die Chinesen, ausschließlich im Besitz jenes Naturgeheimnisses und
dieser Industrie Die ganze übrige Welt behalf sich mit Leinwand und
Wolle. Erst im 6. Jahrhundert gelang es zwei christlichen Mönchen, einige
Eier des Seidenwurms die sie in ihren ausgehöhlten Wanderstäben versteckten,
nach Griechenland zu schaffen und die Zucht jener Raupe, sowie die An—
pflanzung der ihr nötigen Maulbeerbäume in Europa zu verbreiten. Seit
den Kreuzzügen hat man die Nachkömmlinge jener in Wanderstäben trans—
portierten Brut durch viele Länder des südlichen Europas, Griechenland,
Sicilien, Italien, Frankreich, Spanien, verbreitet, und in dem letzten Jahr—
hundert sind Maulbeerbäume, Seidenzucht und Seidenmanufaktur so all—
gemein geworden, daß jetzt fast die Frauen aller Länder und Stände in
Seide so zu sagen eingesponnen sind, und daß selbst den Männern dieser
148. Die Tiere als Spender menschlicher Bekleidungsstoffe. 233
angenehme, säuberliche und elegante Stoff in hundert Fällen vorzüglicher
und willkommener erscheint, als was Schaf oder Flachs gewähren können
Man hat es versucht, auch die Gespinste anderer Insekten für unsern
Haushalt zu verarbeiten, aber vergebens. Der Seidenfaden gelingt unter all
den tausend Gatturen spinnender Würmer und Insekten nur einer Art,
sowie aun unter adl den unzähligen Arten von Behaarung, die wir in
Wald und Flur sehen, nur eine einzige, die Schafwolle, alle diejenigen
Eigenschaften offenbart, durch die sie zum Spinnen und Weben so geschickt
wird, sowie auch unter den zahllosen Pflanzen und Kräutern nur ganz wenige
sind, die wie Flachs, Hanf und Baumwolle eine feste und leicht zu verarbei—
tende Faser liefern. (J. G. Kohl: „Vom Markt und aus der Zelle“.)
Ergänzungen. 1. Lederbereitung.) Die Überführung der Tierhäute in Leder,
di. in jene Substanz, welche der Fäulnis in hohem Grade widersteht und beim Kochen
mit Wasser entweder gar nicht (wie beim lohgaren Leder), oder nur nach längerer
Zeit (wie beim alaungaken Leder) in Leim verwandelt werden kann, nennt man
Gerben. Man unterscheidet 1 die Loh- oder Rotgerberei, 2. die Weißgerberei,
3. die Sämischgerberei. Bei der ersteren verwendet man als Gerbstoff vorzugs—
weise gerbstoffhaltige Vegetabilien, bei der Weißgerberei Thonerdesalze (besonders Alaun),
bei der Sämischgerberei Fette EOl und Thran).
Die tierische Haut besteht aus drei deutlich erkennbaren Hautschichten, Oberhaut
Epidermis), Lederhaut (Coxium) und Unter- oder Fetthaut. Die mittlere Schicht, die
eigentliche Lederhaut, ist die stärkste und besteht aus einem Gewirre von verschiedenen,
sich durchktreuzenden Fäden. Die Gerbstoffe schlagen sich an den Gewebefasern beim
Gerbprozeß nieder und hüllen dieselben ein, wodurch deren Zusammenkleben und Trocknen
verhütet wird. Unter den zur Rotgerberei verwendeten Häuten nehmen die des Rind—
viehes die erste Stelle ein, und zwar übertrifft die Haut der Stiere weit die der Kühe,
die Haut wilder Tiere, die der zahmen. Die Pferdehaut steht der Rindshaut weit nach,
und sie kann kaum mehr zu Sohl- sondern nur zu Riemen- und Sattelleder ver—
arbeitet werden. Die Haut des jungen Rinds und des Kalbs gibt Oberleder (Schmal—
leder, Dihlleder).
e in lohgares Leder umzuwandelnden Häute müssen gehörig vorbereitet
werden indem nicht nur die fleischigen Teile der Unterhaut, sondern auch die Be—
haarung der Oberhaut entfernt werden muß. Das Enthaaren geschieht unter der Mit
wirkung von Kalkmilch, die aber wieder entfernt werden muß, zu welchem Ende man
die enthaarten Häute in essigsäurehaltiges Wasser legt. Durch dieses wird zugleich die
Lederhaut aufgequellt, gelockert und zur Aufnahme des Gerbstoffes geeignet gemacht. Den
Gerbstoff (das Tanin) gewinnt man vorzugsweise aus Lohe, und zwar meistens von
Eichenrinde, doch auch von Fichten⸗ Tannen⸗, Erlen⸗, Ulmen-, Roßkastanien- und Weide
rinde. Auch der Sumach (Schmack- oder Essigbaum), ein kleiner Baum in den Mittel—
meerländern, liefert Gerbstoff, ebenso die Galläpfel und Knoppern der Eichen. Beim
Gerben selbst schichtet man in Gruben die Häute mit den Gerbmaterialien und über—
gießt das Ganze mit Wasser und schließt die Grube mit einem Deckel. In diesem
ersten Satze bleiben die Häute 8— 10 Wochen; dann kommen sie auf 34 Monate
in den zweiten und endlich auf 42-25 Monate in den dritten Satz, dem sich unter
Umständen manchmal noch ein vierter und fünfter anreiht. Daß die Haut „gar“ ist,
erkennt man daraus, wenn sich beim Durchschneiden mit einem scharfen Messer eine
7 148. Die Tiere als Spender menschlicher Bekleidungsstoffe.
gleichförmige, von fleischigen oder hornartigen Streifen freie Schnittfläche zeigt. Zum
Garwerden sind 8 — 12, ja noch mehr Monate erforderlich. Man hat verschiedene
Versuche der Schnellgerberei gemacht, aber meist nur auf Kosten der Güte des
Produkts.
2. Bei der Weißgerberei werden Lamm- Ziegen- und ähnliche Felle in weiches,
weißes Leder umgewandelt. Sie werden ähnlich wie bei der Lohgerberei vorbereitet,
aber dann mit Kochsalz und Alaun behandelt, indem man jedes Fell ein- oder zweimal
durch die Gerbebrühe zieht, die Felle dann auf einander schichtet und sie 2—3 Tage
liegen läßt. Dann ringt man sie aus und trocknet sie. Die gegerbten Felle schrumpfen
beim Trocknen etwas ein und werden ziemlich steif. Sie werden deshalb über den
erhabenen (konvexen) Teil eines gekrümmten Eisens (Stolle) der Breite nach hin—
weg gezogen, dadurch ausgedehnt und geschmeidig gemacht. Man legt immer je
10 Stück Felle zusammen, und nennt diesen Pack Decher (entstanden aus lat. decuria
— 10 Etüůck).
Bei der Sämischgerberei verarbeitet man Häute von Hirschen, Elentieren,
Rehen, Hammeln, Kälbern und selbst Rindern und Ochsen. Das Gerbmaterial ist
fettes Ol mit etwas Karbolsäure versetzt. Bei der Vorbereitung wird die obere Haut
mit den Haaren abgeschabt, so daß beim Sämischleder kein Unterschied zwischen Narben⸗
und Fleischseite ist, und daß dieses Leder sehr geschmeidig wird. Da es ohne Nach
teil gewaschen werden kann, so heißt es auch Waschleder.
Nennenswert sind noch folgende Ledersorten:
a) Juften (Juchten), ein fast ausschließlich in Rußland gefertigtes Leder von
großer Festigkeit, Wasserdichte und eigentümlichem Geruch. Zum Gerben desselben
nimmt man die Rinde mehrerer Weidenarten, der Birke und Fichte, und die garen
Häute werden mit Birkenöl getränkt und dann meistens rot oder schwarz gefärbt.
d) Der echte Saffian Maroquin, türkisches Leder) wird aus Ziegenfellen, der
unechte aus Schaffell, auch aus dünn gearbeiteten Kalbfellen, bereitet und zwar mit
Sumach. Sie werden nach dem Gerben gefärbt, meistens rot, doch auch gelb, grün,
blau ꝛc., und zwar in neuester Zeit meist mit Anilinfarben; schließlich werden sie auch
noch appretiert (geglätte) Der Corduan (nach der Stadt Cordova in Spanien) ist
vom Saffian eigentlich nur durch die größere Stärke der Felle und dadurch verschieden,
daß er seine natürliche Narbe (auf der Haarseite) behält, während diese beim Saffian
künstlich gemacht (platiert) ist.
) Lackiertes Leder, in der Regel nur schwarz, kommt erst in neuester Zeit vor
Auf lohgares Leder wird schwarzer Lackfirnis aufgetragen und eingetrocknet.
d) Das Pergament ist eigentlich kein Leder, sondern die gereinigte und getrock
nete Haut des Esels, Schafes, Kalbes u. s. w. Der echte orientalische Chagrin ist
eine Art schwach gegerbten Pergaments aus Häuten von Eseln und wilden Pferden;
die Fischhaut oder der Fischhautchagrin wird aus der Haut verschiedener großer
Fische (Hai, Roche ꝛc.) bereitet.
Gerarbeitung der Wolle.) Die Behandlung der Wolle zu Geweben ist eine
verschiedene, je nachdem gewalkte oder rauhe (tuchartige), oder glatte, nicht
gewalkte Wollstoffe gefertigt werden. Zu den rauhen Wollstoffen (als deren Re—
präsentant das Wolltuch zu betrachten ist), wird die Wolle durch Streichen und Kratzen
porbereitet und heißt Strichwolle. Zu den glatten Stoffen (als deren Repräsentant
Tibet gelten kann) wird sie gekämmt und heißt Kammwolle. Vor allem muß die
Wolle entfettet werden. was mit Hilfe alkalischer Flüssigkeiten geschieht. Sodann
148. Die Tiere als Spender menschlicher Bekleidungsstoffe. 235
wird sie, wenn wollfarbige Tuche erzeugt werden sollen, vor dem Spinnen ge—
färbt. Diesem gehen aber noch mehrere Operationen voraus: das Wolfen, d. h. das
Auflockern auf einer eigenen Maschine (Wolf), das Einfetten mit Olen, um die
Wolle geschmeidig und schlüpfrig zu machen, sodann das Krempeln (Kratzen oder
Streichen), um die Wollfasern in eine gerade, gestreckte Lage zu bringen und jede Un—
reinlichkeit zu entfernen. Es geschieht gewöhnlich zweimal auf verschiedenen Maschinen.
Nun kommt das Vor- und darauf das Feinspinnen, wobei das Kettengarn
etwas fester hergestellt wird als das Einschußgarn, endlich wird das Garn ge—
haspelt, und es ist fertig fürs Weben. Dieses unterscheidet sich bei den rauhen Woll⸗
stoffen wenig von der Weberei glatter Leinwandstoffe Tuch nennt man den Stoff
erst, wenn er gewalkt ist; vor dem Walken heißt er Loden. Dem Walken geht das
Waschen voraus, durch welches Fett, Leim und andere Unreinigkeiten ausgeschieden
werden. Durch das Walken wird eine Verfilzung, und zwar nicht bloß an der Ober⸗
fläche, bewirkt, so daß man Kette und Einschlag nicht mehr unterscheiden kann und das
Gewebe die Beschaffenheit eines gleichförmigen, kurzhaarigen Pelzes annimmt. Nun
wird das Tuch noch gerauhet und dann geschoren, meistens auch noch dekatiert,
gebürstet und gepreßt.
Zu den rauhen Tuchen gehört noch der Flanell, der Fries SFlaus), Biber,
auch der Buckskin, der auf einer Seite glatt geschoren wird
Bei Herstellung der glatten Wollstoffe muß lange Wolle, Kammwolle,
verwendet werden, aus der dann das Kamm garn gesponnen wird. Das Weben dieser
Stoffe (Tibet, Merino, Orlean ꝛc.) ist fast ganz der glatten Leinwandweberei gleich.
Man fertigt übrigens auch Halbkamm garn, das zur Strumpfwirkerei, Teppich⸗
fabrikation, zu Posamentierarbeiten, zum Sticken und Stricken verwendet wird.
Dem Kammgarn (auch dem Halbkammgarn) wird öfter Alpaka, Kaschmirwolle,
Mohair (Wolle der Angoraziege) und Seide beigemischt. Daß auch dem Wolltuch viel⸗
fach Baumwolle beigegeben wird, ist ebenfalls bekannt. In neuerer Zeit stellt man
auch Kunstwolle her, indem man die Lumpen von Vollstoff zerreißt, zerkratzt und
unter Zusatz von neuer Wolle verspinnt. Stoffe aus solcher Wolle sind freilich wenig
haltbar.
III. Gerarbeitung der Seide.) Zunächst müssen die Cocons sortiert werden,
weil nur gleichartige Sorten mit Vorteil verwertet werden können. Dann wird der
Seidenfaden vom Cocon abgehaspelt. Die abgehaspelte Seide heißt Rohseide,
Cocons, welche nicht zum Haspeln taugen, werden gekrempelt und geben Floretseide,
aus der Seidengarn gesponnen wird.
Die abgehaspelte Seide wird gezwirnt, da h. es werden die Fäden von mehreren
Cocons (— 22) u einem Faden gedreht. Die Seide enthält einen eigentümlichen
Überzug (Seidenleim), der nur gelassen werden kann, wenn man sie zu Mühlbeuteln,
Krepp, Gaze ꝛc. verarbeitet, der aber entfernt werden muß, wenn man feinere Stoffe,
besonders gefürbte, herstellen will. Darum wird die Sade degummiert, d. h. vom
Seidenleim befreit, gekocht, geschönt ünd gebleicht. Das Weben ist dem der Baum—
wollenstoffe ähnlich. Man unterscheidet: glatte Stoffe (Taffet, Gros ꝛc.), gekeperte
(Atlas, Serge), gemusterte (alle figurierten, gewürfelten und geblümten Stoffe);
Sammetstoffe (ächten Sammet, Plüsch) und Gaze oder Flor (Krepp, Beutelgaze
Barège).
Es werden mit der Seide auch andere Garne verwebt: Kammwolle, Baumwoll
garne, Alpaka, Mohair. Derartige Stoffe nennt man halbseidene.
149. Der Koloradokäfer.
149. Der Koloradokäfer.
Der Koloradokäfer gehört zu der großen Familie der Chrysomela
oder Marienkäfer, die in manchen Gegenden auch unter den Namen
Sonnenkälbchen oder Himmelskühchen“ im Volke bekannt sind. Diese
Käferchen gehen den Blattläusen nach und fliegen und laufen daher von
einer Pflanze zur andern. Leider macht der Koloradokäfer eine un—
rühmliche Ausnahme von der Regel, da er nicht Blattläuse verspeist,
sondern unsere Kartoffelfelder vernichtet.
Seinen Ursprung nimmt er von Eiern mit hochgelber Farbe, welche
das Weibchen der Käfer zu je zehn bis zwanzig an die untere Seite der
Kartoffelblätter steckt. Da das Weibchen mit diesem Geschäfte vierzig
Tage fortfährt, so legt dasselbe zwischen 400 — 800 Eier. Nach fünf
bis acht Tagen schlüpfen aus den Eiern Larven, welche sich durch das
grüne Kartoffelkraut durchbeißen und nun unablässig weiter davon ver—
zehren.
Die Larve wächst von der Größe eines Hirsekorns bis zur Größe
iner Kaffeebohne, ist anfangs dunkelrotbraun, später orangegelb gefärbt,
hat einen schwarzen Kopf. und schwarze Punkte an beiden Seiten des
Hinterkörpers. Hat sie nach siebzehn bis zwanzig Tagen die Größe
eines Centimeters erreicht, so kriecht sie von dem Kartoffelkraute herab
und begibt sich in die Erde, um sich daselbst zu verpuppen. Nach zehn
bis zwölf Tagen ist aus der Puppe ein Käfer entstanden. In fünfzig
Tagen ist eine Verwandlung vom Ei bis zum Käfer durchgemacht. Mitte
Juni ist aus dem ersten Geschlecht ein zweites und anfangs August ein
drittes entstanden. Da ein weiblicher Käfer bis 800 Eier legt, so sind
von einem Käfer schon anfangs August 800 X 800 — 640000 ent—
standen, welche als Larven und Käfer nur Kartoffelkraut verzehren. Die
letzte Brut zehrt bis zum September hinein und kriecht vor Beginn des
Winters in die Erde. Haben sie ihren Winterschlaf gehalten, dann
kommen sie wieder, wenn die Kartoffelpflanzen ihr junges Grün zeigen,
und fressen die Sprößlinge kahl, die dann vertrocknen. Ist eine Gegend
kahl „efressen, so beginnt, durch Nahrungsmangel veranlaßt, die Wanderung
des Insektes und zwar in einem Umfange und in einer Ausdauer, wie
sie kaum ihresgleichen hat. In großen Zügen erheben sich, gleich Heu—
schrecken schwärmend, die Käfer und fliegen den grünenden Kartoffelfeldern
zu. Man hat Schwärme beobachtet, die, wie man annimmt, zu je
10000 in Verlauf weniger Stunden sich mehrfach wiederholten.
Wenn die Heuschreckenschwärme nur strichweise und vorübergehend
sich niederlassen, so sind die Kartoffelkäfer viel gefährlicher, da sie
dauernd einziehen. Geschieht die Zerstörung des Kartoffelkrauts gleich
236
150. Kleine Ursachen. 237
im Beginn des Ausschlagens, so entsteht kein Kartoffelansatz mehr, geschieht
sie im Hochsommer, so findet nur eine dürftige Knollenentwicklung statt.
In der Not frißt der Käfer auch Stechapfel, Hederich, Kohl und Tomaten
oder Liebesäpfel.
Die Feinde des Käfers sind eine Familie der Schnellfliegen, welche
die Eier vertilgen, dazu der Raubkäfer, auch die Krähen, Erdkröten und
anderes Getier. Das Einsammeln des Käfers und der Larven hat sich
als nicht ausreichend bewiesen. Pariser oder Schweinfurter Grün, das
man als Pulver über die Felder verbreitet und mit Benzinöl betränkte
Sägespäne, welche ausgestreut und angezündet werden, haben sich am
besten bewährt.
Der Koloradokäfer wurde zuerst im Jahre 1823 in Amerika in
der Gegend des Felsengebirges (Rocky-Mountains) aufgefunden. Von
seiner Verwüstung der Kartoffelfelder hatte man noch keine Ahnung, da
er sich auf einer wildwachsenden Nachtschattenpflanze befand. Als sich
aber sein Appetit bis zur Kartoffel verstieg, und man die schnelle Ver⸗
nichtung derselben wahrnahm, sahen die Landwirte Nordamerikas die
entsetzliche Gefahr. Seit mehr denn sechszehn Jahren hat der Käfer mit
der Larve sein Zerstörungswerk fortgesetzt und ist bis zur atlantischen
Qüste der Vereinigten Staaten vorgedrungen, ja auch in Deutschland
zum Schrecken der Bewohner vereinzelt erschienen.
Bei der großen Zähigkeit, welche das Tier in der Lebensdauer
besitzt, da es sechs Wochen ohne alle Nahrung lebendig bleibt, ist es
naheliegend, daß es durch Schiffe und Warenballen fortgeführt wird.
Die größte Vorsicht ist allenthalben dringend geboten. E. Wießner.)
150. Kleine Arsachen.
Im Nachfolgenden möchte ich es einmal versuchen, das Interesse der
Leser zu wecken für Geschöpfe, welche viele von ihnen wohl kaum dem Namen
nach bekannt sein dürften; ich meine die Baktérien. Diese gehören zu den
einfachsten Organismen, welche die Natur hervorbringt, indem sie nur aus
einer einzigen Zelle bestehen, deren Membrane (Umhüllung) man kaum zu
erkennen vermag, so daß die Naturforscher selbst zweifelhaft waren, ob die—
selben zum Tier- oder Pflanzenreiche zu zählen wären. Ehrenberg, welcher
zuerst die Infusionstierchen wissenschaftlich bearbeitete, rechnete sie zu diesen,
die neuesten Forscher dagegen reihen sie dem Pflanzenreiche, und zwar den
Spaltpilzen an, welche ihren Namen dem Umstande verdanken, daß sie sich
durch Zweiteilung außerordentlich vermehren. Die Baltérien sind meist
stäbchen- oder punktförmige Gebilde von einer so außerordentlichen Klein⸗
heit, daß z. B. 300 100 Individuen an einander gelegt, erst einen Milli—
meter lang sind, und leben alle in Flüssigkeiten, treten aber in Folge ihrer
2 150. Kleine Ursachen.
unglaublich schnellen Vermehrung in solchen Massen auf, daß sie auch dem
unbewaffneten Auge häufig als trüber, wolkiger Fleck erscheinen.
Was nun diesen Organismen, auf deren einzelne Arten wir hier nicht
weiter eingehen können, das Interesse jedes Gebildeten zuwenden muß, ist
die eigentliche Bedeutung, welche dieselbe auf dem Gebiete des Naturhaus—
haltes, der Industrie und der Medizin haben.
In der Natur zunächst fällt ihnen die Aufgabe zu, abgestorbene orga—
nische Substanzen in ihre Bestandteile zu zersetzen. Sie treten also ganz
entschieden zerstörend auf, und es ist wahrhaft unheimlich, wenn man sich
vorstellt, wie diese winzigen Organismen Pflanzen, Tiere, selbst den Menschen,
die Krone der Schöpfung, sobald das Leben daraus gewichen ist, überfallen
und auflösen — im wahren Sinne des Wortes verdauen. Denn durch diese
ihre Arbeit wird der Schöpfung immer wieder zugeführt, was zum Leben
der bestehenden Generationen und zum Aufbau einer neuen nötig ist, wie
der Magen durch seine zersetzende Kraft dem Körper immer die Stoffe
wieder zuführt, welche er zu seiner Erhaltung nötig hat. So findet man
die Baktérien überall, wo organische Substanzen in Zersetzung begriffen
sind, bei der Fäulnis und bei der Gärung.
Der Mensch aber, der sich durch seine geistige Befähigung und seine
Überlegenheit über die Materie zum Herrn der Natur emporgeschwungen
hat, der es versteht, sich sogar die geheimsten Kräfte derselben dienstbar zu
machen, hat es auch gelernt, diese zerstörenden Organismen zu seinen Zwecken
zu benutzen. Freilich ist die Bereitung von Bier und Wein, welche ja das
Resultat eines Gärungsprozesses sind, schon sehr alt, da schon die ältesten
Urkunden uns vom Gebrauche jener Getränke berichten, aber man wußte
von den Urhebern jenes Prozesses bis auf die neueste Zeit nichts, sondern
die Erfahrung hatte nur gelehrt, daß unter ganz bestimmten Voraussetzungen
die Gärung eintrat. Erst dem berühmten französischen Forscher Pasteur ist
es gelungen, der wahren Ursache jener Erscheinung auf die Spur zu kommen.
Nach seinen Untersuchungen steht es fest, daß die eigentümliche Zersetzung
des Zuckers in Alkohol und Kohlensäure, die wir alkoholische Gärung
nennen, eine Folge des Stoffwechsels jener mikroskopischen Organismen ist.
Die See besteht aus solchen Pilzen, welche bei einer bestimmten Temperatur,
in eine zuckerhaltige Flüssigkeit gethan, anfangen, sich zu vermehren und zu
wachsen auf Kosten des Zuckers, bis dieser vollständig zerstört, d. h. in
Alkohol und Kohlensäure umgesetzt ist. Dann endlich, wenn ihnen die
Nahrung fehlt, sinken sie zu Boden, die Kohlensäureblasen steigen nicht mehr
in der Flüssigkeit empor, diese selbst klärt sich ab, der Gärungsprozeß ist
vorüber. Nötig ist es nun nicht gerade, daß man die Pilze selbst in Ge—
stalt von Hefe der Flüssigkeit zusetzt, da auch ohnedem bald eine Gärung
eintritt, indem die atmosphärische Luft mit den Keimen dieser Gärungspilze
angefüllt ist; man thut es nur, um den Prozeß zu beschleunigen.
In gleicher Weise liegen verschiedene Arten von solchen winzigen Pilzen
jeder Gärung zugrunde, so der Essiggärung die sogenannte Essigmutter u. s. w.
38
151. Die Trichine, der Bandwurm und die Finne. 239
Neuerdings hat man nun aber auch die Erfahrung gemacht, daß auch
bei einer Menge von Krankheiten des tierischen und menschlichen Organis—
mus diese Baktrien eine große Rolle spielen, ja wahrscheinlich die eigentliche
Ursache sind. Es sind dies die sogenannten ansteckenden Krankheiten, wie
Milzbrand, Cholera, Typhus, Pocken, Diphtheritis u. s. w., welche nach der
Theorie des schon erwähnten Pasteur durch Einführung der Keime solcher
Baktorien in den Körper entstehen, wo diese dann den Anstoß zur Bildung
der mörderischen Organismen geben, welche das Blut zersetzen, die Gewebe
zerstören und den Tod herbeiführen.
Was zunächst den Milzbrand betrifft, dessen Erscheinungen und Verlauf
man genau beobachtet hat, so ist kein Zweifel, daß der Tod durch die Bak⸗
trien herbeigeführt wird, welche sich in unglaublicher Zahl im Blute und
in den Blutgefäßen der erkrankten Tiere vorfinden. Auch die Art des Todes
ist festgestellt; man weiß seit einigen Jahren, daß derselbe nicht durch die
Entziehung des Sauerstoffes aus dem Blute veranlaßt wird, wie man früher
annahm, sondern dadurch, daß die reißend schnelle Vermehrung der Bak—
tͤrien bald den Umlauf der Blutkörperchen verhindert. Diese stocken, weil
sie nicht weiter können, die Lunge verfilzt förmlich, das Herz kann seine
Funktionen nicht mehr verrichten, und der Tod tritt ein. Die Milzbrand⸗
baktrien gedeihen und wuchern nur, wenn sie in das Blut eingeführt werden,
sind dann aber im Stande, in ganz kurzer Zeit, meist in 24 Stunden schon,
das Tier, dem e eingeimpft sind, zu töten.
Auch im Blute des Menschen erregen sie eine förmliche Gärung, deren
Resultat in Form von bösartigen Pusteln und Karbunkeln an das Tages⸗
licht tritt; Fliegen, welche auf milzbrandigem Vieh gesessen haben, tragen
häufig die Baktérien weiter und impfen dieselben dann durch ihren Stich
ein; daher die Ansicht von giftigen Fliegen.
Ebenso, wie beim Milzbrande, sind auch bei Wechselfieber, bei Typhus,
Cholera u. w. Baktorien anderer Art als unzweifelhafte Ursache der Krank—
heit nachgewiesen. Hat man aber erst die Ursache einer Krankheit erkannt,
so ist eß leichter, Heilmittel gegen dieselbe zu finden oder Vorsichtsmaßregeln
gegen die Ansteckung anzuwenden, während man früher nur aufs Gerate—
wohl kurieren konnte. Vor allen Dingen muß es darauf ankommen, die
freigewordenen Pilzkeime, welche sich in den Abgängen der Erkrankten finden,
zu töten, was durch Karbolsäure, Chlorkalk u. s. w. geschieht; die größte
Reinlichkeit überhaupt ist anzuwenden, um sich vor Ansteckung zu wahren.
Nach Gewerbeschau von A. Krebs.)
151. Die Trichine, der Vandwurm und die Finne.
1. Die Trichinen verursachen die schreckliche Trichinenkrankheit, die von
den Ärzten erst in neuester Zeit erkannt worden ist. Das winzig kleine
Würmchen lebt im Fleische mancher Tiere, namentlich der Schweine. Ge—
nießt der Mensch trichinenhaltiges Schweinefleisch, so erkrankt er mehr oder
240 151. Die Trichine, der Bandwurm und die Finne
weniger schwer, ja nicht selten tritt der Tod ein. Die genossenen Trichinen
setzen sah nämlich im Darm des Menschen fest und erzeugen lebendige
Junge, Fadenwürnichen, wie man sie kleiner kaum kennt. Die alten Tri—
chinen bleiben im Darm, bis sie untergehen, die junge Brut aber wandert
vom Darm aus in den Körper des Menschen ein. In dem Fleische allein
treffen die jungen Trichinen eine für ihr weiteres Wachstum geeignete
Wohnstätte. Schon vierzehn Tage nach der Einwanderung ist das Würmchen
ausgewachsen. Nun rollt es sich spiralig zusammen, wie eine Uhrfeder,
und es bildet sich dann nach und nach um ein jedes Tierchen eine Kapsel
aus Kalksalz, so daß es zuletzt in einer Kalkschale steckt, wie ein Vogelei.
Sind die Trichinen eingekapselt, so können sie sich nicht mehr weiter bewegen
und weiter entwickeln. Die Kapsel ist für sie ein Gefängnis, aus welchem
sie nur frei werden, wenn sie mit dem Fleisch, in dem sie liegen, in den
Darm eines Essers gelangen.
Der Gesamtverlauf in der Entwickelung der Trichinen ist also folgender:
1. Die genossenen Trichinen bleiben im Darm und kommen nicht in
die Muskeln;
2 sie erzeugen lebendige Junge, welche in die Muskeln einwandern;
3. die in die Muskeln eingewanderte Brut wächst darin, aber sie ver—
mehrt sich nicht.
Dle eigentliche Gefähr liegt demnach in der Erzeugung junger Brut
durch die Darmtrichinen. Eine Trichinenmutter hat gegen 100 lebendige
Junge in ihrem Leibe, und außer diesen Jungen erzeugt sie immer wieder
noch neue Eier. Rechnen wir auch nur 200 Junge auf eine Trichinen—
mutter, so genügen 5000 solcher Mütter, um eine Million Junge für die
Einwanderung zu liefern und so viele Muttertiere können in wenigen Bissen
enthalten sein, wenn auch noch kein sehr hoher Grad von Anfüllung des—
selben vorhanden ist.
Je mehr lebendige Trichinen genossen werden, und je länger sie im
Darm verweilen, um so mehr Junge werden geliefert, und um so höher
steigt die Gefahr.
2. Den Trichinen gleichen in vieler Beziehung die Finnen, welche be—
kanntermaßen bei Schweinen nicht selten sind. Die Finnen sitzen auch im
Fleische, kommen häufig in großer Zahl vor, haben nie Eier und erzeugen
nie Junge, gradeso wie die Muskeltrichinen. Die Finnen sind aber ungleich
größer. Während die Trichinen, auch wenn man die Kapsel zu dem Tiere
rechnet, höchstens einen kleinen weißen Punkt, oder einen feinen Strich
darstellen, so erreichen die Finnen die Größe einer Erbse, zuweilen die einer
kleinen Kirsche oder Bohne. Eine Verwechselung beider ist daher nicht
möglich.
Schon die bessern Untersucher des vorigen Jahrhunderts hatten bemerkt,
daß der Finnenwurm eine große Übereinstimmung des Baues mit dem
Kopf eines Bandwurms besitze, und sie hatten daher beide, den Finnenwurm
und den Bandwurm, zu einem und demselben Geschlecht gerechnet. Indes
152. Der Wald im Haushalt der Natur und der Menschen. 241
betrachteten sie doch beide als getrennte Arten derselben Gattung, welche
neben einander beständen, wie etwa Esel und Pferd, Hund und Wolf, ohne
jemals in einander über oder aus einander hervor zu gehen. Erst die weiter
gehende Forschung der neuesten Zeit führte zu dem Ergebnis, daß der
Finnenwurm des Fleisches, wenn er von einem Tiere oder Menschen gegessen
wird, sich im Darm desselben in einen Bandwurm verwandelt oder viel—
mehr zu einem Bande euntwickelt, daß also derselbe Wurm eine zeitlang
in dem Finnenzustande lebt, um später in den Bandwurmzustand überzugehen.
Schwieriger war die Frage, wie der Wurm in den Finnenzustand und
in das Fleisch gelangt. In dem Bandwurmzustand erzeugt er an seinem
hinteren Leibesende durch Wachstum und Abschwärung immer neue Glieder,
von denen jedes in sich nicht bloß Eier und Samen, sondern auch lebendige
Junge hervorbringt. Diese schlüpfen aber aus der Eierschale erst aus, nach—
dem sie aus dem Körper entleert worden und auf irgend eine Weise mit
der Nahrung oder mit dem Getränk wieder von einem Tiere (Schweine)
genossen sind. Sobald sie in den Magen gelangt sind, löst sich die Schale;
die jungen, dann noch ganz kleinen Tierchen werden frei, durchdringen die
Darmwand und gelangen in verschiedene Teile des Körpers, um sich zu
Finnenwürmern zu entwickeln.
Es ist dies eine lange und in hohem Maße dem Zufall überlassene
Entwickelungsreihe. Der Finnenwurm muß gegessen werden, um im Darm
des Essers zum Bandwurm zu werden, und die von diesem in seinen ein—
zelnen Gliedern erzeugten Eier und Junge müssen wiederum genossen oder
wenigstens eingenommen werden, um in das Innere des Körpers und
namentlich in das Fleisch eindringen und sich hier zu neuen Finnenwürmern
ausbilden zu können. (Rud. Virchow.)
152. Der Wald im Haushall der Natur und der Menschen.
1. Am nächsten steht der Wald dem Menschen unstreitig als Erzeuger von
Holz; denn das Holz ist ein ebenso unentbehrliches Lebensbedürfnis als das
Brot. Der Wald bietet aber zur Befriedigung der Bedürfnisse des Menschen
auch noch viele andere Erzeugnisse, die zum Teil unentbehrlich sind, zum
Teil zur Annehmlichkeit des Lebens beitragen. Die würzigen Erdbeeren,
die saftigen Heidel- und Brombeeren und die süßen Himbeeren werden
zum größten Teil aus dem Walde bezogen. Das Einsammeln derselben
beschäftigt und nährt zeitweise viele Menschen, die ihre Arbeitskraft nicht
in lohnenderer Weise verwerten könnten, und die Früchte selost bilden
frisch und eingemacht eine erfrischende Zugabe auf den Tischen von Reichen
und Armen. Auch der Apotheker füllt einen Teil seiner Büchsen mit den
Erzeugnissen des Waldes und verschafft damit den Leidenden Trost und
Linderung ihrer Schmerzen. Die zur Bereitung des Leders unentbehrliche
Rinde liefert der Wald. Harz, Terpentin, Teer, Kienruß, Pottasche und
verschiedene Farbstoffe stammen ebenfalls aus dem Walde.
Marschall, Lesebuch für gewerbl. Fortbildungsschulen. Kl. Ausg.
16
212 152. Der Wald im Haushalt der Natur und der Menschen.
Es übt der Wald aber auch einen großen Einfluß aus auf die Ent—
stehung, Erhaltung und Fruchtbarkeit des Bodens. An steilen Abhängen
ist der unbedeckte Boden der Gefahr ausgesetzt, abgeschwemmt zu werden;
so weit er bewaldet ist, verschwindet die Gefahr beinahe ganz. Der Schnee
schmilzt im Walde langsamer als auf freiem Felde, das Wasser verteilt sich
daher auf einen längeren Zeitraum. Das Regenwasser gelangt nicht un—
mittelbar auf den Boden, es fällt zuerst auf die Blätter der Bäume und
Sträucher, von wo ein bedeutender Teil desselben wieder verdunstet und der
andere Teil nur allmählich auf die Erde tropft. Der Boden ist mit Nadeln,
Blättern, Moosen, Gräsern oder Sträuchern bedeckt, die das Wasser am
raschen Abfließen hindern, und unter der Bodendecke liegt eine lockere Erd
schicht, die dasselbe schwammartig aufsaugt und nach und nach an die tieferen
Bodenschichten abgibt.
Die Verdunstung geht im Walde viel langsamer und gleichmäßiger vor
sich als auf dem offenen Feld; die entstehenden Wasserdämpfe werden nicht so
rasch verweht und können sich der nur mäßigen Wärme wegen nicht in sehr
großer Menge im dunstförmigen Zustande erhalten und ansammeln. Jede Ab—
kühlung der Luft veranlaßt Niederschläge derselben in Form von Tau, Regen
oder Schnee. Wässerige Niederschläge treten daher in waldreichen Gegenden
viel häufiger und regelmäßiger ein als in waldarmen. Ebenso ist die Zahl
der Gewitter in waldreichen Gegenden größer als in waldarmen, ihre
Heftigkeit aber geringer und Beschädigungen durch Hagel seltener. Die
Bäume mit ihrem großen Feuchtigkeitsgehalt und ihren den Wolken zu—
gerichteten Spitzen dienen als Elektricitätsausgleicher zwischen der Luft und
dem Boden, verhindern also eine zu starke Anhäufung der Elektricität und
die plötzliche Entladung verheerender Gewitter.
Durch den Einfluß, den der Wald auf die Bildung der wässerigen
Niederschläge und das Abfließen derselben von den Bergen übt, wirkt er
sehr günstig auf die Bildung der Quellen und auf den Wasserstand in den
Bächen und Flüssen. Waldreiche Gegenden haben nicht nur mehr, sondern
auch reichere und ausdauerndere Quellen als waldarme.
2. Auf die Vorgänge in der Luft übt der Wald einen großen Einfluß
und zwar sowohl auf den Wärmewechsel, als auch auf die Luftströmungen
und die wässerigen Niederschläge. Während des Tages erwärmt sich die
Luft über dem offenen, unbeschatteten Lande viel stärker als im Walde;
während der Nacht dagegen ist die Luft im Walde wärmer als im Freien,
weil die Abkühlung infolge der durch die Bodendecke und das Laubdach der
Bäume erschwerten Wärmeausstrahlung und gemäßigten Luftströmung lang—
samer vor sich geht. Des Tages über wird demnach die wärmere Luft
über den Feldern durch die kältere des Waldes abgekühlt, die Hitze auf dem
offenen Felde also gemäßigt, und in der Nacht wird die kältere Luft über
den Feldern durch die wärmere des Waldes erhöht, eine starke Erkältung
also verhindert. In allen Gegenden, in denen Wald und Feld in zweck—
entsprechender Weise mit einander wechseln, ist daher der Unterschied zwischen
42
152. Der Wald im Haushalt der Natur und der Menschen 243
der Temperatur des Tages und der Nacht geringer als in waldarmen
Die Wälder können sonach als Ausgleicher der Temperatur bezeichnet werden.
Sie werden es aber auch noch dadurch, daß sie die Stürme brechen und die
Luftströmungen überhaupt mäßigen. In waldreichen Gegenden, besonders
da, wo die Anhöhen und Berge gut bewaldet sind, kommen seltener große
Sturmverheerungen vor, als in waldarmen. Ein gut geschlossener älterer
Hochwald trägt mehr zur Schwächung der Stürme bei, als ein Berg, weil
er die Strömung nicht unmittelbar ablenkt. Im Winter brechen die Wälder
die kalten, rauhen Winde, im Sommer kühlen sie die warme Luft ab; an—
gemessen bewaldete Gegenden sind daher im Winter weniger kalt und im
Sommer nicht so heiß wie die waldarmen.
Der Wald nimmt auch thätigen Anteil an der Erhaltung einer gleich—
mäßigen Zusammensetzung der atmosphärischen Luft und übt auch dadurch
einen günstigen Einfluß auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen.
Die großen Blattmassen des Waldes wirken kräftig mit bei der Umgestaltung
der durch das Ausatmen der Menschen und Tiere, durch Verbrennung,
Gärung und Fäulnis erzeugten Kohlensäure. Die Blätter saugen dieselbe
auf, zerlegen sie unter der Einwirkung des Lichtes, verwenden den Kohlen—
stoff zum Aufbau der Pflanzen und geben den zum Leben unentbehrlichen
Sauerstoff der Luft zurück. — Wer hätte nicht schon den wohlthuenden Ein—
fluß gefühlt, den die frische Waldluft auf Körper und Geist ausübt, wenn
man der Stube, der staubigen Straße oder dem offenen Felde zu entrinnen ver—
mag, um sich in stiller Waldeseinsamkeit eine Stunde der Erholung zu gönnen.
Ergänzungen. Der Hauptbestandteil des Holzes ist der Holzfaserstoff (die
Cellulose). Derselbe enthält hauptsächlich Kohlenstoff und Sauerstoff, dann Wasserstoff.
Andere Holzbestandteile sind: Gerbstoff, eiweißartige Körper, Stärke, Harz, Zucker,
ätherische Ole, Farbstoffe und mineralische Stoffe. Die Holzfaser erhält sich lange
Zeit, wenn sie vollkommen trocken und rein ist. Zerstörend auf sie wirken Feuchtigkeit
und eiweißartige Körper. Von Wichtigkeit für die Haltbarkeit des Holzes ist schon
die Zeit des Füllens. Dieses geschieht am zweckmäßigsten zu der Zeit, in welcher
die Bäume am wenigsten Saft enthalten, alfo im Winter. Läßt man die gefällten
Stämme unentästet im Sommer liegen, so treiben sie Blätter, wodurch die meiste in
denselben vorhandene Feuchtigkeit absorbiert (aufgezehrt) wird. Je länger das Holz,
besonders nachdem es behauen oder gesägt ist, an der Luft getrocknet wird, desto
widerstandsfähiger wird es. Liegt es feucht oder abgeschlossen vom Luftzug, so gehen
die eiweißartigen Körper in Fäulnis über und verändern dabei auch die Holzfaser,
welche ihren Zusammenhang verliert und eine zerreibliche Masse bildet. (Vermodern
oder Stocken des Holzes.)
Oft erzeugt sich auch, besonders im Holzwerk der Gebäude, ein Pilz, der Holz—
schwamm. Dieser kündigt sich im Entstehen durch weiße, immer mehr sich vergrößernde
Flecken an, die in ein graues Fasergeflecht übergehen und schließlich eine korkähnliche
häutige Masse bilden. Er steclt auch gesundes Holz an, so daß das Holzwerk ganzer
Gebäude vernichtet wird.
Um das Holz zu konservieren, sucht man das Wasser und andere Sastbestandteile
aus demselben möglichst zu entfernen, was mittels Dampf oder Auslaugen mit kaltem
*
16
244 153. Die Heimat unserer Nährpflanzen.
oder siedendem Wasser geschieht; oder man verändert die Bestandteile des Holzes auf
chemischem Wege (Imprägnation), indem man entweder solche Lösungen in dasselbe
bringt, welche die eiweißartigen Substanzen in unlösliche Verbindungen verwandeln,
oder Flüssigkeiten, welche fäulniswidrig wirken.
Manche Holzarten haben unter Wasser eine größere Dauerhaftigkeit als im Freien,
so besonders die Erle, Buche, Ulme, Lärche und Kiefer; bei der Eiche und Fichte ist
die Dauerhaftigkeit unter Wasser und im Freien nahezu gleich; Esche, Weide, Pappel
und Birke sind unter Wasser ganz unhaltbar.
Im Meere wirkt ungemein zerstörend auf das Holz der Bohrwurm, der aus
den Meeren heißer Länder stammt. Er zerstört nicht nur unbeschlagene Schiffe, sondern
auch ganze Dämme. Er bohrt sich mit seinem vorn hornartigen Rüssel in das Holz
ein, wächst bis zu 40 em Länge, vergrößert die gebohrte Röhre und füllt sie mit kalkiger
Substanz aus.
153. Die Heimat unserer Nährpflanzen.
In unseren Gärten, AÄckern und Feldern bauen wir eine Menge
verschiedener Pflanzen, ohne daran zu denken, daß die ursprüngliche
Heimat derselben hunderte, ja tausende von Meilen entfernt liegt. Unter—
suchen wir den Sachverhalt näher, so finden wir zu unserem Erstaunen,
daß unser Vaterland eigentlich außerordentlich arm an freiwillig wach—
senden Nährpflanzen ist und alle wichtigeren unter ihnen in älterer oder
späterer Zeit aus der Fremde eingeführt wurden. Selbst die bei uns
noch wild wachsenden, wie die Mohrrüben und das Holzobst, waren von
so geringer Beschaffenheit, daß sie entweder durch lange Kultur ver—
bessert, oder durch edlere Pflanzen gleicher Art aus der Fremde ersetzt
werden mußten. Ja ganz Europa ist nicht viel reicher an heimischen
Nahrungspflanzen, als unser Land. Es besitzt nicht eine einzige wich—
tigere Mehlpflanze; wohl aber wachsen einige Gemüse, wie die Linsen,
Spargeln, mehrere Kohlgewächse und Rübenarten, im Süden dieses Erd—
teiles wild.
Die meisten unserer Nährpflanzen verdanken wir der glücklicheren
Erde Asiens, das uns auch wahrscheinlich die meisten Haustiere, wie
Pferd, Rind, Esel, Ziege, Schaf, Hund, Huhn, geliefert hat. Das Morgen—
land und Hochasien sind die Heimat unserer meisten Getreidearten. Noch
wachsen Weizen, Dinkel und Gerste wild in Mesopotamien und im
südlichen Persien, das Einkorn in Taurien und am Kaukäsus, der
Roggen auf den Gebirgen Kleinasiens und in den Steppen am kaspi—
schen Meere. Ob auch der Hafer dorther stammt, ist noch ungewiß, da
man ihn bisher dort noch nirgends wildwachsend gefunden hat.
Das Morgenland lieferte uns auch die edelsten Obstsorten. Die
Gebirge von Hochpersien und Kaschmir sind die Heimat der Aprikosen,
Amarellen, Pfirsiche und Walnüsse, Kleinasien die der Zwetschgen und
153. Die Heimat unserer Nährpflanzen. 245
Kastanien. In den üppigen Wäldern zwischen dem schwarzen und
kaspischen Meere wuchert jetzt noch in Masse die Weinrebe wild bis zu
den Baumgipfeln empor, und dort ist wohl auch die Heimat des edlen
Kernobstes. Die Melonen, Gurken, Kürbisse, Ackerbohnen
und der Spinat stammen ebenfalls aus dem Morgenlande. Nordasien
hat uns den Buchweizen und Indien die Hirsearten und Bohnen
gegeben.
Bei dieser Fülle von Naturgeschenken Asiens ist es um so auf—
fallender, daß das große Afrika uns gar keine unserer Anbaupflanzen
geliefert hat. Es ist eben selbst äußerst arm an einheimischen Nähr—
gewächsen.
Dagegen verdanken wir Amerika zwei solche, die von höchster
Wichtigkeit für uns geworden sind: den Mais und die Kartoffel.
Beide sind schon seit uralten Zeiten, lange ehe die Europäer den Erd—
teil entdeckten, an der Westküste Südamerikas angebaut worden. Eine
kleine, frühreifende Maissorte wächst gegenwärtig noch in den Wäldern
von Paraguay') wild, und die Mutterpflanze der Kartoffel ist höchst
wahrscheinlich eine kleine, knollige Nachtschattenart, die an den Felsen—
küsten Chiles') wild wächst, ziemlich schmackhaft ist und nach mehrjährigem
Anbau ganz unserer Kulturkartoffel ähnlich wird. Daneben besitzt Amerika
noch einige heimische Mehlpflanzen, besonders Melden und Reis, und
eine große Auswahl der wohlschmeckendsten Baumfrüchte, die sich aber
für unser Land nicht eignen. Die einheimischen Baumnüsse und Wein—
trauben Nordamerikas stehen weit gegen die unsrigen zurück. Nur die
südamerikanische Topinambur hat auch bei uns etwelche Verbreitung
als Futtergewächs gefunden, und der Tabak ist eine wichtige Handels—
pflanze unserer Landwirtschaft geworden.
Australien endlich besitzt trotz seines außerordentlichen Pflanzen—
reichtums keine einzige Mehl- und nur einige wenige Nährpflanzen, von
denen wir aber nur den Neuseeländer Spinat für unsern Garten—
bau benutzen konnten. Fr. v. Tschudi.)
Ergänzungen. 1. (Dastägliche Brot.) Unter den Nahrungsmitteln zivilisierter
Völker ist das Brot nicht nur das allgemeinste und unentbehrlichste, sondern unter den
künstlich bereiteten wohl auch eines der ältesten.
Schon aus den Zeiten Abrahams wird vom Brotbacken berichtet; in Phönizien
und Agypten war die Kunst des Zermalmens der Getreidekörner durch Handmühlen
und des Brotbackens schon sehr frühe im Gebrauch. Noch jetzt bemessen sich die Preise
der anderen wichtigen Nahrungsmittel nach dem Getreide- bezw. Brotpreise.
) spr. paragwai. ) sschile.
246 153. Die Heimat unserer Nährpflanzen.
Man verwendet zum Brotbacken hauptsächlich Weizen- und Roggenmehl, jenes
mehr in den südlichen Lündern, besonders in Frankreich, dieses mehr in den nördlichen,
namentlich in Norddeutschland.
Die wichtigsten Nährbestandteile des Getreides sind 1) an stickstofffreien organischen
Stoffen: Stärkemehl, etwas Zucker, Gummi, Fett ꝛc.; 2 an stickstoffhaltigen: be—
sonders Kleber; 3) an Mineralien: Phosphate und Salze.
Die Kleie. ist an eiweißartigen Substanzen, Fetten und Salzen reicher, als die
inneren Körnertheile sind, und es gehen bei unserer Art des Mahlens gerade diese
wichtigen Stoffe zum größten Teile für die Brotgewinnung verloren. Man sollte des—
halb beim Mahlen nur die wertlose äußere Schale entfernen. Der westfälische Pumper—
nickel, in dem sich noch der größte Teil der Kleie befindet, enthält viel mehr Eiweißstoffe
und Stärkemehl ꝛc, dagegen weniger Wasser, als unser gewöhnliches Roggenbrot.
Das Mehl enthält auch noch 12 — 18090 Wasser, welches sich durch Trocknen bei
1009 O austreiben läßt. In feuchter Luft nimmt das Mehl mehr Wasser auf, was
demselben sehr nachteilig ist, indem es sich zusammenballt, zu gären beginnt und den
Kleber so verändert, daß solches Mehl kein schmackhaftes Brot mehr gibt. überdies be⸗
fördert die Feuchtigkeit die Entwicklung von Pilzen, so daß solches Brot, abgesehen von dem
moderigen (müffigen) Geruch und Geschmack, auch der Gesundheit nachteilig werden kann.
Der Hauptnahrungsstoff des Mehles ist der Kleber, der zu den sogenannten
blutbildenden Nahrungsmitteln gerechnet wird, während das Stärkmehl, welches den
größten Prozentsatz des Mehles bildet, mehr zu den Respirationsmitteln, d. h. zu jenen
Nahrungsmitteln gehört, welche beim Stoffwechsel verbrannt, nämlich in Kohlensäure
und Wasser umgesetzt werden, also wesentlich wärmebildend wirken. Im Brot sind fast
fünfmal so viel Respirationsmittel als blutbildende Stoffe enthalten, so daß ein Mensch
berhältnismäßig zu viel Brot genießen müßte, um seinen Nahrungsbedarf zu decken,
wenn er ausschließlich von Brot leben wollte.
Zum Backen wird der Teig vorbereitet durch die höchst wichtige Gärung, welche
entweder durch Sauerteig (beim Roggenbrot), oder durch Hefe (beim Weizenbrot) be—
wirkt wird. Den Vorzug vor diesen Gärungserzeugern verdient das Horsford—
Liebigsche Backpulver, welches in zwei Sorten fabriziert wird, als Alkalipulver,
das doppelkohlensaures Natron, Chlornatrium oder Chlorkalium enthült, und als Säure—
pulver, welches ein Gemenge von saurem phosphorsaurem Kalk und Stärkmehl ist.
Durch dieses Backpulver gewinnt man 10 bis 129 mehr Brot und führt demselben
wichtige Salze zu.
Statt des mühesamen und wenig appetitlichen Knetens mit der Hand bedient man
sich bereits vielfach in großen Bückereien der zweckmäßig konstruierten Knetmaschinen
Das Brot muß in den Ofen gebracht werden, wenn die Gärung ihren Höhepunlt er—
reicht hat; wird dies übersehen, so entweicht die durch die Gärung entwickelte Kohlen—
säure; der Teig sinkt zusammen; die Milchsäuregärung greift um sich, und das Brot
erhält dann den bekannten unangenehmen, sauren Geschmack. Das „Spundigwerden“
des Brotes kommt übrigens auch davon her, daß feuchtgewordenes, schon vor dem Ver—
backen in Gärung übergegangenes Mehl oder Mehl von ausgewachsenem oder gekeimtem
Getreide verwendet wurde.
Von 100 Pfund trockenem Weizenmehl erhält man 130 150 Pfund, von 100 Pfund
Roggenmehl 131 Pfund Brot. (Nach Ernst Spieß „über das Brot“)
2. Stärkebereitung). Das Stärkemehl zur Fabrikation der Stärke wird
vorzugsweise aus den Kartoffeln gewonnen. Das Stärkemehl ist eine Zusammen—
setzung von Kohlen-, Wasser- und Sauerstoff und gehört zu den verbreiketsten Sub—
154. Die Weinrebe. 247
stanzen des Pflanzenreiches. Es läßt sich leicht in Stärkegummi und Zucker über—
führen. Die Kartoffeln enthalten an 20 95 Stärkemehl. Sie werden gerieben und mit
Wasser ausgeschlämmt und so das Stärkemehl ausgezogen. Dieses wird auf eine
Gipsunterlage gebracht, um ihm das Wasser zu entziehen, dann kommt es in die
Trockenstuben. Nach dem Trocknen gibt man der Stärke jene Form, in welcher man
sie in den Handel bringen will. EStengelstärke, Bröckelstärke.)
Die Stärke wird verwendet zum Steifen der Wäsche, zu Kleister, zum Leimen
des Papiers, zur Bereitung der Schlicht (bei der Leinen- und Baumwollenweberei), zur
Appretur, zum Kartoffelsago, zur Fabrikation von Nudeln (Maccaroni).
(über die Rolle des Stärkemehls bei der Bier- und Weingeistbereitung siehe
Nr. 154 und 155.)
154. Die Weinrebe.
Die, Heimat der Weinrebe kann nicht mit Sicherheit angegeben
werden; aber wahrscheinlich ist es, daß sie in den Gegenden zwischen
dem Kaukasus, Arärat und Taurus gesucht werden muß. Der Gebrauch
des Weines ist so alt wie die ältesten geschichtlichen Denkmäler. In
Kleinasien, Griechenland und Ägypten wurde schon sehr früh Wein ge—
baut, etwas später auch in Italien. Doch muß der Wein in den ersten
Zeiten Roms noch spärlich gewesen sein, weshalb Romulus anstatt des
Weins den Göttern Milch opferte und Numa Pompilius verbot, Wein
beim Verbrennen der Leichen zu opfern, was doch sonst im Altertum
allgemeiner Gebrauch war. Den Frauen war es verboten, Wein zu
trinken; ja, eine römische Dame ward verurteilt, ihre Mitgift verwirkt
zu haben, weil sie gegen dieses Verbot handelte. Vor dem 35. Jahre
war es auch keinem edelgeborenen Römer erlaubt, Wein zu trinken. In
den folgenden Zeiten dagegen war der Gebrauch des Weines bei den
Römern groß und der Luxus mit fremden und seltenen Weinsorten
bedeutend.
In dem südlichen Frankreich soll der Weinbau schon sehr früh be—
gonnen haben; doch muß er anfangs noch von geringem Umfange gewesen
sein; denn römische Schriftsteller berichten, daß es besonders der Wein
war, welcher die Gallier, wie später auch die Cimbern, verlockte, die
Alpen zu überschreiten.
* Im 3. Jahrhundert nach Christo ließ der Kaiser Probus durch
seine Soldaten auch in Ungarn und am Rhein Weinberge anlegen, und
von dieser Zeit an ward also auch Deutschland ein Weinland.
Durch Kolonien der Europäer wurde der Weinbau in andern Welt—
teilen erweitert; man verpflanzte die Weinrebe nach Madeira und Teneriffa,
welche Inseln jetzt so berühmte Weine liefern; in der Capkolonie, im
Innern Nordamerikas, auch im gemäßigten Südamerika und Neuholland
wurden Weingärten angelegt.
218 154. Die Weinrebe.
Frankreich ist das Land, welches die größte Menge und im ganzen
genommen auch die besten Weine liefert. Italien, Spanien und Griechen—
land haben freilich einige gute Weinsorten, aber der gewöhnliche Wein
ist nicht gut.
Obgleich die Weinrebe beinahe in jedem Erdboden gedeihen kann,
so hat doch die besondere Beschaffenheit desselben einen sehr merkwürdigen
Einfluß auf den besonderen Charakter des Weines. Daher sind gewisse
Weinsorten nicht nur auf eine gewisse Provinz oder Gegend beschränkt,
wie Champagner, Burgunder, Rheinwein, sondern selbst auf bestimmte
Plätze, wie Tokay, Johannisberg u. s. w., außerhalb welcher man nicht
denselben Wein erhält, auch dann nicht, wenn man dieselbe Art von
Reben verpflanzt.
Die Weinrebe wird bald niedrig gezogen, indem sie an kurze Pfähle
gebunden wird, welche sich kaum einen Meter über die Erde erheben, wie
in den Rheinlanden, in Frankreich und in Spanien, bald an Bäumen
von 3—4 m Höhe, zwischen welchen die Ranken in Guirlanden nieder—
hangen, welche die Landschaft verschönern, wie gewöhnlich in Italien
und auf Sicilien. Der Weinstock erreicht zuweilen eine bedeutende Höhe
und Fruchtbarkeit. In Frankreich soll es einen Weinstock gegeben haben,
dessen Stamm mannsdick war, und dessen Ertrag 350 Flaschen Wein
gab. Ein Reisender in Palästina berichtet, daß man dort noch Trauben
von einer Schwere bis zu 17 Pfund finden kann. WMach J. F. Schouw)
Ergänzungen. 1. (Weinbereitung, Gärung.) Die durch Keltern von den
Trauben gewonnene Flüssigkeit heißt Most. Den Hauptbestandteil desselben bildet
Wasser; außerdem enthält er: Zucker, Schleim (Gummi), Wein-, Apfel-, Citronen- und
Gerbsäure, Farbstoff und Eiweiß (Ferment) Der Zuckergehalt bestimmt haupt—
sächlich die Güte des Weines; geringe und mittelmäßige Weine enthalten 5 — 149,
gute bis recht gute 15—18 , Ausstichweine 20260 Zucker. Der Most hat einen
süßen Geschmack. Wenn man ihn luftdicht verschließt und die Gärung verhindert, be—
hält er diesen längere Zeit. Durch den Gärungsprozeß wird er erst in Wein ver—
wandelt. Die Gärung wird vermittelt durch die eiweißhaltigen Stoffe, aus welchen
sich unter dem Einfluße der aus der Luft aufgenommenen Keime) Hefe bildet. Der
Zucker verwandelt sich dann in Weingeist und Kohlensäure. Diese Umwandlung ge—
schieht unter Wärme-Entwicklung und Brausen. Während der Gärung heißt der Most
Suser oder Bremser, und er trinkt sich wegen seines reichen Kohlensäuregehalts wie
Champagner.
Nicht nur das Eiweiß ist aus dem gelösten in den festen Zustand übergegangen,
sondern es hat sich auch Wein stein (doppelt weinsaures Kali) auszuscheiden begonnen.
Auch bilden sich bei der Gärung die flüchtigen (ätherischen) Ole, welche dem Weine
seinen eigentümlichen Geruch und Geschmack (die Blume oder das Buket) mitteilen
Allmählich senkt sich die Hefe zu Boden und die Flüssigkeit klärt sich. Je mehr Zucker
der Most enthielt, desto reicher an Weingeist wird auch der Wein.
9) S. Nr. 150.
4
155. Der Hopfen. 249
Mit den aus Äpfeln, Birnen, Johannis- und Stachelbeeren gepreßten Säften
vollzieht sich der gleiche Prozeß.
2. Weingeist, Destillation.) Aus zuckerhaltigen Stoffen, z. B. aus den
Trebern der Trauben, aus Zwetschgen, Kirschen ꝛc. kann durch Destillation Weingeist
Alkohol) gewonnen werden. Da das Stärkemehl durch die Diastase (siehe Nr. 155) in
Zucker verwandelt wird, erzeugt man auch aus stärkemehlhaltigen Stoffen, Kartoffeln,
Roggen, Gerste ꝛc. weingeisthaltige Flüssigkeiten. Man stellt zunächst, ähnlich wie bei
der Bierbereitung, die Maische her. Hat diese den erforderlichen Grad der Gärung er—
reicht, so wird sie abdestilliert, d. h. in einem eigenen Apparat GBlase) erhitzt; da der
Weingeist früher d. h. bei niedrigerer Temperatur als das Wasser in Dampf verwandelt
wird, so steigt derselbe in die Höhe. Im Abkühlungsapparat (Röhren, durch kaltes
Wasser geleitet) schlügt er sich in tropfbar flüssiger Form nieder und wird dann auf⸗
gefangen. Er enthält aber immer noch viel Wasser, das er bei der Dampfbildung mit—
gerissen hat. Durch wiederholte Destillation wird er mehr und mehr vom Wasser be—
freit, und man kann schließlich wasserfreien Weingeist erhalten. Mittels komplizierter
Apparate ist es möglich, durch einmalige Destillation reinen Weingeist herzustellen.
155. Der Hopfen.
Eines der wichtigsten Erzeugnisse unter den narkotischen Stoffen ist
der Hopfen, eine in Deutschland ursprünglich einheimische und daselbst
seit grauem Altertum angebaute Pflanze. In einer alten Urkunde des
fränkischen Königs Pipin vom Jahre 768 wird zuerst der Hopfengärten
erwähnt; aus der Zeit Karls des Großen sind uns keine Nachrichten über
den Hopfen aufbewahrt, obwohl auf dessen Meiereien Bier gebraut wurde;
erst in einer Urkunde vom Jahre 822 wird der Hopfengärten wieder
gedacht, und in späteren Zeiten werden dieselben immer häufiger genannt.
Von Deutschland aus verbreitete sich der Anbau des Hopfens in das übrige
Europa. Gegenwärtig ist er in fast alle Länder Europas gedrungen, wird
aber in einzelnen Lagen mit besonderem Glück betrieben und liefert daselbst
bevorzugte Erträge. In Deutschland wird gegenwärtig der meiste Hopfen
in Böhmen und in Bayern erzeugt. Die gesamte Ertragsmenge des
ersteren Landes kann man auf 8—9 Millionen, diejenige des letztern
Landes auf ungefähr 19— 12 Millionen Pfund veranschlagen. Der beste
böhmische Sopsen t der Saazer und der beste bayerische der Spalter.
Alle Länder der Welt übertrifft aber Großbritannien in der Menge der
Hopfenerzeugung, deren Gesamtertrag es, mit Ausnahme geringer Ausfuhr
nach Hamburg, selbst verwendet. Es gibt kaum eine in ihrem Ertrag mehr
veränderliche Pflanze als der Hopfen; während er in einem Jahr einen
Ertrag von 15 — 20 Ztr. vom Morgen gibt, liefert er im darauf folgenden
kaum 1 Ztr., und wenn im ersteren Fall der Zentner mit 45 — 60 Mark
bezahlt worden ist, so kann er im letzteren 200 —300 Mark gelten. Der
im Handel vorkommende Hopfen besteht aus den weiblichen Blüten und
Samen der gewöhnlichen Hopfenpflanze. Dieselben werden vorzugsweise
nur in den Brauereien verwendet und besitzen in dieser Hinsicht drei Eigen—
schaften, welche ganz und gar unersetzlich sind. Erstlich teilt der Hopfen
250 155. Der Hopfen.
der Malzflüssigkeit einen angenehmen bittern und gewürzhaften Geschmack
und sodann verdauungskräftige Eigenschaften mit. Zweitens verleiht er ihr
ein eigentümliches Feuer, welches häufig mit alkoholischer Stärke verwechselt
wird, und das dem Bierbrauer eine ziemliche Menge Malz erspart. Ebenso
wird die einschläfernde, etwas betäubende Beschaffenheit des Biers teil—
weise dem narkotischen Wesen des Hopfens zugeschrieben. Drittens endlich
trägt der chemische Einfluß des Hopfenstaubs zur Klärung der Malzgetränke
bei und verhütet das Sauerwerden und die Verderbnis derselben. Es
läßt die Gärung nicht weiter als bis zu dem Grade der sogenannten
weinigen gehen, und die Geschichte der Bierbrauerei lehrt, daß vor dem all—
gemeineren Gebrauch des Hopfens kein Bier hergestellt werden konnte, das
sich längere Zeit hindurch hielt. In Deutschland war übrigens der Gebrauch
des Hopfens zum Biere früher heimisch als in anderen Ländern. Ob er
aus den Niederlanden dahin kam, wie die Sage von Gambrinus andeutet,
ist nicht ausgemacht. Daß das Bier ein ursprünglich deutsches Getränk
sei, geyt schon daraus hervor, daß sich dieser sein Name in allen alten und
neuen Dialekten von Hoch- und Niederdeutsch, Holländisch und Flämisch,
Englisch und Friesisch wieder findet. Auch nach Frankreich ward er über—
gepflanzt als bière und nach Italien als birra.
Leider hat Gewinnsucht der Menschen schon seit früherer Zeit den
Hopfen durch andere, oft selbst gesundheitsschädliche Stoffe zu ersetzen ge—
sucht; solche sind namentlich die Kockelskörner, die Beeren einer prächtigen
Schlingpflanze, welche auf den Molukken, an der Küste Malabar und in
dem indischen Archipelägus einheimisch ist. Sie heißen auch levantische
Nüsse, auch Fischkörner, weil sie benützt werden, um damit die Fische zu
betäuben und sie dann leichter zu fangen. Im Jahre 1850 wurden in
England allein über 2300 Ztr. solcher Körner eingeführt. Außerdem ver—
wendet man die bitteren Stengel des amerikanischen Pfefferstrauches (Chica),
den wilden Rosmarin, den breitblätterigen Porst, die Blätter der gemeinen
Schafgarbe, den Muskateller-Salbei, ja noch andere, oft geradezu giftige
Pflanzen. Die Verwendung solcher Surrogate ist mit Recht gesetzlich ver—
boten, da durch sie die Gesundheit des biertrinkenden Publikums ge—
fährdet ist. Mach Johnson).
Zur Geschichte des Bierbrauens.) Es ist durch Tacitus bekannt, daß
schon die alten Germanen ein berauschendes Getränk aus Gerste bereiteten, das freilich
mit unserem heutigen Bier wenig Ähnlichkeit gehabt haben mag. Zu den Germanen
mag die Kunst des Bierbrauens auf dem Umwege über Asien wohl aus Agypten ge—
kommen sein; denn durch gründliche Forschung ist festgestellt, daß die alten Ägypter
bereits vor Mosis Zeit Bier gebraut haben. Karl d. Gr. wendete auf seinen Maier—
höfen auch der Bierbereitung eine besondere Aufmerksamkeit zu. Ob man schon zur
Zeit der Karolinger Hopfen zum Bier nahm, ist zwar wahrscheinlich, aber geschichtlich
nicht erwiesen. Zum erstenmal ist der Hopfen als Zuthat zum Bier in einer Schrift
der Atissin Hildegard (f 1079 auf dem Rupertsberg am Rhein) ausdrücklich genannt.
Wir wissen auch, daß nicht nur aus Gerste, sondern auch aus Hafer und Weizen Bier
gebraut wurde. Das Lagerbier scheint erst im 14. Jahrhundert aufgekommen zu sein.
155. Der Hopfen. 251
Das Brauen selbst war in der alten Zeit und noch lange bis ins Mittelalter hinein
das Geschäft der Frauen, ja im Norden standen selbst Königinnen am Braukessel.
Ein eigener Brauerstand bildete sich erst mit dem Aufblühen der Städte. Berühmt
waren durch ihre Biere u. a. Utrecht, Delft, Brügge, Gent; Köln, Zittau, Rostock,
Lübeck, Bremen und Hamburg, Naumburg, Regensburg, Ulm. Später erlangten
großen Ruhm die Braunschweiger Mumme, ein tiefdunkles Bier von süßlichem Ge—
schmack, das märkische Bier namentlich das Eimbeckische, das Magdeburgische, endlich
der Münchener Bock, der seinen Ruf bis heute behauptet hat. Außer diesem ist mit
Recht das englische Porterbier berühmt, zuerst 1730 von einem Londoner Brauer her—
gestellt. In Deutschland hat das bayerische Bier alle anderen überflügelt, und es wird
jetzt auch in Sachsen, Preußen und im Rheinland gebraut. Den Rang machen ihm
in neuester Zeit die Wiener und böhmischen Biere streitig Mach C. G. Rehlen.)
Das Bierbrauen.) 1. Die Malzbereitung. Das Malz, wird aus Gerste
bereitet, indem man dieselbe keimen läßt. In dem Gerstenkorne sind Kleber und
Stärke enthalten; unter dem Einflusse von Wasser und Luft zerfüllt der Kleber, und
es bildet sich daraus ein eigentümlicher Stoff, Diastase genannt, welcher die Eigen⸗
schast hat, Stärke in Zucker umzuwandeln. Diesen Umstand benützt man beim Bier—
brauen. Die Gerste wird zuerst längere Zeit in Wasser aufgeweicht und dann in
einem mäßig dunklen Raum auf einem steinernen Fußboden ausgebreitet, wobei sie
zu keimen beginnt. Man läßt das Keimen unter öfterem Umrühren so lange fort—
dauern, bis der Keim eine gewisse Größe erreicht hat, d. h. bis sich gerade so viel
Diastase gebildet hat, als notwendig ist, um die noch übrige Stärke in Zucker um—
zuwandeln; läßt man das Keimen zu lange vor sich gehen, so verzehrt das junge
Pflänzchen zu viel Zucker; unterbricht man das Keimen zu früh, so bleibt dann wieder
Stärke übrig, die nicht in Weingeist umgewandelt wird. Das Keimen wird dadurch
unterbrochen, daß man eine Bedingung zum Keimen, nämlich die Feuchtigkeit, weg⸗
nimmt. Zu diesem Behufe wird die gekeimte Gerste stark getrocknet oder gedarrt; die
Temperatur in der Darre darf aber 720 0 nicht übersteigen, weil sonst die Diastase
zerstört wird. Die gekeimte und getrocknete Gerste hat nun einen süßen Geschmack und
heißt Malz.
2. Bereitung der Bierwürze. Das in ein grobes Mehl verwandelte
geschrotene) Malz wird in einem hölzernen Bottiche Maischbottich) eingeweicht, nach
und nach wird immer mehr und immer würmeres Wasser zugesetzt und das Ganze
fleißig umgerührt (gemaischt). Die teigige Beschaffenheit verliert sich; es bildet sich
eine dünne Flüssigkeit Dünnmaische) von süßem Geschmack. Durch den Einfluß des
warmen Wassers hat nun die Diastase auch den Rest der Stärke in Zucker um—
gewandelt, welcher sich in Wasser auflöst. Auch hier darf die Temperatur bei Maischen
7200 nicht übersteigen. Die von den Hülsen (Trebern) durch Absitzenlassen und Ab—
seihen geklärte Flüssigkeit heißt Bierwürze.
Aufkochen der Bierwürze und Zusaß von Hopfen. Um die
Diastase zu zerstören und die eiweißartigen, stickstoffhaltigen Bestandteile aus der Bier—
würze zu entfernen, wird dieselbe unter Zusatz von Hopfen bis zum Kochen erhitzt,
wobei das Eiweiß durch die Hitze und durch die Gerbsäure des Hopfens zum
Gerinnen gebracht und ausgeschieden wird. Die stickstoffhaltigen Substanzen würden
durch ihre leichte Zersetzbarkeit die Haltbarkeit des Bieres beeinträchtigen. Einige
Bestandteile des Hopfens bleiben in Lösung und verleihen dem Biere den bitteren
Geschmack (Hopfenbitter) und das Aroma (Hopfenöl).
156. Gespinstpflanzen.
4. Schnelle Abkühlung der Bierwürze und Gärung. Nach dem
Aufkochen der Bierwürze wird sie in große flache Gefäße (Kühlschiffe) ausgebreitet,
damit sie rasch abgekühlt werde; die abgekühlte Flüssigkeit wird in die Gärbottiche
gebracht, worin unter Zusatz von Hefe die Gärung vor sich geht. Bei der Gärung
entwickelt sih Wärme, weshalb die Flüssigkeit gewöhnlich durch eingehängte Eiskörbe
kühl gehalten wird. Nachdem die Hauptgärung vorüber ist, wird das Bier in Fässer
übergeleert, worin noch eine Nachgärung erfolgt. Mach A. Kauer.)
156. Gespinstyslanzen.
Flachs und Hanf geben außer der Baumwolle) uns den vorzüglichsten
Stoff zu Gespinsten und Geweben. Die Pflanze, von welcher wir den
Flachs gewinnen, heißt Lein, und ihr Same ist zugleich eine Olfrucht.
Der lange, dünne Stengel hat an der Spitze eine schöne hellblaue Blüte
mit fünf Blättern und fünf Staubfäden. Aus ihr entsteht eine runde Kapsel
mit zeyn Fächern und zehn braunen, glänzenden, zusammengedrückten Samen—
körnern. In den Stengeln befinden sich lange, feine Bastfasern im Pflanzen—
fleisch. Wir raufen die Pflanzen mit der Wurzel aus dem Acker und ent—
fernen die Samenkapseln durch Riffeln; dann werden die Stengel geröstet,
getrocknet, gedörrt, gebrecht, geschwungen und gehechelt, bis zuletzt die feinen
Fasern übrig bleiben, und diese nennen wir Flachs. Durch die Röste
werden die gummiartigen und Harzteile im Leinstengel zerstört. Dazu
werden diese zwei bis vier Wochen auf festem Boden ausgebreitet und dem
Tau und Regen ausgesetzt. Das ist die Tauröste, welche also von der
Witterung abhängt. Besser ist die Wasserröste. Da packt man die starken
Bündel in weiches Wasser, läßt sie eine Woche liegen, breitet dann die
Stengel lose aus und läßt sie noch acht bis vierzehn Tage an der Luft nach—
rösten. Endlich wendet man jetzt auch die Warmwasserröste an, indem der
Lein zwei bis drei Tage in siedend heißem Wasser erhalten und dann gedörrt
wird, am besten in der Sonnenwärme oder bei künstlicher Wärme in Darr—
stuben. Beim Dörren im Backofen wird oft viel Lein verdorben oder ganz
vom Feuer verzehrt. Die Flachsbreche und die Brechmaschine, das Schwingen
und Hecheln befreit die Stengel völlig von den holzigen Teilen und dem
Gummiharz, spaltet die Fasern und legt sie glatt, und nun kann der
Flachs auf dem Spinnrade oder der Spinnmaschine gesponnen werden. Der
Abgang beim Schwingen und Hecheln heißt Hede oder Werg und wird zu
Seilerwaren, Sack- und Packleinwand verarbeitet. Der Webestuhl liefert
endlich die Leinwand, wenn die Fäden sich in rechten Winkeln kreuzen,
den Keper (Zwillich und Drillich), wenn dies in schräger Richtung geschieht,
Damast, wenn künstliche Muster eingewebt sind, und Battist, wenn die
Fäden außerordentlich fein sind.
Der Lein wächst fast überall, erträgt aber keinen Frost und muß sorg⸗
fältig von Unkraut rein gehalten werden. Wichtig ist ein guter, nicht über
9 S. Nr. 157.
252
156. Gespinstpflanzen. 253
zwei Jahre alter Same; als der beste gilt der aus Riga. Aus dem Samen
wird auch das Leinöl gepreßt. Es dient zur Malerei, zu Firnissen, als
Heilmittel, auch als Speiseöl, und die Rückstände beim Olschlagen sind als
Leinkuchen ein vorzügliches Viehfutter, wogegen grüne Leinpflanzen ein Gift
für Rinder und Schafe sind. Auch das Wasser der Flachsröste ist dem
Vieh schädlich, vertreibt die Fische und verdirbt die Luft.
Der Hanf gehört zur Familie der Nesseln und trägt auch Blüten mit
Staubfäden und solche mit Stempeln auf verschiedenen Stämmen. Der Bast
wird gewonnen wie vom Lein. Der gesponnene Hanffaden ist etwas gröber,
dagegen besonders fest. Wir bereiten daraus die Hanfleinwand, aber vor—
zugsweise Zwirne, Segelgarn, Schnüre, Seile und die stärksten Taue, selbst
Ankertaue von der Dicke eines Mannsarmes, dann Segeltuch und Zeltdecken.
Der Same gibt das sehr fette wohlschmeckende Hanföl, welches zum Malen,
Brennen, zur Seife und anderen Dingen verwendet wird.
Unsere große und die weiße, kleine Nessel können als Gespinstpflanzen
benützt werden. Erstere wächst als Unkraut überall und kann 2m hoch
werden. In Ostindien und China baut man sie an und bereitet aus den
Fasern das Nesseltuch, ein feines, seidenartiges Gewebe, stärker und fester
als Battist und eben so fein. Auch in Deutschland und anderen Ländern
hat man Versuche mit der Nesselkultur gemacht. (Vgl. Nr. 125.)
Mach Vreuß und Vetter.)
Ergänzungen. Papierfabrikation.) Das Hauptmaterial der Papier—
fabrikation bilden die Abfälle von gewebten Stoffen, die unter dem Namen Lumpen,
Hadern und Stratzen bekannt sind. Man sucht nun das Material durch mechanische
und chemische Mittel möglichst zu zerkleinern und aus den feinen und zarten Fäserchen
einen dünnen Filz, das Papier, herzustellen. Die Lumpen werden zu diesem Zwecke
zuerst zerschnitten, dann auf Walzenmühlen, dem sogenannten Holländer, in Halbzeug
und zuleßt in Ganzzeug zermalmt und zerkleinert. Früher ließ man die Lumpen,
um ihren Zusammenhang zu zerstören, in eine gewisse Fäulnis übergehen, ein Ver—
fahren, welches indes jetzt nur noch selten angewandt wird. Um weißes Papier zu
erhalten, wird das Halbzeug mit Chlorgas, Chlorwasser oder Chlorkalk gebleicht.
Außerdem gibt man dem Ganzstoff durch Zusatz einer kleinen Menge von Ultramarin,
Pariserblau, Indigo, Anilinblau (früher Smalte) einen Anflug von Blau. Zur Fabri⸗
fation von Schreibpapier wird der Ganzstoff noch mit vegetabilischem Leim (harzsaurem
Aluminium) im Holländer geleimt. Die weitere Verarbeitung des milchartigen Papier⸗
zeuges kann nun auf zweierlei Weise erfolgen. Nach einer älteren Methode wird die
Papiermasse auf feinen Drahtsieben, welche die Form eines Bogens haben, geschöpft,
wobei das Wasser abläuft und die Papiermasse als dünne Schicht auf dem Siebe, der
Form, bleibt. Man legt hierauf die Form umgekehrt auf einen Filz, auf welchem der
Papierbogen liegen bleibt. Diesen bedeckt man wiederum mit einem Filz, auf welchen
ein neuer Papierbogen zu liegen kommt u. s. w. Durch Auspressen entfernt man
den größten Teil des Wassers. Nach dem Trocknen erhält man das Hand- oder
Büttenpapier.
Nach einer zweiten Methode wird auf eigenen Maschinen ein ununterbrochenes
Papierband, Papier ohne Ende (Maschinenpapier), hergestellt, indem der Ganzstoff
uüͤber ein Metalldrahtsieb ohne Ende geleitet wird, auf welchem Wege das Wasser zum
*
254 157. Die Baumwolle
größten Teile abfließt. Indem die Papiermasse allmählich an Festigkeit zunimmt, geht
sie durch die Naßpresse und zuletzt durch die Trockenpresse, deren Cylinder mit Wasser—
dampf erwärmt werden.
Pappe oder Pappendeckel wird in ähnlicher Weise wie das Handpapier fabriziert.
Papiermaché wird durch Kochen der Papiermasse mit Leimlösung, Gummi oder
Stärkekleister, häufig auch mit Sand, Thon, Kreide oder Schwerspat dargestellt.
Papiersurrogate. Bei dem stets sich steigernden Papierverbrauch war man
darauf bedacht, Ersatzmittel für die Lumpen aufzusuchen. Als solche werden verwendet
das Stroh und Holz gewisser Nadel- und Laubhölzer. Ferner setzt man der Papier—
masse sandfreien Thon, geschlämmten Porzellanthon oder Koalin, fseingemahlenen unge—
brannten Gips und schwefelsauren Baryt zu.
Steinpappe, welche zu Relief-Ornamenten Anwendung findet, besteht aus
Ganzstoff, Leimlösung, gepulvertem Zement, Thon und Kreide oder Barytweiß.
1357. Die Baummolle.
Die Baumwollenpflanze gehört zu den Malvengewächsen. Sie findet
sich bald als Kraut, bald als Strauch, in Arabien und Ägypten sogar
als Baum. Sie hat drei- bis fünflappige Blätter, ziemlich große, ge—
wöhnlich gelbe, fünfblättrige Blumen, welche einzeln in den Blattwinkeln
stehen. Die Frucht ist drei- bis fünffächerig, einem großen Mohnkopfe
ähnlich, springt bei der Reife in mehrere Klappen auf und enthält
mehrere Samenkörner, die in eine lange, dichte, weiße, nach dem Auf—
platzen hervorquellende Wolle gehüllt sind. Die Baumwolle wird in
der Türkei, in Griechenland, in Süditalien, Spanien, Ägypten, Indien
und China, ganz besonders aber im unteren Mississippi-Thale gewonnen.
Hier ist der rechte Boden für die Pflanze, die ein lockeres, leichtes, mit
Sand gemischtes, schon angebautes Land verlangt; hier ist auch das
passende Klima, welches nicht zu trocken sein darf, weil bei Mangel an
Regen die Wolle kurz bleibt. Die Kapseln müssen jeden Morgen, sobald
sie aufspringen wollen, abgepflückt werden, und die aus den Kapseln
gewonnene Wolle wird entweder durch die Hand, oder gewöhnlich durch
eine Maschine von den Samen und Hülsen gereinigt und hierauf in
große Säcke verpackt, welche in einer Presse zu gewaltigen, viereckigen
Ballen zusammengedrückt und versandt werden.
Wir sind in Manchester'). Ein gewaltiger Schlot und ein riesiger
Würfel von Bauwerk, über 800 Fenster auf jeder Seite, ragen über
alle Gebäude empor. Wir suchen ihn auf und treten in diese Riesen—
fabrik ein. Durch einen Wirrwarr von Wegen und Gängen kommen
wir endlich in das Arbeitszimmer des Fabrikherrn, in welchem uns ein
Führer beigegeben wird. Wir stehen zuerst vor zwei Ungeheuern, in
deren Innern es rast und tobt wie ein gefesselter Sturm, der alle Wände
) Vgl. Nr. 127, 1, dann Nr. 148, Anmkg. S. 234 ff.
157. Die Baumwolle. 255
seines Gefängnisses zugleich vor Wut sprengen möchte. Das sind die
Bläser. „Was thun sie?“ fragen wir den Jungen vor der einen Maschine.
„Das!“ sagt er, indem er eine tüchtige Hand voll Rohbaumwolle aus
dem Ballen reißt und sie, nachdem er uns den Schmutz, die Holzstückchen
und Knoten darin gezeigt, seiner Maschine gleichsam zu fressen gibt. Sie
zupft daran etwa wie eine Kuh, der man eine Hand voll Heu vorhält.
Der Junge holt darauf einen ganzen Arm voll baumwollenen Schnee
unter der Maschine hervor und behauptet, daß dies die eben verzehrte
Hand voll sei. Wir zweifeln, und er zeigt uns, wie es zugeht. Im
Innern wird die Baumwolle mit rasender Kraft und Geschwindigkeit
zerzaust und hin- und hergeworfen, so daß alle fremdartigen Bestand⸗
teile zu Boden fallen.
Nun ist sie rein und reif zum Spinnen, denken wir. Das ist ein
starker Irrtum. Es war die erste von mehr als zwölf ähnlichen Reini⸗
gungen. Die nächsten sehen wir unter den beiden Rohbläsern, einer
ganzen NReihe Dampf zischender und pfauchender Höhlen, in welche der
baumwollene Schnee wie ein milchiger Regen herabströmt. Wir sehen
in das Innere hinein und finden, daß die Baumwolle gleich am Eingange
von einer furchtbaren Windkraft in den dünnsten Nebel zerblasen wird.
Stählerne HKügel bewegen sich in diesem Raume so rasch, daß sie zu
einem kaun sichtbaren Nebelflecke verschwinden. Hier werden die Samen⸗
körner und kleinen, fremdartigen Bestandteile vollends abgesondert und
durch Ritzen unten zu Boden geschleudert, während die leichten Baum—
wollenfasern von Wurfschaufeln im Fluge erhalten werden, bis sie am
entgegengesetzten Ende wie ein immerwährender Schneesturm herausfliegen,
so daß wir im Umsehen wie lebendige Schneemänner neben einander
stehen. Gegenüber wird der Baumwollenschnee von Käfigen verschlungen,
die ihn, in wattenartige Bogen gepreßt, auf der anderen Seite abliefern.
Ein Blick in einen solchen Käfig zeigt uns einen Wirrwarr von Freß—
und Verdauungswerkzeugen, so schlingt und krümmt und windet es sich
darinnen.
So geht die Baumwolle durch 12 Reinigungs-, Wurf-, Hechel-
Dresch-⸗ und Siebwerkzeuge, bis sie zuletzt blendend weiß, wunderschön
als ein sich senkender Schnee hinsäuselt, abex ohne sichtbare Zwischen—
räume, nicht als Flocken. Nachdem die gleichsam flüssige Baumwolle
zu großen Rollen geformt ist, wandert sie zu den Krempel- und Kämm—
maschinen, von wo sie den Ziehmaschinen überliefert wird, die in wunder—
bar künstlicher Weise den Stoff zu Fäden verarbeiten. Wenn nun aber
einmal unter den tausenden ein Faden reißt, was dann? Sowie das
geschieht, fällt eine Platte hörbar nieder, ein Zeichen für den Maschinisten,
—ãQã
256 158. Der Kaffeebaum und der Kaffee.
das ihn mahnt, die bestimmte Stelle sofort in Ruhe zu versetzen. Dies
geschieht, und eins der beaufsichtigenden Mädchen holt das davon ge—
laufene Stück Faden zurück, legt es an das Ende des zurückgebliebenen,
und der Schaden ist schneller geheilt, ehe wir nur bemerken, daß die
Maschine still stand. Dieses Ankleben, scheinbar eine gedankenlose Vor—
richtung, ist eine Kunst, die große Übung verlangt.
Wir steigen in ein Stockwerk höher, noch eins und noch eine Treppe;
überall Maschinen, die schnaubend und keuchend spinnen und weben.
Zwischen ihnen stehen einzelne verstreute Menschen, alle gespannt auf—
passend und zugreifend, wenn es die Maschine verlangt. Kaum ist hier
und da einer zu entdecken, und doch sind es 1800 Menschen, deren
Leben und Gesundheit hier mit versponnen wird, indem sie Maschinen
beaufsichtigen, welche über 120000 spinnende Hände nicht bloß ersetzen,
sondern an Feinheit und Meisterschaft der Arbeit unendlich übertreffen.
Guch der Erfindungen.)
158. Der Kaffeebaum und der Kaffee.
Weder im klassischen Altertume, noch bei den älteren Schriftstellern der
Araber wird unter den vielen Gewürzen und Spezereien, deren sie gedenken,
der Name des Kaffees und seiner Eigenschaften erwähnt. Erst im 15. Jahr—
hunderte nach Christi Geburt wird er von dorther vernommen und zugleich
„Arabien“ als seine Heimat bezeichnet. Dort wächst auf den fruchtbarsten
Feldern ein immergrüner Baum, gewöhnlich 4—5 m hoch, der in allen Jahres—
zeiten zugleich weiße, balsamisch duftende, dem Jasmin zu vergleichende Blüten
trägt, und neben diesen wieder grüne, reifende und schon gereifte Beeren.
Wie der Baum selbst, dessen Zweige sich im höheren Alter biegen und senken
und eine Art Schirmdach bilden, einem mäßigen Kirschenbaume unseres
Himmelsstriches zu vergleichen ist: so ähneln die erst grünen, dann rötlichen,
dann dunkelroten und eßbaren Beeren des Kaffeebaumes unseren Kirschen.
Mit der Reife jedoch bräunen sie und werden purpurfarbig; die beiden
Kerne der Beeren, die Bohnen, werden hart und gelblich, während die Um—
hüllung braun, knorpelig und bitter wird
Doch gedeiht der Kaffeebaum in Arabien am besten in engen, schattigen
und doch wieder heißen Thalschluchten, die reichlich zu bewässern sind und
terassenförmig emporsteigen. Selten findet man ihn in der Ebene, wohl
aber mehr auf den kleineren Anhöhen, weil da der Boden geeigneter ist.
Wie reich auch immer Arabien an Kaffeegärten sein mag, so ist der Kaffee
doch wahrscheinlich der Sohn eines noch wärmeren Himmelsstriches, es ist
dies das weit süd- und westwärts gelegene Land Kaffa in Afrika; da wächst
in den warmen, großen Berglandschaften der Kaffeebaum wild wie Unkraut
in zahlreichen Waldungen, deren Zweige sich niederbeugen unter der Last
ihrer Früchte. Doch ist auch gewiß, daß der Kaffeebaum am Nigerstrome
158. Der Kaffeebaum und der Kaffee. 257
in der Umgegend von Timbukto ein wild wachsendes Gewächs ist, wenn
auch allerdings seine Früchte bitterer und weniger schmackhaft sind, als die
mildere Frucht des kultivierten Baumes in Arabien.
Der Gebrauch des Kaffeetrankes bei den wilden Gallastämmen in
Afrika mag uralt sein; aber viele Jahrhunderte und vielleicht Jahrtausende
vergingen, bis er die Grenzen seiner Heimat überschritt. Etwa in der Mitte
des 15. Jahrhunderts kam er zuerst nach Mochsa (gewöhnlich Mokka ge—
nannt) und noch später, 1567, nach Mekka, der Hauptstadt des Islam und
von dort nach Kairo in Agypten. Von da aus fand die Sitte des Kaffee—
trinkens zuerst in Konstantinopel und dann nach und nach auch in anderen
europäischen Ländern Eingang.
So sehr auch der Genuß des Kaffees von den Arzten als der Gesund—
heit schädlich verpönt wurde, so daß sogar heftige Kämpfe gegen die immer
größere Verbreitung desselben losbrachen, sowohl in England und Frankreich
als auch in Deutschland, zumal durch ihn andere einheimische Getränke, wie
Bier, Wein u. s. w. verdrängt wurden: so war die Nachfrage nach dem—
selben doch in beständigem Steigen, und alle Widersprüche fruchteten nichts
Der Kaffee erreichte allmählich sein Ziel, allgemeines Genußmittel für alle
Klassen der Bevölkerung zu werden. Die Holländer holten bald den Kaffee
nicht mehr in Arabien, sondern von Java), wo ihre Pflanzungen reich ge—
diehen. Im Jahre 1743 brachten sie von dort schon 32 Millionen Pfund
Kaffee nach Europa. Auch die Franzosen und Engländer hatten bald ge—
lernt, den Boden ihrer Kolonien für den Kaffee ergiebig zu machen. Von
Frankreich wurde derselbe im Jahre 1722 nach der französisch-westindischen
Insel Martinique?) verpflanzt und von da auf alle französischen Kolonien
der Antillen. Fast gleichzeitig verpflanzten die Holländer ihn nach Surinam
1718, und in etwa derselben Zeit bauten die Engländer den Kaffee auf
Jamaika?) an.
Erst von dieser Zeit an gelangte der Kaffee aus Westindien in größeren
Mengen nach Deutschland, das ihn unmittelbar nicht beziehen konnte. Das
große R. der deutschen Nation mußte hier, wie in unendlich vielen andern
Ding⸗n. Ne bitteren Folgen seiner Zerklüftung in so viele machtlose Einzel—
staaten merzlich empfinden. Als die anderen Völker Europas die Früchte
wärmener Zonen kennen lernten und sich den Genuß derselben zum Lebens—
bedürfnis machten, legte eines nach dem andern in fernen Weltteilen seine
Kolonien an. Deutschland hatte keine Kolonien und konnte keine haben,
weil »3 macht- und wehrlos war zur See. Wenige Jahrhunderte zuvor
war die deutsche Nation die Trägerin des Welthandels gewesen. Seit den
wichtigen Entdeckungen jenseits des Ozeans, seit der Anlegung der Kolonien
in fremden Weltteilen und dem Aufblühen des Handels mit den Produkten
derselben, seit dem Emporwachsen der Seemächte blieb dem deutschen Kauf—
manne nur noch das Geschäft in zweiter Hand übrig. Deutschland bezog
) spr. schawa. ) martinit. ) spr. (engl.) dschümskä; (span.) chama⸗ika.
Marschall, Lesebuch für gewerbl. Fortbildungsschulen. Kl. Ausg.
17
258 159. Vom Tabak.
lange seinen größten Bedarf von Frankreich, und seit dem Aufblühen der
Kolonie auf Martinique gewann die neue Sitte im deutsche Reiche raschen
Eingang und allseitige Verbreitung. Jetzt liefert uns Brasilien den meisten
Kaffee. Der Kaffee ward nun auch in Deutschland Genußmittel aller Stände,
auf dem Lande wie in der Stadt, wenn er es dort anfangs auch nur bei
festlichen Gelegenheiten war, und drang tiefer und tiefer in die Lebens—
gewohnheiten der Völker ein. Elopp.)
159. Vom Tabak.
Wir wissen zwar und sehen es mit eigenen Augen, wie tagtäglich
viele tausende von Menschen rauchend, schnupfend oder kauend den Tabak
genießen, ohne daß sie davon besondere Nachteile verspüren; gleichwohl
muß derselbe zu den heftig wirkenden, scharf narkotischen Pflanzengiften
gezählt werden, und die scheinbare Unschädlichkeit des Genusses beweist
nur, wie sehr der Mensch durch Gewöhnung seinen Körper gegen die
Wirkung kräftiger Gifte abstumpfen kann. Wer zum erstenmale eine
Pfeife Tabak oder eine starke Zigarre raucht, der wird schon sehr bald
von Übelkeit, Brechneigung und Schwindel, heftigem Kopfweh, wirklichem
Erbrechen befallen und gerät in einen länger dauernden, rauschartigen
Zustand. Ja, schon durch das Tragen von Tabakblättern auf dem bloßen
Leibe hat man ähnliche Wirkungen entstehen sehen, wie dieses einmal bei
eine: ganzen Schwadron Husaren der Fall war, welche auf diese Weise
Tabe? aus Ungarn nach Siebenbürgen einschwärzen wollten. Aber auch
tötl Vergiftungen sind durch übermäßig vieles Rauchen und durch
Verw. „jelung der Blätter mit denen anderer Pflanzen schon vorge—
kommen. Der Tod wurde hiebei gewöhnlich durch Schlagfluß herbei—
geführt. Es ist deshalb eine auffallende, schwer begreifliche Thatsache,
daß der Genuß einer solchen Pflanze in der Weise allgemein werden
und sich fast über die ganze bewohnte Erde verbreiten konnte, wie wir
es heutzutage sehen. Der Tabak stammt ursprünglich aus Süd—
amerika, besonders Westindien, wo schon zur Zeit der Entdeckung
der neuen Welt bei den Eingebornen der Gebrauch des Tabakrauchens
und -kauens angetroffen wurde. Man kann deshalb mit Recht sagen,
daß wir diese häßliche Sitte von den Wilden gelernt und nachgeahmt
haben, während der Gebrauch des Schnupftabaks durchaus europäisch
ist und vorzüglich aus dem nördlichen Europa stammt. Die Pflanze
wurde etwa um das Jabr 1558 von Westindien nach Portugal und
von hier einige Jahre später nach Frankreich und England gebracht,
worauf sie sich allmählich über ganz Europa, nach dem Morgenlande
und in alle übrigen Weltteile verbreitete. In vielen Ländern wurden
zu verschiedenen Zeiten Versuche gemacht, das Rauchen und Schnupfen
159. Vom Tabak. 2299
zu verhindern. König Jakob J. von England schrieb im Jahre 1615
ein eigenes Buch gegen das Tabakrauchen; in Rußland wurde dasselbe
1643 bei Strafe des Halsabschneidens verboten.
Papst Urban III. bedrohte diejenigen, welche in der Kirche schnupfen
würden, mit der Exkommunikation. Priester und Mönche predigten da—
gegen, aber all dies blieb ohne Erfolg. Die Sitte breitete sich unaufhaltsam
immer weiter aus, und jetzt läßt man der Sache schon seit langer Zeit
ihren Lauf. Die Verwendung des Tabaks in der angegebenen dreifachen
Weise ist namentlich in den letzten hundert Jahren so allgemein geworden,
daß der Anbau dieser Pflanze und der Handel mit ihren Blättern
sowohl in Europa wie in Amerika zu den wichtigsten Erwerbszweigen
gehört. In ganz Amerika, mit Einschluß Westindiens, werden jährlich
etwa 1800000 Zentner, in Europa über 2 Millionen Zentner gebaut,
wovon 680000 auf Osterreich und 580000 auf Deutschland kommen.
Den meisten Tabak unter den deutschen Staaten erzeugt Preußen,
nämlich über 350000 Zentner, Baden baut 120000, Bayern 110000,
Württemberg 60000, die beiden Hessen 40000, Sachsen und Thüringen
6000 Zentner. Der in Baden und in der Pfalz erzeugte Tabak ist
von ausgezeichneter Güte und wird so teuer verkauft wie der ameri—
kanische, ja sogar nach Amerika ausgeführt und dort verarbeitet.
Die auf gewöhnliche Weise getrockneten Tabakblätter haben nicht
den eigentümlichen Geruch und Geschmack und die übrigen Eigenschaften
der im Handel vorkommenden. Diese erlangen sie durch eine Art von
Gärung, welcher man sie unterwirft.
Die bei uns am allgemeinsten angebaute Art ist der gemeine oder
virginise» Tabak. Er hat große, lanzettförmige, dicht an dem Stengel
stehende Blätter und violettrötliche Blüten mit verlängerten Blumen—
röhren. Eine andere Art ist der Maryland')-Tabak, seine Blätter sind
nicht so zugespitzt wie die des virginischen, die Blüten kürzer, und die
ganze lanze erfordert ein wärmeres Klima als die vorige. Eine
dritte ist der Bauern-Tabak, der sich durch die grüngelben Blüten, die
kurzen Blumenröhren, und die eirunden, mit vielen Ausbuchtungen und
längeren Stielen versehenen Blätter von jeder anderen Art unterscheidet.
Um diese Pflanze mit Vorteil zu bauen, bedarf man eines gut—
gedüngten, tiefen, nicht nassen, warmen Bodens. Die Samen werden
im Frühjahre in Mistbeete oder, wo die Lage und das Klima es erlaubt,
in gewöhnliche sonnige Gartenbeete gesäet. Von der Mitte Mai an werden
die jungen Pflänzchen auf den Acker verseßt, und zwar rechnet man
) spr. märiländ.
16*
260 159. Vom Tabak.
40 50000 auf ein Hektar Landes. Sobald der Tabak seine Blüten—
knospen entwickelt hat, so wird er geköpft, d. h. letztere werden abge—
brochen, damit sich die Blätter um so reichlicher entwickeln können.
Wenn die Blätter anfangen halbgelb zu werden, so beginnt die Ernte,
welche gewöhnlich in den Anfang des September fällt und nicht auf
einmal, sondern nach und nach vorgenommen wird, weil nicht alle
Blätter zugleich reifen. Diese werden sortiert und getrocknet, indem
man sie auf Fäden oder dünne Hölzer zieht und an einem luftigen
Orte aufhängt. Vor dem Aufziehen auf Fäden läßt man sie in nicht
zu dicken Schichten einige Tage liegen, damit sie etwas schwitzen und
welk werden. Viele aber unterwerfen sie einer förmlichen Gärung. Die
Blätter werden zu diesem Zwecke an einem regnerischen Tage, wo sie
aus der Luft Feuchtigkeit in sich aufgenommen haben, in Haufen von
212 —3 m aufeinander gepackt. Hier erhitzen sie sich, werden später
umgepackt, damit die nach außen liegenden Teile nach innen kommen
und sich auch erhitzen, darauf aus einander gelegt und getrocknet. So
sind sie zur Versendung und Fabrikation fertig. In den Fabriken
werden die Blätter geschnitten, oder mittelst der Spinnmühlen in Rollen
gesponnen, oder zu Zigarren, oder endlich zu Schnupftabak verarbeitet.
Die Zigarren, welche erst seit mehreren Jahrzenten so allgemein in
Aufnahme gekommen sind, werden aus feuchten Tabakblättern mit den
Händen zusammengerollt. Ein geschickter Arbeiter kann in einem Tage
ein- bis zweitausend Stück machen. Den Schnupftabak verfertigt man
aus Blättern, welche mit Brühen gebeizt und unter verschiedenen Ver—
fahrungsweisen einer Gärung unterworfen sind, worauf sie lange Zeit
ablagern müssen, ehe man sie verarbeitet. Die Brühen haben den Zweck,
den Geruch des Tabaks zu schärfen und ihm fremde Riechstoffe bei—
zusetzen. Die Hauptbestandteile derselben sind Salmiak und gereinigte
Pottasche, wozu auch Rosenholzöl, Vanille, Veilchenwurzeln, bittere
Mandeln u. dgl. kommen können. Lorenz Tutschet.)
Ergänzungen. Unter den Bestandteilen des Tabaks finden sich als eigen—
tümliche das Nicotin und das Nicotinian. Das Nicotin ist ein Gift und
wirkt schon in kleinen Dosen tödlich. Im reinen Zustande ist es ein farbloses Ol von
betäubendem Tabakgeruche und von ätzendem Geschmack. Im Tabak ist es in Form
eines Salzes enthalten, und zwar von 2—8 9. Seine Quantität scheint keinen
Einfluß auf die Güte des Tabaks zu haben. Dagegen ist nach Ansicht der Tabaks—
fabrikanten das Nicotinian von Wichtigkeit für die Qualität des Tabaks. Dieser
Stoff, der noch nicht genügend untersucht ist, hat den angenehmen Geruch des Tabaks—
dampfes und einen bitteren, aromatischen Geschmack. Außerdem enthält der Tabak auch
eine verhältnismäßig große Menge (20 — 27 /0) mineralische Bestandteile (Kali).
X
160. Gummi, Kautschuk und Guttapercha.
160. Gummi, Kaulschuk und Gultapercha.
1. Der Gummi ist ein weit verbreiteter Pflanzenstoff, der sich vorzugs—
weise in der Rinde baumartiger Gewächse findet. Er ist durchsichtig, oder
durchscheinend, oder auch undurchsichtig, farb⸗ und geschmacklos und löst sich
im Wasser. Mit Harz und ätherischen Olen gemischt, tritt er in den Gummi—
harzen auf.
Das Gummigutt ist der eingetrocknete Milchsaft eines asiatischen
Baumes. Es kommt in walzenförmigen Stücken in den Handel, ist von
schöner rotgelber Farbe, geruchlos, aber von scharf kratzendem Geschmack. Es
wird zu Pulver gerieben und dient zu Wasserfarben, Firnissen und auch als
drastisch wirkendes Arzneimittel.
Am bekanntesten ist der arabische Gummi, der von Akaziaarten
herrührt und aus Arabien, Ägypten, Nubien, Abessynien und andern
Gegenden Afrikas bezogen wird. Er löst sich bei gewöhnlicher Temperatur
in Wasser und gibt eine klebrige Flüssigkeit. Er wird als Bindemittel und
zu Firnissen ꝛc. verwendet.
2. Der Kautschuk (Federharz, Gummi elasticum) findet sich in den
Milchsäften tropischer Pflanzen, besonders des Federharzbaumes in Süd⸗
Amerika, aus dem er durch Einschnitte gewonnen wird. Man überzieht
mit dem flüssigen, zähen Safte Thonformen und läßt ihn trocknen, worauf
der Thon entfernt wird. Diese trockene Masse heißt Gummispeck, und
sie ist vollkommen elastisch; in der Kälte wird sie fest und schwer biegsam,
aber nicht spröde; in heißem Wasser oder Wasserdampf wird sie weiß, bleibt
aber sonst unverändert. Bei Erwärmen auf da. 2000 schmilzt der Kautschuk
zu einer schmierigen Masse, die nach dem Erkalten nicht wieder fest wird.
Im erwärmten Zustand läßt er sich mit Schwefel und andern pulverisierten
Stoffen zusammenkneten, wodurch er in vulkanisierten und horni—
sierten Kautschuk überführt wird. Vulkanisierter Kautschuk
wird auch dadurch erzeugt, daß man ihn längere Zeit in geschmolzenen
Schwefel taucht. Dieser Kautschuk behält seine Elasticität und Weichheit
auch bei niederer Temperatur bei.
Man benutzt denselben zu wasserdichten Gefäßen, zu Flaschen für Aufbewahrung
des Äthers, zu Buchdruckerwalzen, Gasleitungsröhren, Spritzenschläuchen, Puffern an
Eisenbahnwügen ꝛc.
Der hornisierte Kautschuk (Hartgummi, Ebonit), ist nur eine
Art des vulkanisierten; denn man erhält ihn schon dann, wenn man ihm ein
höheres Maß von Schwefel beibringt; doch erhält er meist noch Zusätze von
Guttapercha, Schellack, auch von Gips, Kreide, Asphalt, Thon u. s. w.
Der Zusatz beträgt bis 80 der Masse. Hartgummi ist polierbar, fast
so hart wie Horn und von braunschwarzer oder schwarzer Farbe.
Er wird verwendet zu Kümmen, Schirmgriffen, Stockknöpfen, Blasinstrumenten,
Möbelbekleidungen u. a. m. Mischt man pulverisierten Kautschuk mit Quarzpulver,
Bims- oder Feuerstein, so erhült man eine Masse, aus welcher künstliche Schleif- und
Wetzsteine hergestellt werden.
263
2 161. Der Bernstein.
3. Die Guttapercha) oder der plastische Gummi kommt vom
Guttaperchabaum, der hauptsächlich auf den Inseln und Halbinseln des
indischen Archipels vorkommt. Man sammelt den Saft in Trögen und läßt
ihn gerinnen; die einzelnen Stücke werden dann in Wasser erweicht und
durch Pressen zu ganzen Stücken geformt. Vor der Verarbeitung muß die
Guttapercha durch Erweichen, Kneten, Walzen und Pressen gereinigt werden.
Bei gewöhnlicher Temperatur ist sie zähe, steif, wenig dehnbar; bei 70 80
leicht knetbar und formbar.
Sie dient als Surrogat für Leder, Pappe, Papiermaché, Holz, Papier, Metall ꝛc.
und wird zu zahllosen Artikeln verwendet: zu Riemen für Maschinenbetrieb, zu Röhren
(für Wasserleitungen, Pumpen, Spritzen ꝛc.), zu chirurgischen Utensilien; durch Formen,
Pressen, Prägen, Gießen verfertigt man daraus architektonische Verzierungen, Leisten,
Rahmen, Spazierstöcke, Knöpfe, Matrizen für Galvanoplastik u. saw
Mach Rud. Wagner, Chemische Technologie.)
161. Der Bernstein.
Der Bernstein, dieses in vielfacher Beziehung so höchst interessante
Produkt untergegangener Wälder, die nun in der Erde oder unter dem
Meeresgrunde schlummern, wird entweder bei günstigen Winden von den
Wellen der Ostsee zuweilen an die Küsten vom Pommern, Mecklenburg,
Dänemark, Schweden u. s. w. getrieben, oder auch an vielen, selbst von
dem Meere sehr entfernten Orten jener Provinzen mehr oder weniger
tief aus der Erde gegraben.
Aus der See wird der größte Teil Bernstein in kleinen zerschlagenen
Brocken gewonnen; in der Erde findet man ihn dagegen meistens in
größeren knollenförmigen Stücken. Bei heftigen Aquinoktialstürmen, die
das Meer mehrere Tage hinter einander bis zum Grunde aufwühlen,
wird die größte Menge Bernstein auf den Strand getrieben. Das
Graben nach Bernstein geschieht keineswegs kunstmäßig oder bergmännisch,
sondern wird von Bauersleuten ohne alle wissenschaftliche Kenntnisse
unternommen, wobei sie auf gut Glück 5—6 m tief eingraben; miß—
lingt der Versuch, so wird das Graben tiefer versucht, oder an einer
andern Stelle wiederholt. In manchen Fällen ist dieses Graben eine
der undankbarsten Arbeiten; doch lohnt in andern der Zufall seine
Günstlinge auch auf reichliche Weise.
Man gräbt den Bernstein in allen Schichten des jüngeren auf—
geschwemmten Bodens sowohl auf Bergesrücken, als in Niederungen
und Wiesen und findet ihn oft nur einen Meter tief unter der Boden—
fläche, oft erst in Tiefen von 20 und 40 m. Einzelne, häufig auch
mehrere Stücke zog man zufällig in Fischernetzen nicht bloß aus dem
spr. guttapertscha.
562
161. Der Bernstein. 263
Meere, sondern auch aus Binnenseen, Flüssen, Teichen und tiefen Brunnen
hervor. Der Boden, wo reichliche Ausbeute zu hoffen ist, erstreckt sich
über Pommern, Ostpreußen und Westpreußen nach Litthauen und Polen.
Man fand auch Bernstein in einer Steinkohlengrube bei Ischl und auf
Sicilien; auf dieser Insel aber wie in England auffallender Weise nur
an der östlichen Küste. Auch an den Ufern des kaspischen Meeres, in
Sibirien, Kamtschatka und China, in Nordamerika und selbst in Mada—
gaskar hat man einzelne Stücke und auch Lagen entdeckt.
Nun liegt die Frage nahe: Was ist der Bernstein und wie ist er
entstanden? Es herrscht jetzt kein Zweifel mehr, daß er wie andere
vegetabilische Harze von einem Baume ausgeschwitzt wurde, der schon
längst von der Erde verschwunden ist, einst aber mit dichten Waldungen
die Inseln jenes großen Ozeans bedeckte, der damals noch die weite
nordeuropäische Ebene bis zum Fuße des Ural überflutete. Wo heutigen
Tages Seegrund ist, da waren noch vor vielen tausend Jahren un—
durchdringliche, mit Fichten und Tannen besetzte Forste, und wo damals
Schiffe vor Anker lagen, sieht man jetzt aufgetürmte Sandberge stehen.
Bei dem ungeheuern Harzreichtum des Bernsteinbaumes und den vielen
Jahrtausenden, während deren er bestanden haben mag, ist es nicht zu
verwundern, daß schon seit den ältesten historischen Zeiten jeder heftige
Sturm, der den ehemaligen Waldboden aufwühlt, das wertvolle Fossil
an den Strand wirft, und daß wahrscheinlich eine späte Zukunft sich
noch in unvermindertem Maße seines Fundes erfreuen wird.
In den Seestädten Danzig und Königsberg, wo der meiste
See- und Erdbernstein zusammenfließt, wird er je nach seiner Größe
und Qualität sortiert. Die größeren, feinen und reinen Stücke, etwa
bis zum Umfang einer Haselnuß, sind Sortiments- und Ar—
bei steine; die kleineren heißen kleine Ware. Den durch—
sche nenden Vernstein schätzt man höher als den durchsichtigen
und undurchsichtigen; diese beiden Sorten stehen daher auch um
ein Drittel im Preise niedriger, als die ersteren. Von der kleinen
Ware, aus denen sich noch bohnen- und erbsengroße Korallen drehen
lassen, kostet das Pfund gewöhnlich 2—4 Mark. Was aber hier
zu nicht mehr taugt, wird zur Firnis-, Ol- und Säurebereitung oder
zum Räuchern verbraucht und von 4 bis zu 112 Mark das Pfund
verkauft
Der Bernsteinarbeiter muß an den vorhandenen Stücken mit Feile,
Meißel und Grabstichel seine Kunst erproben und je nach der Voll—
kommenheit und Vollendung der dargestellten Gegenstände dem rohen
Stoffe einen höheren Wert erteilen.
*
264 162. Die Steinkohlen.
Der beste durchscheinende Bernstein geht zum Großhandel nach
dem Orient; der durchsichtige und der ganz undurchsichtige wird von
den Morgenländern verachtet. Die sehr geschickten Arbeiter in Kon—
stantinopel fertigen daraus Mundstücke zu türkischen Pfeifenröhren an,
welche oft mit Perlen und Edelsteinen aller Art verziert und zu fast
unglaublichen Preisen an die Großen des Reiches verkauft werden.
Eine etwas geringere Sorte rohen Bernsteins pflegt über London
und Kopenhagen nach China, Japan, Ost- und Westindien zu gehen.
Auch Rußland bezieht viel Bernstein, der, sehr zierlich und künstlich
verarbeitet, im ganzen russischen Reiche verbreitet ist. Bei uns ist
der Handel mit Bernstein jetzt nicht mehr so bedeutend, obgleich noch
Halsschnüre, Pfeifen- und Zigarrenspitzen daraus verfertigt werden. Der
verfeinerte Luxus, der den Schmuck der genügsameren Vorfahren ver—
schmäht, hat durch die geringere Nachfrage nach diesen Fabrikaten den
Erwerb der damit Beschäftigten so beschränkt, daß sie sich nur noch
kärglich ernähren können. Georg Hartwig.)
Ergänzungen. Aus dem Bernstein wird durch Zusatz von Terpentin- oder
Leinöl ein vorzüglicher Firnis Lack) gewonnen, der sich durch schönen Glanz und
große Dauerhaftigkeit auszeichnet und dessen feinste Sorte bei der Photographie An⸗
wendung findet. Hauptort für diesen Industriezweig ist Elbing, wo jährlich an
600 Zentner Bernstein zu Firnis verwendet werden.
Bei trockener Destillation) des Bernsteins erhält man das Bernsteinöl, das
anfänglich braun, gereinigt aber farblos ist, einen höchst unangenehmen Geruch und
brenzlich-scharfen Geschmack hat. Es dient als Arzneimittel. Das reinste Bernsteinöl
heißt Ambraöl, aus dem man durch chemische Prozesse den künstlichen Moschus
gewinnt, der jetzt nur noch zu Parfümerien angewendet wird
162. Die Steinkohlen.
Wohl ist der Diamant der allerkostbarste Stein; denn er ist so rein
und weiß wie das Sonnenlicht selber, dazu härter als der härteste Stahl,
und wenn man ihn zum Brillanten schleift, ist er wie das Tautröpflein,
in welchem die Sonne sich spiegelt, selber eine Sonne im kleinen.
Vlel gemeiner ist der schwarze Diamant, der aller Orten mit den
Menschen verkehret, ihnen Licht und Wärme, Arbeit und Nahrung gibt, der
die Menschen mit Windeseile über Länder und Meere führt und in allen
Weltteilen zu vielen tausend Zentnern aus der Erde gegraben wird: die
Steinkohle. Der Diamant ist eine Kohle, welche in der geheimnisvollen
Werkstatt der Natur zu Krystall gebildet ist; die Steinkohle ist nicht minder
ein Edelstein, der Schatz des arbeitenden Volkes.
In einer Zeit, wo die reichsten Wälder zum Teil mit frevelndem Über—
mute vernichtet sind, wo der Bau von Schiffen, Eisenbahnen und Fabriken
9 S. Nr. 174, Anmkg.
162. Die Steinkohlen. 955
alljährlich Millionen von Bäumen verschlingt, erschließt der Schoß der Erde
unerießliche Wälder, welche vor vielen tausend Jahren, als noch kein mensch—
licher Fuß auf Erden wandelte, untergegangen sind. Was jetzt als Farrenkraut,
Schachtelhalm und Bärlapp wächst, gedieh in jener Urzeit auf unserm Planeten
zum Tell zu riesigen Bäumen. Dieses Riesengeschlecht von Pflanzen ward
durch Stürme gebrochen und durch die Wogen des Meeres unter Schlamm
und Schutt begraben. Durch den Druck von oben und die Wärme von
unten wurden diese mächtigen Holzmassen im Laufe der Jahrtausende zu
Braunkohlen und abermals nach Jahrtausenden zu Steinkohlen. So wächst
noch heute auf feuchtem Moorgrund durch allmähliches Absterben der Moos—
decke jener kohlenartige, brennbare Stoff, den wir Torf nennen. Je älter
der Torf wird, desto schwärzer wird er, und wegen des Drucks der immer
neu sich bildenden Schichten auch immer dichter.
An vielen Steinkohlen, welche dem bloßen Auge nur wie ein dichter,
glänzender Stein erschienen, hat das Mikroskop noch den zelligen Bau der
Pflanzen entdeckt, und hier und da lagert in der schwarzen Masse noch ein
deutlich zu erkennender Baumstamm, und besonders häufig finden sich Blätter
wie vom Farrenkraute. Die Lager der Steinkohlen sind gewöhnlich gegen
Um mächtig, zuweilen jedoch bis 10 m stark. In Amerika bei Santa Fe
de Bogota finden sich Steinkohlenlager, welche 2282 m über dem Meeres—
spiegel liegen, in England bei Whitehaven gräbt man sie 85 m unter dem
Meeresspiegel. Die Beschaffenheit der Steinkohle ist sehr verschieden, je
nachdem Schwefel und andere Mineralien ihr beigemischt sind, oder der
Kohlenstoff möglichst rein vorhanden ist. Die Glanzkohle ist die beste; sie
ist von se,r festem Kern, hat metallischen Glanz, einen würflichten Bruch und
besitzt eine solche Härte, daß man sie schleifen und polieren kann, wie den
Diamant. Zwölf Pfund vom härtesten Buchenholz geben kaum so viel Hitze,
als sieben Pfund der guten Steinkohle. Im Feuer fließt sie zu einer Art
Kuchen zusammen und läßt wenig Asche und Schlacke zurück, da hingegen
die minder gute Schieferkohle mit einer lodernden Flamme leicht verbrennt
und viel Nche und Schlacken zurückläßt.
Um n flammenden Wasserstoff und den übelriechenden Schwefel ganz
aus der Tteinkohle zu entfernen, verkohlt man sie noch einmal, d. h. man
verbrennt sie ohne Zutritt der Luft, wie das Holz im Meilerhaufen zu Kohlen
verbrannt wird. So gewinnt man die Kochkohlen (Coals — Koks), die im
kleinsten Raum den meisten Wärmestoff bergen. Diese Kohle ist es besonders,
welche den Schiffen und Wagen Flügel gibt, in den Fabriken arbeitet,
Herd und Wohnstube erwärmt und die Steinkohle selber aus der dunklen
Tiefe hervorholt. Die Kraft des erfinderischen Menschengeistes hat aber auch
den rußigen und schmutzigen Rauch der Steinkohle benutzt, welcher eine Menge
von Ol und Leuchtgas in sich birgt. Aus den eisernen Röhren, in welchen
man den Rauch gefangen hält, fließt der dicke, schwere Teer, und es strömt
auch das leichtluftige Gas heraus, das in reinster, hellster Flamme die Nächte
auf Erden erleuchtet. In den Straßenlaternen, in den niedrigen Zimmern
26
162. Die Steinkohlen.
des Arbeiters, in den Sälen der Fabriken und in den Prunkgemächern der
Paläste erglänzen die Gasflammen und machen die Nacht zum Tag. So
gleichen die schwarzen Diamanten noch mehr der Sonne als die weißen,
denn sie geben zugleich Licht und Wärme. Aber die Menschen verkennen
oft ihre besten Freunde und achten sie gering. So ist auch das schwarze
Gold, welches im Bunde mit dem Eisen für den thatkräftigen Engländer das
Mittel geworden ist, mit welchem er die erkämpfte Weltherrschaft fort und
fort behauptet, anfänglich schnöde von ihm behandelt worden. Um das
Jahr 1316 wurden die ersten Steinkohlenblöcke von Newcastle nach London
gebracht und waren den Schmieden und Brauern als wohlfeiler Brennstoff
sehr willkommen. Aber ihr dicker, schwarzer Rauch veranlaßte sogar eine
Bittschrift des Parlaments an den König Eduard II., worin er gebeten
wurde, den Gebrauch dieses pestilenzialischen Brennstoffes zu verbieten, wenn
er den Reiz eines frischen Gartens, den Vorzug eines reinen Antlitzes, die
Annehmlichkeit weißer Wäsche schützen und nicht haben wolle, daß seine loyalen
Unterthanen ersticken sollten. Der König verbot den Gebrauch dieser lästigen
und ungesunden Substanz. Aber Geldstrafen und selbst das Zerstören der
Herde und Ofen konnte nicht hindern, daß man die wohlfeilen Steinkohlen
bezog und gebrauchte.
Erndlich hörte der Widerstand auf, als man sich überzeugte, daß niemand
von den Steinkohlen erstickte oder vergiftet wurde, und die Erlaubnis zur
Einfuhr der Kohlen für die Londoner Stadtkasse solchen Gewinn brachte, daß
dieselbe ums Jahr 1613 50000 Pfund Sterling) jährlich bezog; erst 1830
wurden die lästigen auf den Steinkohlen ruhenden Abgaben aufgehoben,
und erst von da an konnte der nützliche Brennstoff seinen Segen entfalten.
Kein Volk hat wie das englische gerungen mit bösen Wettern und den
rauschenden Wassern der Tiefe, und keines diese Dämonen der Erde so kräftig
durch Maschinen bezwungen. Man muß erstaunen über die Kühnheit, mit
welcher der Engländer seine Werke anlegt, und über die Raschheit, mit
welcher er sie ausführt. Das Steinkohlenbergwerk bei Newcastle in Northumber—
land ist eins der größten Wunderwerke des Menschengeschlechts. . Grube)
Ergänzungen. 1. Die Hauptbestandteile der Steinkohle sind in mitt—
lerer Zusammensetzung: Kohlenstoff 69 — 78 0, Wasserstoff 34 9/0, chemisch⸗gebun⸗
denes Wasser 13 — 23 0, Asche 5— 200. Außerdem noch Sauerstoff, Schwefelkies
11/290) Kalkspat, Gips, Hornstein. Bei dem Zersetzungsprozeß, der im Laufe der
Jahrtausende au diesem ursprünglich vegetabilischen Produkt sich vollzieht, scheiden
Wasser- uno Sauerstoff und ölige Teile mehr und mehr aus, und es verbleibt haupt—
sächlich Kohlenstoff in immer reinerer Form. Je weniger weit die Zersetzung fort—
geschritten ist, desto mehr flüchtige und bituminöse (S ölige) Stoffe enthält die Kohle.
Endlich bildet siih Anthracit, der fast nur Kohlenstoff enthält. Dieser ist tiefschwarz,
spröde, von muscheligem oder doch unebenem Bruche, wodurch er sich vom Graphit?)
unterscheidet. Er läßt sich nur bei zweckmäßiger Behandlung und bei starkem Gebläse
zum Brennen verwenden, brennt aber mit wenig leuchtender, rauchloser Flamme.
) ecirea 1 Million Mark. ) S. Nr. 169.
266
163. Das Petroleum. 267
2. Die reichsten Steinkohlenlager in Europa besitzt England, dessen Kohlenbezirke
einen Flüchenraum von etwa 170 Quadratmeilen, also den 16. Teil der Gesamtfläche
einnehmen und einen Ertrag von mehr als 2500 Mill. Ztr. jährlich liefern. Auch
das kleine Belgien zeichnet sich durch großen Kohlenreichtum aus. Sein Kohlengebiet
umfaßt gegen 25 Quadratmeilen (S e2 der Gesamtfläche), die Kohlenausbeute über
200 Mill. Ztr. In Deutschland finden sich reiche Kohlendistrikte in Schlesien,
im Rheinland (an der Ruhr, bei Aachen, das Saarbrücker Kohlenbecken), in Sachsen.
Seltener ist die Steinkohle im südlichen Deutschland. Die Gesamtausbeute beläuft sich
auf etwa 700 Mill. Ztr, wovon auf Preußen allein fast 600, auf Bayern 3 — 4 Mill. Ztr.
treffen. Außerdem gewinnt man in Preußen gegen 150, in Bayern an 4 Mill. Ztr.
Braunkohlen. Auch in Osterreich GBöhmen) und Rußland finden sich reiche Stein—
kohlenlager. Verhältnismäßig arm an Steinkohlen ist Frankreich, noch ärmer sind
die drei südeuropäischen Halbinseln. Ungeheuere Lager finden sich in Nordamerika;
auch China, Ostindien, Neuholland sind reich an Kohlen; doch sind die Lager noch
wenig erschlossen.
Anmerkung. über die Verwertung der Steinkohlen zur Gasbereitung,
Teergewinnung u. s. w. vgl. Nr. 174.
163. Das Betroleum.
Die gegenwärtige Zeit hat in der Verbesserung der alten und in der
Auffindung neuer Leuchtstoffe ganz außerordentliche Fortschritte gemacht.
Zu den längst bekannten Talg- und Wachslichten sind die Walratskerzen
gekommen, welche aus dem im Kopfe des Pottfisches enthaltenen Fette
gewonnen werden, die Stearinkerzen, welche man aus Stearinsäure, einem
Bestandteile des gewöhnlichen Talges, und die Paraffinkerzen, welche man
aus Braunkohle bereitet. Das Rüböl ist auf den Straßen durch Stein—
kohlen⸗ und Holzgas, in den Stuben und Werkstätten durch Photogen,
Solaröl und Petroleum verdrängt worden. Auch die ärmste Hütte hat
nachgerade den Segen dieser Erfindungen gespürt; mehr Licht dringt zu allen.
Unter den verschiedenen Beleuchtungsstoffen, durch welche der Mensch
in der neueren Zeit der Nacht in das Regiment greift und während der
langen Winterabende etwas besseres zu treiben in den Stand gesetzt wird,
als Märchen aus tausend und eine Nacht oder schaurige Gespenstergeschichten
zu erzählen, ist das Petroleum derjenige, welcher die weiteste Verbreitung
und die größte Bedeutung zu gewinnen scheint.
Wohl schütteln viele Leute die Köpfe bei der Nachricht, daß drüben in
Amerika an manchen Orten das Ol aus der Erde gepumpt wird, wie bei
uns zu Lande das Wasser, oder daß es dort Teiche und Flüsse gibt, von
deren Oberfläche man das Ol abschöpft, gerade wie wenn die Hausfrau eine
Gans bratet und das Fett, das auf der Brühe schwimmt, mit dem Löffel
abnimmt. Anfangs wollte niemand von diesem Ole als Brennstoff Gebrauch
machen, deshalb verschenkten zuerst die Händler das Ol samt den zum Brennen
desselben nötigen Lampen; dann bekamen die Kaufleute zu jedem Fasse Ol,
das sie bestellten, eine oder etliche Lampen umsonst. Allmählich kamen die
Leute dahinter, daß das neue Ol heller brenne als das alte und doch wohl—
268 163. Das Petroleum.
feiler und reinlicher sei. Wie schnell sie sich in das Exempel gefunden haben,
nach welchem der Gewinn für unsern Geldbeutel um so größer ist, je billiger
die Sache, zeigt der Umstand, daß im Jahre 1860 in den Vereinigten
Staaten von Nordamerika 500 000 Faß Petroleum gewonnen wurden, im
Jahre 1865 aber die Ausbeute sich bereits auf ziemlich 4 Millionen Faß
belief, die sich bis zum Jahre 1872 auf beinahe 7 Millionen Faß steigerte.
Am reichsten fließen die Erdölquellen seit einiger Zeit in Oil-⸗Spring,
einer Gegend des Staates Pennsylvanien in Nordamerika. Die ersten Ver—
suche, welche die lbohrer machten, fielen so glücklich aus, daß die meisten
Bauern Pennsylvaniens die Hacke liegen und den Pflug stehen ließen, um
Ol zu bohren. Es brach in dieser Gegend ein „Olfieber“ aus, das mit
gleicher Heftigkeit wütete wie seiner Zeit das „Goldfieber“ in Kalifornien
und Australien. Tausende von Brunnen entstanden in den sogenannten
Oldistrikten; aber die Unternehmungen waren wie ein Lotteriespiel. Unter
hundert Männern, welche für schwere Summen von den Landeigentümern
das Recht gekauft hatten, Bohrlöcher in die Tiefe zu führen, hatten achtzig
bis neunzig das Geld weggeworfen und Arbeit und Mühe umsonst gehabt;
nur zehn bis fünfzehn fanden Ol, allerdings zuweilen in so ungeheurer
Menge, daß mancher durch eine einzige Quelle binnen wenigen Monaten
zum Millionär wurde. In das Riesenmäßige stieg der Ertrag, als im
Sommer 1861 ein Bohrer tiefer als bisher ging und dadurch einen immer
fließenden Brunnen gewann, welcher täglich etwa 1000 Faß Sl gab. Gleiche
Versuche an anderen Orten hatten gleichen Erfolg. Im Winter 1861 auf
1862 wurden täglich 15000 Faß zutage gefördert; es fehlte an Geräten,
das fließende Ol aufzunehmen, der Preis sank an Ort und Stelle auf un—
gefäühr fünfzig Pfennige für das Faß von 140 bis 150 Liter.
Kaum hatte der erste fließende Brunnen bei Oil⸗Spring einige Tage
seinen Reichtum ausgespieen, so wollte ein neuer Arbeiter, welcher die Natur
des Petroleums nicht kannte, an einem Schwefelhölzchen seine Zigarre an⸗
brennen. So wie das helle Feuer das in der Luft befindliche Gas berührte,
verwandelte sich dasselbe auf eine weite Strecke hin in ein Flammenmeer,
in welchem 22 Arbeiter auf die gräßlichste Weise umkamen; der Brunnen
selbst aber wurde zum feurigen Strome, der nicht eher aufhörte zu brennen,
als bis das Ol erschöpft war. Solche Unglücksfälle sind mehr als einmal
vorgekommen. Das Petroleum, welches wir in unseren Lampen brennen,
ist gereinigt (raffiniert) und darum weniger feuergefährlich; es ist aber trotz⸗
dem beim Anbrennen und Auslöschen der Petroleumlampen Vorsicht anzu⸗
raten, namentlich ist es nicht gut gethan, die Lampe des Abends bei hell—
brennendem Lichte mit Petroleum zu füllen.
Das Petroleum ist wahrscheinlich dadurch entstanden, daß die im Innern
der Erde befindliche Steinkohlenlager sich in ihre Bestandteile zersetzt haben,
so vielleicht, daß die öligen Stoffe durch Hitze herausgetrieben und in weit
gehenden Steinschichten gesammelt worden sind. Es ist eine bald hell—
bald dunkelbraune, ziemlich dickflüssige Masse, welche im Wasser »sich nicht
*
164. Das Kochsalz. 269
auflöst, sondern als besondere Schicht auf demselben schwimmt, von durch⸗
dringendem, aber nicht gerade unangenehmen Geruche und dabei sehr leicht
entzündlich. Mach Runkwitz.)
Ergänzungen. 1. Auch in Europa, Asien und Afrika gewinnt man Petroleum,
in Europa besonders in Galizien, in der Walachei, spärlich in Deutschland (Han⸗
nover); in Asien finden sich reichliche Quellen in Kleinasien und im indischen Reiche
Birma.
Durch Verdunstung der flüssigen und flüchtigen Bestandteile des Petroleums hat
sich der Asphalt gebildet, eine mehr trockene Masse von pechschwarzer Farbe und
fettigem Aussehen. Am bekanntesten ist sein Vorkommen auf dem toten Meere (daher
Judenpech genannt); noch merkwürdiger ist der Asphaltsee auf der Insel Trinidad
Westindien), der mit einer dicken Asphaltmasse überzogen ist und nur in den Rissen
frisches Wasser enthält. Der Asphalt findet Anwendung zu Fußböden, Trottoirs,
Straßen und zu Dachmaterial.
2. Das Photogén Echieferöl, Mineralöl) wird durch trockene Destillation aus
bituminösem ( erdpechhaltigem) Schiefer, aus Braun- und Steinkohlen gewonnen. Es
brennt bei 4500 ohne Docht, kann aber dieser leichten Entzündlichkeit halber gefährlich
werden. Das Solaröl ist gleichfalls ein Produkt aus der Braunkohle und unterscheidet
sich vom Photogén nur durch höheres spez. Gewicht, höheren Siedepunkt und schwerere
Entzündlichkeit.
164. Das Kochsalz.
Über alles zu preisen ist das Salz. Und nicht nur als erste und
letzte Würze jedes Wohlgeschmacks, nicht als eine Leckerei, sondern als ein
ebenso notwendiges Nahrungsmittel, wie es Brot und Fleisch sind, als eine
der wesentlichen Grundlagen der chemischen Technik und damit als eine Stütze
der ganzen modernen Industrie, die uns mit den unzähligen Gegenständen
des Luxus und des täglichen Bedürfnisses umgibt.
Wenn wir unsere Speisen mit Salz würzen, genügen. wir nicht etwa
bloß dem Wohlgeschmack, sondern wir erfüllen eine unumgehbare Forderung
des ganzen Lebensprozesses. Unser Blut enthält Salz; zum Aufbau unserer
Knochen ist es erforderlich; um den Stoffwechsel, die Verdauung möglich
zu machen, muß es dem Magensafte beigemengt werden. Wir empfinden
deshalb einen Hunger nach Salz, wenn dasselbe nicht mehr in genügender
Weise im Körper enthalten ist, und es gewährt uns einen köstlichen Reiz,
dieses Bedürfn.? befriedigen zu können. „Salz und Brot macht Wangen
rot.“ Ohne S. z würden sie nicht nur welken, der Mensch würde ver—
hungern, wenn er gar kein Salz im Fleisch, im Wasser, in den Früchten,
in seinen Getränken genösse; er würde den Salzhunger sterben, ein Fall,
der allerdings nicht so leicht vorkommen kann, da dieses Nahrungsmittel in
Folge seiner Notwendigkeit für den lebenden Organismus in der Natur auch
ungemein verbreitet ist. Gierig läuft das Wild unserer leider immer lichter
werdenden Wälder nach der Salzlecke; dem Kamel der Wüste ist ein Stückchen
Steinsalz die liebste Leckerei, und die unbändigen Büffel kommen scharen—
2
270 164. Das Kochsalz.
weise aus den grünen Wäldern an die salzigen Ufer des Missouri, wo ihnen
der Jäger auflauert.
Wer kennt nicht die zahlreichen Anwendungen des Salzes zum Auf—
bewahren von Fleisch und Gemüse, zum Einpökeln, zum Düngen, ganz be—
sonders aber zur Herstellung der Soda, auf welcher die Fabrikation des
Glases und der Seife mit allen ihren unentbehrlichen Produkten beruht!
Nicht der mächtigste Fürst, nicht der ärmste Bettler kann des unscheinbaren
Stoffes entbehren — es ist so notwendig wie die Luft.
Das Salz, gewöhnlich Kochsalz genannt, ist die Verbindung eines
sehr leichten Metalles, Natrium, und einer eigentümlich gelben Gasart, Chlor.
Es wird vom Wasser aufgelöst und zwar in dem Maße, daß 100 Teile
Wasser 35 —40 Teile davon aufnehmen. Sein Geschmack ist angenehm salzig.
Im reinsten Zustande ist es weiß, durchsichtig wie Eis und in Würfeln
krystallisiert. Das natürlich vorkommende Steinsalz wird oft in Krystallen
von mehreren Zentnern Schwere gebrochen. Dagegen bildet das aus dem
Meere oder den Solen durch Verdunstung gewonnene Salz kleine, weiße
(undurchsichtige), vielseitige Trichterchen. Sechs solcher Trichter, mit ihren
Spitzen zusammengestellt und darauf überall ausgefüllt, würden einen großen
Würfel darstellen.
Ist das Kochsalz für Menschen und die höheren Tiere ein wichtiges
Nahrungsmittel, so wirkt es auf eine große Anzahl von niederen Tieren,
sowie auf viele Pflanzen als ein rasch tötendes und zerstörendes Gift. Eine
Landschnecke, mit Salz bestreut, stirbt bald ein Frosch geht im Salzwasser
alsbald zugrunde; ein Baum, damit begossen, verdorrt binnen wenigen
Tagen, die Blätter vieler Kräuter schrumpfen zusammen, und Gras und
alle Getreidearten gehen davon ein. Dagegen gibt es aber auch eine große
Anzahl von Pflanzen und Tieren, welche ausschließlich im Salzwasser leben
und gedeihen, und denen das Süßwasser den Tod bringt.
Seit den ältesten Zeiten haben die Menschen Salz gewonnen. Dem
deutschen Boden entspringen unzählige salzhaltige Quellen, die schon von
den Ureinwohnern benutzt worden sind. Bei Bad Nauheim in der Wetterau
fanden sich vor einigen Jahren die Reste ausgedehnter alter Salinen, wahr—
scheinlich von einem keltischen Volksstamme herrührend, aus einer Zeit des
Betriebes, wo die Germanen noch nicht nach diesen Gegenden vorgedrungen
waren. Jene Salinen, aus allerlei thönernen Kochkesseln, Röhrenleitungen
und steinernen und bronzenen Geräten bestehend, lagen 3—6m tiefer als
der jenige Boden und waren bedeckt von Erdlagern, worin germanische und
römische Reste, Waffen und Begräbnisstätten gefunden wurden. Die Dar—
stellung des Salzes war bei den Germanen anfangs sehr einfach und roh.
Sie schütteten das Solwasser auf Haufen glühender Kohlen und erhielten
dadurch schwarze, unreine, salzige Krusten, die sie zum Würzen ihrer Speisen
gebrauchten. Die Römer dagegen, welche vor fast zwei Jahrtausenden in
Deutschland waren, erhielten das Salz aus den Meersalinen Italiens und
Südgalliens; sie kochten in Deutschland kein solches. Die Salzquellen waren
165. Das Vorkommen des Salzes. 271
den Alten heilig; man umgab sie deshalb mit Befestigungen, von denen
wir noch jetzt wie bei Nauheim Überreste finden.
(Aus dem Buche der Erfindungen.)
165. Das Vorkommen des ZSalzes.
Das Kochsalz ist in der Natur sehr verbreitet. Es findet sich als
Steinsalz häufig in Lagern von großer Mächtigkeit. Die berühmten
Steinsalzlager von Wieliczka!) und Bochnia in Galizien am nördlichen
Abhange der Karpathen werden schon seit 800 Jahren gebaut; das ge—
wonnene Salz ist ganz rein und kann ohne weiteres verbraucht werden.
Die Gruben haben dort schon eine Tiefe von 400 m. Außerdem
finden sich Lager in Kalabrien und Sicilien, in der spanischen Provinz
Katalonien, in den bayerischen und tyroler Alpen, in der Schweiz und
namentlich ein sehr mächtiges Lager bei Staßfurt unweit Magdeburg.
Nicht alles Steinsalz Gergsalz) ist so rein, daß es zum Verbrauche
geeignet ist; es kommt mehr oder weniger stark mit erdigen und thonigen
Massen untermengt vor. Man gewinnt das reine Salz durch Aus—
laugen und Abdampfen.
Salzsolen sind durch unterirdische Quellen gebildete, mehr oder
weniger konzentrierte Salzlösungen. Sind sie hinreichend gesättigt, so
werden sie ohne weiteres in großen Pfannen eingekocht und das Salz
in Form kleiner Krystalle gewonnen; sind sie weniger konzentriert, so
läßt man sie auf Gradierwerken vorher verdunsten. Künstliche Salz—
solen stellt man an mehrexen Orten dar, indem man in salzhaltiges
Gebirge tiefe Bohrlöcher treibt oder weite unterirdische Ausgrabungen
(Sinkwerke) vornimmt und Wasser hineinleitet, dasselbe bis zur vollen
Sättigung darin stehen läßt, dann durch einen tiefer angebrachten Kanal
abzieht und eindampft.
Das See salz gewinnt man, indem man das Meerwasser in flache,
unmittelbar am Strande gelegene Ausgrabungen leitet und darin so
lange umlaufen läßt, bis das Salz durch Verdunstung krystallisiert (Salz⸗
gärten), Den Gehalt sämtlicher Meere an Kochsalz berechnet man
auf 190000 Billionen Zentner, was einer Salzkugel von 27 Meilen
im Durchmesser gleichkommt. Das Meer ist salzig, weil fortwährend
durch die einmündenden Ströme aus dem Erdinnern aufgelöstes Salz
hineingeführt wird, welches natürlich bei der fortdauernden Verdun
stung des Meerwassers zurückbleibt. Dadurch muß das Meer allmählich
salzhaltiger werden. Wahrscheinlich sind die unterirdischen Salzlager
nichts anderes, als die Verdunstungsrückstände vorweltlicher Meere.
spr. wjälitschka
166. Der Sand.
Auch Binnenmeere, die keinen Abfluß haben, sind salzig, z. B. das tote
Meer, in welches durch den Jordan und die kleineren Zuflüsse, welche
sämtlich salzhaltiges Erdreich durchströmen, Salz zugeführt wird, so
daß sein Wasser fast mit Salz gesättigt ist. An den steilen Küsten des
toten Meeres finden sich Steinsalzabstürze von 15 —20 m Höhe
(Salzsäulen). Der Wasserspiegel des toten Meeres scheint im Sinken
begriffen zu sein, ein Zeichen, daß mehr Wasser verdunstet als zuge—
führt wird. (R. Arendt, Ansch.⸗Unterr. in d. Naturlehre.)
Ergänzungen. Das Kochsalz ist eine Verbindung von Chlor und Natrium,
also Chlornatrium, und zwar enthält es cirea 39 0 Natrium und circa 61 9 Chlor.
Die jährliche Salzproduktion in Europa beträgt gegen 100 Mill. Zentner, im deutschen
Reich an 10 Mill. Zentner. Das Chlor ist ein Gas, welches bei großer Kälte und
hohem Druck flüssig wird. Es verbindet sich mit vielen Stoffen schon bei gewöhnlicher
Temperatur; besonders groß ist seine Verwandtschaft zum Wasserstoff, den es organischen
Körpern entreißt, wenn es mit ihnen in Berührung kommt. Namentlich zerstört es die
Farbstoffe der Pflanzen und Tierteile. Tinte verschwindet, wenn man auf das Papier
Chlorwasser bringt. Dieser Eigenschaft wegen wird es zum Bleichen von Leinen- und
Baumwollenwaren benutzt. Wird es mit Umsicht angewendet, so zerstört und schädigt
es die Pflanzenfaser nicht. Es wirkt auch auf Krankheitsstoffe, faulige und übelriechende
Substanzen und ist deshalb ein ausgezeichnetes Reinigungsmittel für Spitäler ꝛc. Mit
Wasserstoff verbindet sich Chlor zu Chlorwasserstoff, der in Wasser aufgelöst Salz—
säure gibt. In dieser sind die meisten Metalle löslich, Gold und Platina jedoch nicht.
Setzt man aber einem Teile Salzsäure 2—24 Teile Salpetersäure zu, so erhält man das
Königswasser, welches auch Gold löst und Platina angreift.
Das Natrium ist ein Metall, das in der Natur gediegen nicht vorkommt. Da es
schon bei gewöhnlicher Temperatur oxydiert, d. h. sich mit dem Sauerstoff der Luft
verbindet, so muß es, wie das Kalium, unter Steinöl aufbewahrt werden. Mit Sauer⸗
stoff bildet es Natriumoxyd; dieses mit Wasser gibt Natronhydrat, welches zum
Äben benützt wird (Ätznatron). Natron mit Schwefelsäure gibt sch wefelsaures Natron
oder Glaubersalz, das zur Glasfabrikation, in der Medizin und besonders zur Dar—
stellung der Soda benutzt wird. Diese dient zur Glas- und Seifenbereitung, zum
Waschen und Bleichen ꝛc.
166. Der Sand.
Im gewöhnlichen Leben versteht man unter Sand jedes aus feineren
oder gröberen, höchstens erbsengroßen Körnchen bestehende Erdreich, dessen
innerer Zusammenhang selbst im feuchten Zustande so gering ist, daß es
sich nicht kneten noch formen läßt. Der chemische Bestand des Sandes in
diesem weiteren Sinne des Wortes kann indessen ein verschiedener sein.
Gesteine mancherlei Art zerfallen unter dem wechselnden Einflusse der Luft,
des Wassers, der Feuchtigkeit, der Wärme und Kälte in sandähnliche Massen,
welche sowohl in Farbe, wie auch in der Art der Zusammensetzung mancherlei
Unterschiede zeigen, aber doch jene obengenannten Eigenschaften mit einander
gemein haben. Im engeren Sinne nennt man Sand nur die feinen Trümmer
des Quarzes (Quarzsand), der seiner chemischen Natur nach aus reiner
166. Der Sand. 272
Kieselerde besteht. Er bildet einen wesentlichen Bestandteil vieler Gesteine
(z. D. des Granits), kommt in außerordentlich großen Massen fest zusammen—
gebacken als Sandstein vor und bildet im angeschwemmten Lande mitunter
Schichten von großer Mächtigkeit. Er macht einen nie fehlenden Bestandteil
des Ackerbodens aus und findet sich in manchen Gegenden in ziemlich —
obwohl nie ga — reinem Zustande. Verhältnismäng am reinsten ist der
weiße Sand, r gelbe ist namentlich durch eisenhaltige Beimengungen ge—
färbt. Von den Bächen und Flüssen wird der Sand auf weite Strecken,
zum Teil bis ins Meer fortgeführt und da, wo die Wasser ruhiger fließen
abgelagert. Je nach der Länge der Zeit, während welcher die Körnchen des
Sandes durch das strömende Wasser in Bewegung erhalten worden sind,
erscheinen se mehr oder weniger abgerundet und ihrer ursprünglichen scharfen
Kanten »d Qaen beraubt. Meersand (Seesand), welcher an den Küsten
durch randung in fortdauernder Bewegung erhalten wird, ist so wenig
scharr man metallene Gerätschaften damit scheuern kann, ohne daß diese
dadur wahrnehmbarer Weise geritzt werden. Gewöhnlicher Sand da—
gegen, n r in unseren Gegenden gegraben wird, ist scharfkantig, und metallene
Flächen, be mit ihm gescheuert werden, zeigen nachher die mannigfaltigsten
Risse. Dem Sande in chemischer Beziehung ganz nahe stehend ist der Kiesel—
stein (Rach- und Flußkiesel, z. B. Elbkiesel, Rheinkiesel), und nur dadurch
von dem Sande unterschieden, daß er aus größeren (haselnuß-, wallnuß-
faustgroßen) Stücken besteht. In Folge des lange fortgesetzten Rollens auf
dem Boden der Füsse zeigen sich diese Gesteine abgerundet und äußerlich
rauh, während sie innerlich nicht selten noch die unveränderte Klarheit des
Urgesteins, von dem sie losgetrennt sind (Quarz, Bergkrystall), besitzen.
Um Sand, wie er sich zu den Versuchen eignet, zu erhalten, wählt man
möglichst weißes Material aus, rührt dasselbe in einem großen Bottich mit
viel Wasser tüchtig auf und trennt die Sandkörnchen durch wiederholtes
Schlämmen von den beigemengten thonigen Teilen, bis neu aufgegossenes
Wasser beim Umrühren völlig klar bleibt.
Der Sand ist in allen Flüssigkeiten (mit Ausnahme der Flußsäure)
vollkommen unlöslich. Er dient zum Putzen und Scheuern metallener Ge—
räte, welche er in Folge seiner größeren Härte oberflächlich angreift, so daß
bei jedesmaligem Putzen der Gegenstand etwas an Masse verliert: feinere
Gegenstünde dürfen deshalb nicht mit Sand geputzt werden. Sandpapier
Papier mit Leim überstrichen und darauf im feuchten Zustande mit Sand
bestreut) ist zum trocknen Putzen metallener Gegenstände geeignet (Reinigung
verrosteter Eisen- und Stahlgeräte).
Da der Quarzsand auch härter ist als Glas, so wird er in der Glas—
schleiferei benutzt. Die zu schleifenden Gläser werden auf ebenen oder ge—
krümmten Metallplatten, welche mit feuchtem Sande bevbeckt sind, unter
starkem Druck vielfach hin und her bewegt, wodurch sie sich matt schleifen.
(Zur Politur dienen feinkörnigere, weichere Materialien) So werden
Marschall, Lesebuch für gewerbl. Fortbildungsschulen. Kl. Ausg.
*
Id
167. Der Thon.
Spiegelscheiben, Brillengläser ꝛc. geschliffen. Bekannt ist ferner die Benutzung
des Sandes als Baumaterial; durch Zusatz von Sand wird der gelöschte Kalk in
Mörtel verwandelt, welcher, nachdem er zwischen den Bausteinen eingestrichen
ist, bald erhärtet und dieselben förmlich zusammenkittet. Der Mörtel ge—
winnt mit dem Alter an Härte, da der Sand mit dem Kalk allmählich eine
Art chemischer Verbindung eingeht und zuletzt eine steinartige Beschaffenheit
annimmt; deshalb sind die Bausteine sehr alter Gebäude so fest mit einander
verbunden, daß man sie nicht rein wieder von der Mörtelschicht trennen
kann. Schlechter Sand, d. h. in diesem Sinne solcher, welcher nur zu einem
kleineren Teile aus reinem Quarz besteht, liefert einen wenig haltbaren
Mörtel, und Bauwerke, mittels solchen Materials aufgeführt, haben deshalb
eine geringere Festigkeit. Prüfung des Sandes auf seine Brauchbarkeit in
dieser Hinsicht kann durch Schlämmen geschehen.
Endlich wird der Sand in der Glasfabrikation benutzt. Man schmilzt
ihn, mit Kalk, Salpeter oder Pottasche und anderen Materialien gemengt,
in großen thönernen Gefäßen (Glashäfen) bei sehr starker Glühhitze, bis die
Masse flüssig und völlig klar geworden ist; dann wird das Glas geformt
(geblasen oder gegossen).
So dient dieses in der Regel wenig beachtete Material verschiedenen
höchst nützlichen Zwecken, zu denen es durch kein anderes zu ersetzen ist.
Sein Vorkommen in der Natur ist übrigens so massenhaft, daß der Sand
wohl zu den verbreitetsten Stoffen an der Erdoberfläche zu rechnen ist.
(R. Arendt, a. a. O.)
167. Der Thon.
Der Thon unterscheidet sich äußerlich von dem Sande dadurch, daß
er gerade diejenige Eigenschaft, welche dem reinen Sande abgeht, in hohem
Grade besitzt, nämlich die Fähigkeit, sich mit Wasser zu einer steifen Masse
angerührt kneten und in die verschiedenartigen Formen bringen zu lassen,
welche bei vorsichtigem Trocknen ihren Zusammenhang bewahren. Seinem
chemischen Bestande nach ist er eine Verbindung von Kieselerde (Kieselsäure)
mit Thonerde (kieselsaure Thonerde). Im reinsten Zustande (Porzellanthon,
Kaolin) ist er weiß und zartpulverig wie Puder, in weniger reinem Zustande
bildet er die verschiedenen Arten des braunen Töpferthones, und noch un—
reiner wird er Lehm genannt. Die Verunreinigungen sind färbende Mineral—
verbindungen (namentlich Eisenoxyd), Sand und andere körnige Bestandteile.
Di WDonlager sind entstanden durch Verwitterung und Auswaschung ver⸗
schiedener Gebirgsarten. Seiner äußerst feinkörnigen Beschaffenheit wegen
bildet der Thon mit Wasser eine trübe Flüssigkeit, welche je nach der ver—
schiedenen Färbung des Minerals ein gelbliches, braunes, ja rotes Aussehen
hat und sich nur sehr langsam klärt; die mit dem Thon aus den Gebirgen
durch das Wasser gleichzeitig entführten grobkörnigeren Bestandteile setzen
sich während des Laufes der Bäche und Flüsse zeitiger zu Boden als der
Thon. Dieser wird so lange mit fortgetrieben, als das Wasser noch einiger—
167. Der Thon. 275
maßen in Bewegung ist, und senkt sich erst bei völliger Ruhe desselben sehr
allmählich zu Boden; dies ist ein Schlämmprozeß, den die Natur im großen
ausführt und der die verschiedenartigen Bestandteile der Gebirge mechanisch
von einander trennt. Nach starken Regengüssen erscheinen daher Flüsse, welche
aus thonigem Gesteine entspringen, trübe und gefärbt und werden erst wieder
klar, wenn die Wasserstürze sich allmählich verlaufen haben und die Flüsse
nur noch durch das ruhig fließende, klare Quellwasser gespeist werden. Der
Thon ist unterdessen meist schon in das Meer abgeführt, oder hat sich hier
und da an günstigen Stellen am Ufer der Ströme abgesetzt, namentlich da,
wo dieselben infolge größerer Breite einen ruhigeren Fluß erlangt haben.
So bilden ) namentlich in der Nähe der Flußmündungen und auch
noch außerhalb derselben am Boden des Meeres allmählich größere thonige
Ablaßerungen, wodurch das Erdreich der Gebirge infolge eines nie endenden
Nivellierungsprozesses weit in die Ebene fortgeführt wird. Auf solche Weise
sind ganze Strecken unseres heutigen Festlandes entstanden und fortdauernd
bilden sich, wenn auch nur langsam, neue Anschwemmungen (Alluvionen).
Dies gilt selbstverständlich nicht nur vom Thon, sondern auch von allen
feinkörnigeren Mineralien, vom Thone indes hauptsächlich, da er mit die
feinste Zerteilung besitzt.
Die Eigenschaft des feuchten Thones, sich formen zu lassen, heißt
Plasticität. Es haben sich ganze Gewerbszweige ausgebildet, welche den
Thon auf Grund dieser Eigenschaft bearbeiten: die Porzellanmanufaktur, die
Topf⸗ und Ziegelfabrikation. Der Thon würde indessen in dieser Hinsicht
nicht zu der Bedeutung gelangt sein, die er gegenwärtig besitzt, wenn er
nicht außerdem noch die Eigenschaft hätte, durch Brennen in eine harte,
klingende Masse überzugehen. Ziegelsteine fabriziert man ohne weiteres aus
dem natürlich vorkommenden Lehm, Topfgeschirre aus einer reineren Sorte
Thon und K'oxrzellan aus dem Kaolin, dem indes noch, damit es beim
Brennen einen dichteren Zusammenhalt gewinnt, nach Verhältnis Feldspat
und Quarz im feinpulverigen Zustande zugesetzt werden müssen. Jede Thonart
verliert durch das Brennen an äußerem Umfang (Schwinden). Der reine
Thon verträgt eimne außerordentlich hohe Temperatur, ohne zu erweichen;
die Porzellanmasse wird wegen ihres Gehaltes an Feldspat leichter weich.
Ebenso haben auch die verschiedenen Ziegelarten einen verschiedenen Grad
von Feuerfestigkeit. Eine noch leichter erweichende thonige Mischung ist die
Glasur der Porzellan- und Töpferwaren, welche schon schmilzt, während
die Substanz der glasierten Geräte noch vollständig fest bleibt; dadurch be—
decken sich die Geräte mit einem harten, wasserdichten Überzug. Reine
Porzellanerde bleibt nach dem Brennen völlig weiß; gefärbte Thone ändern
aber bei dem Brennen in der Regel ihre Farbe. Rührt die Fürbung von
Eisengehalt her, so erscheint der gebrannte Thon rot; bei zu starkem Brennen
nimmt solcher Thon eine dunkelgrüne Färbung und an der Oberfläche ein
glasiertes Aussehen an (hart gebrannte Ziegel).
2
18*
276 168. Das Porzellan
Der Thon bildet einen sehr wesentlichen Bestandteil eines jeden frucht—
baren Ackerbodens. Ein solcher muß seiner Hauptmasse nach eine passende
Mengung aus Thon und Sand sein. Zu viel Thon macht den Boden fest
und schwer, zu viel Sand locker. Der Thon bestimmt die sogenannte Bin—
digke.t und die wasserhaltende Kraft des Bodens. Weder Thon noch Sand
können indes als Nahrungsmittel für die Pflanzen dienen; sie bilden nur
ein geeignetes Materxial für die gleichmäßige Verteilung der pflanzennährenden
Ston Wegen seiner großen Dichte läßt stark thonhaltiger Boden oder noch
men reiner Thon das Wasser wenig oder gar nicht durch. Thonschichten,
we unterba;o eines porösen Bodens lagern, bilden daher eine wasser—
di Interlage für das durch den Regen dem Boden zugeführte Wasser.
Je nach der Neigung dieser wasserdichten Schicht fließt das Wasser ent—
weder ab oder bleibt in dem Ackerboden eingesogen stehen; im letzteren Falle
entstehen Sümpfe, welche auf künstlichem Wege (durch Anbringung von
Kanälen oder Drainage) entwässert werden müssen, wenn sie in fruchtbares
Ackerland verwandelt werden sollen. Gruben oder Kanäle, welche für Wasser
undurchlässig sein sollen, werden mit Thon ausgestampft.
(R. Arendt, a. a. O.)
168. Das VBorzellan.
Treten wir in eine Porzellanfabrik. Da stehen zuerst große mit Wasser
gefüllte Füsser oder Kufen. Darin befindet sich die Porzellanerde, die da—
selbst durch starkes Rühren in eine weiße Brühe aufgelöst und geschlemmt
wird. Der noch unverwitterte Feldspat und anderer Sand setzen sich zu
Boden, und das mit den feinen Thonteilchen angefüllte Wasser wird in andere
Gef! abgelassen, in welchen der Thon sich ebenfalls nach und nach zu
Boden sert. Hierauf werden Feldspat, Sand, Quarz, Gips und Porzellan—
scherben gepocht, zerstoßen und auf einer Mühle gemahlen und dann in
Regenwasser mit dem Thone zu Brei gemischt. Dieses Gemisch bringt man
in große Schalen von ausgetrocknetem Gips, welche das Wasser daraus
begierig anziehen, wodurch die flüssige Masse rasch, ohne daß die schweren
Telle sich seen können, in einen Teig verwandelt wird. Dieser wird noch—
mals gehörig durchknetet und dann in großen Ballen in feuchte Keller
gebracht, um daselbst zu gären und zu faulen. Je längere Zeit man
darauf verwendet, desto besser soll die Masse werden, und man sagt, daß
die Chinesen diese Masse sogar 50 bis 60 Jahre gären lassen.
Aus dieser vor dem Gebrauche nochmals gründlich durchkneteten Por—
zellanmasse werden nun die Gefäße fast ganz so wie die Töpferwaren auf
der Drehscheibe geformt. Aus einem auf die Drehscheibe aufgelegten Stücke
Thon erwachsen durch Hilfe der Hände, der Finger und Ballen sowie
schablonenmäßig ausgeschnittener Eisen die Gefäße, die, wenn sie windtrocken
sind, von der Scheibe mit einem Drahte heruntergeschnitten werden. Natür—
lich können auf dieser Drehscheibe nur die regelrecht runden Gegenstände
geformt werden. Verzierte Gefäße, Figuren, Arabesken und Verzierungen,
2*
168. Das Porzellan.
sowie die Henkel an den Tassen werden in Gipsformen, welche aus zwei
Hälften bestehen, gedrückt, dann herausgehoben und angesetzt. Die Stücke,
ebenso wie die Stellen, wo sie angesetzt werden sollen, werden dabei etwas
rauh gekratzt, beides aber durch einen Pinsel mit flüssigem Töpferbrei ange—
feuchtet, aneinander gefügt und das Überflüssige später abgeputzt.
Wenn die geformten Gegenstände in der Luft völlig ausgetrocknet sind
so werden sie in den Verglühofen gebracht, wo man sie nur soweit brennt,
daß sie im Wasser sich nicht mehr auflösen. Hierauf beginnt das Glasieren.
Man nimmt fein geriebenen Quarz, Porzellanscherben und Gips, mischt
dasselbe gehörig und rührt es in der Glasurbutte mit reinem Wasser zu
einer dünnen Brühe ein. Die verglühten Geschirre werden nun in dieses
Schlemmwasser eingetaucht, die trockenen Thonwaren ziehen das Wasser
begierig ein und die Glasur bleibt als ein feines Pulver fest auf ihrer
Oberfläche sitzen. Durch diese Glasur erhält das Porzellan den ihm
eigentümlichen Glanz; doch werden auch manche Stücke, z. B. kleine
Statuen u. s. w, ohne Glasur gebrannt, und man nennt diese Art Porzellan
Biskuit.
Die abermals vollkommen ausgetrockneten glasierten Geschirre kommen
nun in den Brennofen. Das eigentümlichste dabei ist, daß die Porzellan—
gef diesen Brennofen nicht geradezu hineingestellt, sondern zuvor in
besondere thönerne Kapseln, die man gewöhnlich Muffeln nennt, eingeschlossen
werden. Hierauf wird die Ofenthür zugemauert und der Ofen durch die
an den Seiten angebrachten Feuerungsräume mit hartem Holze bis zur
Weißglühhitze erhitzt. Durch im Ofen angebrachte Löcher kann man an
offen hingestellten Probestücken sehen, ob der Brand vollendet ist. Man
läßt dann das Feuer abgehen und den Ofen vier Tage lang verglühen,
ehe man die zugemauerte Thüröffnung aufbricht und die gebrannten und
weißglasierten Gegenstände aus den Kapseln wieder herausnimmt. Die
weißen sind hiermit zum Verkaufe fertig; bei den bunten und gut ver—
gold⸗n ( genständen aber werden nun erst auf die Glasur die mit Glas—
fluß versten, zerstoßenen, ganz fein geriebenen und mit Ol aufgetragenen
Farben — natürlich sämtlich mineralische Farben — aufgetragen, worauf
die gemalten Gegenstände nochmals in Kapseln eingeschlossen und einer
Rotglühhitze ausgesetzt werden. Die guten Metallvergoldungen kommen
dann matt aus dem Ofen und müssen mit einem Poliersteine erst blank
peljert werden. Die gewöhnliche leichte Vergoldung aber, die sich nament—
138 ans dem weißen Meißener Porzellan häufig findet, ist noch ein Geheim—
ms; das Gold kommt blank aus dem Ofen, nutzt sich aber beim Gebrauche
schnell ad. Hierauf bedarf es nur noch einer Aussortierung der gezogenen,
fleckigen, sprüngigen Gegenstände, welche als Ausschuß in Sachsen auf den
in den Städten jährlich abwechselnd gehaltenen Auktionen verkauft werden.
Die für gut befundenen Stücke gehen in die Niederlage ab, oder werden
verpackt nach allen Weltgegenden abgesendet. In neuester Zeit macht man
in Meißen namentlich gute Geschäfte mit den bunten, gemalten, altmodisch
278 169. Der Graphit.
verschnörkelten und verzierten Figuren und Figürchen, Tafelaufsätzen,
Spiegelrahmen und dergleichen, welche vor hundert Jahren Mode waren
und es jetzt wieder geworden sind. Man hat die alten, glücklicherweise
noch nicht zerschlagenen Formen wieder hervorgesucht, seit der Rokokogeschmack
— die Mode aus Ludwigs XIV. Zeit — wieder aufgekommen ist.
(Jul. Kell.)
169. Der Graphit).
Der Graphit oder das Reißblei ist ein Mineral aus der Klasse
der Metalloide, d. h. der Nichtmetalle, und zwar aus der Gruppe des
Kohlenstoffes. Er ist eisenschwarz, metallglänzend, völlig undurchsichtig,
fühlt sich fettig an, färbt stark ab und gibt auf dem Papier einen grauen
Strich; er ist unschmelzbar und unlöslich in allen gewöhnlichen Lösungs—
mitteln. Er besteht wie der Diamant aus Kohlenstoff, jedoch verunreinigt
mit mineralischen Stoffen. Wichtige Fundorte desselben sind: Ostsibirien,
Ceylon, mehrere Gebiete Nordamerikas, Neuseeland, Spanien, England
(Cumberland), Finnland, Schlesien, Böhmen, Mähren, Bayern.
Früher hat man zu Bleistiften, wozu er in erster Linie verwendet
wird, nur Graphit aus Cumberland genommen; jedoch sind die dortigen
Gruben fast erschöpft. Seit 1827 kam auch Graphit von Ceylon in
den Handel, und jetzt ist die reichste und ergiebigste Fundquelle im Felsen—
gebirge Batougul in Sibirien, wo er in riesigen Lagern und von
vorzüglicher Beschaffenheit vorgefunden wird. Entdeckt wurden diese
Lager 1837 von Alibert, und es hat die Fabrik des Herrn v. Faber
zu Stein bei Nürnberg das ausschließliche Recht der Ausbeute erworben.
Den echten englischen Graphit zersägte man in Blätter, glättete
diese durch Schleifen und zerschnitt sie in Stifte, die dann in Holz
gefaßt wurden. So gewann man die sogenannten englischen Stifte.
Äber der Mangel an brauchbarem Graphit führte zu einer anderen
Fabrikationsweise. Die Abfälle des englischen Graphits, sowie anderer
erdiger und staubförmiger Graphit wurde zermahlen, mit einem Binde⸗
mittel, wie Schwefel, Leim, Gummi ꝛc. vermischt, und aus dieser Masse
fertigte man dann geringere Stifte. Jetzt wird fast durchgängig der
Graphit gemahlen, geschlämmt und ihm als Bindemittel geschlämmter
Thon beigefügt. Hierauf werden durch besondere Vorrichtungen Stäbchen
geformt, die dann, je nachdem man härtere oder weichere Stifte gewinnen
will, stärker oder schwächer geglüht werden. Die Härte der Stifte hängt
übrigens auch noch vom Verhältnis zwischen Graphit und Thon ab. Ge—
faßt werden die Stifte größtenteils mit dem Holze der virginianischen
1) Vom gr. graphein schreiben.
170. Das Eisen. 270
Zeder aus Amerika, die man bereits mit Erfolg auch bei uns zu kulti—
vieren unternommen hat. Geringere Bleistifte faßt man in west—
indisches Zedern- oder Zuckerkistenholz, und die geringsten in unser ein—
heimisches Pappel⸗, Erlen- oder Ahornholz.
Außer zu Bleistiften verwendet man den Graphit auch zu Schmelz—
tigeln, die in besonderer Güte zu Hafnerzell bei Passau aus Graphit
vom bayerischen Walde fabriziert werden. Auch Sandschalen, Ofenplatten,
feuerfeste Ziegel werden daraus verfertigt. Mit Ol gibt der Graphit
auch eine dauerhafte Anstreichfarbe auf Holz und Stein, mit Wasser
auf gebrannte Thonwaren, besonders Ofen, um diesen das Ansehen von
Gußeisen zu geben. Gußeiserne Ofen werden, um sie vor Rost zu be—
wahren, mit Graphit überzogen, der abgerieben ihnen einen schönen
Glanz gibt; auch zum Bronzieren von Gipsfiguren wird der Graphit
verwendet. Mach Meyers Convers.Lerit.)
170. Das Eisen.
Das Eisen ist das wertvollste, das unentbehrlichste aller Metalle. Hart
und elastisch, ausdehnbar und zähe, mit der herrlichen Eigenschaft, sich in
der Weißglühhitze zusammenschweißen und durch den Hammer in alle mög—
lichen Formen bringen zu lassen, kommt kein anderes Produkt des Mineral—
reiches an Manchfaltigkeit und Wichtigkeit der Anwendung ihm gleich.
Es dient allen Zwecken der Zerstörung und der Erhaltung, allen Bedürf—
nissen der Wissenschaft und des Erwerbes, es ist die verkörperte Macht, das
Symbol des Fortschritts, der Hebel, der die moderne Welt in Bewegung setzt.
Die allgütige Natur, die dem Menschen diesen herrlichen Stoff verlieh,
ohne welchen er sich nie zu einer höheren Kultur hätte entfalten können,
hat an für dessen allgemeine Verbreitung gesorgt und ihn in größerem
aus irgend ein anderes der brauchbaren Metalle erzeugt. Es gibt
nux wene Mineralkörper oder Gesteine, die kein Eisen enthielten, fast keine
Que e nicht wenigstens etwas davon aufgelöst hätte. Hier bildet es
m Titöcke, dort erstreckt es sich in unabsehbaren Lagern, aber nur
höchen, en kommt es im gediegenen Zustande vor, sondern fast immer mit
Magnete senstein, Kieselerde, Thon und noch vielen anderen Stoffen ver—
bunden, 5 daß es einer sehr vervollkommten Technik bedarf, ehe das
rebellische Metall sich dem Dienste des Menschen fügt.
In Norwegen und Schweden kommt dieses treffliche Erz in mächtigen
Stöcken vor, die zwar manchmal wegen des Mangels an Brennmaterial und
der Schwierigkeit des Transportes unbenutzt bleiben, zum Teil aber schon
seit Jahrhunderten in schwunghaften Betriebe ausgebeutet werden und ein
Eisen von unvergleichlicher Güte liefern9).
M Vgl. Nr. 128.
280 170. Das Eisen.
Zu den merkwürdigsten Eisenablagerungen der Erde gehört ferner der
berühmte Magnetberg Wissokaja Gora in den vereinigten Staaten
von Nordamerika. Er erhebt sich mitten aus einer Ebene und besteht dem
größten Teile nach aus reinem Magneteisenerz, nur nach den Seiten und
gegen die Oberfläche zu mengt sich demselben Brauneisenerz bei, das zuletzt
ganz rein erscheint Dieses Erz muß wegen der Festigkeit größtenteils mit
Pulver gesprengt werden. Seit 1812 hat man in der Nähe des mächtigen
Eisenstocks die schönsten Kupfererze entdeckt und in neuerer Zeit auch reiche
Gold- und Platinastreifen daselbst aufgefunden.
Eine noch mächtigere, aber bis jetzt noch wenig benutzte Magnet—
eisensteinlagerstätte findet sich in Mexiko). Erst seit 30 Jahren ist ein
unbedeutender Anfang gemacht worden, diesen reichhaltigen Berg auszubeuten;
doch die trostlose Verkommenheit des Landes beschränkt noch immer den Be—
lrieb auf eine einzige Hütte, und der Mexikaner, im Besitze eines unermeß—
lichen Lagers, bezieht fast seinen ganzen Bedarf an Eisen aus der Fremde.
die bedeutendsite Eisenglanzlagerstätte (EEisenoxyd mit 70 Eisen)
wird ant der Insel Elba angetroffen, die seit Jahrtausenden und heute noch
sämtliche Küstenländer von Genua bis Neapel mit Erzen versorgt, während
auf Elba selbst kein Eisen bereitet wird, weil es an Brennmaterial fehlt.
Dagegen wird der Transport der Erze durch die geringe Entfernung vom
Einschiffungsplatze sehr erleichtert. Die Ausfuhr belief sich vor 20 Jahren
auf 380000 Zentner und ist seitdem noch bedeutend gestiegen.
So mächtig die Erzlager auf Elba auch sind, so stehen sie doch weit
zurück gegen die erst entdeckten Eisenglanzablagerungen am Lake Superior?)
in Amerika. Früher war die Gegend eine völlige Wildnis, wo der rohe
Indianer den Tieren des Waldes nachspürte, nicht ahnend, daß die im Boden
seiner Heimat verborgenen Schätze noch dazu dienen würden, ihn aus den
Jagdgründen seiner Väter zu vertreiben.
Dder dem Eisenglanz sich nähernde Roteisenstein liefert einen großen
Teil des deutschen Eisens und wird namentlich an der Lahn in be—
deutenden Massen gewonnen; das vorzüglichste Eisenerz Deutschlands ist
jedoch der Spateisen- oder Stahlstein, der, wie sein Name andeutet,
sich besonders zur Stahlbereitung eignet und den berühmten westfälischen
und steierischen Stahl liefert. In einem Paß der steierischen Alpen
zwischen dem oberen Mur- und dem oberen Ennsthale liegt eine der
interessantesten Spateisensteinablagerungen der Welt, der berühmte, über
800 m hohe Erzberg, dessen Kuppe und Abhänge fast überall ein dichter
Eisenmantel einschließt und in dessen Kern gewaltige Gänge des reich—
haltigen Erzes sich tief versenken. Die Bebauung dieses Berges reicht über
tausend Jahre hinaus, und es ist sogar wahrscheinlich, daß die Römer ihn
schon kannten, da überall in den dortigen Alpenthälern ihre Kolonien ver—
streut waren, und das Eisen hier nicht im Innern der Erde verborgen liegt,
V spr. mechiko. ?) Der obere See—
170. Das Eisen. 91
sondern zu Tage ausgeht und zwar in der Nähe eines Gebirgspasses, den
sie ohne Zweifel benutzten. Das auf diese Weise, man könnte sagen am
Wege aufgestapelte Eisen läßt sich auf eine sehr einfache Weise wie bei einem
Steinbruche gewinnen. Dadurch sind große Höhlen oder mächtige, weit—
läufige Grotten entstanden, die man Tagbaue nennt, und deren es über 50 an
dem Berge herum gibt. Da, wo das Erz in mächtigen Gängen in den Kern
des Berges hineinsetzt, hat man es auch hier und da mit Stollenausgrabungen
verfolgt. — Das in den Hochöfen geschmolzene Erz liefert jährlich an
360000 Zentner Roheisen.
Bedenkt man, wie uralt der Betrieb des Eisenberges ist, und wie trotz
einer jührlichen Gewinnung von mindestens einer Million Zentner Erz doch
nur erst der kleinere Teil des Mantels abgelöst wurde, so muß man über die
Größe des Schatzes staunen, den die allgütige Natur hier niedergelegt hat.
Die Eisengruben Großbritanniens zeichnen sich weder durch malerische
Schönheit, wie der steierische Eisenberg, noch durch wilde Großartigkeit, wie
die Riesengrube von Dannemora, noch durch den auf kleinem Raum zusammen—
gedrängten Reichtum des Magnetberges oder der altberühmten Minen von
Rio auf Elba aus, auch liefern sie größtenteils unreine Erze von geringerem
Gehalt; doch alle diese Schattenseiten werden durch so viele glänzende Vorteile
aufgewogen, daß Großbritannien nicht nur an der Spitze der Eisenproduktion
steht, sondern allein weit mehr Eisen erzeugt als die ganze übrige Erde zu—
sammengenommen. Es liegen nämlich die Erze in Gegenden (Süd-Wales)),
Süd⸗Staffordshire?), West⸗Schottland), die zugleich auch einen großen Stein—
kohlenreichtum besitzen; oft sogar werden beide Mineralien aus demselben
Schachte zu Tage gefördert. Die Nähe des Meeres, der Flüsse und Kanäle,
sowie der Eisenbahnen sichern den wohlfeilsten Transport nach allen Welt—
gegenden hin, und alle zur Erzeugung des Roheisens und zu seiner ferneren
Bearbeitung notwendigen Anstalten und Werke sind auf das großartigste und
vollkommenste angelegt. Daher kommt es, daß England und Schottland, wenn
auch nicht das beste, doch das wohlfeilste Eisen liefern können. Im Jahre
1836 hatte die Eisenproduktion Großbritanniens bereits eine Höhe von
124871 Tonnen erreicht; im Jahre 1857 schon 3636000 Tonnen Roheisen,
deren Art sich auf 142 Millionen Pfund oder 300 Millionen Mark belief.
Die Eisenhütte von Dowlais in Süd-Wales ist die größte der Welt; es
werden täglich über 5200 Menschen beschäftigt, deren Wohnhäuser rings herum
eine kleine Stadt bilden und deren wöchentliche Löhnung gegen 4000 Pfund
Sterling betragen soll. Die in Gartsherrie in Schottland liefert jährlich
über 112000 Tonnen Roheisen, das meistenteils ins Ausland versendet wird.
Auch mehrere Staaten in Amerika, namentlich Pennsylvanien und
New-York?) sind mit den verschiedenartigsten und reichsten Eisenerzen ge—
segnet, aber die Produktion reicht noch nicht hin, um den ungeheuren Bedarf
des Landes zu decken. Ferner liefern Eisen Frankreich und Belgien
) spr. uũls. stäffördschir. 9) njujork.
170. Das Eisen.
und in Deutschland namentlich Preußen; zwar ist die Eisenproduktion
noch nicht so riesig wie in England, aber gegen die früheren Jahre hat sich
dieselbe schon sehr vervielfacht. Georg Hartwig.)
Ergänzungen. 1J. Die gesamte Roheisenproduktion der Erde rechnet
man jährlich auf 250 Millionen Zentner im Werte von 21/2 Milliarden Mark. Die
Verarbeitung des Eisens veranschaulicht uns recht einleuchtend, wie durch Arbeit der
Wert der Rohprodukte gesteigert, also durch Arbeit neuer Wert erzeugt wird. So gilt
1 Zentner Roheisen 45-65 Mark, Gußware 9—12 Mark, Stabeisen eirca 10 Mark,
Blech 12 Mark, Draht 13 Mark, Gußstahl 27 Mark, Messerklingen 100—2000 Mark,
feinste Uhrfedern bis zu 6 Millionen Mark. Da 1 Zentner Gold ungefähr 144000 Mark
gilt, so übersteigt 1 Zentner Eisen diesen Wert unter Umständen um das 400 fache.
Das spezifische Gewicht des Eisens ist 6,7; Roheisen schmilzt bei 1000 12000 0,
Stabeisen bei 16000, Stahl bei 1300— 14000.
II. Reines, d. i. von anderen Stoffen ganz freies Eisen findet wegen
seiner Weichheit, geringen Widerstandsfähigkeit und Strengflüssigkeit in der Technik
keine Anwendung. Es erhält aber namentlich durch Aufnahme von Kohlenstoff
jene Eigenschaften, die seine Verwendbarkeit bedingen. Nach der Größe des Kohlenstoff—
gehaltes unterscheidet man Roheisen, Stabeisen und Stahl. Roheisen enthält
260/ Kohlenstoff, ist am leichtesten schmelzbar, dagegen nicht hümmer- und nicht schweiß⸗
bar. Das Stabeisen hat den niedrigsten Kohlenstoffgehalt D,1-0,50), ist in den ge—
wöhnlichen Feuern unschmelzbar, dagegen gut hämmer- und schweißbar. Im glühenden
Zustande mit Wasser abgelöscht, nimmt es keine Härte an, sondern behält seine Ge—
schmeidigkeit bei. Der Stahl enthält 0,6—1,50 Kohlenstoff, ist schmiede- und schweißbar,
doch schwerer schmelzbar als Roheisen; im glühenden Zustande in Wasser abgelöscht, nimmt
er eine bedeutende Härte an, durch welche er sich besonders zu Messern, Waffen ꝛc eignet.
Eine hervorragende Verwendung hat der Stahl in unserer Zeit zu Stahlfedern
gefunden, durch welche die Kielfedern fast verdrängt wurden. Die Stahlfederproduktion
hat ihren Ursprung und ihren Hauptsitz in Birmingham!), das wöchentlich 15 Millionen
Stahlfedern liefert. Die Anfänge dieses Fabrikationszweiges fallen ins Jahr 1803;
die Verbreitung der Stahlfedern begann erst gegen 1825. In Deutschland wurde die
erste und bis jetzt einzige Stahlfederfabrik 1836 in Berlin errichtet. Sie liefert wöchent⸗
lich 1/2 Mill. Stück Federn. In neuester Zeit wird der Stahl (Gußstahl) auch zu
Kanonen und Glocken verwendet.
III. Eisenpräparate. Von den aus Eisen gewonnenen Präparaten sind her—
vorzuheben:
1. Der Eisenvitriol (grüner Vitriol, Kupferwasser), der außer Eisen Sauerstoff
und Wasserstoff enthält. Er hat einen zusammenziehenden, tintenartigen Geschmack,
verwittert an der Luft leicht, wobei er sich mit einem gelben Pulver überzieht, in das
er schließlich ganz zerfüllt. Er findet hauptsächlich Anwendung als Desinfektions—
mittel, in der Färberei zum Schwarz- und Blaufärben, zur Tintenbereitung, zum Füällen
des Goldes aus seinen Legierungen, zur Fabrikation von Berlinerblau und rauchender
Schwefelsäure. (S. Nr. 113).
2. Eisenmennige, die aus Eisenoxyd und Thon besteht und zum Anstreichen
den Vorzug vor Bleimennige verdient.
3. Das gelbe Blutlaugensalz, das in technischer Beziehung überaus wichtig
ist, denn es dient zur Herstellung des roten Blutlaugensalzes, des Cyankaliums, zur
) spr. börmingäm.
89
171. Kupfer, Zinn, Zink und Nickel und deren technische Verwendung. 283
Färberei (Blau- und Braunrotfarbe) zur oberflächlichen Umwandlung des Eisens in
Stahl (Einsatzhärtung), dann zum Spreng- und weißen Schießpulver.
4. Verschiedene Sorten von Berlinerblau, das seine hauptsächlichste Verwendung
in der Wollen- und Baumwollenfärberei findet.
171. Kupfer, Zinn, Zink und Nickel und deren technische Ver-
wendung.
1. Nächst dem Eisen ist Kupfer dasjenige Metall, welches am häufigsten
und vielseitigsten verwendet wird; bekannt und nutzbar gemacht war es aber
lange vor dem Eisen, und schon die Bibel des alten Testaments spricht von
kupfernen Geräten. Es ist auch eines der häufigst vorkommenden Metalle
und findet sich nicht selten gediegen, meist aber mit andern Stoffen ver—
bunden (vererzt). Die wichtigsten Kupfererze sind: Rotkupfererz Kupfer—
oxydul, eine Verbindung von Kupfer und Sauerstoff) Malachit (der außer
Kupfer und Sauerstoff aüch Kohlen- und Wasserstoff enthält), und Kupfer—
kies (der auch Schwefel und Eisen enthält). Reich an Kupfer sind: Eng—
land, Nordamerika, Chile und Peru, Rußland, das deutsche Reich. In
Bayern findet sich Kupfer in der Pfalz, in Unterfranken und in der Ober—
pfalz. Doch ist die Ausbeute nur gering. Die Gesamtkupferproduktion der
Erde veranschlagt man auf 192 Millionen Zentner jährlich.
Das Kupfer hat eine schöne rote Farbe und im frischen Zustande einen
hellen Glanz, den es aber an der Luft bald verliert. Es ist sehr geschmeidig
und läßt sich deshalb zu den feinsten Drähten ziehen und zu dünnen Blättchen
schlagen. Dabei ist es doch ziemlich hart. Sein spezifisches Gewicht ist
8,568.9, je nachdem es geschmolzen oder gehämmert ist. Es schmilzt bei
100 14000.
Man verwendet das Kupfer für sich allein zu Kupferplatten, mit denen man
Dächer deckt, besonders aber Seeschiffe beschlägt, zu Siedepfannen und Kesseln, Kühl—
apparaten, zu Münzen, zu Platten für den Kupferstich, zu Draht, zur Fabrikation des
Kupfervitriols und der Kupferfarben. Zu Gußwaren eignet es sich unvermischt nicht,
da es nur porösen und glasigen Guß liefert. Aber das vorzüglichste Gußmaterial
erhült man in den zahlreichen Legierungen des Kupfers mit Zinn, Zink, Nickel ꝛc.
Bevor wir auf diese eingehen, wollen wir erst die genannten Metalle selbst kennen
lernen.
2. Das Zinn findet sich nicht gediegen, sondern nur oxydiert, als Zinn—
stein (S Sauerstoff und Zinn) und Zinnkies (S Zinn, Kupfer, Eisen,
Zink und Schwefel). Das Zinn gleicht an Farbe dem Silber: es ist glünzend
weiß. Seinen Glanz behält es an der Luft ziemlich lange. Es ist sehr
weich, läßt sich mit dem Messer schneiden und zu dünnen Blättchen (Stanniol)
auswalzen; seine Dehnbarkeit aber ist gering. Sein spezifisches Gewicht
ist 7,28— 7,29 und es schmilzt schon bei 23000. Bei starker Weißglühhitze
beginnt es zu sieden und sich langsam zu verflüchtigen. Durch fortgesetztes
Schmelzen verwandelt sich das Zinn vollständig in gelblichweiße Zinnasche
(Zinnoxyd).
284 171. Kupfer, Zinn, Zink und Nickel und deren technische Verwendung.
Glanz und Festigkeit beim Zinnguß hängen von der Temperatur des geschmolzenen
Zinns beim Einguß ab. War es zu stark erhitzt, in welchem Fall es an seiner Ober—
fläche Regenbogenfarben zeigte, so erscheint es auch nach dem Erkalten auf der Oberfläche
gestreift und rotbrüchig; war es dagegen zu wenig erhitzt, was sich durch mattes Ansehen
der Oberfläche zu erkennen gibt, so ist es auch nach dem Erkalten matt und kaltbrüchig.
Wenn die entblößte Oberfläche des geschmolzenenen Zinns aber rein und spiegelklar
erscheint, dann hat es auch nach dem Erstarren den schönsten Glanz und die meiste
Festigkeit. Das reine Zinn wird vorzugsweise zu Stanniol (Zinnfolie) geschlagen, von
dem die stärkere Sorte zum Belegen von Spiegelplatten, die dünnere zum Aussüttern
von Büchsen, Kisten, zum Einwickeln von Chokolade, Seife, Käse ꝛc. verwendet wird
Auch die Champagnerflaschen, die Gläser mit eingemachten Früchten ꝛc. werden am Kork
mit Kapseln aus Zinnfolie überzogen. Sodann dient das Zinn zum Verzinnen eiserner
und besonders kupferner und messingener Kochgeschirre und des Eisenblechs, das dann
Weißblech heißt.
Zu den zinnernen Gefüßen, Orgelpfeifen ꝛc. wird kein reines Zinn verwendet,
sondern diesem Blei zugesetzt, wodurch merkwürdiger Weise, obwohl das Blei viel weicher
ist als Zinn, ein härteres Metall gewonnen wird, wenn der Zinngehalt nicht unter
600 beträgt. In den meisten Ländern ist festgesetzt, bis zu welchem Maße Blei mit
Zinn legiert werden darf. Das englische Probezinn enthält 6 Zinn und 1 Blei, das
preußische 4 Zinn und 1 Blei; in Frankreich ist für zinnerne Geschirre ein Zinngehalt
von mindestens 829, vorgeschrieben. Das Zusammenlöten verschiedener Metallstücke
geschieht durch eine Legierung von Zinn und Blei. Das Schnellot der Spengler
besteht aus 1 Zinn und 1 Blei oder 2 Zinn und 1Blei. Beide Legierungen schmelzen
schon unter 1900. Soll Metall gelötet werden, das einen höheren Hitzegrad auszuhalten
hat, so muß man eine Legierung von Kupfer und Zinn (oder Zink), das Hartlot,
verwenden.
Das Zink kommt nur vererzt vor, besonders in Galmei S Zink,
Kohlen- und Sauerstoff). Es ist bläulichweiß und bei gewöhnlicher Tem—
peratur spröde, daß es unter dem Hammer in Stücke springt. Sein
spezifisujes Gewicht ist 7,0. Bei ca. 1000 wird es dehnbar und läßt sich
schmieden und walzen. An der Luft oxydiert es zwar auch, aber nur an der
Oberfläche. Das an dieser entstandene Häutchen schützt das Zink vor weiteren
Angriffen durch den Sauerstoff. Darum ist das Zink besonders zu Dach—
platten, Badewannen, Wasserleitungsröhren ꝛc. verwendbar.
A4. In neuester Zeit wird auch ein bisher wenig beachtetes Metall oft
genannt: das Nickelmetall. Es kommt hauptsächlich vor im Nickelglanz Nickel,
Arsen und Schwefel) und im Kupfernickel (Nickel und Arsen). Die gesamte
jährliche Nickelausbeute beträgt gegen 20000 Zentner, wovon auf das deutsche
Reich die Hälfte trifft. Es ist weiß, hart, läßt sich schmieden und walzen
und in Drähten ausziehen, aber schwer schmelzen. Es wird wie das Eisen
leicht vom Magnet angezogen und selbst magnetisch. Sein spezifisches Ge—
wicht ist 8s,8—9,2.
Es wird statt des Kupfers oder Silbers für Scheidemünzen benützt und zwar in
Nordamerika, der Schweiz, Belgien und Deutschland.
Nickel leistet der Luft und dem Wasser fast gleichen Widerstand wie Gold; darum
kann man Nickellegierungen zu Tisch- und Küchengeräten, Beschlägen, Knöpfen und
selbst zu Schmucksachen verwenden.
171. Kupfer, Zinn, Zink und Nickel und deren technische Verwendung. 285
Von Wichtigkeit ist auch eine Legierung desselben mit Kupfer und Zink geworden
das Argentan oder Neusilber, auch Weißkupfer.
Das im Handel vorkommende Chinasilber, aus dem man Kannen, Theeservice,
Löffel ꝛc. fertigt, ist galvanisch versilbertes Neusilber, welches etwa u seines Gewichtes
Silber enthült. Dem Chinasilber ähnlich ist das sogenannte Christoflemetall (Alpaka)
und noch manche andere derartige Legierung.
Mesonders wichtig sind die Legierungen des Kupfers. Schon im
hohen Ntertum kannte man die Bronze, welche aus Kupfer, Zinn und Zink
hergestellt wurde, und man hat selbst ein ganzes Zeitalter nach derselben
benannt. Wo im Altertum von ehernen Waffen, Rüstungen, Thoren ꝛc die
Rede ist, hat man immer Bronze darunter zu verstehen.
Man stellt auch heute noch Bronze zu verschiedenen Zwecken und in
verschiedenen Mischungsverhältnissen her. Für Statuen verwendet man eine
Legierung von 73 Kupfer, 9 Zinn und 18 Zink; für Bronze zu Medaillen ꝛc.
95 Kupfer, 45 Zink und 0,5 Zinn. Man kann auch Kupfer bis zu 97
nehmen, was man besonders dann thut, wenn man einen braunroten überzug
erzielen will, den man aber auch auf künstlichem Wege durch Erhitzen und
rasches Abkühlen mit Wasser zustande bringt.
In neuester Zeit fertigt man auch Phosphorbronze (90 Kupfer,
9 Zinn, 0,5 — 0,75 Phosphor), die namentlich zu Kunstbronze sehr tauglich
ist. Unter anderen Vorzügen hat dieselbe den, daß sie sehr dünnflüßig ist
und die Formen in ihren feinsten Einzelheiten vollständig ausfüllt.
Eine andere gierung ist das Kanonenmetall (Stückgut) zu 90 Kupfer
und 10 Zinn; dann das Glockengut (Glockenspeise) zu 78 Kupfer und 22 Zinn.
Durch diese Legierungen wird ein schöner Guß, eine außerordentliche
Härte und ein Jeller Metallklang erzielt. Eine allgemein bekannte Legierung
ist Messing. — 72 Kupfer, 30— 28 Zink. Ein geringerer Zinkgehalt gibt
der Legierung eine dunklere, rötlichere, ein höherer eine hellere, gelbere
Färbung. Das Messing ist nicht nur billiger als Kupfer, sondern es hat
viele Vorzüge vor diesem: es ist dünnflüssiger, wird beim Erstarren nicht
hlasig, besitzt größere Härte und Steifheit, oxydiert nicht so leicht und hat
eine angenehmere Farbe. Ein Zusatz von 15-2956 Blei macht Messing zur
Bearbeitung auf dor Drehbank geeignet.
Tomboe er Rotmessing besteht aus 85 Kupfer, 14,5 Zink und
0,5 Zinn. Das almigold enthält 864 Kupfer, 12,2 Zink, 1,1 Zinn,
0,3 Eisen. Zur Zabrikation des unechten Blattgoldes (Goldschaums)
dient eine Legierung von 11 Kupfer und 2 Zink, zum unechten Silber—
schaum eine Legierung von Zink und Zinn.
6. Kupfer- und Zinnpräpärate). a) Aus Kupfer erhält man den
Kupfervitriol (schwefelsaures Kupfer, Kupfersulfat), der 32,14 Schwefelsäure,
31,79 Kupferoxyd und 36,07 Wasser enthält, in schönen blauen Säulen
krystallisiert und in 1 Teil heißem und 2 Teilen kaltem Wasser löslich ist.
Der Kupfervitriol wird angewandt zum Beizen organischer Stoffe (z. B. des
Holzes, um es gegen Fäulnis und den Schwamni zu sichern, des Getreides vor dem
286 172. Die edlen Metalle und ihre technische Verwertung.
Säen, um das Brandigwerden zu verhüten) zum Verkupfern, zum Färben des Goldes,
zum Schwarzfärben von Tuch und Wollengarn, in der Galvanoplastik, sodann besonders
zur Bereitung verschiedener Farben. Die wichtigsten derselben sind: 1. Das Schwein—
furter Grün, die schönste und beliebteste, aber auch die gefährlichste aller Kupfer—
farben, weil es außer Kupferoxyd auch arsenige Säure enthält. 2. Das Berliner
Blau GBremergrün). Als Wasser- und Leimfarbe ist es schön hellblau; wird es mit
Ol angewendet, so geht das ursprüngliche Blau schon nach 24 Stunden in Grün über.
b) Das Kupferoxyd bildet mit Essigsäure den als starkes Gift bekannten Grün—
span, von dem zwei Sorten in den Handel kommen, der neutrale oder krystallisierte
Grünspan und der basische, teils grüne, teils blaue Grünspan. Beide werden als Ol⸗
und Wasserfarben, zur Bereitung von Schweinfurter Grün, in der Färberei und Zeug—
druckerei und beim Vergolden angewendet.
c) Aus einer Mischung von Zinn, Quecksilber, Schwefel und Salmiak gewinnt man
das Musivgold, welches schön goldgelb oder bräunlichgelb ist und sich zwischen den
Fingern wie Talk anfühlt. Es läßt sich auf der Oberfläche der Körper in den dünnsten
Schichten zerteilen und wird zur unechten Vergoldung auf Holz, Papiermaché, Pappe,
Gips, Messing, Kupfer ꝛc. verwendet, indem man es mit Eiweiß aufträgt oder mit
Lack überzieht.
d) Das Zinnoxyd (. Ziff. 2.) wird mit Phosphor der Glasmasse beigesetzt und
gibt dann das Email (Schmelz). Diese Masse wird, wenn sie zum Schmelzen bereit
ist, fein gepulvert und mit Wasser zu einem Teig geknetet, den man auf Metallflächen
streicht. Durch Erhitzen in einem Ofen schmilzt dann das Email. So sind z. B. die
Zifferblätter unserer Taschenuhren emailliert.
e) Der Töpferglasur wird Zinnoxyd beigesetzt, um sie undurchsichtig und email—
artig zu machen. Den Hauptbestandteil derselben bildet kieselsaures Bleioxyd. Das
Bleiweiß und Zinkweiß sind Anstreichfarben. Das Zinkweiß verdient den Vorzug,
weil es der Einwirkung des Schwefelwasserstoffes, durch welchen Bleiweiß abdunkelt,
Widerstand leistet. Die rote Mennige wird gewonnen, indem Bleioxyd bei Luftzutritt
erhitzt wird, so daß es Sauerstoff aufnimmt, der die gelbe Farbe der Bleioxyds in die
rote der Mennige verwandelt.
172. Die edlen Meltalle und ihre technische Verwerlung.
Nicht mit Unrecht nennt man Gold, Silber und Platina Edel—
metalle; denn sie verbinden sich nur sehr selten mit andern Körpern,
was namentlich von Gold und Platina gilt, die zudem meist gediegen und
nur sclten mit anderen Metallen vermischt vorkommen. Häufiger schon findet
sich das Silber in anderen Mineralien. Dagegen sind sie unter sich gute
Freunde. Wie das meiste Silber goldhaltig ist, so findet sich Gold fast nie
ohne eine Spur von Silber. Weil sich namentlich diese Metalle nicht mit
dem Sauerstoff verbinden (nicht oxydieren), so behalten sie den schönen Metall—
glanz, den andere Metalle, z. B. Kupfer, Zink ꝛc. so leicht verlieren, stets bei
und eignen sich deshalb am besten zu Schmucksachen. Da sie zugleich selten
und deshalb kostbar sind, so hat man sie auch schon frühzeitig zum all—
gemeinen Tauschmittel (zu Münzen) zweckdienlich gefunden.
1. Das Gold kommt meist gediegen vor und zwar verbreitet über die
ganze Erde. In beträchtlicher Menge findet es sich aber selten, am häufigsten
172. Die edlen Metalle und ihre technische Verwertung. 287
in Süd-Australien?), Californien, dann an der afrikanischen Goldküste, in
Peru, Mexiko, im Ural. Stücke von der Größe einer Erbse oder gar einer
Haselnuß sind selten, meistens findet es sich in kleinen Körnern oder als
Staub. Die Gesamtausbeute an Gold auf der Erde ergibt jährlich einen
Wert von 800—900 Mill. Mark, wovon auf Australien allein 330 und auf
Californien 175 Mill., also über die Hälfte des Gesamtertrags treffen.
Das spezifische Gewicht des Goldes ist 195 —126. sein Schmelzpunkt
12000 0. Es ist das geschmeidigste unter allen Metallen; darum läßt es
sich sehr gut verarbeiten, zu außerordentlich dünnen Blättchen schlagen und
den feinsten Drähten ausziehen. Weil es aber wegen seiner Weichheit sich
zu bald abnützen würde, so wird es rein nur zum feinsten Blattgold und
zum Malen von Glas und Porzellan verwendet, außerdem stets mit Silber
(weiße Karatierung), oder Kupfer (rote Karatierung), oder mit beiden
(gemischte Karatierung) legiert. Solche Legierungen sind leichter schmelzbar
als reines Gold. Da man früher die Kölner Mark (S/Pfd.) in 24 Karat
Gold teilte, so nennt man Gold, welches 18 Teile Gold und 6 Teile Zusatz
hat, 18 karätig u. s. w. In Frankreich verarbeitet man 18—22 karätiges,
in Deutschland 8—18 karätiges Gold; zu leichteren Arbeiten nimmt man
sogar 6 karätiges und hilft dann mit Vergoldung nach. Bei den deutschen
Goldmünzen trifft auf 9 Teile Gold 1 Teil Kupfer.
Auch bei der Geldlegierung hat man an Stelle der Einteilung nach
Karat die nach Zehnteln gesetzt, also 0,9, 0,8, 0,7 ꝛc.
Da alle Goldlegierungen auch nach dem Polieren eine Farbe zeigen,
welche von der des reinen Goldes verschieden ist, so pflegt man sie in einer
Flüssigkeit aus Kochsalz, Salpeter und Salzsäure (S Goldfarbe) zu kochen.
Dabei löst das sich entwickelnde Chlor etwas Gold an der Oberfläche auf,
um es sogleich 93 dünnes Häutchen an derselben wieder abzusetzen, wodurch
dann die reine Goldfarbe entsteht. Durch galvanische Vergoldung
wird derselbe Zweck erreicht.
Diese geschieht auf folgende Weise. Man leitet einen galvanischen Strom durch
eine Goldlösung, aus der sich dann das Gold an der Oberfläche des zu vergoldenden
und zu dem Ende in die Lösung gebrachten Gegenstandes niederschlägt. Diese Gold—
schicht kann in beliebiger Dicke und Farbennüance hervorgebracht werden. Früher war
statt der galvanischen die Feuervergoldung gebräuchlich. Man stellte zuerst ein teig—
förmiges Goldamalgam her (Verbindung von Gold mit Quecksilber), und trug nebst einer
Auflösung von salpetersaurem Quecksilberoxydul dieses Amalgam auf die Oberfläche
auf. Durch Erhitzen verflüchtigte sich das Quecksilber, das Gold aber blieb fest an—
hängend zurück. Die bei dieser Arbeit sich entwickelnden Quecksilberdämpfe sind aber
der Gesundheit sehr nachteilig.
Das Blattgold wird auf folgende Weise hergestellt. Man gießt feines Gold
zuerst zu Stangen (Zainen), schlägt diese zu Platten und letztere zu Blechen aus, welche
dann zuerst zwischen Pergamenfblättern und hierauf zwischen Goldschlägerhäutchen (der
ußeren feinen Haut des Blinddarms vom Rinde) zu Blättchen geschlagen werden. Die
1) Vgl. Nr. 136.
283 172. Die edlen Metalle und ihre technische Verwertung.
Goldblättchen werden in Büchlein von sehr glattem Papier gelegt, das mit Bolus oder
Rötel bestrichen ist, um das Anheften des Goldes zu verhindern. Die bedeutendsten
Goldschlägereien in Deutschland sinden sich in Nürnberg und Fürth.
Das Platin findet sich nur gediegen in Form größerer oder kleinerer
Körpe die freilich nie ganz reines Platin enthalten, sondern vermengt mit
ver iedenen anderen seltenen Metallen: Palladium, Iridium, Rhodium,
Ienium und Osmium, die man ,„Platinbegleiter“ heißt. Es ist fast
silberweiß, ins Stahlgraue spielend, sehr glänzend, hämmer- und streckbar,
so daß es sich zu feinen Blättern schlagen und zu mikroskopischen Drähten
ausziehen läßt. Sein spezifisches Gewicht ist 123 sein Schmelzpunkt
ca. 20000 O, und es kann nur durch das Knallgasgebläse und den elek—
trischen Funken geschmolzen werden. Man benutzt das Platin zu chemischen
und technischen Apparaten, die hohe Temperatur auszuhalten haben und
den Angriffen von Säuren ausgesetzt sind, auch zu Lötrohr- und Blitzab—
leiterspitzen, zu Uhrketten, Schmucksachen, zum überziehen von Kupfer—
schalen, Porzellan, Steingut und Glas, endlich in der Porzellanmalerei zur
Erzielung eines grauen Tones. Das Platin schmilzt leicht mit den meisten
Metallen zusammen. Legiert man es mit Iridium, so widersteht es dem
Feuer noch besser und wird selbst vom Königswass er) fast nicht an—
gegriffen.
Das Silber findet sich viel häufiger als das Gold, oft gediegen
und großen Stücken, meistens aber vererzt als Silberglanz, Blei—
glan Silberkunserglan;. ornsilberꝛc. Am meisten Silber wird
in den vereinigten Staaten von Nordamerika, in Australien und Californien,
dann in Peru und Mexiko gewonnen; auch Deutschland, besonders das
sächsische Erzgebit und der Harz liefern viel Silber. Das Gesamterzeugnis
Europas wird jährlich auf 6000 Zentner veranschlagt, wovon auf Deutschland
über die Hälfte (3100 Zentner) kommt. Die jährliche Silberproduktion der
Erde wertet man auf 200 Mill. Mark. Silber ist das weißeste aller
Metalle und steht an Härte zwischen Kupfer und Zinn. Sein spezifisches
Gewicht ist 10,5; es schmilzt bei 10400 0.
Fs i sehr geschmeidig und läßt sich wie das Gold zu sehr dünnen
Blättchen und Drähten ausziehen. Ebenso wird es mit Kupfer legiert. Da
man für das Silber die Mark in 16 Lot teilte, so nannte man eine Legie—
rung, welche z. B. 12 Teile Silber enthielt, 12 lötig u. s. w. Jetzt wird
Decimalteilung angenommen. Wenn der Kupfergehalt nicht übersteigt,
ist die Legierung immer noch glänzend weiß; bei größerem Zusatz wird sie
gelblich. Die Legierungen des Silbers mit Gold sind härter und klingender
als reines Silber. In den meisten Ländern bestehen Vorschriften über den
i) Königswasser (Salpetersalzsäure) ist eine Mischung von 1 Teil Sal⸗
petersäure mit 2 4 Teilen Salzsäure, eine dunkel-⸗ oder rotgelbe Flüssigkeit, welche schon
sehr frühe zum Auflösen des Goldes, des Königs der Metalle, und dessen Scheidung
vom Silber angewendet wurde. (S. Nr. 165 Ergänzungen)
172. Die edlen Metalle und ihre technische Verwertung. 289
Silbergehalt der Legierungen. In Bayern und sterreich muß diese ent—
halten 0,812, in Preußen, Sachsen ꝛc. 0,750, in Frankreich a. 0,950, b. 0, 800,
in England 0,925.
Das Versilbern anderer Metalle geschieht auf ähnliche Weise wie das
Vergolden.
Das jetzt gebräuchliche Schwarzfärben des Silbers, das sogen. Oxidieren und
Galvanisieren, wird entweder durch Schwefel oder durch Chlor bewirkt, ersteres gibt
einen blauschwarzen, letzteres einen braunen Ton.
Auch das bereits den Ägyptern bekannte und im Mittelalter sehr beliebte Niöllieren
kommt wieder sehr in Aufnahme. Darunter versteht man das Auftragen schwarzer
Verzierungen auf Silber und Gold, nun auch auf Kupfer und Bronze. Sie werden
entweder durch eine besondere Masse, das Niöllo, oder auf galvanischem Wege bewirkt.
Das Nisllo besteht aus Silber, Kupfer, Blei und Schwefel. Diese Stoffe werden
wiederholt im Emaillierofen zusammengeschmolzen, dann zerstoßen und das mit Wasser
und Borax befeuchtete Metall, in welches die Zeichnung vorher eingraviert wurde, damit
überdeckt. Über glühenden Kohlen wird dann das Niöllo geschmolzen und nach dem
Erkalten weggeschabt, so daß nur die vertieften Stellen davon bedeckt bleiben. Schließ—
lich wird die Fläche abgeschliffen und poliert.
Galvanoplastisches Niöllo erzeugt man in folgender Weise: Man überzieht die
Metallfläche mit Ätzgrund, graviert die Zeichnungen ein und vertieft dieselben durch
Ähzen. Im galvanoplastischen Apparat füllt dann das niedergeschlagene Kupfer die
Vertiefungen aus. Nun wird der Ätzgrund abgewaschen und die Fläche abgeschliffen
und poliert. Auf diese Weise sind die Ziffern ꝛc. auf metallnen Zifferblättern, die
Zeichnungen auf Uhrgehäusen und Dosen hergestellt.
Wenn man Silber in Salpetersäure auflöst, so erhält man nach dem Eindampfen
und Schmelzen eine feste Masse, den sogen. Höllenstein, der als Ätzmittel in der
Chirurgie dient.
Leitet man über erwärmtes, fein zerteiltes Silber Chlorgas, Jod- oder Brom—
dampf, so erhült man Chlorsilber, Jodsilber oder Bromsfilber, die bei der
Daguerreoötypie und Photographie Anwendung finden.
Man rechnet gewöhnlich auch das Quecksilber noch zu den edlen
Meta en, obwe es in der Hitze dem Sauerstoff nicht widersteht. Es ist
das eir Metu welches bei gewöhnlicher Temperatur in tropfbar-flüssigem
Zustan·e vorkommt: erst bei —39,5 wird es fest und läßt sich dann mit dem
Messey meiden und durch Hämmern ausplatten. Bei —350 fängt es
an zu den und zu verdampfen. Sein spezifisches Gewicht ist 13,6, also
sehr; Ish sinken Eisen, Stein, selbst Blei in demselben nicht unter.
z findet h nur selten gediegen, und zwar als Tröpfchen in porösem
Geste n. Am häufigsten kommt es als Zinnober (Schwefelquecksilber) vor.
Die Esamtausbeute dieses Metalls beträgt jährlich über 90000 Zentner,
wovon Californien allein /s liefert. Spanien (Almaden) liefert 25 000 Ztr.
Osterreich (Idria) an 2500 Ztr.
Das Quecksilber verbindet sich leicht mit mehreren Metallen und bildet mit den—
selben Amalgame, so mit Blei, Zinn, Zink, Wismut, Silber und Gold; schwer ver—
bindet es sich mit Kupfer, gar nicht mit Eisen, Nickel, Platin. Auf seiner Eigenschaft,
sich leicht mit andern Metallen zu verbinden, beruht seine Verwendung zur Scheidung
Marschall, Lesebuch für gewerbl. Fortbildungsschulen. Kl. Ausg.
9
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290 173. Schwefel und Phosphor und ihre technische Verwendung.
jener Metalle. Ferner benutzt man vorzugsweise Amalgame zu Spiegelbelegen
und zur Feuervergoldung. Quecksilber benutzt man zur Herstellung des Zinnobers
und Knallquecksilbers (zu Zündhütchen).
Für die Naturwissenschaft ist das Quecksilber ganz unentbehrlich. Ohne dasselbe
wäre die Wärmelehre und die Lehre vom Luftdruck noch sehr wenig ausgebildet.
Quecksilber und seine Verbindungen sind giftig. Wird Quecksilbersalbe äußerlich
längere Zeit angewendet, so bewirkt sie Vergiftung. Quecksilberdämpfe wirken nicht nur
schädlich, wenn sie eingeatmet werden, sondern auch wenn sie durch die Poren in die
Haut dringen.
Merkenswert sind zwei Verbindungen des Quecksilbers mit Chlor, das Queck—
silberchlorür, das unter dem Namen Kalomel bekannt ist und in der Arznei—
kunde Anwendung findet, dann das Quecksilberchlorid oder Sublim at (Ätzsubli—
mat), das man anwendet, um Pflanzen- und Tierstoffe, z. B. ausgestopfte Tiere, vor
Fäulnis und dem Angriffe der Insekten zu bewahren.
Eine Mischung von Zinn, Wismut und Quecksilber heißt Musivsilber, und
man verwendet es ähnlich zur kalten Versilberung, wie das Musivgold zur Vergoldung.
173. Schwefel und Bhosphor und ihre technische Verwendung.
1. Der Schwefel hat im festen Zustand weder Geschmack noch Geruch, ist
blaßgelb und im Wasser unlöslich. Er kommt rein und in verschiedenen
Verbindungen vor, am häufigsten in vulkanischen Gegenden. Sicilien ver—
sieht fast ganz Europa mit Schwefel. Außerdem liefern noch Schwefel die
Romagna, Kroatien, Polen. Sehr beträchtliche Mengen gewinnt man auch
aus den Schwefelmetallen und gewissen Fabrikationsrückständen.
Schwefel schmilzt bei 1140 0. zu einer gelben Flüssigkeit, wird bei
höherer Temperatur (etwa 2009) dunkler gefärbt und zähflüssig, bei einer
Hitze von 3000 wieder leichtflüssiger und beginnt bei 4480 zu sieden und
sich in Dampf zu verwandeln. Wenn man Schwefel auf 280 erhitzt und
dann durch Eintauchen in kaltes Wasser plötzlich abkühlt, so wird er weich
und plastisch und kann dann wie Wachs geformt und zu Abdrücken benutzt
werden, die dann nach Erkalten des Schwefels hart werden und als
Matrizen) sehr reine Formen geben.
Man benutzt den Schwefel zum Schwefeln des Weines und des Hopfens, zu
Zündhölzern und Schwefelfaden, zum Schießpulver, zur Bereitung von Zinnober, zur
Fabrikation von Ultramarin, zur Gewinnung von schwefliger Säure und Schwefel—
säure. Beim Faulen organischer schwefelhaltiger Körper verbindet sich Schwefel mit
Wasserstoff zu Schwefelwasserstoff. Dieses ist ein farbloses Gas von sehr üblem
Geruche, den man an faulen Eiern wahrnehmen kann. Scwefelwasserstoffgas wirkt
eingeatmet giftig. Luft, die nur 1/00 solches Gas enthält, kann einen Hund töten. Beim
Reinigen von Abtrittgruben, Kloaken ꝛe, die lange verschlossen waren, kann das Schwefel—
wasserstoffgas den Arbeitern gefährlich werden.
1) Matrize (von mater — Mutter) nennt man im allgemeinen jede vertiefte
Form, in die ein erhabener Körper genau paßt, so „Schraubenmutter“ jenen
Gang, durch welchen die Schraube sich bewegt; insbesondere versteht man unter Matrize
in der Schriftgießerei und Galvanoplastik die Form, in die ein Metall ge—
gossen wird, oder in die es sich niederschlägt; in der Münze heißt der Prägestock Matrize.
174. Vom Kohlenstoff. 291
In Wasser löst sich der Schwefelwasserstoff auf, und das Schwefelwasser enthält
ca. 112 0), Schwefelwasserstoff.
Die schweflige Säure bildet sich, wenn Schwefel verbrennt. Sie ist bei
gewöhnlicher Temperatur gasförmig und zeigt einen unangenehmen, stechenden Geruch.
Auf chemischen Wege wird sie hergestellt, indem man Schwefel mit sauerstoffhaltigen
Körpern GBraunstein, Kupferoxyd) in einer Retorte erhitzt Sie dient dazu, Wolle
Seide, Stroh, Schwämme, Strohgeflechte, Darmsaiten ꝛc. die durch Chlor nicht völlig
gebleicht, sondern gelb werden, zu bleichen. Auch wirkt sie zerstörend auf Ungeziefer,
Pilze ꝛc. Daher das Einbrennen der Weinfässer.
Aus der schwefligen Säure kann Schwefelsäure gewonnen werden, wenn
man jener mehr Sauerstoff zuführt.
Die aus der schwefligen Säure gewonnene Schwefelsäure heißt englische
Schwefelsäure. Die in den Handel kommende Schwefelsäure ist ein Hydrat, bestehend
aus wasserfreier Schwefelsäure und Wasser.
Eine andere Art ist die Nordhäuser oder rauchende Schwefelsäure,
die vorzugsweise aus oxydiertem Eisenvitriol gewonnen und deshalb Vitriolöl genannt
wird. Sie ist stärker als die englische Schwefelsäure, weil sie mehr wasserfreie Süure
enthält. Dieselbe entweicht leicht in Gasform und bildet mit dem in der Lust ent⸗
haltenen Wasser weiße Dämpfe, daher „rauchende Schwefelsäure“.
Die Schwefelsäure findet ausgedehnte und mannigfache Anwendung: zur Dar—
stellung vieler Süuren (Salpeter⸗, Salz-, Wein-, Phosphorsäure ꝛc.), zur Bereitung
des Chlors, des Phosphors, des Alauns und Vitriols, zur Scheidung von Gold und
Silber, zum Raffinieren des Petroleums, Paraffins ꝛc., zur Auflösung des Indigo,
zur Desinfektion, zum Beizen des Eisenblechs vor seiner Umwandlung in Weißblech
und zu vielem anderen.
2. Der Bhosphor ist ein ziemlich verbreiteter Stoff. Er findet sich
hauptsächlich in Pflanzen und Tieren, besonders in den Knochen. Der feste
Phosphor ist farblos oder schwach gelblich. Er zeichnet sich durch seine
leichte Verbrennbarkeit aus. Schon bei gewöhnlicher Temperatur verbindet
er sich mit dem Sauerstoff der Luft und muß deshalb unter Wasser auf—
bewahrt werden. Er ist ein heftiges Gift, und 0,125 Gramm sollen hin—
reichend sein, einen Menschen zu töten.
Hauptsächlich wird der Phosphor zu den allbekannten Reibzündhölzchen
verwendet. Es werden demselben aber noch Salpeter und fürbende Stoffe (Smalte,
Eisenrot, Berlinerblau ꝛc) beigesetzt und diese Stoffe durch Leim, Gummisꝛc. ver—
bunden. Bevor die Hölzchen in diese Mischung getaucht werden, erhalten sie erst einen
Überzug von Schwefel.
In neuester Zeit sind die sogenannten schwedischen Zündhölzchen sehr ver—
breitet. Diese enthalten keinen Phosphor, sondern ihre Zündmasse ist aus chlorsaurem
und chromsaurem Kali, Glaspulver und Gummi zusämmengesetzt. Auch sind die
Hölzchen nicht in Schwefel getaucht, sondern in Paraffin getränkt. Sie entzünden
sich aber nicht an beliebigen Flächen, sondern an einer eigens hergestellten Reibfläche,
welche aus Schwefelkies, Schwefelantimon und rotem Phosphor (der nicht giftig ist)
zusammengesetzt wird
174. Vom Kohlensloff.
Der Kohlenstoff ist ein fester Körper ohne Geschmack und Geruch.
Er ist in keiner bekannten Flüssigkeit löslich und so schwer schmelzbar, daß
19*
ꝛ
2 174. Der Kohlenstoff.
es noch nicht gelungen ist, ihn flüssig oder gasförmig darzustellen. Er ver—
bindet sich bei gewöhnlicher Temperatur mit keinem andern Grundstoff und
bleibt im Wasser wie in der Luft unverändert. Man verkohlt deshalb
Pfähle an den Teilen, die in die Erde kommen, damit sie nicht so leicht
faulen. Bei erhöhter Temperatur ändert sich sein Verhalten sehr, und man
verwendet ihn, um anderen Körpern Sauerstoff zu entziehen; namentlich
glüht man Metalloxyde (Erze) mit Kohle, um die Metalle zu gewinnen.
Der Kohlenstoff ist in der Natur sehr verbreitet, namentlich ist er ein
Bestandteil aller organischen Verbindungen; er ist also in allen Pflanzen—
und Tierteilen enthalten.
Werden organische Körper erhitzt, so erleiden sie eine Zersetzung; es
entstehen neue Verbindungen, die dampf- oder gasförmig sind und zum Teil
sich mit dem Sauerstoff verbinden. Ein ähnlicher Vorgang, der aber bei
gewöhnlicher Temperatur besonders in Gegenwart von Wasser und langsam
erfolgt, ist die Verwesung. Bei dieser, wie bei der Verbrennung geht
die Ausscheidung des Kohlenstoffes vor sich. Wird nun die atmosphärische
Luft ganz oder teilweise abgeschlossen, so kann die Verbindung von Kohlen—
stoff und Sauerstoff nicht, oder nur in geringem Maße erfolgen.
Hierauf beruht das Verfahren, aus Holz Kohlen zu gewinnen. Der Meiler ist
durch einen Mantel von Erde von der Luft abgeschlossen, welcher nur durch einzelne
ffnungen soviel Zutritt gelassen wird, um ein langsames Brennen (Glimmen) zu
erhalten. Der Sauerstoff reicht aber nicht hin, um auch die Kohle zu verbrennen.
Die aus organischen Körpern (besonders aus Knochen) abgeschiedene Kohle hat
die Eigenschaft, Gase, Dämpfe, Farbstoffe, übelriechende Substanzen in sich aufzunehmen.
Sie wird deshalb zum Filtrieren gebraucht (Seinewasser zu Paris, Entfuseln des
Branntweins).
Daß der Graphit aus Kohlenstoff besteht, haben wir schon in Nr. 169
kennen gelernt. Auch der Diamant ist nur Kohlenstoff, und man kann
ihn verbrennen, wobei fast kein Rückstand bleibt. Er ist der härteste aller
Körper, ritzt alle anderen, wird aber von keinem geritzt. Deshalb braucht
man ihn zum Glasschneiden.
Der Kohlenstoff verbindet sich mit Sauerstoff zu Kohlenoxyd und Kohlen—
säure. Das Kohlenoxyd bildet sich, wenn Kohle mit blauer Flamme verbrennt.
Es wirkt eingeatmet giftig, verursacht Kopfschmerz, Übelkeit, Ohnmacht und selbst den
Tod. Es ist der Hauptbestandteil des so gefährlichen Kohlendampfes. Die Kohlen—
säure wirkt in größerer Menge eingeatmet tödlich. Sie entwickelt sich u. a. bei der
Gärung des Weines; darum muß man Keller, in denen viel Wein gärt, nur mit
Vorsicht betreten. Man erkennt ihr Vorhandensein an dem allmählichen oder raschen
Erlöschen eines Lichtes. In Flüssigkeiten wirkt sie aber erfrischend und anregend.
Das Brunn- und Quellwasser hat seine Frische nur der Kohlensäure zu verdanken.
Kohlensäurearmes Wasser ist schal. Auch im Bier und besonders im Champagner ist
ein ziemliches Maß von Kohlensäure enthalten
Eine Verbindung des Kohlenstoffes mit Wasserstoff ist das Grubengas, welches
sich bei Fäulnis organischer Stoffe namentlich in Steinkohlenlagern und andern Berg—
Nüber die Rolle der Kohlensäure beim Atmungsprozeß s. Nr. 144
22
175. Drei gasförmige Elemente: Sauerstoff, Stickstoff und Wasserstoff. 293
werken, sodann im Schlamm der Sümpfe bildet. Mit atmosphärischer Luft vermischt,
pildet es die schlagenden Wetter in den Bergwerken.
(Gasbereitung.) Die wichtigste Verbindung des Kohlenstoffes mit Wasserstoff
ist das ölbildende oder Leuchtgas, welches namentlich für Straßenbeleuchtung von
größter Wichtigkeit ist. Es kann gewonnen werden aus Holz, Stein— und Braunkohle,
Torf, Harz, Fett ꝛc, und zwar auf dem Wege der trockenen Destillation,
d. h. durch Erhitzung der betreffenden Materialien in luftdicht verschlossenen Gefäßen.
Man wendet fast ausschließlich Steinkohlen, und zwar sogenannte Backkohlen zur
Gasfabrikation an. Die Backkohle hat einen hohen Gehalt an Wasserstoff, erweicht
sich beim Erhitzen und bläht sich auf. Doch darf sie nicht viel Schwefel enthalten.
Die Kohle wird zunächst zerkleinert und dann in großen Retorten aus Thon, seltener
aus genietetem Eisenblech oder anderen Materialien, erhitzt und zwar bis zur sogenannten
Kirschrotglühhitze. Die gasförmigen Produkte der Destillation steigen durch Röhren in
den Sammler (die Vorlage), in welcher sich zunächst der Teer abscheidet und seit—
wärts in eine Grube abfließt. Das Gas zirkuliert dann in den Röhren, welche unten
in das Wasser eines luftdicht schließenden Behälters eintauchen; aus dieser Vorrichtung
(dem Kondensator) gelangt dann das Gas in die Reinigungsapparate, in welchen
fremde Bestandteile, wie Ammoniak, Kohlensäure, Schwefelwasserstoffgas ꝛc. aufgesogen
werden, gewöhnlich von angefeuchtetem, gelöschtem Kalkpulver. Das gereinigte Gas
fließt in den Gasometer. Es ist dies eine mit Wasser gefüllte Grube, in welche ein
cylindrischer Mantel von Blech eintaucht. Das zwischen der Oberfläche des Wassers
und der des Mantels befindliche Gas wird durch den Druck des Mantels den man
beliebig regulieren kann, gepreßt und durch die Leitungen den Brennern zugeführt.
Der bei der trockenen Deftillation in der Retorte verbleibende Rückstand heißt
Coaks und ist ein vorzügliches Brennmaterial. Von den anderen Nebenprodukten der
Gasfabrikation ist zunächst der Teer hervorzuheben. Manche Stoffe werden weniger
zum Zwecke der Gas- als vielmehr zur Teergewinnung destilliert, z. B. Holz, Torf,
Braunkohle, bituminöser Schiefer), besonders aber Erdöl (Petroleum). Den Teer
selbst verwendet man zum Anstreichen von Schiffen und dem Wasser ausgesetzten
Hölzern, zum Durchtränken der Taue, zu Schmiere, Pech u. dal.
Besonders wichtig ist das aus dem Teer durch chemische Prozesse gewonnene
Benzol und Toluol. Vorzüglich aus Benzol stellt man Anilin her, das in
neuester Zeit zu den verschiedensten Farben verwendet wird: Anilinrot (Fuchsin), Anilin⸗
blau, Anilingrün, Anilinviolett, Anilinbraun, Anilingrau, Anilinschwarz, alle diese
Farben wieder in den verschiedensten Nuaneen.
Auch das Paraffin ist ein Nebenprodukt der trockenen Destillation und wird be—
sonders aus Holz, Torf, Braunkohlen, Erdöl ꝛe. gewonnen. Es ist eine dem Wachs ähn—
liche, farb⸗ geruch- und geschmacklose Masse, härter als Talg, weicher als Wachs, und wird
hauptsüchlich zu Kerzen benutzt. Das weichere Paraffin dient zum Überziehen von Fleisch
und Früchten, um sie vor Fäulnis zu bewahren, als wasserdichte Appretur von Leder,
Geweben, Wäsche, zur Herstellung der sogenannten Wachspuppen, zum Konservieren von
Holz, als Schmiermittel, zum Satinieren und Polieren der Glanzpapiere u. s. w.
175. Drei gasförmige Elemente: Sauerstoff, Stickstoff und Wasserstoff.
1. Vom Sauerstoff.
Wir halsn bereits in Nr. 145 den Sauerstoff als einen Hauptbestand—
teil der atmosphärischen Luft, als notwendige Bedingung des menschlichen
du h. Erdpech (Asphalt) enthaltender Schiefer.
294 175. Drei gasförmige Elemente: Sauerstoff, Stickstoff und Wasserstoff.
Stoffwechsels und als Ursache des Verbrennens und anderer Vorgänge
kennen gelernt. Derselbe findet sich außer in der Luft noch sehr reichlich in
der Natur, freilich nie unverbunden oder unvermischt; so ist er ein wesent—
licher Bestandteil des Wassers, ist in allen Pflanzen- oder Tierkörpern vor—
handen und kommt in fast allen Mineralien vor. Erst auf chemischem
Wege kann er rein gewonnen werden, und zwar leicht und mit geringen
Kosten aus dem chlorsauren Kalii). Er ist ein farbloses Gas, ohne Geruch
und Geschmack. Hat man dieses Gas in einer Flasche und taucht man einen
glimmenden Holzspan hinein, so fängt dieser an, mit lebhafter Flamme zu
brennen. Bringt man einen Eisendraht oder eine Uhrfeder, woran man
einen glimmenden Zunder befestigt hat, in die Flasche und schließt dann diese,
so verbrennt das Eisen unter lebhaftem Funkensprühen. Schwefel brennt
darin mit azurblauer Farbe, Phosphor unter blendendem Glanze. Diese
brennenden Körper verzehren den Sauerstoff in der Flasche, d. h. sie gehen
mit ihm Verbindungen ein. Das Brennen in der atmosphärischen Luft
wird ebenfals nur durch ihren Sauerstoff unterhalten. Deshalb bringt
man an den Ofen wie an den Lampen Vorrichtungen zum Luftzuge an
und führt der Esse durch den Blasebalg, dem Schmelzofen durch ein ent—
sprechendes Gebläse sauerstoffhaltige Luft zu. Im Gegenteil bringt man
die Flamme durch Entziehung der Luft, also durch Zudecken der Gefäße,
durch Erde, Asche, Schnee, Wasser u. dgl. zum Erlöschen.
Setzt man ein bleiernes Gefäß oder eine Zinkplatte der Luft aus, so
verlieren sie ihre glänzende Oberfläche, und es bildet sich allmählich auf
der Oberfläche ein dünnes Häutchen. Das Blei oder Zink hat sich mit dem
Sauerstoff verbunden, und das Häutchen ist Blei- oder Zink-Oxyd; den
Vorgang selbst nennt man Oxydation. Manche Körper oxydieren schon
bei gewöhnlicher Temperatur, andere, z. B. Schwefel, Kohle ꝛc., müssen
erst auf einen gewissen Grad erhitzt werden, wenn sie sich mit Sauerstoff
verbinden sollen. Die Oxyde können fest, flüssig und gasförmig sein, und
sie gehen unter sich wieder Verbindungen ein.
2. Vom Stickstoff.
Ein anderer Hauptbestandteil der Luft, von dem 4 Raumteile auf
1 Raumteil Sauerstoff kommen, ist der Stickstoff. Derselbe läßt sich am
leichtesten aus der Luft gewinnen. Auch er ist ein farbloses Gas ohne
Geruch und Geschmack. So notwendig der Stickstoff in seiner Vermischung
mit Sauerstoff für den Atmungsprozeß ist, obwohl er bei diesem eine
passive Rolle spielt und nur zur Verdünnung des Sauerstoffs dient, so
schädlich wäre er, wenn man ihn allein atmete. Er würde absolut tödlich
wirken, daher auch seine Benennung. Dagegen ist er als Nahrungsmittel
für den tierischen Körper unentbehrlich, und auch in den meisten Nahrungs—
mitteln, mithin auch im tierischen und menschlichen Körper enthalten.
— — 2
) Das Verfahren wird hier nicht dargelegt, weil es auf anschaulichem Wege vor—
zuführen ist.
175. Drei gasförmige Elemente: Sauerstoff, Stickstoff und Wasserstoff. 295
Mit dem Sauerstoff verbindet er sich in verschiedenen Verhältnissen.
Die wichtigste dieser Verbindungen ist die Salpete rsäure. Aus Stickstoff
und Sauerstoff erhält man Salpetersäure, wenn man einen elektrischen Funken
durch das Gemisch leitet. Deshalb bildet sich auch solche Säure in der
Atmosphäre bei jedem Blitzschlag.
Die Salpetersäure findet Anwendung bei der Fabrikation der Schwefelsäure;
sie dient zum Reinigen der Metalle, zum Ausscheiden von Gold und Silber (daher
Scheidewasser), zur Bereitung von Knallquecksilber (zu Zündhütchen), zum Atzen in
Stahl, Kupfer und Stein, zum Gelbbeizen von Wolle, Seide, Holz, Horn u. ogl.
Auch zur Herstellung der Schießbaumwolle wird Salpetersäure oder eine Mischung
von Salpetersäure und Schwefelsäure benützt. Eine Verbindung von 1 Stickstoff mit
3z Wasserstoff heißt Ammoniak, das bei gewöhnlicher Temperatur ein farbloses Gas
mit stechendem Geruch ist. Es bildet sich bei der Fäulnis organischer Stoffe, besonders
in den Aboyten. Es ist ein wichtiges Nahrungsmittel für die Pflanzen, welche aus
ihm den Stickstoff nehmen. Eine Verbindung des Ammoniaks mit Chlorwasserstoff
bildet den Salmiak, der nicht nur in der Medizin, sondern auch in der Technik
— zum Löten, Verzinnen ꝛc. — verwendet wird.
3. Vom Wasserstoff.
Das Wasser besteht aus Wasserstoff (2 Raumteile) und Sauerstoff
(1 Raumteil). Dem Gewicht nach treffen 8 Teile Sauerstoff auf 1 Teil
Wasserstoff. Hieraus ergibt sich, daß der Wasserstoff um vieles leichter ist
als Sauerstoff; er ist mithin auch — und zwar um 14 mal — leichter
als die atmosphärische Luft, weshalb er zum Füllen der Luftballons ver—
wendet wird. Sr wird aus dem Wasser gewonnen, welches in reinem
Zustande nur Wasser- und Sauerstoff enthält. Bei gewöhnlicher Temperatur
zeigen beide Gase keine chemische Anziehung; beim Verbrennen aber
verbindet sich Wasserstoff und Sauerstoff, und das Produkt ist Wasser.
Dieses ist aber nicht tropfbar-flüssig, weil es über den Siedepunkt erhitzt
ist, sondern es entweicht als Dampf, den man aber durch Abkühlung in
den tropfbar⸗flüssigen Zustand überführen kann. Verhältnismäßig rein ist nur
das Regen- oder Schneewasser; chemisch reines Wasser erhält man durch
Destillation. Reines Wasser geht nicht in Fäulnis über. Die dunkle
Färbung, der unangenehme Geschmack und Geruch von gestandenem Wasser
rühren von der Fäulnis organischer Stoffe her. Chemische Verbindungen
des Wassers mit Oxyden heißen Hydrate, die entweder fest sein können,
z. B. Rost, gelöschter Kalk, oder flüssig, z. B. Schwefelsäure, Salpetersäure.
Cuftschiffahrt.) Die ersten Versuche mit Luftballons sollen schon von den
Chinesen und dann von einem portugiesischen Physiker gemacht worden sein. Sicher
ist, daß die Brüder Joseph und Etienne Montgolfier) im Jahre 1782 den ersten
Ballon zu Annonay?) in Frankreich (südlich von Lyon) steigen ließen. Sie hatten das
Steigen des Ballons durch erwärmte und somit durch verdünnte Luft bewirkt; Wasser—
stoffgas wandte zuerst Professor Charle s) in Paris an (1783). Damit auch Personen
mit einem Ballon aufsteigen können, ist eine aus Weidengeflecht bestehende Gondel
an dem den Ballon umgebenden Netzwerke angebracht. Das Aufsteigen und Sinken
) spr. etiän monsolfis. ) anõnä. ) scharl.
296 176. Chemische Grundbegriffe.
wird durch Wegwerfen von Ballast und Offnung einer Llappe im Ballon geregelt, und
man hat dieses ziemlich in der Gewalt. Dagegen ist es noch nicht gelungen, den
Ballon auch in horizontaler Richtung zu lenken, und derselbe ist den Luftströmungen
preisgegeben. Zum Anhalten dient ein Anker; doch ist meistens noch die Beihilfe der
Menschen nötig. Aus verschiedenen Ursachen sinkt der Ballon oft plötzlich; die Gefahr
dieses Sinkens mindert der Fallschirm. Die Schnelligkeit, mit der ein Ballon
durch die Lüfte getragen wird, ist staunenswert. Green) legte den Weg von London
nach Weilheim Nassau) in 16 Stunden zurück. Während der letzten Belagerung von
Paris kam ein Ballon nach Christiania (in Norwegen) in 15 Stunden. Noch niemals
wurde ein so umfangreicher Gebrauch vom Luftballon gemacht, als zur Zeit der
genannten Belagerung. Vom 28. September 1870 bis 21. Juni 1871 verließen
65 Ballons die Stadt, welche 91 Personen (darunter Gambetta), 363 Brieftauben
und 272 Millionen Briefe hinaus beförderten. Nur 5 Ballons gelangten in die
Hände der Deutschen. Einer fiel auch bei Cham im bayerischen Wald nieder. Er
war aber seines Inhaltes bereits entledigt.)
(Nr. 177-181 vom Herausgeber nach verschiedenen Quellen.)
c. Aus dem Gebiete der allgemeinen Chemie und der Physik?).
176. Chemische Grundbegriffe.
1. Früher sprach man von vier Elementen: Erde, Wasser, Luft und Feuer.
Man kann diese Bezeichnung gelten lassen, wenn man „Element“ als Grund—
lage und Bedingung des physischen (körperlichen) Lebens betrachtet, das
ohne Erde, Wasser, Luft und Feuer nicht denkbar ist. In der Chemie
aber hat das Wort Element eine ganz andere Bedeutung, es heißt Grund—
stoff, Urstoff, bezeichnet also einen Körper, der nicht weiter in andere Körper
zerlegt werden kann. Man muß nämlich wissen, daß fast die meisten Körper,
die wir auf Erden finden, aus verschiedenen Stoffen zusammengesetzt sind,
obwohl man sie oft für einfach hält. So ist z. B. der Zinnober kein
Grundstaff; denn er läßt sich zerlegen in Schwefel und Quecksilber. Diese
beiden Stoffe aber weiter zu zerlegen, ist bisher keiner Bemühung gelungen.
Man muß sie daher für einfache oder Grundstoffe (S Elemente) halten. Wer
sollte glauben, daß das Wasser und die Luft keine einfachen Körper seien?
Man hat sie lange dafür gehalten, bis es gelungen ist, das Wasser in Wasser—
stoff und Sauerstoff zu zerlegen und in der Luft Sauerstoff und Stickstoff
nachzuweisen. Merkwürdig ist, daß die Elemente, in die man einen zusammen—
gesetzten Körper zerlegen kann, mit diesem meistens gar keine Ahnlichkeit
haben. So hat weder der Schwefel noch das Quecksilber mit dem Zinnober
Ähnlichkeit, noch weniger der Wasserstoff und Sauerstoff mit dem Wasser.
Die Zahl der Elemente ist verhältnismäßig gering; man kennt bis
jetzt 63, von denen aber nur etwa 34 für die Bildung anderer Körper von
Bedeutung sind.
V spr. grin
2) Die nötigsten Belehrungen aus der speziellen Chemie und chemischen Technologie
sind den Lesestücken aus der Naturkunde, besonders aus der Mineralogie ein- oder an—
gefügt. Zum Verständnis derselben empfiehlt es sich aber, Nr. 176 vorher durchzunehmen
176. Chemische Grundbegriffe. 297
Die Elemente unterscheidet man in Metalle und Nichtmetalle Metalloide)
Die wichtigsten Metalle sind: Gold, Platina, Silber, Quecksilber, Kupfer, Zinn, Zink,
Blei, Eisen, Nickel, Aluminium, Magnesium, Calcium, Natrium, Kalium; die wichtigsten
Nichtmetalle: Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff, Schwefel, Phosphor, Kohlenstoff,
Kiesel, Bor, Chlor, Jod, Brom, Fluor.
Aus den 63 Elementen sind alle übrigen Körper, freilich nach sehr
verschiedenen Mischungsvorhältnissen zusammengesetzt Man nennt die
zusammengesetzten Körper chemische Verbindungen.
Von der chemischen Verbindung hat man die bloße mechanische Mischung
zu unterscheiden. Wenn man z.B. Schwefelpulver und Eisenfeile zusammenbringt,
so läßt sich dies in jedem erdenklichen Maßverhältnis für den einen wie für den anderen
Stoff thun. Es entsteht dadurch aber keine chemische Verbindung, und wir sind im—
stande, in den auch noch so fein zerstoßenen Körpern die einzelnen Bestandteile zu
erkennen und auf mechanische Weise wieder zu trennen. Aus einer Mischung von
Schwefel⸗ und Eisenpulver zieht ein Magnet alle Eisenteilchen und läßt den Schwefel
unberührt, und wenn wir dieselbe Mischung in Wasser rühren, setzen sich die schwereren
Eisenteilchen am Boden des Gefüßes fest; über ihnen lagert sich die Schichte des leichtern
Schwefels. Setzen wir aber Schwefel und Eisenfeile in einem Tigel der nötigen Hitze
aus, so verbinden sich beide chemisch zu Schwefeleisen. Weder beim Umrühren in
Wasser noch bei Einwirkung des Magnets trennt sich nunmehr das Eisen vom Schwefel,
und der neue Körper hat auch andere Eigenschaften als Schwefel und als Eisen.
Setzen wir Zinn und Kupfer der entsprechenden Hitze aus, so schmelzen sie auch
in einen Körper zusammen (Stückgut, Glockengut ꝛc. s. Nr. 171 S. 285); auch
dieser Körper ist keine chemische Verbindung, sondern auch bloß eine Mischung CLe⸗
gierung genannt), und man kann deshalb Kupfer und Zinn in beliebigen Verhält⸗
nissen zusammenschmelzen (legieren).
Wie erklärt man sich nun das Entstehen chemischer Verbindungen?
Bekanntlich kann man die Körper mechanisch in Teile zerkleinern, die
für uns von unmeßbarer Winzigkeit sind. Aber wie weit man diese Teilung
sich auch fortgesetzt denkt, einmal muß sie doch eine Grenze haben, und es
müssen kleinste, nicht mehr zertrennbare Körperteilchen vorhanden sein.
Solche kleinste Teilchen eines Körpers nennt man Moleküle (von
molecula — tleine Masse). Aber diese Moleküle können doch noch nicht die
kleinsten Körperteile überhaupt sein; denn sie bestehen bei zusammengesetzten
Körpern immer noch aus den verschiedenen Grundstoffen der Verbindung; so
enthält ein Zinnober-Molekül stets Quecksilber und Schwefel. Zum mindesten
muß ein Molekül einer einfachen Verbindung (d h. einer Verbindung aus zwei
Elementen) ein Teilchen des einen und eines des anderen Grundstoffes ent—
halten. Diese kleinsten Stoffteilchen nennt man Atome. Jedes Element
besteht aus Atomen, welche sich vollkommen gleich sind, also nicht nur von
gleicher Beschaffenheit der Materie, sondern auch gleich groß und gleich
schwer. Aber die Atome verschiedener Elemente sind meistens auch ver—
schieden groß und verschieden schwer.
Chemische Verbindungen können nur entstehen, wenn verschiedene Atome
der Körper sich innig verbinden. Dabei kann ein Atom mit einem oder
298 176. Chemische Grundbegriffe.
auch mit 2, 3 oder mehr Atomen, oder es können 2 Atome sich mit 2,3,
4 ꝛc. Atomen des anderen Elements verbinden u. s. w, so daß schon bei
einfachen Verbindungen große Mannigfaltigkeit entstehen kann.
Es tritt aber eine Verbindung der Atome nicht zwischen allen Elementen
ein. Manche Elemente vereinigen sich gar nicht, andere sehr leicht. Man
nimmt deshalb eine Kraft an, welche die Atome an einander zieht und heißt
diese chemische Anziehungskraft, chemisches Einigungsstreben,
Affinität. Die Affinität eines Elements wirkt nicht auf alle anderen Körper
gleich stark. So findet man, wenn zerteilter Zinnober mit fein zerteiltem
Eisen vermischt und erhitzt wird, daß der Schwefel des Zinnobers an das
Eisen übergeht und sich mit ihm verbindet, daß also das Quecksilber aus—
geschieden wird. Hieraus folgt, daß der Schwefel eine stärkere Anziehung
zum Eisen als zum Quecksilber hat. Wirft man ein Stück Kalium auf Wasser,
so vereinigt sich der Sauerstoff mit demselben und der Wasserstoff wird
frei. Es zeigt also der Sauerstoff eine größere Affinität zum Kalium als
zum Wasserstoff.
Wenn man Elemente (oder andere Körper) mechanisch mischt, so können
dieselben, wie wir oben gesehen, in verschiedenen Mengen genommen werden.
Bei der chemischen Verbindung ist dies anders. Es verbindet sich ein
Element mit einem andern nur in ganz bestimmtem unab—
änderlichem Gewichtsverhältnisse, so besteht Wasser immer aus
2 Gewichtsteilen Wasserstoff und 16 Gewichtsteilen Sauerstoff. Welches
reine Wasser man auch chemisch zerlege, stets findet man dieses Verhältnis.
Ungefälschter Zinnober besteht aus 200 Gewichtsteilen Quecksilber und
32 Gewichtsteilen Schwefel. Will man aus beiden Elementen Zinnober
gewinnen und hat man mehr von dem einen, so bleibt dieses Mehr unver—
bunden. Eben so unabänderlich besteht das Kochsalz aus 23 Gewichtsteilen
Natrium und 35 Gewichtsteilen Chlor.
Es gründet sich dies auf das verschiedene Gewicht der Atome. Diese
selbst kann man freilich nicht wiegen; aber durch viele Versuche hat man
das Atomgewicht der verschiedenen Elemente ermittelt, und zwar im Ver—
hältnis zum Atomgewicht des Wasserstoffes, das man — 1 annimmt; so
z. B. ist das Atomgewicht des Sauerstoffes 16, des Schwefels 32, des
Phosphors 31, des Kupfers 63, des Quecksilbers 200 u. s. w. Zwischen
manchen Elementen gibt es nur eine Verbindung, wie z. B. zwischen Chlor
und Wasserstoff, andere vereinigen sich in mehreren Verhältnissen mit
einander, z. B. der Kohlenstoff mit Sauerstoff; hier existieren zwei Ver—
bindungen: das Kohlenoxyd und die Kohlensäure.
Der Sauerstoff bildet mit allen Grundstoffen Verbindungen; er muß
also mit sehr großer Affinität zu diesen Stoffen begabt sein. Nur ein
einziger Grundstoff, das rätselhafte Fluor verbindet sich nicht mit ihm.
Den dabei stattfindenden Prozeß nennt man Oxydation, welche immer
von Wärmeentwicklung, oft auch von Licht- und Feuererscheinungen begleitet
ist; die Produkte dieses Prozesses heißen Oxyde.
—
177. Die Anziehungskraft der Massen Schwere, Gravitation). 299
Betrachten wir die oben angegebenen Grundstoffe nach dem Grade ihres Zu—
sammenhangs näher, so finden wir sie in dreierlei Zuständen, nämlich als feste oder
starre, z.B. Gold, Eisen, Schwefel, Kohlenstoff ꝛc, als flüssige Quecksilber und Brom),
endlich als gas- oder luftförmige Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff und Chlor).
In den festen oder starren Körpern ist die Kraft des Zusammenhangs oder die
Kohäsion am größten; ihre Moleküle sind daher mit einer gewissen Kraft an einander
gebunden, und wir unterscheiden demnach verschiedene Härtegrade. Als der härteste
Körper erscheint uns der Diamant. — Sand ist hürter als Glas und dient daher zum
Schleifen des Glases; die stählerne Feile ist hürter als das Eisen und greift das letztere
an. Die festen Körper besitzen aus obigem Grunde eine bestimmte Gestalt. — Ist diese
eine regelmäßige, so daß der Körper von Flächen, Kanten und Ecken begrenzt ist, so
nennen wir ihn krystallisiert Erystall), z. B. Kandiszucker. Wenn dagegen dem Körper
eine unregelmäßige Form zukommt, so heißt er amorph, z. B. Wachs, Glas ⁊.
Zwischen den einzelnen Molekülen der flüssigen Körper ist nur geringe Kohäsions⸗
kraft wahrzunehmen; es mangelt ihnen daher jede selbständige Form, sie müssen in
Gefäßen aufbewahrt werden und lassen sich leicht in Tropfen ausgießen.
Den Molekülen der gasförmigen Körper fehlt jegliche Kraft des Zusammenhangs;
sie haben vielmehr das Bestreben, sich auszudehnen. Sie erfüllen daher den Raum
in einem Gefäß gleichmüßig, dehnen sich beim Erwärmen und Nachlassen des Druckes
aus, lassen sich aber auch durch Druck und Kälte zusammenpressen (S sie sind elastisch)
E. Spieß.)
177. Die Anziehungskraft der Massen (Schwere, Gravilation).
Verschieden von der chemischen Anziehung der denkbar kleinsten Körper⸗
teile (Atome) ist die Anziehung, welche Massen auf einander ausüben.
Man bezeichnet sie wissenschaftlich mit dem Namen „Gravitation“
oder in Bezug auf die Anziehung der Erde „Schwere“. Wunderbar
ist es, daß Jahrtausende vorübergingen, ohne daß die Denker eine Ahnung
hatten von diesem Gesetz der Anziehung, obgleich alles, was auf der Erde
steht und geht, sich regt und bewegt, einzig und allein durch die Anziehung
der Erde seinen Bestand hat. Tausende und aber tausende von Menschen⸗
geschlechtern haben nur darum keine Ahnung von dieser Anziehungskraft
gehabt, weil jeder einzelne Mensch von dem ersten Augenblicke der Geburt
bis zum letzten des Todes sich und alles ringsumher dem Gesetze der
Anziehung gehorchen sah.
Darum aber hält es auch jetzt noch schwer, einem Menschen, der
noch nichts von dieser Anziehungskraft vernommen, dieselbe deutlich zu
machen, obgleich nichts in der Welt eristiert, das nicht ein Beweis der—
selben ist. Warum fällt ein Stein, den man von der Erde aufhebt und
losläßt, wieder in gerader Linie zurück zur Erde ) Die Anziehungskraft
der Erde ist es, die den Stein, und wie den Stein auch jede andere Masse
anzieht, die sich auf derselben befindet. Hätte die Erde keine Anziehungs—
kraft, so würde jeder Stein, der in die Höhe geworfen wird, sich im
unendlichen Raum fort und fort bewegen und nie zur Erde zurückkehren.
Die Anziehungskraft der Erde ist es, welche es bewirkt, daß die Erdkugel
300 177. Die Anziehungskraft der Massen (Schwere, Gravitation).
von allen Seiten bewohnt und belebt ist, daß Menschen und Tiere sich
auf ihr bewegen können, obgleich die Menschen und Tiere auf der einen
Seite der Kugel gerade umgekehrt gehen und stehen als auf der andern.
Die Anziehungskraft der Erde ist es, die den Regen, Schnee und Hagel,
wie den Vogel, der in der Luft schwebt, abwärts zieht. Die Anziehungs—
kraft der Erde ist es, die alle Gewässer von den Höhen nach der Tiefe
zieht und dort große Meere über den Tiefen bildet. Die Anziehungskraft
der Erde ist es, die jedes Sonnenstäubchen zu Boden sinken läßt, und die
Anziehungskraft der Erde ist es, die den Mond in einer Entfernung
von 50000 Meilen in seiner Bahn festhält und bewirkt, daß er sich nicht
in dem Weltraume verliert.
Der große VNaturforscher Newton), der die Anziehungskraft der
Erde und aller Himmelskörper bewiesen hat, hat auch zugleich das Maß
bestimmt, nach welchem die Anziehung abnimmt in der Entfernung, und
dieses von Newton bereits vor zweihundert Jahren entdeckte Gesetz hat
sich nicht nur bis jetzt bestätigt gefunden, sondern es ist die Grundlage
der ganzen astronomischen Wissenschaft. Nach diesem Gesetz ist die An—
ziehungskraft desto größer, je größer die Massen sind. Die Erde besitzt
eine große Anziehungskraft, weil ihre Masse groß ist. Würde die Erde
durch irgend welchen Umstand einen Teil ihrer Masse verlieren, so
würde in demselben Verhältnis ihre Anziehungskraft schwächer werden
Ein Planet, der nur den dritten Teil der Masse besitzt, die die Erde hat,
hat auch nur ein Drittel ihrer Anziehungskraft. Der Mond, der achtzigmal
weniger Masse hat als die Erde, besitzt auch nur den achtzigsten Teil
ihrer Anziehungskraft. Die Masse der Sonne, die 355000 mal größer ist
als die Erde, gibt ihr auch eine 355000 mal stärkere Anziehungskraft als
die Erde besitzt.
Aber all dies gilt nur, wenn es sich um die Anziehungskraft eines
Gegenstandes handelt, der von den anziehenden Massen gleich weit entfernt
ist; ändert sich die Entfernung, so ändert sich auch die Anziehungskraft,
und zwar nach einem Gesetz, das wissenschaftlich mit den wenigen Worten
ausgedrückt wird: „die Anziehungskraft nimmt ab quadratisch mit der
Entfernung,“ d. h. mit jedem Meter Entfernung wirkt die Anziehung
schwächer, und zwar um so viel, wie das Maß der Entfernung mit sich
selbst multipliziert. Bei 2mal größerer Entfernung also 4mal, bei 3mal
größerer 9 mal schwächer u. s. f. Und dies Gesetz, das Newton entdeckt
hat, bestätigt sich aufs vollständigste durch das ganze Bereich der Natur
Es hat sich an allen Bewegungen der Himmelskörper bestätigt gefunden,
selbst an solchen, von denen man zu Newtons Zeit gar keine Ahnung
hatte. Ja, es ist das ein Gesetz, das nicht nur in Bezug auf die Erde,
auf den Mond, auf die Sonne, auf die Planeten und Kometen voll—
kommene Geltung hat, sondern es wirkt im gesamten Weltenraum. In
spr. njutn.
178. Das spezifische Gewicht der Körper. 301
der unendlichen Ferne der Fixsterne hat man in diesem Jahrhundert Doppel
sterne entdeckt, zwei Sonnen, die sich um einander bewegen, indem sie sich
stets gegenseitig anziehen. A. Bernstein, Naturwissenschl. Volksbücher.)
178. Das spezisische Gewicht der Körper.
Die Anziehung der Erde bewirkt, daß jeder auf ihr befindliche Körper
einen Druck auf seine Unterlage ausübt. Diesen Druck nennt man das
Gewicht des Körpers. Schwere und Gewicht verhalten sich also wie Ur—
sache und Wirkung. Der Druck eines Körpers an sich heißt dessen absolutes
Gewicht. Dies hängt von der Masse des Körpers ab. Will man das absolute
Gewicht verschiedener Körper mit einander vergleichen, so muß man sie wiegen.
Zu dem Ende muß ein bestimmtes feststehendes Gewicht, d. h. der Druck
einer genau bestimmten Masse als Maßeinheit angenommen werden. Diese
Gewichtseinheit ist gegenwärtig das Gramm.
Bei demselben Rauminhalt haben die Körper verschiedenes absolutes
Gewicht. Ein Liter Wasser wiegt 1kg, ein eben so großes Stück Messing
annähernd 8kg. Man sagt daher, es sei das Messing 8mal dichter als
das Wasser. In andern Worten heißt das auch noch, es habe in demselben
Raume 8mal mehr Messingmasse als Wassermasse Platz.
Vergleicht man nun die absoluten Gewichte der verschiedenen Stoffe
unter einander, so erhält man Zahlen, welche spezifische Gewichte genannt
werden. Gewöhnlich vergleicht man das Gewicht der festen und tropfbar
flüssigen Körper mit dem des Wassers von gleichem Rauminhalt. Dieses
Wasser muß rein sein und eine Temperatur von 400 haben.
Das Gewicht der gasförmigen Körper wird gewöhnlich verglichen mit
dem der atmosphärischen Luft. Diese Luft soll eine Temperatur von O Grad
und eine Dichtigkeit haben, wie sie an der Meeresfläche gewöhnlich vorkommt
Barometerstand 760 mn. — Vgl. Nr. 181).
Über die Bestimmungsweise des spezifischen Gewichtes mögen folgende
Beispiele folgen.
1. Ein Liter oder Kubikdecimeter Wasser wiegt 1000 g; ein Würfel von Holz von
gleichem Rauminhalt, also von 1dm Kantenlänge, habe ein Gewicht von 7408.
Mithin ist das Gewicht dieses Holzes oder 0,74 vom Gewicht des Wassers
de h. das spezifische Gewicht des Holzstückes ist 0,74.
2. Das Wasser in einer angefüllten Flasche habe ein Gewicht von 5008. Man
leere das Wasser aus und fülle die Flasche mit Ol und finde das Gewicht — 4708,
so ist das spezifische Gewicht des Oles 49 — 094.
3 Ein Körper werde ganz unter Wasser getaucht, und es zeige sich, daß er an jeder
Stelle im Wasser in Ruhe bleibt. Das ist nur möglich, wenn sein absolutes Gewicht
gleich ist dem Gewicht einer eben so großen Wassermasse, die er verdrängt. Folglich ist
—iie—
4 Eine Kugel von getrocknetem Lindenholz werde auf das Wasser gelegt. Taucht
sie gerade bis zur Hälfte ein, so wird ihr Gewicht gleich sein dem Gewicht des ver—
302 119. Die Wärme und ihr Einfluß auf die Ausdehnung der Körper.
drängten Wassers. Mithin hat die Kugel gleiches Gewicht mit dem Wasser von halbem
Rauminhalt. Somit ist das spezifische Gewicht dieses Lindenholzes — 05.
5. Ein Stück Stein habe in der Luft 375 g Gewicht. Man binde um das Stück
Stein einen feinen Faden, tauche den Stein ins Wasser und hänge ihn in diesem
Zustande vermittelst des Fadens an einer Wage auf. Der Stein im Wasser zeige noch
ein Gewicht von 2258. Es folgt hieraus, daß das Wasser 375 — 225 — 150 8 vom
Gewicht des Steines trägt, d. h. daß das verdrängte Wasser 150 g wiegt. Man nennt
diese Größe auch den Gewichtsverlust des Steines in Wasser. Mithin ist das spezifische
Gewicht des Steines — 115 — 25.
6. Ein Kubikmeter atmosphärische Luft von 0O Grad Temperatur und einer Dichte,
wie sie einem Barometerstand von 760 mm entspricht, wiegt 1,293 kg. Ein gleiches
Volumen Wasser wiegt 1000 kg; folglich ist das spezifische Gewicht der Luft 398 —
09001293 — (Friedr. Autenheimer, Gewerbl. Lehr- u. Lesebuch.)
Ergänzungen. Das spezifische Gewicht verschiedener Metalle findet sich in den
Lesestücken Nr. 170 ff. Es mag noch Folgendes Platz finden.
a) Spezifisches Gewicht fester Körper:
Diamant 3,55 Krystallglas 2,90 Buchenholz 0,85
Carrar. Marmor 272 Eis (klares) 094 Fichtenholz 0,43
Quarz 2.0 Ebenholz Pappelholz 038
Kalkstein 2—212 Eichenkernholz 1.17 Korkholz 0.24
pezifisches Gewicht flüssiger Körper.
Schwefelsäure 185 — 1,90 Milch 1,03 — 1 Leinöl 0,94
Salpetersäure 1552 Bier 1,015 —1,935 Petroleum 0,75 0,85
Salzsäure 1,20 Wein 0,90 — 1,03 Alkohol —
c) Spezifisches Gewicht gasförmiger Körper. (Atmosph. Luft — 1.)
Chlor 257 Kohlensaures Gas 1552 Stickstoffgas 0,
Schwefligsaures Gas 2,20 Schwefelwasserstoffgas 1,19 SchweresKohlenwasserstoffgas 0,97
Cyan 1,81 Sauerstoffgas 1,10 Leichtes 0,56
179. Die Wärme und ihr Einsluß auf die Ausdehnung der Körper.
Innig verwandt mit dem Licht und dessen treuer Begleiter ist die
Wärme. Sie ist die Grundbedingung aller Bewegung und alles Lebens,
des steten Wechsels und ununterbrochenen Kreislaufs in der Natur. Ohne
Wärme gäbe es keinen Tropfen fließenden Wassers, keine Bewegung der
Cuft, keine Pflanze, kein Tier. Durch ein unerbittliches Gesetz ihrem
Einflusse unterworfen, unterliegen alle organischen Körper ihrem über—
maße ebenso wie ihrem Mangel.
Obwohl wir alle immerwährend die Wärme empfinden, so ist es doch
äußerst schwierig, sich deren eigenstes Wesen zu erklären. Man hat bis
in die neueste Zeit irgend einen unwägbaren Stoff, den man kurzweg
Wärmestoff nannte, als Ursache der Wärme-Erscheinungen angenommen.
Man glaubte, daß er von Körpern, die ihn in hohem Maße enthielten, sich
durch den Cuftraum wie das Licht verbreite, durch Anhäufung in den
Körpern deren Wärme, durch Ausströmen deren Erkältung verursache.
Man ist aber zu der Überzeugüng gelangt, daß die Annahme eines be—
179. Die Wärme und ihr Einfluß auf die Ausdehnung der Körper. 303
sonderen derartigen Stoffes unhaltbar sei, und allgemein betrachtet man
jetzt die Wärme als eine Erscheinung, welche durch Erschütterung
der Atome eines Körpers hervorgebracht werde. Durch die Wellen—
bewegungen des Äthers ) werde dann diese Erschütterung fortgepflanzt und
auf andere Körper übertragen. Ein Körper wäre hiernach um so wärmer,
in je heftigerer Erzitterung dessen Atome begriffen sind; er erkaltet,
wenn sich die Erschütterung mindert; er kann nicht mehr kälter werden,
wenn seine Atome zur Ruhe gelangt sind. Den Grad der Erschütterung,
also auch das bestimmte Maß von Wärme eines Körpers nennt man
dessen Temperatur.
Aus dieser Theorie läßt es sich begreifen, warum bei chemischen Vorgängen
sich Wärme entwickelt, warum elektrische und galvanische Strömungen Wärme
erzeugen, warum fließendes Wasser selbst bei hoher Kälte nicht gefriert, warum
zwei an einander geriebene Hölzer sich entzünden können, warum man selbst Eis
durch heftiges Reiben zum Schmelzen bringen kann, warum ein kalter Bohrer,
auch wenn man ein kaltes Brett bohrt, sich erhitzt, warum kaltes Eisen in der
größten Kälte durch Hämmern heiß und immer heißer wird u. s. w.
Außer den Wärme⸗Erscheinungen, welche durch chemische und elektromagnetische
Vorgänge, durch Reiben u. dgl. hervorgebracht werden, betrachten wir auch die
Sonne und die Erde als Quellen der Wärme. Die Erde zeigt uns eine um so
größere Wärme, je tiefer wir in sie eindringen. Die Annahme der Gelehrten, daß der
Erdball im Innern noch feuerflüssig sei und nur eine verhältnismäßig nicht gar dicke
feste Rinde besitze, erklärt diese Wahrnehmung. Daß die Richtigkeit jener Annahme auch
durch andere Erscheinungen Wulkane, heiße Quellen ꝛc.) bestätigt wird, sei nur
nebenbei bemerkt. Die Wärme dieses flüssigen Erdkerns erklärt sich aus der oben
aufgestellten Theorie vollkommen. Auch im Sonnenball wird Bewegung und Er—
schütterung der Atome die Ursache der Wärme sein. Durch die Wellenbewegungen
des Athers wird sie unserer Erde zugeführt.
Eine der auffälligsten Wirkungen der Wärme ist die, daß sie die
Körper ausdehnt. Ein Bügelstahl, welcher knapp in das Bügeleisen paßt,
geht schwer hinein, wenn er erhitzt ist. Eine eiserne Rugel, welche durch
eine genau ihrem Durchmesser angepaßte ffnung fällt, bleibt auf der—
selben liegen, wenn sie erhitzt wurde; heißes Wasser nimmt mehr Raum
ein als kaltes. Ein eiserner Reif, der heiß an ein Rad gelegt wird und
noch kleine Zwischenräume erkennen läßt, legt sich nach dem Erkalten sehr
fest an, weil er sich zusammenzog. Bei der Anlage der Eisenbahnen darf
man nie zwei Schienen knapp an einander legen, sondern man muß zwischen
beiden einen Raum lassen, weil sie sich in der Hitze des Sommers aus—
dehnen.
Diese Wirkung der Wärme hat man benutzt, um Instrumente herzu—
stellen, mittels deren man imstande ist, die Temperatur der Luft oder
eines anderen Körpers genau zu messen. Man nennt ein solches Instrument
i) Man nimmt an, daß der ganze Weltraum von einem äußerst feinen, sinnlich
nicht wahrnehmbaren, alle Körper durchdringenden Stoffe erfüllt sei, den man Äther
nennt.
304 180. Das Thermometer.
Thermometer (Wärmemesser), das von allen physikalischen Instrumenten
dem VNaturforscher wie dem Praktiker unersetzbare Dienste leistet.
WVom Hherausgeber)
180. Das Thermomeler.
Das Thermometer besteht aus einer etwa 4 mm starken Glasröhre,
die innen überall gleich weit ist. Diese Röhre erweitert sich an dem
einen Ende in eine kleine, hohle Kugel, oben ist sie zugeschmolzen. In
dieser Kugel und einem Teile der engen Röhre bemerkt man eine silber—
schimmernde Flüssigkeit, das Quecksilber. Gewöhnlich ist die Röhre an
eine Scheibe von Holz, Glas oder Messing befestigt. Auf der Scheibe
bemerkt man, daß sie in eine Anzahl gleicher Teilchen (die sogenannten
Grade) geteilt ist. An dem einen Teilstrich steht Null (Eispunkt),
an einem anderen die Zahl 80 oder 100 (Siedepunkt) Um nämlich
die Teilung auszuführen, hat derjenige, welcher ein Thermometer an—
fertigen will, zuerst zwei feste Punkte (die eben genannten, mit O und 80
oder 100 bezeichneten) aufzufinden, von denen aus die Teilung ihren An—
fang nimmt. Um den Eis- oder Gefrierpunkt zu bestimmen, taucht man
die zum Teil mit Quecksilber gefüllte Thermometerröhre in schmelzenden
Schnee oder schmelzendes Eis. Sofort steigt oder fällt das Quecksilber
in der Röhre, bis es einen bestimmten Punkt einnimmt und auf dem—
selben stehen bleibt, so lange noch schmelzender Schnee das Thermometer
umgibt. Man bezeichnet sich genau diesen Punkt mit Tinte oder auf
sonstige Weise und schreibt eine Null daran, daher dieser Punkt auch
der Nullpunkt heißt. Den anderen festen Punkt findet man, wenn man
das Thermometer in kochendes Wasser oder besser in den Dampf von
siedendem Wasser hängt. Es tritt hier dasselbe wie oben ein: das
Quecksilber steigt bis zu einem bestimmten Punkte, auf welchem es stehen
bleibt. Man bezeichnet sich denselben wieder und setzt die Ziffer 80
oder 100 und „Siedepunkt“ daneben.
Den Zwischenraum zwischen den eben gefundenen Punkten teilt
man entweder in 80 gleiche Teile (Grade), wie es bei den im gewöhn—
lichen Leben gebrauchten Thermometern geschieht, oder in 100. Die
erstere Teilung in 80 Grade heißt die Reaumur'sche und ist vor—
züglich in Deutschland gebräuchlich. Die zweite, 100teilige oder die
Celsius'sche (Centesimalthermometer) wird vorzüglich bei wissenschaft—
lichen Untersuchungen angewandt. Endlich gibt es noch eine dritte, in
England gebräuchliche Einteilung: die von Fahrenheit. Hier teilt man
den Abstand zwischen Eis⸗ und Siedepunkt in 180 Grade und setzt an
den Eispunkt die Zahl 32, an den Siedepunkt folglich 212. Bei allen
180. Das Thermometer. 305
drei Arten setzt man die Teilung auch unterhalb des Eispunktes fort,
indem man eben so große Grade aufträgt. Man fängt aber bei dem
80⸗ und 100 teiligen Thermometer wieder von Null an zu zählen, bis
10, 20 u. s. w. während man beim Fahrenheitschen zunächst von 32
abwärts bis auf Null und dann wieder bis 10, oder wie weit man
will, zählt. Diese Grade unter dem Eispunkte nennt man Kältegrade
und bezeichnet sie mit einem —, die über demselben liegenden nennt
man Wärmegrade und bezeichnet sie mit —.
(Gutzkows Unterhaltungen am häusl. Herd.)
Ergänzungen. 1. Die Herstellung eines guten Thermometers ist in Wirk—
lichkeit nicht so leicht, als es nach der allerdings sehr einfachen Theorie, auf welcher
dasselbe beruht, scheinen möchte. Die Glasröhre muß nicht nur innen überall ganz
genau gleich weit, sondern auch völlig frei von Staub und Feuchtigkeit sein; auch ist
es nicht so leicht, die atmosphärische Luft aus der Röhre auszutreiben.
2. Schmelzender Schnee (oder schmelzendes Eis) behält deshalb eine stets gleich—
bleibende Temperatur bei, weil alle zugeführte Wärme zum Schmelzen, d. h. zur über—
führung des Schnees oder Eises in den flüssigen Zustand verwendet wird. Erst wenn
kein Schnee ꝛc. mehr vorhanden ist, nimmt das Wasser die zuströmende Wärme auf
und erhält so eine höhere Temperatur.
In Sieden gebrachtes Wasser kann in offenen Gefäßen auf keinen höheren Grad
mehr erhitzt werden, weil alle zuströmende Wärme zur Dampfbildung verwendet wird
Daß der Siedepunkt je nach dem größeren oder geringeren Luftdruck ein verschiedener ist,
findet sich in Nr 182 dargethan. Die Festsetzung des Siedepunktes hat deshalb bei einem
bestimmten Barometerstande, als welchen man allgemein 760 mn annimmt, stattzufinden.
3. Da das Quecksilber bei —350 O gefriert, so kann man für sehr niedrige
Temperaturen ( für hohe Kältegrade) das Quecksilberthermometer nicht mehr gebrauchen,
und man nimmt dann ein Weingeist- (Alkohol)- Thermometer, dessen Flüssigkeit bei
keiner uns bekannten niederen Temperatur erstarrt. Für hohe Temperaturen kann
man das Weingeistthermometer nicht brauchen; denn Alkohol siedet schon bei 7800.
Quecksilber hat seinen Siedepunkt bei 40000.
1. Ne niedrigste Tagestemperatur zeigt das Thermometer in unseren Gegenden
meistens vor Sonnenaufgang, die höchste im Sommer gegen 3 Uhr, im Winter gegen
1und 2 Uhr; die eine Mitteltemperatur fällt zwischen 8s und 10 Uhr morgens, die
andere zwischen 8 und 9 Uhr abends. Die niedrigste Jahrestemperatur ist bei uns
Mitte Januar, die höchste Ende Juli. — Die mittleren Temperaturen fallen in die
letzte Hälfte des April und des Oktober.
Man berechnet für verschiedene Orte die mittlere Tages- und aus dieser die
Monats-⸗ und Jahres-Temperatur, sowie durch fortgesetzte Beobachtungen in einer Reihe
von Jahren die mittlere Temperatur eines Ortes überhaupt. Man bevobachtet zu
diesem Ende täglich mehrmals an bestimmten Stunden den Thermometerstand und
berechnet den Durchschnitt für den Tag, für den Monat und das Jahr. Alex. v.
Humboldt hat gefunden, daß man fast genau das wahre Mittel der Tagestemperatur
finde, wenn man aus den Zahlen des Maximal- und Minimalstandes den Durch—
schnitt zieht.
Zu diesem Zwecke leistet der Thermometrograph die besten Dienste. Dieser
enthält ein Quecksilber- und ein Weingeistthermometer, die auf einer Platte horizontal
Marschall, Lesebuch für gewerbl. Fortbildungsschulen. Kl. Ausg. 9
20
306 181. Luftdruck und Barometer
wagrecht) befestigt sind Im Auecksilberkhermometer liegt ein kleiner Stahlstift vor
dem Quecksilber, der von diesem beim Ausdehnen mit vorgeschoben wird beim Zu—
sammenziehen aber liegen bleibt und so den Maximalstand anzeigt. Im Weingeist—
thermometer befindet sich ein kurzes, an beiden Enden verdicktes Glasstängelchen, welches
beim Zusammenziehen des Alkohols zurückweicht bei der Ausdehnung aber liegen
bleibt, mithin die Minimaltemperatur angibt. Hat man diese Temperatur verzeichnet,
so hält man das Instrument schief, wodurch die beiden Stängelchen wieder an den
früheren Ort, an das Ende der beiden Flüssigkeiten gelangen, worauf sich der beschriebene
Vorgang wiederholt.
181. Lufldruck und Baromeler.
Da die Cuft auch ein Körper ist, so nimmt sie wie jeder andere Körper
einen Vaum ein und übt auch einen Druck gegen die Oberfläche der Erde
au. Zedermann weiß, daß man eine Schweinsblase mit Luft füllen und
sie e er entleeren kann. Wenn man ein Trinkglas geschickt unter Wasser
tan wird es von diesem nicht ganz angefüllt, sondern man bemerkt
n Wasser im oberen Teile des Glases einen scheinbar leeren Raum.
rklichkeit ist dieser Raum nicht leer, sondern mit Luft erfüllt. Diese
....nur deshalb einen kleinen Teil des Glases ein, weil sie zusammen—
ger t ist. Daß die Luft in der That auch ein bestimmtes Gewicht hat,
ist darch Versuche dargethan worden. Man hat mittels der Luftpumpe
ein Gefäß luftleer gemacht und es so gewogen; dann hat man es wieder
mit Cuft angefüllt und fand beim zweiten Wiegen ein höheres Gewicht.
Durch genaue Rechnungen hat man festgestellt, daß ein Liter (S Kubikdeci⸗
meter) Cuft ca. 1290 Milligramm, ein Kubikmeter also etwa 1290 Gramm,
alfo 4 Kilogramm (Stk 22 Pfd) wiegt.
Den Luftdruck hat man auch auf das genaueste gemessen. Man nahm
eine etwa Im lange, an einem Ende zugeschmolzene Glasröhre, füllte
diese mit Quecksilber und schloß die Offnung mit dem Finger. Dann
brachte man die Röhre in ein Gefäß mit Quecksilber, so daß die Offnung
noch geschlossen unter dasselbe kam. Zog man dann den Finger weg, so floß
das Quecksilber aus der Röhre nur zum Teil aus und blieb etwa 76 em
oder 760 mn (28 Pariser Zoll), von der Oberfläche des Quecksilbers im
Gefäße an gemessen, in derselben stehen.
Wie erklärt sich diese Erscheinung?
Die Luft übt ihren Druck auf die Oberfläche des Quecksilbers aus,
und durch diesen Druck wird das Quecksilber in der Röhre im Gleichgewicht
erhalten, da von oben — weil der Raum über dem Quecksilber luftleer
ist — kein Gegendruck stattfinden kann. Bricht man oben die Spitze ab,
so fließt das Quecksilber augenblicklich aus der Röhre, weil der Luftdruck
bon oben den auf die Fläche ausgeübten aufhebt. Dieses Experiment gibt
uns ein Mittel an die Hand, den Luftdruck genau zu messen. Nehmen
wir an, die Quecksilbersäule habe einen Quadratcentimeter Fläche, so ist
der gesamte Rauminhalt des Quecksilbers in der Röhre —⸗ 76 cem. Da
181. Luftdruck und Barometer. 307
nun Neem ein Gewicht von 15,68 hat, so wiegt die Quecksilbersäule
76 X 1368 — 1034 g oder rund Ikg. Der Druck der Luft auf ] gem
ist demnach 1kg, auf 1gdm also 100 kg (genauer 103 kg oder 206 Pfd.)
Da nun dieser Cuftdruck resultiert aus der Masse der nach oben sich aus—
dehnenden Luftschicht, so muß derselbe abnehmen, je höher man empor—
steigt. Die angestellten Versuche haben die vollkommene Richtigkeit dieser
Annahme ergeben. Bei sonst gleichen Verhältnissen mindert sich der Luft—
druck ganz gesetzmäßig nach der Höhe, so daß z. B. auf dem Rigi das
Quecksilber nur noch 604 minm hoch steht.
Man hat ein eigenes Instrument hergestellt, um den Luftdruck genau
messen zu können, und dasselbe Bar ometer SSchweremesser, Luftschwere⸗
messer) genannt. Die Anfertigung eines solchen erfordert große Genauig—
keit, wenn es seinem Zweck entsprechen soll. Auf eine nähere Beschreibung
desselben kann hier verzichtet werden, da es überall zum Vorzeigen zu
Gebot stehen wird. Es sei nur soviel bemerkt, daß man den Raum
innerhalb dessen sich die Schwankungen des Barometers bewegen, in Grade
(jetzt nach Millimetern) abteilt.
Es begreift sich nach dem Vorgesagten leicht, daß man das Barometer
auch zu Höhenmessungen benutzen kann. Dies ist aber keineswegs so
leicht, als es bei oberflächlicher Betrachtung erscheint; denn auf die Schwan⸗
kungen des Barometers, d. h. auf sein Fallen oder Steigen wirken außer
der Kbhe der CLuftsäule auch noch andere Ursachen ein. So zunächst die
Temperatur, wie wir ja schon aus der Belehrung über das Thermo—
meter wissen. Aber abgesehen von der Einwirkung der Temperatur er—
geben sich noch sehr auffallende Schwankungen des Barometerstandes.
Man hat sich due früher ausschließlich aus dem wechselnden Feuchtigkeits⸗
gehalte der Luft zu erklären versucht. Aber die Irrtümlichkeit dieser Er⸗
klärung ergibt sich schon aus der Vergleichung der Barometerschwankungen
mit den Erscheinungen am Hygrometer9), Wenn die höhere Sättigung
der Luft mit Wasserdampf das Sinken, die geringere das Steigen des
Barometers bewirkte, so müßten Sinken und Steigen des Quecksilbers mit
den Nachweisen des Hygrometers über höheren oder geringeren Feuchtig—
keits gehalt der Cuft übereinstimmen. Das ist aber nicht der Fall, im Gegen—
teil widersprechen sich in dieser Hinsicht Hygrometer und Barometer oft
gerad⸗zu. Auch ist der Feuchtigkeitsgehalt der Cuft nicht so groß, um so
namhafte Schwankungen, wie sie das Barometer zeigt; bewirken zu können.
Wenn auch der verschiedene Feuchtigkeitsgrad der Luft zu diesen Schwan—
kungen mitwirkt, die hauptsächlichste Ursache ist er nicht. Man erklärt
jetzt als solche die wechselnde Beweglichkeit der Luft. Es ist einleuchtend,
daß eine ruhende Cuftsäule einen stärkeren Druck ausübt, als eine bewegte
Cuftschicht, daß also bei anhaltender Cuftstille das Barometer steigen wird.
) Dieser ist ein Instrument, mit dem der Feuchtigkeitsgehalt der atmosphärischen
Luft genau gemessen werden kann
20*
308 182. Die Elasticität des Wasserdampfes und das Sieden.
Aber noch mehr kommt es auf die Dichtigkeit der CLuft an. Wird die
Cuft erwärmt, so dehnt sie sich aus, steigt in die Höhe und fließt oben
nach kälteren Gegenden ab. Die wärmere und leichter gewordene Cuft—
säule wird nicht mehr so stark auf das Barometer drücken. Das wird
durch folgende Thatsachen bestätigt: In warmen Ländern fällt das Baro—
meter von 10 Uhr morgens bis 4 Uhr nachmittags; auch steht es im
Winter bei uns höher als im Sommer.
Der wärmere und leichtere Wind weht bei uns von Südwest; weht
dieser, so wird das Barometer fallen. Der kältere und schwerere Wind
kommt aus Vordost; dieser wird ein Steigen bewirken. Da nun der Süd—
west vielen, der Nordost sehr wenig Wasserdampf mit sich führt, so schließt
man aus dem Steigen des Barometers auf trockene, schöne, aus dem
Sinken auf feuchte, regnerische Witterung. Dabei ist zu beachten, daß die
Luftströmungen in den höheren Regionen oft ganz andere sind, als in den
niedrigen, daß z. B. in jenen schon Süd⸗ oder Westwind herrschen kann,
während wir in den unteren Regionen noch Ost- oder Nordwind haben.
Auf das Barometer wirken aber die Luftveränderungen in den höheren
Schichten durch den veränderten Druck ein, und darum verkündet uns
dieses den Wechsel in den Luftströmungen und damit den wahrscheinlichen
Witterungswechsel früher, als wir ihn außerdem wahrnehmen können.
Deshalb benutzt man das Barometer auch als Witterungsanzeiger und
heißt dasselbe Wetterglas. Neben der Millimeterskala sind auch die
Bezeichnungen „sehr trocken, schön, veränderlich, Regen, Sturm“ angebracht.
Im allgemeinen treffen diese Witterungsanzeigen zu; ganz zuverlässig aber
sind sie nicht, und es kommt vor, daß wir bei niederem Barometerstande
schöne Witterung und bei hohem Stande Regen haben.
Wir kommen nochmal auf den Druck der Luft zurück. Wie wir oben
erfahren haben, hält der Luftdruck einer Quecksilbersäule von 760 mmn oder
28 Pariser Zoll das Gleichgewicht. Da nun das spezifische Gewicht des
Quecksilbers — 13,6, so muß dieser Druck einer Wassersäule das Gleich—
gewicht halten, welche 13,6 mal so hoch ist. 13,6 X 760 um — 10,33 m
oder 32 Pariser Fuß. Die unternommenen Versuche zeigen die Richtigkeit
dieser Rechnung. Eine Wassersäule steigt im luftleeren Raume bis auf
die bezeichnete Höhe.
Man nennt diesen Luftdͤruck den einer Atmosphäre oder kurz
eine Atmosphäre. Auf dem Druck der Luft beruht die Einrichtung
der Pumpbrunnen, der Feuerspritzen, des Saug- und Stech—
hebers ꝛc.
182. Die Elaslicität des Wasserdampfes und das Sieden.
Unter dem Einflusse der Wärme geht das Wasser vom tropfbarflüssigen
in den gasförmigen Zustand über, es verdunstet. Die Schnelligkeit, mit
welcher das Wasser verdunstet, hängt wesentlich von der Temperatur
desselben ab. Je höher die Temperatur des Wassers ist, um so rascher
182. Die Elasticität des Wasserdampfes und das Sieden. 309
verdunstet es, um so mehr und reichlicher bilden sich Dämpfe an der
Oberfläche desselben. Wäsche und Wege trocknen besser bei warmer,
als bei kalter Witterung aus. Wir können die Verdunstung des in
einem Gefäße enthaltenen Wassers beschleunigen, wenn wir unter demselben
ein Feuer anbringen. Je höher die Temperatur des Wassers steigt, um
so rascher und reichlicher findet auch der Übergang desselben in Dämpfe
statt. Die Dampfbildung erfolgt am reichsten, wenn das Wasser bis 800 R
S 1000 0h) erwärmt worden ist; es gerät dann in eine aufwallende
Bewegung, welche wir mit dem Worte Sieden bezeichnen.
Welches ist aber die Ursache dieses eigentümlichen Aufwallens des
Wassers, welches sich beim Sieden zeigt? So lange die Temperatur des
Wassers 800 noch nicht erreicht hat, bilden sich nur an der Oberfläche des—
selben Dämpfe, und das Wasser verdunstet nur an der Oberfläche; ist aber
die Temperatur bis 800 gestiegen, so erzeugen sich auch im Innern des—
selben Dämpfe, welche das eigentümliche Aufwallen des Wassers hervor—
bringen, dem wir den Namen Sieden beilegen.
Die Dämpfe sind eben so durchsichtig und ausdehnsam, wie die Luft.
Sie unterscheiden sich aber von derselben durch den Umstand, daß sie bei
hinreichender Abkühlung aus dem luftförmigen in den flüssigen Zustand
übergehen, sich wieder zu flüssigem Wasser verdichten. Eine andere Ver—
schiedenheit der Dämpfe von der Luft besteht darin, daß sie nur einen be—
stimmten Druck auszuhalten vermögen, bei stärkerem Drucke aber, eben
so wie bei der Abkühlung, sich zu flüssigem Wasser verdichten.
Je höher die Temperatur ist, um so größer ist auch die Slasticität
der Dämpfe, d. h. die Kraft, mit welcher dieselben sich auszudehnen streben,
und einen um so größeren Druck vermögen dieselben zu tragen, ohne zu
flüssigem Wasser verdichtet zu werden. Bei der Temperatur von 800 hat
die Elasticität der Dämpfe eine solche Größe erreicht, daß sie den vollen
Cuftdruck, also das Gewicht einer Quecksilbersäule von 760 min Höhe, zu
ertragen vermögen.
Wenn wir, um Fleisch oder andere Speisen weich zu kochen, das
Wasser bis zum Sieden erhitzen, so geschieht dies nicht deshalb, weil für
diesen Zweck die wallende Bewegung, welche das Wasser beim Sieden
zeigt, unerläßlich wäre, sondern weil die Temperatur des Siedens die höchste
ist, bis zu welcher wir die Flüssigkeit in einem offenen Gefäß zu erwärmen
vermögen. Nur in dicht verschlossenen Gefäßen, in denen durch den Druck
der eingeschlossenen Dämpfe die weitere Dampfbildung gehemmt wird,
läßt sich das Wasser über 800 Rerwärmen, so daß dann auch schwerer
zu erweichende Substanzen, selbst Knochen, erweicht werden können.
Da die Erscheinung des Siedens dann eintritt, wenn die Dämpfe
dem Luftdrucke das Gleichgewicht zu halten vermögen, so muß das Wasser
bei geringerem Cuftdrucke auch schon bei einer etwas niedrigeren Temperatur
sieden Dies zeigt sich in der That auf hohen Bergen; so siedet z. B. das
Wasser auf dem Hospiz des St. Bernhard in einer Höhe von 2400 m
310 183. Die Dampfmaschine.
über der Meeresfläche bei 749 R( 92,500), auf dem Montblank (über
4800 m) schon bei 689 R 8500) und es läßt sich auf diesen Höhen
Rindfleisch in offenen Gefäßen nicht mehr wohl weich kochen.
VNach dieser Einschaltung kehren wir wieder zu den Dämpfen zurück.
Wie wir schon gesehen haben, besitzen dieselben bei 800 eine Elasticität,
welche dem Luftdrucke gleichkommt. Während bei niedrigeren Tempera—
turen ihre Elasticität geringer ist als der Cuftdruck, geht sie bei höheren
Temperaturen über diese Größe hinaus und wächst bei zunehmender
Temperatur in raschem Verhältnisse. Bei 800 ist die Elasticität der Dämpfe,
wie wir wissen, dem einfachen Luftdrucke gleich; sie steigt aber bei 100
schon ungefähr auf das Doppelte, bei 1200 auf das Fünffache, bei 190
auf das Neunfache und bei 1600 auf das Sechzehnfache.
Wie wir in Ur. 187 dargethan haben, ist der Druck, welchen die
Cuft auf die an der Erdoberfläche befindlichen Körper ausübt, für eine
Fläche von der Größe eines Quadratdecimeters gleich einem Gewichte
von 103 kg. Der Druck, welchen die Dämpfe auf eine Fläche von dieser
Gröge ausüben, ut daher
bei—— gleich zke Atmosphäre
3. m Atmosphären
— 0 7
2175 27
2000 0) 648
f diese große Kraft der Dämpfe gründet sich Lie so nützliche An—
wen derselben in der Dampfm schine. Wir können folgenden
Vers. anstellen: In einer überall Zleichweiten Röhre befindet sich ein
Kolben, welcher sich darin auf und nieder bewegen läßt, übrigens aber
dicht an dieselbe anschließt. Unten erweitert sich die Röhre in eine Kugel,
welche etwa zur Hälfte mit Wasser gefüllt ist. Erhitzen wir nun die
Kugel mit dem Wasser über der Flamme einer Spirituslampe, so wird
der Rolben durch die Kraft der sich entwickelnden Dämpfe gegen den Cuft—
druck emporgetrieben. Tauchen wir dann die Kugel, wenn der Kolben
bis nahe an das obere Ende der Röhre emporgestiegen ist, in ein Gefäß
mit kaltem Wasser, so verdichten (kondensieren) sich die Dämpfe plötzlich
zu flüssigem Wasser, und der Kolben wird durch den äußeren Cuftdruck mit
Heftigkeit in der Röhre niedergestoßen.
In diesem einfachen Versuche sind die wesentlichen Teile einer Dampf⸗
maschine und ihre Wirkungsweise vorgebildet. Die Kugel nämlich stellt
den Dampfkessel, die Röhre den Dampfcylinder und das Gefäß mit kaltem
Wasser den Kondensator vor. Mach A. Bernstein.)
183. Die Dampfmaschine.
1. GWichtigkeit der Erfindung.) Wie die Buchdruckerkunst ein
mächtiger Hebel geworden ist, die Wissenschaft zu befördern, die Wahrheit
zu verbreiten und somit das Menschengeschlecht auf eine höhere Stufe
183. Die Dampfmaschine. 20
geistiger und sittlicher Freiheit zu erheben, so beginnt mit der Einführung
der Kraft des Dampfes zum Dienste des Menschen eine neue Zeitrechnung
für die Industrie und den Weltverkehr, eine neue Epoche in der Entfaltung
des Wohlstandes, ein neuer Fortschritt in der Entwickelung des sozialen
Lebens, kurz eine in ihren Folgen noch nicht berechenbare Wirkung auf
die gesamte Kulturgeschichte. Darum zählt sie auch, da sie die Größe der
Thaten nicht nach der Zahl der Erschlagenen preist, einen James Watt)),
den Vater der Dampfmaschine (1769), einen Robert Fulton?), den Er—
finder des Dampfschiffes (1807), einen Georg Stephenson?) den Er—
finder der Lokomotive (1829), zu den unsterblichen Wohlthätern der
Menschheit.
Wie die ersten Keime jeder großartigen Erfindung nicht in dem eigent⸗
lichen Erfinder, sondern in dessen Vorläufern wurzeln, hatte auch die
Dampfmaschine eine etwa hundertjährige Entwickelung zu durchlaufen, ehe
sie auf die Stufe der Vollendung gelangte, die ihr Watt gegeben, und auf
der sie F9 bis heute der Hauptsache nach erhalten hat. Wir können hier
keine Geschichte der Dampfmaschine geben;, aber es mögen doch die drei
bedeutendsten Vorläufer der obengenannten Erfinder nicht unerwähnt bleiben:
der Physiker Papirn welcher zuerst einen Kolben mittelst Dampf in
Bewegung schte; der Eogländer Savery)) welcher die erste Dampfmaschine
konstruierte zur Hebung des Grubenwassers aus Kohlenbergwerken, die
hernach durch Thomas Newcomen sehr wesentliche Verbesserungen erfuhr.
eDampfmaschine selbst) Eine Dampfmaschine ist ein so
kuns sammengesetztes Werk, daß selbst die umfangreichste und sorg—
fälti eschreibung kein klares Bild von der Einrichtung und Thätigkeit
derselben geben könnte und dem Leser immer noch vieles rätselhaft und
unerklärlich bleiben würde. Nur an der Hand guter, bis ins einzelne durch—
geführter Modelle, am besten durch Betrachten der Maschine und ihrer
Teile selbst, kann eine völlig richtige Kenntnis gewonnen werden. Deshalb
begnügen wir uns hier mit allgemeinen Umrissen, aus denen wenigstens
ein Einblick in das Wesen und die Wirksamkeit der Dampfmaschine gewonnen
werden kann.
Wir haben (in Nr. 182) bereits dargelegt, daß bei einer Temperatur
von 90 das Wasser unter lebhaftem Aufwallen sich in Dampf ver—
wand und daß dieser Dampf in offenen Gefäßen dem Drucke der atmo—
sphürtschen Luft das Gleichgewicht hält. Erhitzt man aber Wasser in einem
verschlossenen Gefäße, so daß die Dämpfe nicht entweichen können, so nehmen
die zugleich mit eingeschlossenen Dämpfe eine immer steigende Spannkraft
an, welche bis zu einer furchtbaren Stärke anwachsen kann.
So steigt diese Spannkraft auf das Doppelte (S 2 Atmosphären) bei
einer Erhitzung auf 12500, bei 1500 schon auf 5, bei 1850 auf 10 Atmo—
sphären. Da nun der Druck einer Atmosphäre auf 1 gem ungefähr 1kg
) spr. dschems uott. ) föllln. 9) stiv'ns'n. 9 papäng. 9) saw'ri. ) njuköm.
312 183. Die Dampfmaschine.
beträgt (s. Nr. 181 S. 307), so wächst der Druck mit der Zahl der Atmo—
sphären, d. h. ein Dampf von 5 Atmosphären übt einen Druck von 5
(genau 5,15) kg, ein Dampf von 10 Atmosphären von 10,3 ks auf 1gem aus.
Auf diesen Druck gründet sich die Einrichtung der
Dampfmaschine.
Zu derselben ist zunächst ein Kesssel (Dampfkessel) nötig, in dem durch
entsprechend starke Feuerung (in der Regel Steinkohlenfeuerung) Wasser in
Dam verwandelt und dieser bis zu einem gewissen Grad erhitzt wird.
Me nen, welche Dampf von großer Spannkraft (426, selten bis zu 10
Aln hüũren) anwenden, heißen Hochdruckmaschinen, Maschinen, die
mi. Dampf von geringerer Spannkraft (bis zu 4 Atmosphären) arbeiten,
Neverdruckmaschinen. Man muß aber nicht glauben, daß Niederdruck⸗
maschinen weniger Effekt erzielten, als Hochdruckmaschinen. Es kommt auch
auf den Umfang der Fläche an, auf welche der Druck ausgeübt wird. Man
wird z. B. die ganz gleiche Wirkung erzielen, ob man den Druck einer
Atmosphäre wirken läßt auf eine Fläche von 4 dm Quadratfläche, oder ob
vier Atmosphären auf 1 dm Quadratfläche wirken. Die Hochdruckmaschinen
wendet man vorzüglich bei Lokomotiven an.
Die Dampfkessel werden jetzt meistens von gewalztem Eisenblech ge—
fertigt; nur ausnahmsweise wird noch Kupfer angewendet. Die Kessel selbst
sind von verschiedener Form, doch fertigt man sie so, daß möglichst viel
Oberfläche der Feuerung dargeboten wird. Gewöhnlich wählt man die Form
der Röhre.
Den Dampfkessel der Lokomotive durchziehen mehrere Kupferröhren, die von erhitzter
Luft durchströmt werden und so das sie rings umgebende Wasser erhitzen
Am Kessel sind auch Vorrichtungen angebracht, um die Spannkraft des
Dampfes und den Wasserstand anzuzeigen. Ferner muß derselbe ein Ableitungs⸗
rohr für den Dampf und ein Speiserohr zum Wassernachfüllen, sodann ein
Sicherheitsventil und das sogenannte Mannloch haben.
Das Sicherheitsventil hat den Zweck, die Spannung des Dampfes nur bis
zu einem gewissen Grade gelangen zu lassen, sich bei Überschreiten dieser Spannkraft
selbst zu öffnen und dem überflüssigen Dampfe einen Ausweg zu gestatten.
Das Mannloch dient dazu, daß man zur Reinigung in den Kessel gelangen
kann. An den Wänden des Dampfkessels setzt sich allmählich eine Kruste aus den beim
Sieden vom Wasser ausgeschiedenen Bestandteilen an, der sogenannte Kesselstein.
Dieser beeinträchtigt nicht nur die Übertragung der Wärme an das Wasser, sondern
derselbe kann auch Explosionen veranlassen, nämlich wenn er sich ablöst und dann das
Wasser plötzlich mit den glühenden Platten in Berührung kommt.
Kesselexplosionen können übrigens auch aus anderen Veranlassungen erfolgen.
Sodann ist an der Dampfmaschine ein Cylinder, in den ein beweglicher
Kolben genau eingepaßt ist. Bei den Niederdruckmaschinen steht der
Cylinder in der Regel senkrecht und der Kolben bewegt sich auf und ab;
bei den Hochdruckmaschinen aber, besonders bei Lokomotiven, liegt er wag—
recht und der Kolben bewegt sich vor- und rückwärts. Durch eine besondere
183. Die Dampfmaschine. 313
Vorrichtung gelangt der Dampf beim senkrechten Cylinder abwechselnd über
und unter den Kolben, beim wagrechten vor und hinter denselben, und zu
gleicher Zeit entweicht der Dampf auf der entgegengesetzten Seite, so daß
also der Cylinder mit großer Kraft und Schnelligkeit bald ab⸗, bald auf—
wärts, bezw. vor-⸗ und rückwärts geschoben wird.
Bei der Niederdruckmaschine entweicht der Dampf nicht vollständig, sondern er ge—
langt durch ein Ableitungsrohr in einen Behälter, der mit kaltem Wasser umgeben ist.
(Kondensator.) Die Abkühlung bewirkt, daß der Dampf wieder in tropfbar⸗flüssiger
Form niedergeschlagen (S kondensiert) und dann wieder zu weiterer Dampfbildung
benützt wird.
Wie dieses Hin- und Herbewegen des Kolbens zur Bewegung eines
Rades (des Schwungrades) benützt wird, das läßt sich am einfachsten an
einem Spinnrade oder am Rade des Scherenschleifers veranschaulichen.
Durch das Treten wird eine Stange auf und ab bewegt, die dann das
Rad in Schwung setzt. Ähnlich — aber freilich nicht so einfach, sondern
sehr kompliziert — sind die Triebwerke der Dampfmaschinen. In der Mitte
des Kolbens ist eine Stange befestigt Kolbenstange), die sich mit dem
Kolben auf- und ab⸗, oder vor- und rückwärts bewegt. Am entgegengesetzten
Ende greift die senkrecht stehende Stange an das Ende eines zweiarmigen
Hebels ein, der sich um einen Stützpunkt auf und ab bewegt GBalanciery).
Vom Ende des anderen Hebelarmes geht eine andere Stange (Treibstange)
abwärts, deren unteres Ende durch eine Kurbel mit der Welle des Schwung—
rades verbunden ist und dieses zur Umdrehung bringt. Die Hochdruck—
maschine ist etwas anders konstruiert, wie es denn überhaupt sehr ver—
schieden gebaute Maschinen, auch solche ohne Balancier, gibt. Doch beruhen
sie alle auf demselben Prinzip: auf der durch den Dampf bewirkten Kolben—
bewegung.
Man berechnet die Arbeitsleistung der Dampfmaschine gewöhnlich nach Pferde—
kräften. Man versteht unter Pferdekraft diejenige Kraft, welche nötig ist, in 1Sekunde
eine bestimmte Anzahl von Kilogramen 1 Meter hoch zu heben. Die Zahl der Kilo—
gramme differiert nach den Bestimmungen verschiedener Lünder etwas; sie beträgt aber
durchschnittlich in runder Zahl 75. Eine Maschine von 6 Pferdekräften hebt also 450 kg
in 1Sekunde 1m hoch. Keineswegs verhült es sich mit der Leistung dieser Maschine
so, daß sie etwa täglich die Arbeit von 6 Pferden verrichtet. Denn die wirkliche Durch⸗
schnittskraft eines Pferdes betrügt nur 50 Kilogrammometer, und wenn man eine
Maschine von 1 Pferdekraft Tag und Nacht arbeiten läßt, ist ihre Arbeitsleistung der
von 31 Pferden gleichzusetzen, die einer Maschine von 6 Pferdekräften also der von
21 Pferden.
Man rechnet, daß eine stehende Maschine von 1 Pferdekraft pro Stunde 20 Pf.
Kohlen und 24 — 30 Pf. Wasser erfordern. Der Verbrauch steigert sich aber nicht in
gleichem Maße, in dem die Pferdekraft wüchst; denn eine Maschine von 10 Pferdekräften
braucht nur 100 Pf., eine von 20 nur 166 Pf. eine von 100 nur 565 Pf. Kohlen in
der Stunde. (Vom Herausgeber nach E. Reichert, Fr. Schödler, Otto Dammer.)
21 184. Vom Magnetismus.
184. Vom Magnelismus.
1. Der Magneteisenstein, ein Eisenerz, zeigt die merkwürdige Eigenschaft,
kleine Gegenstände von Eisen, z. B. Eisenfeilspäne, Nadeln ꝛc. anzuziehen
und festzuhalten. Diese Erscheinung nannte man Magnetismus und
das Erz, welches diese Anziehung ausübt, einen natürlichen Magnet. Man
hat aber gefunden, daß hartes Eisen (Stahl) durch Bestreichen mit einem
solchen natürlichen Magnete ebenfalls magnetisch wird, und man kann künst—
liche Magnete herstellen, die Eisenstücke von großem Gewicht festzuhalten
vermögen. Nickel und Kobalt werden ebenfalls magnetisch angezogen.
Bringt man einen magnetischen Eisenstab mit Eisenfeilspänen in Ver—
bindung, so bemerkt man noch etwas Auffälliges. An den beiden Enden
sammeln sich die Eisenspäne gehäuft an; die Mitte des Magnets bleibt leer,
auch wenn man die Eisensplitterchen ganz gleichmäßig auf denselben ge—
streut hat.
Wir können durch einen andern Versuch noch etwas Eigentümliches
finden. Nehmen wir einen magnetisch gemachten Eisenstab und hängen ihn
in einer verschiebbaren Hülse von Messingblech an einem Faden so auf, daß
er sich frei drehen kann, so wird sich, wenn er zur Ruhe kommt, ein Ende
gegen Norden, das andere gegen Süden wenden. Wir dürfen die Enden
drehen, nach welcher Himmelsgegend wir wollen, immer kehren sie wieder
in diese Lage zurück. An einer magnetischen Nadel, die wir auf einem
Stifte frei schweben lassen, bemerken wir dasselbe. Wir bezeichnen deshalb
das nach Norden gerichtete Ende als Nordpol, das nach Süden zeigende
als Südpol.
Wir werden aber bald noch etwas Seltsameres sehenn Nehmen wir
einen Magnetstab und nähern wir seinen Nordpol dem Nordpol der Magnet—
nadel (oder des am Faden hängenden Magnetstabes), so wird sich der frei—
schwebende Magnet mit seinem Nordpole ab- und mit dem Südpole dem
Nordpol des andern Magnetes zukehren. Bringen wir aber dem Südpole
des freischwebenden Magnets den Nordpol des andern nahe, so wird er
von diesem angezogen, kurz wir finden, daß stets die gleichnamigen Pole
sich abstoßen, die ungleichnamigen aber sich anziehen.
Weiter: Wir legen einen Magnetstab auf den Tisch; dann bewegen
wir nahe demselben eine Magnetnadel von einem Ende zum andern. Was be—
merken wir da? An dem einen Ende (dem Nordpol) des Stabes stellt sich
die Magnetnadel so zum Stabe, daß sie mit ihm rechtwinklig steht, den
Südpol ihm zugekehrt. Je mehr wir gegen die Mitte des Stabes kommen,
desto mehr weicht die Nadel von der rechtwinkligen Stellung ab, und in der
Mitte liegt sie parallel zum Stabe; gegen das andere Ende (den Südpol)
zu gelangt sie allmählich wieder in die rechtwinklige Lage, aber sie wendet
ihren Nordpol dem Stabe zu, den Südpol ab.
Noch einen Versuch. Wir lassen ein kleines Eisenstäbchen von einem
Magnet anziehen und festhalten. Bringen wir nun an das untere Ende
314
184. Vom Magnetismus. 315
des Stäbchens ein anderes, so wird dieses vom ersteren angezogen und
festgehalten. Das Stäbchen ist selbst zu einem Magnet geworden. Das
zweite Stäbchen zieht aber auch wieder ein drittes an und so bis zu einer
gewissen Zahl, je nach der Größe und Kraft des eigentlichen Magnets. Diese
Erregung des Magnetismus nennt man magnetische Verteilung. Nimmt
man das oberste Stäbchen vom Magnet ab, so fallen alle anderen Stäbchen
zu Mden. Bringen wir Stahlfedern oder Stahlstäbchen an den Magnet,
fo Aeiben auch einige an einander hängen, aber sie werden nicht so rasch
magnetisch. Dagegen können sie sich gegenseitig auch ohne Zusammenhang
mit dem eigentlichen Magnet noch einige Zeit festhalten. Eisen nimmt also
den Magnetismus leichter auf, verliert ihn aber auch früher wieder; Stahl
nimmt ihn schwieriger an, hält ihn aber längere Zeit fest. Darum wählt
man zu künstlichen Magneten nur gehärtetes Eisen (Stahl).
Man glaubt vielleicht, wenn man einen Magnet in der Mitte teile,
daß dann an der einen Hälfte Nord- an der anderen Süd⸗Magnetismus
sich zeige. Dem ist aber nicht so. Jeder Teil zeigt sich wieder an dem
inen Ende als magnetischer Süd-⸗, am andern als magnetischer Nordpol,
und mag man die Teilung noch weiter fortsetzen — immer findet man die—
selbe Ürscheinung. Um dies zu erklären, nimmt man an, daß schon die
Moleküle der Magnete magnetisch, und daß die gleichnamigen Pole derselben
nach einer Seite gelagert seien. Mit dieser Hypothese)) sind allerdings
die magnetischen Erscheinungen noch nicht in ihrem eigentlichen Grunde
erklärt.
In Wirklichkeit hängen dieselben auf das innigste mit den elektrischen,
diese wit jenen zusammen, so daß sie sich offenbar auf eine und dieselbe
Ursache oder Kraft zurückführen lassen. Schon die Ähnlichkeit in den Er—
scheinungen der positiven und negativen Elektricität und des Nord⸗ und
Sud⸗Magnetismus weisen darauf hin. Man hat aber diesen Zusammenhang
noch durch andere Erscheinungen und Versuche dargethan. Der Schließungs⸗
draht einer Voltais en Säule zieht Eisenfeilspäne an, wenn ein starker
elektriszer Strom durch denselben geht; der elektrische Strom lenkt aber
auch e Magnetnadel ab und gibt ihr eine bestimmte Richtung; endlich
ist es gelungen durch den elektrischen Strom Eisen magnetisch zu machen,
auf welcher Wirkun; ja der Telegraph hauptsächlich beruht. Umgekehrt
vermag man durch den Magneten elektrische Ströme hervorzurufen. Wie
man Elektrieität und Galvanismus schon früher als auf denselben natürlichen
Ursachen beruhend erkannte, so zweifelt man nun nicht mehr daran, daß
auch Elektricität und Magnetismus im Grunde Wirkungen derselben Natur—
kraft seien, die sich nur in bestimmten Fällen verschiedenartig äußern. Das
) Unter Hypothese versteht man einen Lehrsatz, der zwar noch nicht wissen—
schaftlich erwiesen ist, der aber Wahrscheinlichkeit für sich hat, und aus dem man andere
Lehrsätze ableiten oder verschiedene Erscheinungen erklären kann. So ist die Annahme
des Athers — S 303 — hypothetisch, weil das Vorhandensein des Äthers noch keines—
wegs erwiesen ist.)
35 184. Vom Magnetismus.
Geheimnis dieser Naturkräfte selbst ist freilich noch nicht soweit erforscht,
um eine sichere Theorie) aufstellen zu können.
2. Wir haben oben gesagt, daß die eine Spitze einer freischwebenden
Magnetnadel sich stets nach Norden wende; wir müssen dem aber beifügen,
daß für ganz Europa, mit Ausnahme eines kleinen Teils von Rußland,
die Richtung der Magnetnadel keine streng nördliche ist, d. h. daß die Spitze
nicht nach dem geographischen Norpol hinweist, sondern daß sie nach Westen
abweicht. (In anderen Gegenden der Erde weicht sie nach Osten ab.) Diese
Abweichung nennt man die Deklination der Magnetnadel, und sie ist für
verschiedene Stellen der Erde verschieden. Verbindet man die Orte mit
gleicher Abweichung durch Linien (S isogenische Linien), so zeigen diese
keineswegs eine soche Regelmäßigkeit, wie etwa die Erdmeridiane, sondern
sie laufen unregelmäßig, ja oft ziemlich verworren. Sie treffen aber im
Norden in einem Punkte zusammen, den man den magnetischen Nordpol
nennen kann, und der sich ungefähr dort findet, wo sich der 74. nördl.
und der 78. westl. Länge (von Ferro) schneiden.
Der Seefahrer James Roß hat i. J. 1831 diesen magnetischen Pol aufgefunden.
Als er ihn umfuhr, machte die Magnetnadel einen vollständigen Umlauf, indem sie
stets auf ihn hinzeigte. In der unmittelbaren Nähe desselben hatte sie ihre Richtkraft
aber gänzlich verloren, und erst mehrere Meilen von demselben entfernt, nahm sie
wieder feste Richtung an.
Ein ähnlicher Magnetpol (magnetischer Südpoh findet sich auf der
südlichen Erdhälfte, etwa 759 Südbreite und 178 östl. Länge, in der Nähe
von Vandiemensland. Diese beiden Pole liegen einander aber nicht, wie
die Erdpole, diametral gegenüber, sondern wenn man sie in der Meridian—
richtung durch einen Bogen verbindet, mißt dieser ca. 1600, beziehungsweise
2002, nicht 180 180
Höchst merkwürdig ist, daß die Deklination der Magnetnadel für einen bestimmten
Punkt der Erdoberfläche keine konstante (S gleichbleibende) ist, sondern sehr bedeutenden,
aber regelmäßigen Schwankungen unterliegt. Noch vor ungefähr 300 Jahren wich
die Magnetnadel für unsere Gegenden nicht nach Westen, sondern nach Osten ab; vor
etwa 200 Jahren trat ein Zeitpunkt ein, zu dem sie genau nach dem Nordpol zeigte;
dann wandte sie sich gegen Westen, bis sie vor ea. 50 Jahren das Maximum ihrer
westlichen Deklination erreicht hatte; gegenwärtig nähert sie sich wieder langsam dem
Nordpol.
Außer dieser Veränderung in der horizontalen Lage zeigt eine frei
schwebende Magnetnadel eine ebenso auffallende in ihrer vertikalen Neigung.
Am magnetischen Äquator (der mit dem Erdäquator weder zusammenfällt,
noch einen Hauptkreis, sondern nur eine unregelmäßig gekrümmte Linie
darstellt) steht sie wagrecht. Je weiter man gegen Norden kommt, desto mehr
neigt sich der Nordpol der Erde zu, und am magnetischen Nordpol steht die
Nadel senkrecht. Diese Abweichung der Nadel von der Horizontallage nennt
) Theorie ⸗ Lehre, Lehrgebäude, hier wissenschaftliche Grundsätze, aus denen
sich die elektro magnetischen Erscheinungen mit Sicherheit erklären ließen.
16
185. Von der Elektricität. 317
man Inklination, und die Linien, welche Orte mit gleicher Inklination
verbinden, Isoklinen.
Gleich der Deklination ist auch die Inklination nicht nur einer räumlichen,
sondern auch einer zeitlichen Veränderung unterworfen. Seit etwa 100 Jahren ist
sie in unsern Gegenden im Abnehmen begriffen.
3. Ihre hauptsächlichste Anwendung hat die Magnetnadel im Kompaß
gefunden. Tie Erfindung desselben wird gewöhnlich dem Italiener Flavio
Gioja (1302 — 1320) zugeschrieben. Aus Schriften der Normannen aber
geht unzweifelhaft hervor, daß diesen schon zu Ende des 11. Jahrhunderts
der „wegweisende Stein“ (S Magnet) bekannt war, und daß er südlichen
Seefahrern noch früher mußte bekannt gewesen sein. Die Chinesen sollen
ihn schon im zweiten Jahrhundert n. Chr. benützt haben. Möglich, daß
Gioja zuerst einen nadelförmigen Magnet in einer Kapsel eingeschlossen hat.
Der gewöhnliche Schiffskompaß ist in 32 Teile geteilt; dieser genügt zum Steuern
Zu genaueren Messungen Peilungen) haben die Instrumente noch Gradeinteilung und
einen Meßapparat (Diopter). Vom Herausgeber.)
185. Von der Elektricität.
J. Elektrische Erscheinungen. Wenn man eine Siegellackstange
an einem wollenen Lappen reibt, so erhält dieselbe die Eigenschaft, ) leichte
Körper, z. B. Stückchen Papier, Strohhälmchen, Metallblättchen u. s. w.
anzuziehen. Nähert man derselben 2) im Dunkeln einen andern Körper,
z.B den Finger, so zeigt sich zwischen der Siegellackstange und dem Finger
ein Funken, welcher 3) mit einem schwachen Geräusche (Knistern) ver—
bunden ist. Man nennt die angeführten Erscheinungen elektrische, die
uns unbekannte Ursache derselben Elektricität und einen Körper elek—
t oder elektrisch, wenn er elektrische Erscheinungen zeigt. Siegellack
ist nicht der einzige Körper, welcher durch Reiben elektrisch werden
kann, sondern dasselbe gilt auch von vielen andern Körpern, z. B. von
Harz, Bernstein, Glas, Edelsteinen, trocknem Holze u. am. Ja es können
sogar unter gewissen Bedingungen alle Körper elektrisch werden.
Worauf die Erregung der Elektricität durch die verschiedenen Mittel eigentlich
beruht, ist uns unbekannt, sowie ja auch überhaupt das Wesen der Elektricität
noch nicht erforscht ist. Wenn auch zu vermuten steht, daß Elektricität und Magne—
tismus ebenso wie Licht und Wärme in eigentümlichen Schwingungen der kleinsten
Teile Moleküle) der Körper bestehe, so geht uns doch die nähere Kenntnis hierüber
noch gänzlich ab.
Die Alten kannten fast nur die elektrische Eigenschaft des Bernsteins; erst im
Jahre 1600 zeigte der Engländer Gilbert, daß auch andere Körper durch Reiben
elektrisch werden können.
2. Elektrische Leitung. Wenn man ein Scheibchen Papier etwa
oon der Größe eines Zweipfennigstücks an einem seidenen Faden aufhängt
und einer geriebenen Siegellackstange nähert, so wird dasselbe von der
Siegellackstange erst angezogen, nach der Berührung mit derselben aber
318 185. Von der Elektricität.
abgestoßen. Dieses Scheibchen zeigt nun ein ähnliches Verhalten, wie die
geriebene Siegellackstange, wenn auch in schwächerem Maße; es zieht leichte
Körper an, z3 B. ein anderes an einem seidenen Faden hängendes Scheib⸗
chen, und stößt es nach der Berührung wieder ab, woraus man schließen
kann, daß das mit der Siegellackstange in Berührung gebrachte Scheibchen
nun ivst elektrisch geworden ist. Funken und Knistern werden aber nicht
leicht wahrgenommen, weil sie allzu schwach sind. Das Scheibchen verliert
seine Elektricität wieder, wenn es mit dem Finger berührt wird. In den
angeführten Versuchen war das Scheibchen nicht durch Reiben, sondern
durch Berührung mit einem elektrischen Körper elektrisch geworden. Man
nennt diese letztere Art der Elektricitätserregung elektrische Mitteilung,
Hält man aber ein Scheibchen an einem metallenen Faden (wie dergleichen
z B. um echte oder unechte Silber- oder Goldschnüre oder übersponnene
Saiten gewickelt werden) oder in Ermanglung dessen an einem angefeuchteten
Zwirnfaden auf, so wird es niemals gelingen, dem Scheibchen Elektricität
mitzuteilen. Dasselbe wird von der geriebenen Siegellackstange nur an—
gezogen, nicht wieder abgestoßen und erlangt nie, wie oft und lange es
auch mit der elektrisierten Siegellackstange in Berührung gebracht wird, die
Fähigkeit, andere Körper anzuziehen. Dieses verschiedene Verhalten des
Seidenfadens und des Metallfadens in den angeführten Versuchen findet
seine Erklärung in der Annahme, daß der Metallfaden die Elektricität
fortleitet, während der Seidenfaden dies nicht thut. Körper, welche sich
wie der Metallfaden in den angegebenen Versuchen verhalten, pflegt man
überhaupt gute Leiter oder auch kurzweg Leiter der Elektricität die—
jenigen aber, welche sich wie der Seidenfaden verhalten, Nichtleiter
oder richtiger schlechte Leiter zu nennen. Die besten Leiter der Wärme,
die Metalle, leiten auch die Elektricität am besten, dann Kohle, obschon
sie bekanntlich die Wärme schlecht leitet, ferner Wasser und alle wässerigen
Flüssigkeiten, daher auch tierische und Pflanzenkörper im saftreichen Zu⸗
stande, feuchtes Erdreich u. dgl. m. — Zu den schlechten Leitern der Elek—
tricität gehören fast alle die Körper, welche die Wärme schlecht leiten, die
durchsichtigen Edelsteine, Eis, Schwefel, Harz, Seide, Haare, Federn und
ganz besonders trockene Luft.
Zwischen guten und schlechten Leitern findet aber keine scharfe Scheidung, sondern
ein allmählicher Übergang statt, welcher durch die zwischen beiden stehenden Halbleiter
vermittelt wird; zu diesen gehören Horn, Knochen, Holz, Papier, Marmor, Kreide,
Gips, überhaupt die meisten undurchsichtigen Erden und Steine, fette Ole u. a. m
3. Isolierung. Aus dem Vorhergehenden ist nun auch klar, daß,
wenn man einen guten Leiter elektrisieren will, derselbe isoliert, das heißt
ringsum von schlechten Leitern umgeben sein muß. So kann man z.B.
auch die guten Leiter eben sowohl als die schlechten durch Reibung elektri⸗
sieren, wenn man dieselben nicht unmittelbar in der Hand, sondern z. B.
an einem isolierenden gläsernen Griffe hält. Ebenso ist klar, daß, wenn
die Luft zu den guten Leitern gehörte, elektrische Erscheinungen gar nicht
185. Von der Elektrieität. 319
wahrgenommen werden könnten. Da aber auch die besten Isolatoren,
Harz, Glas, Seide, Wolle, Haare) keine absoluten Nichtleiter sind, die
chlechten Leiter von den guten Leitern sich nur dadurch unterscheiden, daß
sie der Sortpflanzung der Elektricität einen größeren Widerstand entgegen⸗
tzen eselbe aber nicht gänzlich hindern, so ist es auch nicht möglich,
einen rischen Körper so vollkommen zu isolieren, daß er seine Elektricität
für alle Zeit beibehielte Jeder elektrische Körper gibt, auch wenn er aufs
sorgfäl e isoliert ist, seine Elektricität allmählich an die umgebende Cuft
und die ihn tragenden Isolatoren ab. Je stärker die in einem Körper
ange! te Elektricität ist, um so leichter vermag sie die Leitungswider⸗
stände 51 überwinden, um so rascher verliert daher der Körper selbst bei
angem ner Isolierung den größten Teil seiner Elektricität. Hat sich
aber seine Elektricität bis zu einer geringen Stärke vermindert, oder
war in dem Körper überhaupt nur eine schwache Elektricität vorhanden,
wi. Agleichbleibender Isolierung erst nach längerer Zeit eine Ab⸗
nahn er Elektricität bemerklich. Die äußerst schwache, aber anhaltend
ströme. Liektricitãt der galvanischen Batterien läßt sich deshalb durch
bie T. hendrähte, welche durch kleine Porzellan- oder Glassäulen
lsoliert .. hunderte von Meilen fortleiten und bringt selbst in dieser Ent—
fernu noch die gewünschte Wirkung hervor.
Zeseß der elektrischen Anziehung und Abstoßung.
Bi⸗ en wir unsere Versuche immer nur mit einem einzigen ge⸗
riebene.nn örper, z. B. mit einer Siegellackstange oder mit einer Glas—
stange, angestellt. Neue Erscheinungen gehen hervor, wenn wir eine Glas—
stange und eine Siegellackstange zugleich anwenden. Sind beide mit einem
wollenen Lappen gerieben und wir berühren ) ein Scheibchen, welches
an einem Seidenfaden aufgehängt ist, mit der Glasstange, so wird dasselbe
nach der Berührung von der Glasstange abgestoßen, aber von der Siegel⸗
lackstange angezogen. 2) Haben wir aber das Scheibchen mit der Siegellack—
stange in Berührung gebracht, so wird es von dieser abgestoßen, dagegen
von der Glasstange angezogen. 3) Hängen wir zwei Scheibchen an Seiden—
fäden anf und berühren beide mit der Glasstange, so stoßen sie sich gegen—
seitig & Verühren wir beide Scheibchen mit der Siegellackstange, so
stoßen sie ach ebenfalls einander ab. 5) Wenn wir aber das eine Scheibchen
mit der Glasstange, das andere mit der Siegellackstange berühren, so
ziehen sie einander an.
Aus diesen Versuchen geht unwiderleglich hervor, daß es zwei ver—
schiedene Elektricitäten gibt, welche zuerst Glas- und Harz Elektricität ge—
nannt worden sind, später aber die jetzt allgemein gebräuchliche Benennung
positive und negative Elektricität erhalten haben. Das Gesetz der beiden
Elektricitäten läßt sich nun nach den obigen Versuchen also aussprechen:
Die gleichnamigen Elektricitäten stoßen sich ab, die ungleichnamigen
ziehen sich an, also das nämliche Gesetz wie beim Magnetismus.
320 186. Der elektrische Funke und der Blitz.
Durch dieses Gesetz ist uns auch das Mittel gegeben, die Elektricität
eines Körpers zu prüfen. Wir hängen nämlich für diesen Zweck zwei
Scheibchen an Seidenfäden auf, erteilen dem einen durch Berührung mit
einer geriebenen Glasstange positive Elektricität, dem andern durch Be—
rührung mit einer geriebenen Siegellackstange negative Elektricität und
sehen dann zu, welches der beiden Scheibchen von dem zu prüfenden Körper
abgestoßen wird, das positive oder das negative.
(Karl Koppe, Anfangsgründe der Physik.)
186. Der elektrische Funke und der Blitz.
Die Entdeckung, daß die Metalle eine so starke Kraft besitzen, die
Elektricität zu leiten, führte zu der herrlichen und nützlichen Erfindung des
Blitzableiters. Franklin, ein Bürger Nordamerikas, der sich als Staats—
mann, Naturforscher und Volksschriftsteller unsterbliche Verdienste erworben
hat. war es, der auf den großen Gedanken kam, daß der Blitz, der aus den
Won en hervorbricht und zündend und vernichtend seinen Weg zur Erde
such,, am Ende nichts anderes sei wie der elektrische Funke, der aus ge—
riebenem Glase hervorspringt, nur daß dieser Funke mit schwachem Licht
und leichtem Knistern sich Bahn bricht durch die Luft, während der Blitz,
dieser große elektrische Funke, mit blendendem Lichte und donnernder Stimme
seine Bahn durchzuckt.
Dieser Gedanke war schon vorher vielfach gehegt worden und hatte zu
mannigfachen Versuchen Veranlassung gegeben. Statt der einfachen ge—
riebenen Glasstange hatte man schon begonnen, Maschinen zu bauen, woran
groß⸗, runde Glasscheiben an dazu eingerichteten Kissen gerieben wurden;
beitere Vervollkommnung hatte zu den vortrefflichen Vorrichtungen geführt,
die —enwärt: noch die Hauptteile der Elektrisiermaschine ausmachen.
Dur jeeignete Instrumente lernte man die schwache Elektricität ansammeln
in einr Metallkugel, aus der man bedeutende Funken hervorspringen lassen
konn. Ja, man verstand es schon, Funken aus der Elektrisiermaschine
und den dazu gehörigen Instrumenten hervorzurufen, die stark genug waren,
Tiere zu tölen. Die Ähnlichkeit solcher Funken mit dem Blitz lag also nahe
genug. Allein Franklin, der große Denker begnügte sich nicht mit der Er⸗
klärung des Blitzes, sondern hatte den Mut zu versuchen, ob er den Blitz
ebenso regieren könne, wie man den elektrischen Funken regieren und zwingen
kann, einen bestimmten Weg zu wandeln.
Was ursprünglich für eine Spielerei betrachtet wurde, das Hervorlocken
eines Funkens aus geriebenem Glase, war freilich schon im kleinen das
Bild einer der erhabensten und furchtbarsten Naturerscheinungen geworden;
aber der weise Franklin, der weitere Folgen daran knüpfte, verschmähte es
nicht, wieder zu einem Kinderspiel zu greifen, und machte seine ersten Ver—
suche, den Blitz abzuleiten, mit dem Papierdrachen seines Sohnes, den er
hoch hinauf in die Luft steigen ließ, in dessen Schnur er aber einen feinen
—
186. Der elektrische Funke und der Blitz. 221
Metallfaden einwebte mit dem Wunsche, daß dieser Metallfaden einen Blitz
vom Himmel herablocken möge.
Nach wenigen Wiederholungen gelang sein Versuch vollkommen. Trotz
der Gefahr, die er mit sich führte und die später einem ausgezeichneten
Naturforscher das Leben kostete), lief alles so glücklich ab, daß Franklin
die Genugthuung hatte, die Blitzableiter als sicheres Schutzmittel gegen
Gewitterschläge an den vorzüglichsten Gebäuden und Kirchen angebracht
zu sehen.
Der Blitz ist ein Erzeugnis der Elektricität, die in der Luft entsteht
und wahrscheinlich dann entsteht, wenn Luftströme, wenn Winde von ent—
gegensetzten Richtungen sich begegnen und bei ihrem Vorüberstreifen an
einander, bei ihrem Durchdringen und Ringen und Durcheinanderwirbeln
eine große Reibung der Luftschichten entsteht, welche die Elektricität eben
so frei macht, wie das Reiben der Seide am Glase.
Wie sehr die Reibung der Luft Elektricität hervorruft, das hat man
erst vor wenigen Jahren Gelegenheit gehabt zu beobachten. Ein Feuermann
bei der Lokomotive machte die Entdeckung, daß man unter geeigneten Um—
ständen aus dem ausströmenden Dampf des Sicherheitsventils der Lokomotive
ungemein aroße elektrische Funken hervorlocken kann. Nähere Untersuchungen
dieser ( Heinung haben ergeben, daß die Elektricität hier nicht entsteht
durch d.e Verwandlung des Dampfes in Wasser, wie man anfangs vermutete,
sondern daß die Reibung des Dampfes beim Herausströmen durch die kleine
Offnung des Ventils die eigentliche Quelle der elektrischen Erscheinungen ist.
Man nahm früher an, daß der Blitzableider bei gewitterschwerer Luft
die Elektrieität fortwährend aus der Luft über dem Gebäude auffange und sie
in die Erde führe wohin der Blitzableiter verläuft. Nunmehr hat aber
die Ansicht Gellung sewonnen, daß die Wirksamkeit des Blitzableiters weit
mehr im Ausstrahlen der in der Erde befindlichen Elektricität besteht, als
im Auffangen und Ableiten der Elektricität der Wolken (bzw. der Luft).
Diese beiden Elektricitäten sind entgegengesetzte (positive und negative), und
durch das Ausströmen der einen wirkt der Blitzableiter zunächst ausgleichend,
bermindert dadurch die elektrische Spannung und mithin die Gefahr des
Einschlagens. Erst in zweiter Linie wirkt der Blitzableiter als guter
Leiter, indem er dem niederfahrenden Blitz einen ungefährlichen Weg zur
Erde weist.
Ein Blitzableiter ist daher ein Schutzmittel für hohe Gebäude und
Türme, die dem elektrischen Schlage des Blitzes am meisten ausgesetzt sind.
Auch deckt er so ziemlich die kleineren Gebäude, die in der Nähe liegen.
Nur wenn der Blitzableiter zerbrochen oder verrostet ist, so daß er über
die beschädigte Stelle hinaus den Blitz nicht leiten kann, ist er nicht
nur unnütz, sondern auch gefährlich.
(A. Bernstein, Aus dem Reiche der Naturwissenschaften.)
) Dem Physiker Richmann in Petersburg.
Marschall, Lesebuch für gewerbl. Fortbildungsschulen. Kl. Ausg.
2
21
187. Vom Eigentum.
VI. Volkswirtschaftliches.
187. Vom Eigentum.
Man nennt Eigentum das, wvas einem Menschen rechtleh angebört,
was er nach bestebenden Gesetzen erworben hat. Das Eigentum besteht
aus Gegenständen, welehe Wert haben, vie Grund und Boden, Wohnungen,
Viehstand, Nahbrungsmittel, Brenustoffe, Werkzeuge, Rohmaterialien,
Fabrikate, Geld ete. Diese Gegenstände werden durch Arbeit erworben.
Das Erworbene dient entweder zum täglichen Unterhalt, oder es wird
in Form von Ersparnissen angesammelt. Da die Arbeit immer eine ge—
wisse Anstrengung und das Ansammeln von Ersparnissen eine gewisse
Enthaltsamkeit voraussetzt, so ist es recht, dass das, was der einzelne
erspart, ihm zugehöre. Dieses ist das Recht des EDBigentums. Dieses
Recht besteht nicht nur darin, das Erworbene behbalten, sondern darüber
verfügen zu können. Das Eigentum kann infolge des Verfügungsrechtes
an andere übergehen, entweder vorübergehend durch Vermieten, Ver—
pachten, Darleiben, oder bleibend dureb Verkaufen, Schenken oder Ver—
erben. Bei Übertragung des materiellen Eigentums auf einen andern
entãussert sich der bisherige Bigentũmer desselben.
er Besitz von Eigentum gewährt grosse Vorteile. Er sichert die
Nxistenz in der Gegenwart und nächsten Zukunft; er erleichtert die Aus-
bildung in allgemein menschlicher wie in beruflicher Hinsicht; er macht
die Beschränkung der mühsamen Arbeit auf ein vernünftiges Mals möglich,
sowie die Gewährung von Erholung, Abwechslung und Lebensgenüssen;
er macht selbständiger, unabhängiger; er erzielt und erhböbht den Einfluss
auf andere u. s. . Auch die geistigen Bedürfnisse des Menschen können
um so eher befriedigt werden, je weniger er durech ökonomische Not
darnieder gehalten ist.
Diese Vorteile sind so einleuchtend, dass alle Menschen nach Eigentum
streben, und sie wirken so mächtig im menschlichen Gemüte, dals im
allgemeinen kein Trieb im Menschen stärker und andauernder ist, als
der Erwerbstrieb. Allerdings kann der Erwerbstrieb ausarten, wenn er
zu Geiz und Habsucht wird; vwenn er auf Mittel und Wege führt, andere
zu übervorteilen; venn er sieh durech Falschung, Unterschlagung und
Diebstahl das Eigentum anderer anzueignen sucht. Hiergegen schützt
mehr und mehr eine gute Erziebung und eine feste, geordnete Rechts—
verwaltung.
Ob die Gesellschaft ohne Privateigentum bestehen könnte? Diese
Frage muss entschieden verneint verden. Denken vwir uns nämlich ein
grossses Gemeinwesen, in velchem jeder verpflichtet ist. den Ertrag seiner
Arbeit an das Ganze abzuliefern, allerdings um den Preis, gleichen Anteil
mit seinem Mitmenschen an der gesamten Gütermasse zu besitzen. Eine
solche Geseéllschaft könnte sieh wobl bilden, allein nieht lange erhalten.
522
188. Vom Kapital. 323
Viele von den Menschen, wie sie nun einmal sind, värden wenig oder
nieht arbeiten, venn für sie von der Gesellschaft gesorgt würde. Andere,
sonst thätig und fleissig, würden sieh weigern, die gesamte Last des Ge—
meinwesens zu tragen. So würde die Produktion der Güter sich ver—
mindern, der vorhandene Vorrat an Gütern bald aufgezehrt sein und die
Auflösung dieser Gesellschaft duren Mangel und Uneinigkeit eintreten.
188. Vom Rapital.
Kapital nennt man bald das ganze Vermögen eines Menschen, bald
aur denjenigen Teil desselben, der zur Beschaffung von neuem Ver—
mögen verwendet wird. Das RKapital im einen wie im andern dinn be—
zteht in materiellen und geistigen Gütern. Das geistige Kapital eines
Menschen bilden sein Verstand, seine Kenntnisse, seine Pertigkeiten, seine
Villenskraft, seine Erfahrungen u. s. w. Dieses Rapital erböht in hohem
Masse den Wert des Menschen. Die geistigen Güter sind dazu bestimmt,
Gemeingut aller zu werden. Jede Generation eignet sien die Errungen-
schaften der vergangenen an, nimmt ibr Erbteil in Besitz und übergibt
es, soweit möglich, bereichert der folgenden. Allerdings nehmen nieht
alle Menschen gleichen Anteil an dieser geistigen Erbschaft. Die Uber-
nahme derselben ist niebt so bequem vie die der materiellen Güter,
welehe der Vater seinem Sohn hinterlässt. Wer geistiges Kapital besitzen
Vill, musfs es gelbst sieb erarbeiten. Der Weg dazu ist mühsam, auch
dann, venn dem einzelnen alle Hiälfsmittel zu Gebote stehen.
Das materielle Kapital vird in ein festes (Anlagskapital) und in
umlaufendes betriebskapitah) eingeteilt. Zum festen Kapital gehören
andereien mut dem entsprechenden Inventar, Gebäude, Arbeits- und
Nutztiere, Einrichtungen zum Betrieb des Geschäftes, wie Werkzeuge,
Maschidn, Drangortmittel u. s. v. Zum Betriebskapital rechnet man die
Rolstoffe und halbfertigen Waren, velehe zur ferneren Verarbeitung bereit
gehalten werden, fertige Sachen, welebe zum Verkaufe dienen, Brenn—
materialien, die als Uilfsmittel bei der Arbeit verwendet werden, Geld
u. S. V. Das Rapital erhält seine vahre Bedeutung dureh seine Verwendung.
Es soll gsieh mut der Arbeit verbinden, diese unterstützen und da—
dureh zu einer vweiteren Vermehrung des Vermögens beitragen. Wer als
Gewerbsmann Rohstoffe, Werkzeuge und Maschinen in vorzüglicher Güte
und reichlichem Masse besitzt und sie 2weckmälsig verwendet, wird viel
damit ausrichten.
Im Altertum war die Arbeit wenig ergiebig. Der Menseh gewann bei
einem grossen Kraftaufwand der Natur nur venig ab. Die Alten hatten
eben noeh keine vollkommenen Werkzeuge und Maschinen. die nur dureh
Kapital möglich geworden sind. Vergleieht man 2. B. in der Industrie
des Eisens die Kleinen Herde nicht etwa der Zeitgenossen Homers, noch
selbst der Römer, sondern die des vorgerückteren Mittelalters mit den
21
32 189. Vom Preise der Waren und von der Konkurrenz.
heutigen riesigen Hochöfen und den dazu gehörigen Einrichtungen zur
Lauterung des Gusses und zum Recken des Eisens, so findet man, dass
heutzutage ein Mann leistet, was damals kaum vierzig Mann. Aehnliches
sann von jeder Gewerbsthätigkeit gesagt werden, wo das Rapital dieselbe
unterstützt und befruchtet. Ja, es gilt dies sogar für die LThätigkeit
auf geistigem Gebiete. Das materielle Kapital macht die Errichtung
niederer und höherer Lehranstalten und die Mneignung zahblreicher Bil-
dungsmittel möglich; es erleichtert den Verkehr durch Stralsen, Eisen-
bahnen und Telegraphen und befördert dadureh den Austausch der Ideen,
reisst hergebrachte Vorurteile nieder und erweitert den Gesichtskreis.
Das RKapital ist ein Träger wahrer Aufklärung und Bildung. Mit dem
Verfall des Kapitals mülste auch die Kultur zurückgehen.
189. Vom Preise der Waren und von der Konkurrenz.
Den Wert eines Gegenstandes, in Geld ausgedrũckt, nennt man dessen
Préèis. NMan unterscheidet den Kosten- oder Herstellungspreis,
den natürlicghen Preis und den Marktpreis. Der Kostenpreis
berechnet sich aus den Auslagen für die Stoffe, aus den Arbeitslöhnen
und Geschäftsunkosten, Kapital- und Mietzinsen, DTransportspesen, Ver-
sicherungsprämien etc., kKurz aus der Summe aller Auslagen, welehe auf die
Herstellung eines Gegenstandes vervwendet verden. Diesen Herstellungs-
oder Fabrikationspreis nennt man auch Selbstkostenpreis.
Es muls aber auch die Mũhe des Herstellers angemessen bezablt
werden, d. h. so, dass er mit Familie von dem Gesamterträgnis seiner
Arbeit anstandig leben kann. Rechnet man diese Vergütung zum Selbst-
kostenpreis, so ergibt sich der natürliche Preis. Der Gegenstand wird
aber nieht immer nach diesem natürlichen Preise verkauft, sondern unter
Umständen über oder unter demselben. Den Preis nun, den man zu
irgend einer Zeit für eine Ware lösen kann, nennt man Marktpreis.
Dieser bängt zunächst vom Angebot und von der Nachfrage ab. Ist
die Nachfrage nach einem Gegenstande stark, d. h. wird er viel begebrt,
während der Vorrat nicht zu stark ist, so steigt der Preis; umgekebrt
fallt derselbe, wenn die Nachfrage schwach, das Angebot stark ist.
Auf das Steigen oder Fallen des Preises hat aber oft die Meinung
vom zukünftigen Begehbren und Anbieten Einfluss. Der Kauf und Verkauf
sowie die Fabrikation in der Hoffnung auf zukünftigen Bedarf heisst Handel
und Vabrikation auf Spekulation. Beruht diese auf nüchterner Er—
fahrung und hoher Wahrscheinlichkeit, so ist sie berechtigt und kann für
den Spekulanten gewinnbringend sein; beruht sie dagegen nur auf Mög-
lichkeit oder gar auf Unwahrscheinlichkeit, so ist sie ein unberechtigtes
und bedenkliches Wagnis, und wenn sie in diesem Falle ohne Zustimmung
oder Mitwissen derjenigen unternommen wird, die beim NMisslingen auch
Verluste miterleiden, so ist sie unmoralisch und verwerflich.
S
24
189. Vom Preise der Waren und von der Konkurrenz. 25
Wenn der Marktpreis sich wesentlich und andauernd über dem natür—
lichen Preise hält, so erzielt der Untèrnehmer reichlichen Gewinn; wenn
or aber unter den natürlichen oder gar unter den Selbstkostenpreis sinkt,
s80 erleidet der Produzent Schaden, und es kann, wenn die niedrigen
Preise zu lange währen, dessen Ruin erfolgen. Indessen werden diese
Preisschwankungen in der Regel duren die Konkurrenz ausgeglichen.
Konkurrieèren heisst nitbewerben, im Geschäftsleben teilnehmen an der
Produktion, dem An- oder Verkauf von Waren. Es ist leicht begreiflich,
dass, vwenn ein Artikel grossen Gewinn bringt, sich viele auf dessen Her-
stellung verlegen, vwas notwendig zur Folge hat, dass das Angebot die
Nachfre e übersteigt), mithin der Preis gedrückt wird; wenn dagegen
der Press eines Gegenstandes unverhältnismässig niedrig steht, vird dessen
Produktion abnehmnen, vas dann vwieder ein Steigen des Preises zur
Folge haben wird. So lange die Konkurrenz sich in den natürlichen
Grenzen hält, die ihr durch Angebot und Nachfrage gesteckt sind, kann
zie für den Konsumenten, d. h. für den Verbraucher einer Ware nur
nũtzlich sein; denn sie verbindert eine unnatürliche Preissteigerung und
gewährt die Auswahl unter den Produkten verschiedener Unternehmer.
Aber auch für den Produzenten kann die Konkurrenz von Nutzen sein.
die weckt sein Bestreben, reichen Absatz zu finden, die Gunst des Publi-
kums 24 erwerben, zu velechem Ende er gute Ware liefern muss. Da
der tuehtige und fleissige Arbeiter Besseres leisten wird als der weniger
tücht. und der unfleissige, so muss der Wettkampf ein Ansporn sein zu
gründlcuer Ausbildung, reger Thätigkeit und besonders zur Anspannung
des C. bes, um Verbesserungen und Erleichterungen in der Produktion
zu erzielen.
Ae Konkurrenz kann aber auch sehr nachteilig virken. Sdie verleitet
nichte zur Herstellung schlechter Fabrikate, besonders zu Fälschungen,
2. rungsmittoln, Kleiderstoffen u. dergl., sondern ie fũhrt aueh
mancu uternehmer dazu, die Preise unnatürlich herabzudrücken und
s0 seine honkurrenten, schliesslich aber aueh meistens sich zu ruinieren.
sn den meisten Fallen regelt die Zeit die Störung wieder, velehe Gewinn-
zucht und Unredlichkeit veranlasst haben; in anderen Fallen aber, 2. B.
um r Falschung von Lebensmitteln zu begegnen, muss durch die staat-
liche Gesetzgebung und Verwaltung das konsumierende Publikum vor Schaden
geschũtzt werden.
„or Staat pflegt ausserdem noeh ganze Produktionszweige seines
Gebietes gegen erdrũckende Konkurrenz des Auslandes zu schützen. Wenn
2. B. in einem Staate der Winzer den Wein um einen Preis verkaufen
muss, bei dem er nieht wehr bestehen kann, und zwar deshalb, weil der
Markte von solehen Ländern her, die billiger produzieren, reich versehen
) Wenn in irgend einem Produktionszweige Waren weit übetedus Mals Au
des Bedarfs vorhanden sind, sprieht man von einer „Uberproduktin
sen11
vv
26
326 190. Vom Mbeitslohn.
wird, so sucht der Staat der inländischen Produktion dadureh aufzubelfen,
lass er fremden Wein mit einem Eingangszoll belegt. Einen solechen
Zoll nennt man Schutzzoll, und er vwird vorzugsweise auf die Erzeug-
uis verschiedener Industriezweige gelegt, z2. B. auf Gespinste und Gewebe,
Mechvvaren, Luxusgegenstände u. dergl. Wenn eine derartige Besteuerung
ler Enfuhr zum Schutze der einbeimischen Produktion den gesamten
Handelsbeziehungen eines Staates zugrunde liegt, sagt man, dieser huldige
dem Sehutzzollsystem. Im Gegensatz zu demselben steht das Frei—
handelssystem, bei welchem kein Schutzzoll erboben, sondern der
Konkurrenz freier Spielraum gewäbrt vwird.
Manche Waren werden in gewissen Ländern ausschliesslich vom Staate
produziert oder verkauft, so in Frankreich und österreich der Tabak, in
andern Staaten das Salz Der Staat bestimmt dann aueh unabhängig von
jeder Konkurrenz, da er die Einfuhr der betreffenden Artikel entweder
gar nicht oder nur gegen hohe Abgaben gestattet, den Preis der Mare.
Ein solches Vorreeht des Staates nennt man Monopol (ILabaksmonopol,
Salzmonopol etc.), und die vom Staate festgesetzten Preiss Monopol-
preise. r. 187 ⸗ 189 naceh Vr. Autenheimer a. a. O.)
190. Vom Arbeitslohn.
Mit der Arbeit verhält es sich im Grunde nieht anders als mit der
Ware; aueh sie ist abbängig von Angebot und Nachfrage; Arbeitgeber
und Arbeitnebmer steben zu einander in einem ähnlichen Verbältnisse,
wie Verkäufer und Käufer. Der Arbeiter bietet seine Arbeit an; der
Arbeitgeber sucht sie. Es leuchtet demnach ein, dals auch der Lohn
für die Arbeit (— der Preis derselben) von Angebot und Nachfrage ab—
hängig ist. Bedarf ein Arbeitgeber vieler Arbeiter, und sind diese nicht
zablreich vorbanden, so werden sie höhere Forderungen stellen können,
und der Arbeitgeber wird höheren Lobn gewähren müssen; umgekebrt,
findet sich ein Ueberfluss von Arbeitern, so werden sie auch billiger zu
haben sein. Dass ausserdem der Lobn auch noch von den Leistungen
— nach ihrer Art und nach der Individualität — abhängt, lebrt ohnehin
dlie tägliche Erfahrung. Ein Packträger, Strassenkehrer, Mörtelträger etc.
wird nicht jenen Lobn beanspruchen können oder erhalten, vie ein Ubr-
macher, ein Graveur, ein Kunsttischler. Warum? Meil die von den erst-
genannten zu verrichtenden Arbeiten wenig Geschicklichkeit, also keine
besondaro Vorbildung erfordern uud deshalb von den meisten Leuten
leicht verrichtet werden können, während die der letztgenannten eine
Ausbildung voraussetzen, die nur wenige sich erworben haben. Derartige
Vorbildung fordert aber nicht nur Zeit und Kraftaufwand, sondern auch
materielle Opfer (Kapital), welebe später dureb den Arbeitsertrag vieder
ersetzt werden müssen. Darum wird aueh die geistige Arbeit besser bezablt
als die bloss körperliche.
191. Vom Kredit. 327
Innerhalb derselben Beschäftigungsart ist dann der Lohn auch ver—
schieden nach der individuellen Leistung des einzelnen. Ein Schneider-
geselle, welcher besser, schöner und rascher arbeitet, erbält mehr Wochen-
lohn als ein anderer, der in seinen Leistungen hinter jenem zurückbleibt.
Beĩ vielen Geschäften ist die Löhnung nach Stück und nicht nach Zeit
eingeführt, so dass es in die Hand des Arbeiters selbst gegeben ist, sich
einen höheren Lohn zu rwerben. Der Lohn, den der Unternehmer seinen
Arbeitern gewaährt, wird ferner bestimmt dureh den Preis und den Absatz
der gefertigten Artikel. Denn eigentlich verbinden sich Unternehmer
Kapitali⸗ und Arbeiter zur Erzeugung von Waren, und der Gevinn
zollte 5a auch unter beide teilen, da die erzeugte Ware Eigentum
beider ist. Die Sache verhält sich aber in Virkliehkeit doch einiger-
massen anders. Für die meisten Unternehbmungen ist ein Anlage- oder
Betriebskapital erforderlich, ꝛu dem der Arbeiter nichts beitragen
kann, sondern das der Arbeitgeber allein beschaffen muss. Ferner Lann
eine erzeugte Ware oft nicht gleich, ja manchmal oft erst nach langer
Zeit verkauft verden. Der Arbeiter aber kann so lange nicht zuwarten.
Er muss also die Arbeit dem Unternehmer allein überlassen, der damit
aueh das alleinige Risiko für den Absatz übernimmt. Der Arbeiter be—
zmügt sieh mit einer Abfindung, die nach gegenseitigem Übereinkommen
ihm in der Form des Lohnes gewährt wird. Abgesebhen von der Ver—
zinsur; des Anlage und Betriebskapitals, muss der Unternehmer auch
einen Gewinnanteil für zeine Arbeit in Anspruch nehmen. Ist der Absatz
der Ware ein günstiger, so wird auf den Unternehmer allerdings ein ver⸗
hũltnismassig grolsser Gewinnanteil treffen, und es erscheint in diesem Falle
der Arbeiter im Nachteil. Allein wenn der Absatz ein ungünstiger ist,
hat der Unternehmer auch allein den Verlust zu tragen; denn der Arbeiter
hat seinen Gewinnanteil schon zum voraus empfangen. Es halten sich
also für beide Teile Vor- und Nachteile die Wage.
Gach „Volkswirtschaft für jedermann“.)
191. Vom Kredit.
Nieht alle Geschäfte werden gegen sofortige bare Bezahlung abge
schlossen, sondern der Kaufer bedingt sieb vom Verkäufer eine kürzere
oder langere Zahlungsfrist (Ziel) aus, nach deren Verlauf die Kaufsumme
erst zahlbar, fällig vird. Nun kann man sieh aber wohl denken, dass
der Verkäufer nur dann auf eine solehe Bedingung eingehen wird, wenn
er das Vertrauen, den Glauben hat, der Käufer werde zur bestimmten
Zeit die versprochene Zahlung leisten können und wollen. Und eben
dieses Vertrauen, dieser Glaube heilst — Kredit. Dieses Wort gebraucht
man aueh noch in anderer Beziehung. Man gagt 2. B. ieh gebe jemand
Kredit, oder ieh habe bei dem und dem Kredit. Derjenige, weleher den
Kredit aibt. vird Glaubiger, und der. weleher ihn erhalt. Schuldner ge
191. Vom Kredit.
nannt. Der Ausdruck kreditieren heilst: jemand etwas borgen, leihen,
in den Geschäftsbüchern gutschreiben. Ohne Rredit könnte der Gewerbe—
treibende immer nur so viel Robstoffe, Waren kaufen, als er gerade zu
bezahlen imstande wäre, und natürlich nicht mehr Waren verkaufen, als
er besässe. Nach diesem Mässstabe würde auch der zu erzielende Ge—
winn bei seinem kleinen Betriebskapital Kaum ausreichen, die nötigsten
Lebensbedũrfnisse zu bestreiten. Ohne Rredit wirdd es dem Gewerbe—
treibenden sehwer werden, ein Ersatzmittel des baren Geldes zu finden;
denn Fleiss und Unternebmungsgeist vären gänzlich dadureh gehemmt und
jede Aussicht auf einen gesicherten Wohlstand genommen.
Wer sich jedoch des Vertrauens durch redliche Erfüllung gegebener
Versprechungen zu erfreuen hat, dem wird es auebh heute noch bei geringem
Betriebskapital nicht an Mitteln zu Unternehmungen und zu ausgedehnterem
Betrieb seines Gewerbes fehlen. Der Rredit ist für den Gewerbetreibenden
von unbegrenzter Wiehtigkeit, dessen Besitz noch über den Besitz von Geld
und Gut zu stellen ist; denn verlorenes Geld und Gut ist wiederzugewinnen,
verlorner Kredit nie, wenigstens nicht in dem ursprünglichen Umfange.
Aueh der Lredit hat seine Schattenseiten dureh den Missbraueh, den
man mit dem Vertrauen anderer treibt. Die Leichtigkeit, mit Hilfe des
Kredits grossse, gewinnbringende Geschäfte zu machen, verleitet nicht
gelten zu gewagten unsicheren Spekulationen; man kauft Massen von
Waren in der Hoffnung, bis zur Zahlungszeit sie mit Gewinn wieder ab—
setzen zu können. Diese Hoffnung schlägt häufig fehl; man verkauft ent-
weder gar nieht oder mit Verlust, und letzterer ist oft grölser als die
Summe dessen, was man sein Eigentum nennen darf. Zur Verfallzeit
kann man nicht bezablen, und der Kredit ist auf immer dabin.
Die PErfordernisse eines kreditfühigen Gewerbsmannes und die Ver—
haltungsmassregeln für das Geschäftsleben dürften kurz in Folgendem
bestehen:
1. Der Gewerbetreibende erwerbe sich gründliche Kenntnisse sowobl
in seinem Gewerbe, als auch in den theoretischen Fächern, welehe zu
einem geordneten Geschäftsbetrieb erforderlich sind; er verbinde damit
einen sittlichen Lebenswandel, Hleiss und Bechtschaffenbeit;
2. er liefere die ihm bestellten FPabrikate zu der von ihm versprochenen
Zeit pünktlich ab; denn vwer bei Warenablieferungen nieht Wort hult,
wird auch beim Zablen nicht Wort halten;
3.er bediene sich des Kredits nur da, vo er desselben nieht entbehren
kann; er kaufe vo möglich immer gegen bar Geld, weil er wohlfeiler kauft;
4. er kaufe nie mebr auf RKredit, als er zur Verfallzeit zu zahlen
in der Lage sein vird;
5. im Falle er nieht im stande ist, sein Zahlungsversprechen zu
halten, so komme er der Mahnung des Gläubigers zuvor und bitte um
Nachsicht und erbiete sich, Verzugszinsen zu zahlen:
29
192. Zeit ist Geld. 329
6. er lasse sich nicht herbei, lange Zeit naech geschlossenem Kauf
oder Handel Einvwendungen und Klagen über Qualität oder Preis der
Waren zu machen; denn dergleichen muss sogleieh nach Empfang
geschehen;
T.er mache bei Zahlungen seiner Verbindliehkeiten keine Abzüge
und zahle nicht in schlechtem Gelde;
8. er bleibe seinen älteren Geschäftsfreunden so lange als möglich
treu. Wer uns lange rechtlich kannte, wird uns je länger, desto grölseres
Vertrauen schenken, und auch das Vertrauen anderer zu uns kann dadurch
nur befestigt werden;
9. er halte sich ferne von gewagten Unternebmungen. Mer schnell
reich werden vwill, lauft Gefahr, sieh zugrunde zu richten oder Misstrauen
zu erweeken;
10. er vermeide jeden unnũtzen Aufwand, der die Bedürfnisse eines
anständigen Haushaltes überschreitet. Unsere Geschäftsfreunde rechnen
uns nur zu gerne im Stillen nach, und leicht ist der Verdacht erweckt,
dass wir über unsere Kräfte gehen. Vertrauen und Kredit werden nur
dem guten Haushalter zu teil; denn Sparsamkeit ist und bleibt das
sicherste Mittel zur Beförderung des Rredits.
(Th. Beeger, Die Elemente des Fabrik- und Gewerbebetriebs.)
192. Zeit ist Geld.
Dieser s0o wr α r ο nrν Hunduerhern häufiq miclit
geng gewurdigt, obion er mit goldener Schrift in jeder Wersesttte an
gebracht eu werden verdiente. Ireten wir ein in die Werssttte eimes
Heinen Industriellen und sehen avir umns darinm um, so fũllt uns vielleioht
Neich bam ersten Diche eine liebensurdige Dnordnumg auf. die Werheæcuge
liegen d estisαν errαν νr, und die Ronhstosfe leisten
nen Houin eurorhommend Gesellsehed. Des at naturlioh gur nichis
eu bαανν meint vielleicht der Besiteor eser umlichzeit. wird aber
nu bt in Angriff genommonm, 50 darf e Arbcter bei jeder ent
vα Lnierunn sih vo ν bα den erforderlichen
Hone cuis dem bunt duroh einunder α Gα hrνοrνανονον,
oder den in der Werhistatt erotret ααν Êνα nα
dem vαναν αα onνον h er beides erhul m, indessen ist
aber ο αν ö Mimuen veyr—
lor gÊ. eers Suchen nuch dem Erforderlichen haumm umnd muss
si mehrme vwiederholen, und die daruuf verwendete Zoit mug s0
i e uα, ααναννον eν hνο Arbeitstuq in Aneprucli r më,
und oser Ailverlust ist Arbeitsverlust und eben darum au rνν.
A dieser Dnordnungq gesellt so dun vleicht dudh dieè böse Geuolmieit
des Meisters, sich bei jeder Gelegenheit aus der Werhstätte eu entfernen
und Minuton, Viertelstunden, ja unden lang vom Arbeitslobule abueον
21*
330 192. Zeit ist Geld.
eu bleiben. Böse Geuwolmheiten sind num leider sehr anstechend; hann nun
auur der Arbeiter sich mioht entfernen, so wird er, und wenn er aud der
fleissigsten einer ist, doch in solohen Augenblichen lussiger in seinon Arbeiten
werden; es wird somit wieder Zeitverlust entstehen und eiuur diesmdl ein
doppelter, numlich aus der Unthatigheit des Meisters und der Luũssigheit
des Arbeiters; eben darum wird aber auch der Arbeitsverlust und Geld-
verlust ein doppelter sein.
Auf diese Weise huufen ssich im Laufe eines Juhres die Verluste eu
einer betruchtlichen Höhe; denn olinè eu hoch eu greifen, dürfen wir bei
solehen Einriohtungen umd Gewolmheiten den im Laufe eines Jahres ent-
standenen Zeitverlust quf 4 Wochen ansollagen, und wenn wir die Arbeils-
woche nur mit 50 Marb Wert berechnen, so sind 200 Marh verloren ge-
gangen, d. h. eum Poenster —u p——s—
Es darf uns daher nicht wundern, dass angehende Meisler, wenn ihre
Verhältnisse sie eben einmal eunα, mit leinem Kapitol arbeiten æu
mussen, bald ruchiũrts hommen unmd binnen wenigen Juhren Sich. völlig
iniert haben. Rleine Ursachen haben oft grosse Folgen, und verlorene
Zeiten sind nieht melr eu erseteen; daner wollen wir den Wahlspruch
LTZeit isst Gelds genou im Auge behalten und ihnm tief in unser Here ein-
graben, damit er auch in unseren Werhstũtten eine Walvheit vwerde, wie
eres Schon lüngst in den Mbeitslosalen Belgiens, Englands und Fromsi-
reichs geworden ist.
Vor allen Dingen müssen wir daner darauf sehen, dass in unseren
Werlistutton jederæeit eine entsprechende Ordnunq herrsohe, umnd dass die
νο Ê Arbeitern und Lehrlingen jederæeit dufrecht erhalton uwerde.
Damn mussen vwir es uns aum Grumdsutee machen, unsere Nerssttte
nur in den dringendsten Rũllen eu verlaussen, und tritt wirsilich ein solcher
Full ein, missen wr uns besstreben, unserè Gesohifte ausser dem Hause
Mhireester Prist abeumuchen umd uns auf heinerloi Weise derwegen lussen,
es von eimnem unserer Preunde oder von sonst irgend jemund, die Ab-
wesenneit dus unserer Werlesstütte mel als nöõtiq æu verlũüngern.
Ih. Beeger d. d. 0
— ——
— 2 2
L,