122. Die Linde 189 gesunden Holze Wurzeln in sein Inneres, und so bildet sich im Stamme selbst daraus ein neuer Stamm. Durch Sturm und Blitz ihrer stärksten Äste, ja der Hälfte des Stammes beraubt, grünt und blüht sie dennoch fort. Sie nimmt willig fremde Formen an und läßt sich in der Zucht der Gartenschere halten, ohne die Fähigkeit zu verlieren, nach jahrelanger Schererei ein großer, lebenskräftiger Baum zu werden. Und ihre herr— lichen Blüten, zu welchen tausend und aber tausend Bienen fliegen, um köstlichen Honig zu saugen, welche die ganze Gegend durchwürzen, — sind sie nicht ein Bild des deutschen Geistes mit seinem Duft, der die Welt erfüllt? — Von der Linde erzählen viele deutsche Sagen. Blutlinden, Fem— linden, Geisterlinden, Gerichtslinden u. s. w. gibt es viele. Noch häufiger sind die heiligen Linden, indem es sehr gebräuchlich war, die Linden als Bildstöcke für Marien- und Heiligenbilder zu benutzen. Noch mehr als ein Sagenbaum ist die Linde ein Gedenkbaum. Unsere Vorfahren pflanzten Linden, um ein merkwürdiges oder freudiges Ereignis zu bezeichnen, wie noch jetzt, obschon in neuerer Zeit die Eiche bevorzugt wird. Trotzdem nun die Eiche ein noch dauernderes Denkmal bildet, so erreichten doch die alten Pflanzungen ihren Zweck sicherer und schneller. Die Linde wächst während eines Menschenalters zu einem ansehnlichen Baume heran, so daß die Erinnerung noch besteht, wenn derselbe schon groß ist, daher weniger leicht vergessen wird. Dagegen wächst die Eiche so langsam, daß man häufig schon vergessen hat, warum sie gepflanzt wurde, ehe sie ein Ansehen erhält. Dazu kommt, daß die Linde an bewohnten Plätzen vortrefflich gedeiht, während die Eiche bei den Wohnungen der Menschen ein Fremdling bleibt, der nicht an seinem Platze ist, weil er in den freien, einsamen Wald gehört. Endlich ist die Linde der Baum der Freude und Jugendlust und der Baum des Todes. Um die Dorflinde tanzt die Jugend, und die Linde beschattet den Friedhof und umgibt die Kirche. Noch jetzt finden Mai⸗, Pfings.⸗ und Kirmestänze in Deutschland unter der Linde statt. Der Baum ist dann meist mit Steinen umgeben, und oft sind die aus— gestreckten ÄAste mit Säulen unterstützt und diese wieder durch Gebälk verbunden, so daß eine Art Gebäude entsteht, welches bei schlechtem Wetter gedeckt werden kann. Die Linde ist erhaben und lieblich zugleich, erhaben und edel durch ihren riesigen Wuchs, während ihre Blüte stets den Eindruck der weiblichen Anmut macht. Schon der Name der Linde deutet auf Weichheit und Anmut. Lind bedeutet weich, mild, lieblich und angenehm. Lind ist ihr Blatt, lind ihre reizende Blüte, lind ihre Sprache im Winde, jenes liebliche Flüstern, welches durch die lang—