378 294. Bethlehem und Golgatha. Er ist zu Bethlehem geboren, Der uns das Leben hat gebracht, Und Golgatha hat er erkoren, Durchs Kreuz zu brechen Todes Macht. Ich fuhr vom abendlichen Strande Hinaus, hindurch die Morgenlande; Und Größeres ich nirgends sah, Als Bethlehem und Golgatha. O, der du in der Hirten Krippe Ein Kind geboren wolltest sein, Und, leidend Pein am Kreuzgerippe, Von uns genommen hast die Pein! Die Krippe dünkt dem Stolze niedrig, Es ist das Kreuz dem Hochmut widrig; Du aber bist der Demut nah In Bethlehem und Golgatha. Mit Pilgerstab und Muschelhute Nach Osten zog ich weit hinaus; Die Botschaft bring' ich euch, die gute, Von meiner Pilgerfahrt nach Haus: O zieht nicht aus mit Hut und Stabe Nach Gottes Wieg' und Gottes Grabe! Kehrt ein in euch und findet da Sein Bethlehem und Golgatha. O Herz, was hilft es, daß du knieest An seiner Wieg' im fremden Land? Was hilft es, daß du staunend siehest Das Grab, aus dem er längst erstand! Daß er in dir geboren werde, Und daß du sterbest dieser Erde Und lebest ihm, nur dieses ja Ist Bethlehem und Golgatha. Friedrich Rückert. 295. Der See Genezareth. Der See Genezareth ist ein freundlicher Landsee, der auch der galiläische oder der See von Tiberias genannt wird. Er ist drei Meilen lang und etwa anderthalb Meilen breit und bildet eine der anmutigsten Gegenden des heiligen Landes. Der runde Spiegel seines dunkelblauen Gewässers blickt klar und glänzend zwischen den Bergen hervor; darum nennt ihn der bildersinnige Morgenländer „das Auge der Gegend“. Im Süden wie im Norden begrenzen ihn fruchtbare Ebenen; im Osten und Westen dagegen umschließen ihn Hügel und Berge von schönen Formen. Aus ihren steilen, malerischen Schluchten treten rasche Bäche hervor und ergießen sich in das Becken des „Meeres von Galiläa“. Zuweilen bringen jäh aus diesen Bergen hervorbrechende Zugwinde und Windwirbel das friedliche Gewässer mit der Gewalt des schweizerischen Föhns in wilden Aufruhr, der aber gewöhnlich sehr bald zur früheren Stille sich besänftigt. Der Reichtum des galiläischen Sees an trefflichen Fischen ist sehr groß, sein Wasser rein, kühl und süß, sein Grund und Ufer sandig. Klima und Erdreich der umliegenden Land— schaft begünstigen die Pflege der trefflichsten Südfrüchte, der Datteln, Citronen, Pomeranzen, der Trauben und Melonen, wie den Anbau des Getreides und des Indigos; und bei größerer Betriebsamkeit der Menschen würde der tiefe Bergkessel dieses Sees ein natürliches Treibhaus sein, worin die edlen Gewächse Ägyptens und selbst Arabiens gedeihen könnten. Dichter Baumwuchs und Buschwerk, mit Saatfeldern wechselnd, umkränzt das nordwestliche Ufer. „Wie ein Morgenrot der Tiefe“ ergießt sich das rosenfarbene Blütenmeer der Oleanderbäume über Hügel und Thal. Aus den Gebüschen ertönt das Lied der Blaudrossel und der Nachtigall und aus den Felsenhöhlen von Magdala die Stimme der wilden Taube, die