55 diesem Buche las und dichtete sie siebenzig Jahre. Jetzt that sie es zwar nicht mehr, verlangte auch nicht mehr, daß man ihr vorlese; aber ganze Prophetenstellen sagte sie oft laut her, und in ihrem Wesen war Art und Weise jenes Buches ausgeprägt, so daß selbst zuletzt ihre gewöhnliche Redeweise etwas Fremdes und gleichsam Morgen¬ ländisches zeigte. Dem Knaben erzählte sie die heiligen Geschichten. Da saß er nun oft an Sonntagnachmittagen gekauert an dem Hollunder¬ strauch ; und wenn die Wunder und die Helden kamen, und die fürchter¬ lichen Schlachten, und die Gottesgerichte; und wenn sich dann die Großmutter in die Begeisterung geredet, und der alte Geist die Ohn- lnacht seines Körpers überwunden hatte; und wenn sie nun anfing, zurückgesunken in die Tage ihrer Jugend, mit dem welken Munde zärtlich und schwärmerisch zu reden, mit einem Wesen, das er nicht sah, itub in Worten, die er nicht verstand, aber tiefergriffen instinkt¬ mäßig nachfühlte, und wenn sie unr sich alle Helden der Erzählung versammelte, und ihre eigenen Verstorbenen einmischte, und nun alles durcheinander reden ließ: da graute er sich innerlich entsetzlich ab, und um so mehr, wenn er sie gar nicht mehr verstand; allein er schloß alle T^ore seiner Seele weit auf und ließ den phantastischen Zug eingehen, und nahm des andern Tags das ganze Getümmel mit auf die Heide, wo er alles wieder nachspielte. Dieser Großmutter nun wollte er sein Vorhaben deuten, damit sie ihn nicht eines Tages zufällig vermisse und sich innerlich kränke, als sei er gestorben. Und so, an einem frühen Morgen stand er neben den Eltern reisefertig vor der T^ür, sein dürftig Linnenkleid an, den breiten Hut auf dem Haupte, den Wachholderstab in der Hand, umgehängt den Heidesack, in welchem zwei Heinde waren und Käse und Brot. Ein¬ genäht in die Brnsttasche hatte er das wenige Geld, welches das Haus zu geben vernwchte. Die Großmutter, immer die erste wach, kniete bereits nach ihrer Sitte inmitten der Wiese an ihren: Holzschemel, den sie dahingetragen, und betete. Der Knabe warf einen Blick auf den Heiderand, welcher schwarz den lichten Himmel schnitt; dann trat er zu der Großmutter und sagte: „Liebe Mutter, ich gehe jetzt, lebet wol und betet für mich!" „Kind, du mußt der Schafe achten, der T^au ist zu früh und zu kühl!" „Nicht auf die Heide gehe ich, Großrnutter, sondern weit fort in in das Land, unr zu lernen und tüchtig zu werden, wie ich es Euch ja gestern alles gesagt habe."