Freiligrath: Das Gesicht des Reisenden. 103 40. Nun hält er fest am Glauben und brennt vor Ungeduld, Den Neid, die Schuld des Herzens, giebt er dem Derwisch schuld; Daß dieser so sich weigert, das ist für ihn der Sporn, Der Gier in seinem Herzen gesellet sich der Zorn. 41. Er spricht mit höhnischem Lachen: „Du hältst mich für ein Kind; Was sehend aus einem Auge, macht nicht auf dem andern mich blind. Bestreiche mein rechtes Auge, wie du das linke gethan, Und wisse, daß, falls du mich reizest, Gewalt ich brauchen kann!" 42. Und wie er noch der Drohung die That hinzugefügt, Da hat der Derwisch endlich stillschweigend ihm genügt; Er nimmt zur Hand die Salbe, sein rechtes Aug' er bestreicht — Die Nacht ist angebrochen, die keinem Morgen weicht. 43. „O Derwisch, arger Derwisch, du doch die Wahrheit sprachst! Nun heile, Kenntnißreicher, was selber du verbrachst!" — „Ich habe nichts verbrochen; dir ward, was du gewollt, Du stehst in Allahs Händen, der alle Schulden zollt." 44. Er fleht und schreit vergebens und wälzet sich im Staub, Der Derwisch, abgewendet, bleibt seinen Klagen taub; Der sammelt die achtzig Kamele und gen Balsora treibt, Derweil Abdallah verzweifelnd am Quell der Wüste verbleibt. 45 Die nicht er schauet, die Sonne vollbringet ihren Lauf; Sie ging am andern Morgen, am dritten wieder auf, Noch lag er da verschmachtend; ein Kaufmann endlich kam, Der nach Bagdad aus Mitleid den blinden Bettler nahm. 31. Das Gesicht des Reisenden. (Um 1830.) ' Bon Ferdinand Freiligrath. Gedichte. Stuttgart, 185b. 1. Mitten in der Wüste war es, wo wir nachts am Boden ruhten; Meine Beduinen schliefen bei den abgezäumten Stuten. In der Ferne lag das Mondlicht auf der Nilgebirge Jochen; Rings im Flugsand umgekommner Dromedare weiße Knochen. 2. Schlaflos lag ich; statt des Pfühles diente mir mein leichter Sattel, Dem ich unterschob den Beutel mit der dürren Frucht der Dattel. Meinen Kaftan ausgebreitet hatt' ich über Brust und Füße; Neben mir mein bloßer Säbel, mein Gewehr und meine Spieße. 3. Tiefe Stille; nur zuweilen knistert das gesunkne Feuer; Nur zuweilen kreischt verspätet ein vom Horst verirrter Geier; Nur zuweilen stampft im Schlafe eins der angebundnen Rosse; Nur zuweilen fährt ein Reiter träumend nach dem Wurfgeschosse. 4. Da auf einmal bebt die Erde; auf den Mondschein folgen trüber Dämm'rung Schatten; Wüstenthiere jagen aufgeschreckt vorüber. Schnaubend bäumen sich die Pferde; unser Führer greift zur Fahne; Sie entsinkt ihm, und er murmelt: „Herr, die Geisterkarawane!" — 5. Ja, sie kommt! Vor den Kamelen schweben die gespenst'schen Treiber; Üeppig in den hohen Satteln lehnen schleierlose Weiber; Neben ihnen wandeln Mädchen, Krüge tragend wie Rebekka Einst am Brunnen; Reiter folgen — sausend sprengen sie nach Mekka. 6. Mehr noch! — Nimmt der Zug kein Ende? Immer mehr! Wer kann sie zählen? Weh, auch die zerstreuten Knochen werden wieder zu Kamelen,