Steinhaufen: Von deutscher Kunst u. s. w. Hansjakob: Der Balwierer Phrastes. 55 das Rasieretui sehen ließ. Dazu kaut eine Kappe mit einem Schild, wie ihn von der Größe nur noch der Nagler-Wendel zeigte. Unter diesem Riesenschild ließ sich ein glattrasierter, blasser Abbe-Kopf mit großen, blauen Augen sehen. So wanderte der Phrastes jede Woche meiner Knabenzeit dreimal zum „Rentmeister", der im elterlichen Hause wohnte. Wenn ich ihn dort eintreten sah irnd er sich vor dem fürstlichen Beamten verneigte mit einem „Gehorsamster Diener, Herr Rentmeister", so bekam ich aufs neue einen Riesenrespekt vor der Würde eines fürstlich fürstenbergischen Rent¬ meisters. Gerne hätte ich jeweils zugeschaut und zugehört, wenn der Phrastes beim „Herrn" war, doch das Heiligtunr blieb mir verschlossen. Ich war aber glücklich, wenn ich den Rasierer grüßen konnte mit „Guate Tag, Phrastes". Und ihn machte dieser Gruß auch glücklich; denn seine Kollegen titulierte man allgemein als „Balwierer", nur er trug den mir geheimnis¬ vollen Namen seines Ideals. Sonst war der Phrastes uns Kindern eine unheimliche Erscheinung; denn er war der Totenschauer des Städtchens, und wie die Toten, so fürchteten wir auch ihren offiziellen Beschauer, den Phrastes. Wenn er abends oder frühmorgens aus einem Hause schlich und wir die Rasier¬ schüssel nicht aus dem Frack hervorblicken sahen, so wurde sofort die Ver¬ mutung unter uns laut: „Do isch gwiß eins gstorbe!" — und mit einigem Schauern sahen mir dem Totenmanne nach. — Beim Kastenvogt fand er sich gerne ein, um Stoff zu bekommen für seine Kunden. Die „Wochenrundschau" wurde hier vorzüglich gegeben, und ein Rasierer muß Neuigkeiten wissen; denn die ersten Lügen, die am Morgen in die Lüfte steigen, gehen von den „Balwierern" aus. Anderseits mußte der Phrastes bei der Tafelrunde von seinen Rasier- sahrten während der Woche berichten. Gerne erzählte er von den Bauern, die unter der Woche zu ihm ge¬ kommen waren zum Zahnziehen, Aderlässen und Schröpfen. Diesen gegen¬ über spielte er den Bombastus. Er bediente sich, um ihnen zu imponieren, gerne lateinischer Ausdrücke, redete von den „Dolores" und der „Patientia", vom „Nervus vagus" und seinen „Irritationen". Dolores und Patientia, meinte er, spielten die Hauptrolle beim Kranksein. Sie spielen die Hauptrolle im ganzen Menschenleben, das durch diesen Leibspruch des Phrastes am besten illustriert wird. Er selbst kannte die Dolores hinlänglich; er hatte ein böses, wunderliches Weib, das deshalb von den Haslachern allgemein verurteilt war. Es hieß unter ihnen „der Verdruß". Und wenn einer des Totenschauers Weib nennen wollte, so redete er nur vom „Verdruß des Phrastes". In diesem Übernamen lag auch die ganze Schärfe des Volkswitzes.