240 39. Orpheus und Eurydike. nach der Gattin um, und sofort gleitet diese zurück, vergebens ihre Hände • nach dem Gatten ausbreitend, und spricht, zum zweitenmale sterbend, mit kaum vernehmlicher Stimme ihr letztes Lebewohl. Trostlos eilt Orpheus der in das Dunkel zurückweichenden Gattin nach; aber Charon, der Fährmann, setzt ihn nicht, trotz Bitten und Klagen, ans andere Ufer. Sieben Tage lang sitzt er am Ufer des Acheron ohne Speise und Trank und weidet sich nur an seinem Gram und seinen Thränen. Endlich kehrt er, klagend über die Grausamkeit des Erebos, zurück in die einsamen Thäler der thrakischen Berge. Hier lebte er noch drei Jahre lang, fern von aller Welt, seinem Schmerz und seiner Trauer. Sein Lied ist sein einziger Trost; damit bezaubert er Wälder und Felsen und die Tiere der Wildnis. Einst safs er auf einem grünen, sonnigen Hügel und sang seine traurig-süssen Weisen. Die Bäume, von den holden Klängen gelockt, rücken in Scharen herbei und gewähren lauschend ihrem Sänger kühlen Schatten; die Felsen drängen sich bezaubert heran; die Vögel des Waldes verlassen das Dickicht, das Wild seine Schluchten und horchen still und zahm den süssen Liedern. Da sehen ihn thrakische Frauen, welche dem Bakchos zu Ehren ihr Fest lärmend in den Bergen feiern, und schon längst erzürnt über den Sänger, der nach dem Verluste seiner Gattin kein Herz zeigt für andere Frauen, stürzen sie wütend auf ihn ein. „Da seht unsern Verächter!“ ruft die erste und wirft ihren Thyr- sosstab ihm ins Antlitz. Die Blätter, die den Thyrsos umwandten bis zur Spitze, schützen den Sänger vor einer Wunde. Eine zweite schleudert einen Stein. Im Wurfe von den Tönen der Stimme und der Leier besiegt, fällt der Stein zu seinen Füssen, als bät’ er um Verzeihung. Aber der Tumult wächst, es steigert sich die Wut; das Geschrei und Geheul, der Lärm der Flöten und Hörner, das Getöse der Pauken übertönt den Klang der Saiten, und nun dringen die Steine ungehemmt auf den Sänger und röten sich mit seinem Blute. Die Rasenden stürzen selbst über ihn her, wie eine Meute wütender Hunde über einen verendenden Hirsch, schlagen ihn mit ihrem Thyrsos, mit Ästen und Steinen bis durch den Mund, der Felsen gerührt und das Raubtier gezähmt, seine Seele entweicht. Über seinen Tod klagen die Vögel des Hains und das Wild der Berge; harte Felsen, die so oft seinen Gesängen gefolgt sind, ver- giefsen Thränen • die Bäume entblättern aus Trauer ihr Haupt, und Dryaden und Naiaden in dunkeln Gewändern zerraufen sich weinend die Haare. Die Glieder des unglücklichen Sängers liegen zerstreut umher; sein Haupt und seine Leier werfen die Rasenden in den -Hebrosfluss1), ') jetzt Maritza.