630 Gattungsunterschiede der Poesie. 3. Die Sage. Sie ist eine wunderbare Kunde aus der Vorzeit, welche Dichtung und Wahrheit an einen bestimmten Ort, eine bestimmte geschichtliche Person anknüpfend, in dem nationalen Bewußtsein und dem dichtenden Gemüth des Volkes ihre Wurzel und Quelle hat. 4. Das Märchen erzählt, ohne Anlehnung an bestimmte Personen, Orte und Zeiten, in anmuthig kindlichem, reinem Humor wunderbare Ereignisse, welche unter der Einwirkung übermenschlicher Wesen und Kräfte erfolgen und auf einen Zusammenhang mit alten Göttersagen hindeuten. 5. Die Legende (von legenda, d. h. das täglich zur Erbauung zu Lesende) ist eine kirchliche Sage, meist eine Geschichte aus dem Leben Christi oder der Apostel, christlicher Heiligen, Märtyrer u. s. w., von er— baulicher oder doch lehrhafter Tendenz. „Der arme Heinrich“ von Hart— mann von Aue kann hierzu gerechnet werden. Legenden von Herder. 6. Die Fabel hat sich unter dem Einflusse der Kunstpoesie aus dem Thierepos entwickelt, sie erfordert Naturwahrheit und bestimmt ausge— sprochene treffende Anwendung des individuellen Thierlebens auf mensch— liche Zustände. Sie hat zu handelnden Personen meistens Thiere, weil deren allgemein bekannte und unveränderliche Charaktere dem Zwecke der Fabel am besten entsprechen. Sie will kurz und einfach erzählt sein. 7. Die Parabel (von parabola d. h. Nebeneinanderstellung) oder das Gleichnis will an einer erdichteten Erzählung eine höhere Wahrheit aus dem geistigen oder Seelenleben des Menschen zur Anschauung bringen. Darum wählt sie auch meistens Menschen (nicht Thiere) zu ihren Personen Die Darstellung ist ausführlicher, die Sprache edler als bei der Fabel. Parabeln haben gedichtet: Herder, Krummacher, Göthe, Schiller, Uhland, Rückert. 8. Die Paramythie, von Herder in die deutsche Literatur einge— führt, ist eine Nebenart der Parabel und nimmt ihre Begebenheiten meist aus der griechischen Sagenwelt oder aus anderen Kreisen höherer Wesen (Engel 2c.), aus denen sie sittliche und religiöse Wahrheiten zur Anschauung bringt. Wenn in der epischen Poesie die Subjektivität des Dichters völlig in den Hintergrund tritt und in ihr nur das Objektive, das Reale in seinen mannichfachen malerischen Gestalten und festbestimmten Formen zur anschauenden Vorstellung gelangt, so offenbart dagegen in der lyrischen Poesie der Dichter stets nur das, was ihn persönlich erregt, bewegt, belebt. Seine Vorstellungen, seine Gefühle treten auch als solche hervor. Er ent— faltet sein eigenes inneres Gemüthaleben, indem er es ausspricht in Jubel— tönen der Freude und des Glücks, wie in dem Klagerufe der Trauer und des Schmerzes. Es giebt keine Bewegung des menschlichen Herzens, die nicht in der lyrischen Poesie ihren Wiederklang fände, von dem leisesten Erzittern vorübergehender Erregung bis zur höchsten Potenz der Leiden— schaft und stärksten nachhaltigsten Empfindung. Die Veranlassung zu einer lyrischen Außerung der Gedanken und Empfindungen giebt dem Dichter