— 358 Es ist erstens ein verlehrter Weg, den der einschlägt, welcher sich selber kennen lernen und seinen Wert prüfen will, sich nur mit andern zu vergleichen, ihren größern Fehlern seine kleinern, ihren kleinern Tugenden seine größern, wohl gar seine Tugenden ihren Fehlern gegenüber zu stellen. Welcher Mensch, der zum Guten verdrossen ist, würde nicht bald einen andern aus— spähen, der ihm noch verdrossener scheint? Wenn seine Tugend noch schwach und zweideutig auf den Wogen der Gefühle schwankt, wird er wohl keinen finden, dem sie gänzlich fehlt? Weiß er mancher guten Eigenschaft sich nicht zu trösten, so ist er doch wenigstens von Fehlern frei, die er in dem Be— tragen anderer so häufig bemerkt, und glaubt dann gut zu sein, weil es so viele noch weniger sind als er, weil er noch einen so großen Abstand zwischen sich und dem Schwächsten bemerkt. So erhebt ein Mann im Evangelium die Stimme: „Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie andere Leute.“ — Es ist überhaupt schwer, sehr mißlich, fast unmöglich, immer aber ein zweckloser Umweg, durch Vergleichung mit irgend einem Menschen seinen eigenen Wert bestimmen zu wollen. Immer kennen wir uns doch selber noch besser als jeden andern Menschen. Wer prüft und wägt und bürgt uns ihren Wert oder Unwert? Und welcher Mensch weiß, was in dem Menschen ist, als nur der Geist des Menschen, der in ihm ist? Geht nicht das Köstlichste und Beste und Eigentlichste, was die Güte seiner Thaten und die seines Herzens entscheidet, sie vor Gottes Auge entscheidet, dem unsrigen fast ganz verloren? Seine heiligste und schönste That, die er im verborgenen Schatten der Bescheidenheit und Demut verrichtet, sein Herz, seine eigennutz⸗ losen, menschenfreundlichen Absichten selbst bei mißlungener That, seine stille, fromme Liebe zu Gott und dem Guten, seine Kämpfe, sein Ringen und Streben, besser zu werden, sein andachtvolles Gebet, seine schmerzhafte, an— haltende Reue, womit er seine Vergehungen büßt und den Himmel versöhnt, während ihn vielleicht die Erde verdammt; — oder auch von allem diesem das Gegenteil. Ebenso wenig kennen und bemerken wir die unzähligen innern und äußerlichen, wesentlichen oder zufälligen Hindernisse, die seinen Gang im Guten so oft wider seinen Willen aufhalten, ihn unvermerkt und unwillkürlich an die Grenze einer Vergehung vielleicht hinüberziehen, die, wenn er sie besiegt, seine minder glänzende Tugend sehr wert, wenn er erlag, seinen Fall sehr verzeihlich machen. Und an einem solchen Maßstabe, den wir nicht kennen, dessen Zeichen und Ziffern wir nie verstehen, wollten wir unsere Tugend prüfen, unsere beste Habe schon auf Erden und die einzige, die uns nachfolgt? Wollten wir alle jene Umstände an uns selber auch aus dem Auge lassen, wie einseitig und unzuverlässig müßte unsere Beurteilung werden! Wollten wir sie in Beurteilung eines andern auch in Rechnung und Anschlag nehmen, welche Unmöglichkeit, die nur vor dem Allwissenden verschwinden kann, begönnen wir! — Immer kennen wir noch uns selber zum voraus besser als jeden andern. Immer wählt also der, welcher den Wert des Bekannten an dem Werte des Unbekannten berichtigen will, einen seltsamen, zwecklosen Umweg. Aber desto sicherer erreicht das Auge, das die Wahrheit flieht, auf seinen Krümmungen im Halblichte der Täuschung seine Absicht. — Es ist mißlich, durch Vergleichung mit irgend einem andern seines Werts sich versichern zu wollen. Auch stellt der Prüfende gewöhnlich