10 See höher und höher, erreichte endlich die Spitze des Berges und stürzte sich nun in dem schönsten und prachtvollsten Wasserfall, den man je gesehen hat, herunter. Es war ein Tosen und Schäumen und ein Nebel in allen Farben des Regenbogens, und Brausebach stürzte mehr als hundert Ellen hinab in die Tiefe, seinem Ziele, dem großen, fernen Weltmeer, entgegen. Das lag freilich noch in weiter Ferne, und der Strom ermüdete schließlich durch seine eigene Größe. Er teilte sich in verschiedene Arme, die trübe und langsam durch ein sumpfiges Land flössen. Jetzt war Brausebach alt geworden; da gewannen die Menschen wieder Macht über ihn, sie teilten seine Laufbahn und dämmten ihn hier und da nach Belieben ein. Und da schließlich die Zeit kam, wo er im Meere verschwinden sollte, schlich Brause¬ bach müde und still in vielen kleinen Flüßchen in die ewige, große Tiefe des Todes hinein. Aber ich sagte zu mir selber: „O, du lieber Gott, jetzt habe ich in Brausebach das Bild eines Menschenlebens in seiner Größe, Schönheit, Nützlichkeit, Übermut und schließlichen Gebrechlichkeit gesehen! Und jetzt weiß ich, daß keine Größe und Kraft auf Erden ewig ist, sondern daß das große Weltmeer uns alle erwartet." Und zu Rosa gewendet, schloß er: „Nun ist die Geschichte vom Brausebach zu Ende, nur schade, daß ich meine Schwester Rosa nicht wiederfinde, sondern allein bin in der Welt." — „Nein, Richard," sagte Rosa, „allein bist du nicht/ denn jetzt umschlingen dich die Arme deiner Schwester. Jetzt wollen wir hier auf der Wiese eine Hütte bauen, zwischen Brause- und Sausebach, sodaß wir die beiden be¬ ständig sehen können und ihrer verschiedenen Schicksale gedenken. Willst du das, Richard? Sag, ob du willst?" — „Ja," antwortete Richard und küßte Rosas Wangen und Hände. Und so bauten sie sich daselbst eine Hütte und erinnerten sich stets beim Anblick der Natur der Güte und Weisheit Gottes in der Führung der Menschen. Topelius (Podewils). II. Erzählungen. 7. Die Heimkehr eines Künstlers. In einem der gesegnetsten Gaue unseres herrlichen deutschen Vater¬ landes liegt inmitten einer fruchtbaren Ebene, durch welche ein Strom gleich einem Silberbande sich dahinzieht, malerisch die alte Stadt Augsburg, deren hohe Türme, Denkmale reinster gotischer Baukunst, das Auge schon aus der Ferne erfreuen. Ein Besuch dieser altertümlichen und romantischen Stadt gehört noch jetzt zu den lohnendsten Ausflügen, obgleich die Zeit