209 V. Naturgeschichtliches. 53. Säume und Slumen beim Nahen des Frühlings. 1. Der Winter hat Abschied genommen, der Schnee ist größtenteils zergangen, die schöne Eisbahn, wo wir uns so froh tummelten, ist zu Wasser geworden; Schmutz und fahles Gras bedecken Wege und Wiesen. Nur die junge Roggensaat zeigt frische Farben. Und doch fühlen wir: der Frühling ist da. Die mildere, feuchtere Luft, das Jubeln der Lerche, das Rauschen des vom Eise befreiten Flusses zeigen uns die beginnende Herrschaft des Lenzes. Auch die Pflanzenwelt hat die starren Fesseln des Winters gesprengt; die wärmere Sonne, die reichliche Feuchtigkeit rufen an Bäumen und Stauden frische Triebe hervor und beleben tausend Keime, die uns neue Sommerlust verheißen. Wie schön ist der Blick vom hohen Ufer das lange, tiefe Flußthal hinab! Die großen Bäume, die nahe am Wasser stehen, sind Erlen, auch Ellern genannt. Vor einigen Wochen noch schwarz, schimmern sie jetzt rötlich: sie blühen. Lange Troddelchen werden vom Winde bewegt und aus einigen steigen gelbliche Staubwolken empor. Klopfe ich mit solch einem Blütenkätzchen auf die flache Hand, so entleeren gelbliche Beutel eine Schicht Staub. Den nennt man Blüienstaub, die ihn bergenden Organe Staubgefäße oder Staubblätter, und die Blüten, an denen er haftet, männliche. Ans einigen kommt trotz alles Klopfens kein Staub heraus. Sie haben schon verstäubt; denn schon im März, wenn noch die Wurzeln der Erlen mit Schnee und Eis bedeckt sind, fangen manche an zu blühen. Noch andere Blüten entdeckt man auf der Erle: kleinere zwar, aber noch schönere. Dunkelrot leuchten sie uns entgegen. Sie stäuben nicht, doch sehen wir zwischen den kleinen Schuppen rote Fäden hervorlugen. Das sind die klebrigen Narben, welche auf kugligen Fruchtknoten sitzen. Fruchtknoten und Narben nennt man Stempel, und Blüten, welche sie beherbergen, weibliche oder Stempelblüten. Wer scharfe Augen hat, sieht gelben Staub an den Narben haften, der von den männlichen Blüten stammt. Nun sind die Stempel befruchtet, d. h. nun können sie sich in Früchte verwandeln. Wir finden auf den Erlenbänmen schwarze, holzige Zapfen, die vom vorigen Jahre stammen, hart sind und aussehen wie kleine Kiefernzapfen. Zwischen ihren Schuppen sitzen noch einige Früchtchen. Die meisten sind schon herausgefallen. Es sind dunkelbraune, platte Körnchen, die durch heftiges Anblasen, also auch durch stärkere Winde, eine kurze Strecke fortgetragen werden. Lesebuch für höhere Lehranstalten. (Prenß. Ausg.) Hl. 14