A Prosa.
I. Fabeln, Parabeln und Märchen.
1. Tod und Schlaf.
Brüderlich umschlungen durchwandelten der Engel des Schlummers
und der Todesengel die Erde. Es war Abend. Sie lagerten sich auf
einem Hügel, nicht fern von den Wohnungen der Menschen. Eine
wehmütige Stille waltete ringsumher; auch das Abendglöcklein im
fernen Dörflein verstummte. Still und schweigend, wie es ihre Weise
ist, saßen die beiden wohlthätigen Genien der Menschheit in traulicher
Umarmung, und schon nahete die Nacht. Da erhob sich der Engel
des Schlummers von seinem bemoosten Lager und streute mit leiser
Hand die unsichtbaren Schlummerkörnlein aus. Die sanften Abend¬
winde trugen sie in die Wohnungen des müden Landmanns. Nun um¬
fing der Schlaf die Bewohner der ländlichen Hütten, vom Greise, der
am Stahe geht, bis zu dem Säuglinge in der Wiege. Der Kranke ver¬
gaß seine Schmerzen, der Trauernde seinen Kummer, der Darbende
seinen Mangel. Aller Augen schlossen sich.
Nun setzte sich nach vollendetem Geschäfte der wohlthätige Engel
des Schlummers wieder zu seinem ernsten Bruder hin. „Wenn die
Morgenröte erwacht,“ sagte er mit fröhlicher Unschuld, „dann preisen
mich die Menschen als ihren Freund und Wohlthäter. 0 es ist süß,
ungesehen und heimlich wohlzuthun! Wie glücklich sind wir unsicht¬
baren Boten des guten Geistes! Wie schön ist unser Beruf!“ So
sprach der freundliche Engel des Schlummers. — Ihn sah der Todes¬
engel mit stiller Wehmut an, und eine Thräne, wie die Unsterblichen
sie weinen, trat in sein großes, dunkles Auge. „Ach,“ sprach er, „daß
ich nicht wie du des fröhlichen Dankes mich freuen kann! Mich nennt
die Erde ihren Feind und Freudenstörer!“ — „0 mein Bruder,“ erwiderte
der Engel des Schlafes, „wird nicht auch beim Erwachen der Gute in
dir seinen Freund und Wohlthäter erkennen und dankbar dich segnen?
Lesebuch für Höhere Lehranstalten. (Preuß. Ausg.) III. 1