Georg-Eckert-Institut BS78
Lehrbuch -er Geschichte
für höhere Lehranstalten
in Übereinstimmung mit den neuen Lehrplänen
versaßt von
Direktor Dr. M. Schenk.
Ausgabe B:
Für Realanstalten.
B. G. TEUBNER IN LEIPZIG.
VERLAGSBUCHHANDLUNG.
I. (Sexta):Lebensbilder aus
der vaterl. Geschichte.
II. (Quinta): Sagcnh. Vor-
gesch. der Gr. u. Römer.
III. (Quarta): Altert. Ausg. A.
dauerhaft geb. JL 1.20.
Ausg. B mit rGeschichtsk.
dauerhaft geb. JC 1.50.
IV. (Untertertia): V. Aug.'
Tode b. z. Reformation.
(Ersch.n. v. Ostern 1899.)
Dieses in voller Übereinstimmung mit den preußischen Lehrplänen vom Jahre 1892
stehende geschichtliche Lehrbuch für höhere Lehranstalten erscheint, um der Eigenart der
beiden Hauptgattungcn der höheren Lehranstalten möglichst gerecht werden zu können,
in zwei Ausgaben, deren eine für die Gymnasien (A), die andere für die Real-
anstalten und höheren Bürgerschulen (B) bestimmt ist; nur die Teile für die zwei
untersten Klassen werden für beide Arten dieselben sein.
Bei der Abfassung dieses in voller Übereinstimmung mit den preußischen Lehr-
plänen vom Jahre 1892 stehenden geschichtlichen Lehrbuches sind folgende allgemeine
Gesichtspunkte maßgebend gewesen:
Aus eigner praktischer Erfahrung heraus glaubte sich der Verfasser für die er-
zählende Darstellungsweise entscheiden zu müssen, außer an den Stellen, wo
Zusammenfassung, Vergleiche, Schilderung von Versassungszuständen und Ähnliches die
knappste Art der Darbietung erfordern. Die Übersichtlichkeit ist dabei be-
sonders durch klare Einteilung und außerdem in den Teilen IV—IX durch Rand-
bemerkungen gewahrt.
Auf jeder Stufe wird nach Möglichkeit die politische Geschichte von dem alt-
hergebrachten Ballast an Namen und Zahlen befreit, und großer Wert auf klare
Bestimmung des geschichtlichen Schauplatzes gelegt.
In den Teilen der Unterstufe (I und II) soll vor allem auf die Einhaltung eines
schlichten, frischen, warmen Tones Bedacht genommen werden, der dem Knaben
das Buch lieb und wert macht und den ethischen Zweck des geschichtlichen
Unterrichts in der Sexta fördern hilft.
Mittel- und Oberstufe haben das gemeinsam, daß sie Andeutungen zu Ver-
gleichen der geschilderten Länder, Völker und Verhältnisse mit anderen enthalten und
das Wesen und Wirken der großen Persönlichkeiten, die ihren Staat oder
die Menschheit vorwärts gebracht haben, genauer zur Darstellung bringen. Auf der
G. TEUBNER in LEIPZIG.
VERLAG S B U CH H Atf D LU N G.
V. (Obertertia): Von der
Reformation bis 1740.
VI. (Untersekunda): V-1740
bis zur Gegenwart.
VII. (Obersekunda): Altertum.
Mit 1 Tafel. Ausgabe A
und Ausgabe B dauert),
geb. je M 2.40.
VIII. (Unterprima): Mittelalt.
u. Kirchenreform.
(Ersch.n.v. Ostern 1899.)
IX. (Oberprima): Neuzeit.
„Es ist eine hervorragende Leistung, und
da es sowohl auf der Höhe der ivissenschaft-
l/chenForschung steht als auch allen modernen
pädagogischen Anforderungen durchaus ent-
spricht, so ist es ein vortreffliches Mittel, unsere
Jugend in die Geschichte einzuführen. Eshietet
ihr eine kräftige gesunde Kost, wendet sich
nicht nur an das Gedächtnis, sondern vor allem
an den Verstand und an das Herz der Schüler,
lehrt sie denken, fühlen, vergleichen und ur-
teilen und ist daher imstande, nicht nur die
lebhafteste Teilnahme, sondern auch wirk-
liche Liebe zu dem Geschichtsstudium in
unserer deutschen Jugend zu erwecken und
zu erhalten
(Zeitschr. f. d. Gymnasialwesen 189S.)
Mittelstufe überwiegt, der Eigenart des betr. Lebensalters entsprechend, „das Vor-
führen des Thatsächlichen". Im besonderen bricht der III. Teil mit der
Gepflogenheit, Sage und Geschichte unterschiedslos zu behandeln. Er enthält lediglich
beglaubigte Geschichte; in kleinerem Druck sind an den Stellen, wo sagenhafte
Berichte vorliegen, die bereits in der Quinta durchgeuommenen Überlieferungen dieser
Art angedeutet. Die Begriffe politischer und anderer Art, die nicht zu umgehen waren,
findet man in Anmerkungen in einer dem Verständnis 12 jähriger Knaben angemessenen
Weise erklärt. Von der Tertia aufwärts werden wichtige und weniger bedeutende
Nachrichten durch den Druck unterschieden, und zwar sind die letzteren gleich einzelnen
Ausführungen in kleineren Buchstaben gegeben.
Der Vertiefung der Auffassung die Wege zu ebnen, um in den Schülern der
oberen Klassen „den geschichtlichen Sinn zu entwickeln", ist das Hauptziel der
Oberstufe. Dazu war es nötig, einerseits auch für die Schilderung der Einflüsse
der natürlichen Umgebung auf die Völker, des Bedingtseins der Entwicklung
der großen Persönlichkeiten, staatlicher und wirtschaftlicher Daseins-
formen und der geistigen und äußeren Kultur Raum zu gewinnen, anderseits
alles dies in seiner gegenseitigen Beeinflussung vorzutragen. Auf solche Weise
hofft der Verfasser, eiu lebenswahres, zusammenhängendes Gesamtbild des Wirkens,
Ringens und Leidens der alten Völker, in Krieg und Frieden annähernd gleich aus-
führlich, entworfen zu haben, das ihre Arbeit auf allen Gebieten, die Einwirkung
der politischen Ereignisse aus alle Volksgenossen, das Denken und Thun aller Stände
berücksichtigt. Eine Reihe Anmerkungen im VII. Teil der Ausgabe A soll es erleichtern,
die in den Sekunden gelesenen Schriftsteller zuweilen als Quellen heranzuziehen, also den
geschichtlichen mit dem sprachlichen Unterricht in nähere Beziehung zu bringen.
B. G. TEUBNER IN LEIPZIG.
VERLAGSBUCHHANDLUNG.
Französisches und Englisches UnterrichtMcrk
im engsten Anschluß an die Neuen Lehrpläne
mit besonderer Berücksichtigung der Übungen
im mündlichen und schriftlichen freien Gebrauch der Sprache
bearbeitet von
Dr. Otto Koer?nerk>
Oberlehrer am Gymnasium zum heiligen Kreuz zu Dresden.
'Übersicht über die Ausgaben und. Heile:
A. Französischer Teil:
Ausgabe A:
Lehrbuch (auch in 2 Abteilungen).
Hauptregeln der franz. Grammatik.
Franz.-deutsches und deutsch-franz.
Wörterbuch.
Oberstufe zum Lehrbuch.
Syntakt. Anhang zu den Hauptregeln.
Ausgabe B (f. höh. Mädchenschulen):
I.—III. Teil: Für das 1.—3. Unter-
richtsjahr (mit gramm. Anhang).
IV. Teil (Oberstufe): Für das 4. und
5. Unterrichtsjahr (mit Wörterbuch).
Hauptregeln nebst syntaktischem Anhang
(Ausgabe B).
Ausgabe C.
(gekürzte Neubearbeitung):
Lehrbuch: I. und II. Abteilung.
Hauptregeln nebst syntaktischem Anhang
(Ausgabe B).
Oberstufe (mit Wörterbuch).
1!. Englischer Teil von Bocrner-Thicrgen:
Ausgabe A:
Lehrbuch. — Grammatik. — Oberstufe.
Ausgabe für die Kadettenkorps:
Elementarbuch der englischen Sprache.
Ausgabe B (f. höh. Mädchenschulen):
I. u. II. Teil: Für das 1. u. 2. Unterrichts-
jahr (mit gramm. Anhang).
III. Teil: (kurzgef. Syntax).
IV. Teil: (erw. Syntax).
Die außerordentlich große, sich stetig mehrende Anzahl von Einführungen
in mehr als 350 Städten mit insgesamt über 500 der verschiedenartigsten
höheren und mittleren Lehranstalten des In- und Auslandes bedeutet einen
unerwartet raschen Erfolg dieses Unterrichtswerkes, der bei der Hochflut alter
und neuer Erscheinungen auf diesem Gebiete um so bemerkenswerter ist.
Einige Urteile von Autoritäten: » Die Boernerschen Bücher sind
ein ganz vorzügliches Lehrmittel: eine Art Quintessenz aller guten und
rationellen Methoden. • Ihrem Lehrbuche und feiner Methode wird jedenfalls
die Zukunft gehören. • Das Boernersche Lehrbuch übertrifft meines Erachtens
alle ähnlichen Bücher. • Ich halte dieses Buch geradezu für das Ideal eines
französischen Lehrbuchs.
Freiexemplare zur Prüfung behufs event. Einführung sowie ausführ-
licher Prospekt mit zahlreichen, überaus günstigen fachmännischen Beurteilungen
stehen für die verehrt. Direktionen und für die Herren Fachlehrer gern zu
Diensten von der Verlagsbuchhandlung B. G. Teubner in Leipzig,
Poststrapc 3.
Bearbeitung des Döbelner Lesebuchs
(Dritte Auslage)
für Mittel- und Norddeutschland
in engem Anschluß an die preußischen Lehrpläne
von
Direktor M. Ebers und Profeffor H. Walz
ani Gymnasium zu Barmen.
Dritter Teil: Quarta.
Leipzig und Berlin,
Druck und Verlag von B. G. Teubner.
Georo, -Pc^ert-Instltut
ff.r tuonale
Schisi^uchiorschung
Schuibuchbibliothek
6 I £ W
Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechts, Vorbehalten.
DhC*r - f
Vorwort.
Über die allgemeinen Grundsätze und Gesichtspunkte, nach denen
dieses Lesebuch angelegt und bisher durchgeführt worden ist, giebt gleich
zum I. Teile (für Sexta) das „Be gleit wort" eingehendere Rechenschaft.
Desgleichen zum II. Teil (für Quinta) eine „besondere Vorbemerkung"
über die Auswahl aus den antiken Sagenstoffen. An beides anknüpfend
seien auch diesem III. Teile für Quarta einige ergänzende Hinweise
vorausgeschickt.
Die Haupt-Richtschnur des ganzen Unternehmens, die durchgängige
Rücksicht auf die preußischen Lehrpläne, hat — wie schon im Begleit-
wort vorausgesagt — gegenüber dem ursprünglichen Vorbilde des „Döbelner"
Lesebuchs fürs Königreich Sachsen zu immer größerer Abweichung und
Selbständigkeit führen müssen, sofern sich eben die preußischen Lehrpläne
von den sächsischen Stufe um Stufe weiter entfernen.
Wie dies schon im II. Teile stärker hervortrat als im I. — man
vergleiche die „Vorbemerkung" dazu —: so vollends in diesem III. und
voraussichtlich in den folgenden.
Weniger freilich bei den dichterischen Stoffen, wo bei gleichem Weg
und Ziel auch in der Wahl des Stoffes mehr Übereinstimmung herrschen
konnte. Was hierin von der trefflichen Döbelner Auswahl abweicht, ist
demnach weniger durch die Lehrpläne selbst als durch den erweiterten
Kreis, dem die neue Ausgabe dienen soll, oder durch die Imponderabilien
des Gefühls und Geschmacks bedingt.
Um so stärker sind die Unterschiede in der Prosa. Hier spiegelt sich
das Vorbild nur noch in der Gesamtgliederung, im allgemeinen Aufbau
und etwa in einzelnen direkt herübergenommenen Stücken, z. B. der Er-
zählungsgruppe, wieder. In der übrigen Stoffauswahl hingegen waren
bei einer Reihe wichtiger Gruppen ganz neue Wege einzuschlagen. Und
diese sollten dem lehrplanmäßigen Unterricht womöglich noch strenger und
folgerechter dienen, als es die meisten entsprechenden Gruppen wenigstens
in den uns bekannten preußischen Lesebüchern zu bezwecken scheinen.
IV
So vor allem bei den geschichtlichen, den erdkundlichen und den
naturgeschichtlichen Lesestoffen.
Bei den geschichtlichen zunächst sind es wiederum vor allem die aus
dem klassischen Altertum, denen wir ganz besondere Aufmerksamkeit und
Sorgfalt widmen zu sollen glaubten und auf die deshalb etwas näher
eingegangen sei.
Wie schon im II. Teil bei den Sagen dieses Gebietes, ganz ebenso
und aus ganz ähnlichen Gründen sind wir hier bei den Geschichtsbildern
der griechischen und römischen Welt verfahren.
Es ist nun einmal — einerlei, wie man's beurteile — eine That-
sache, daß in Preußen seit der Neuordnung von 1892 grade diese Stoffe
als selbständiger Geschichtslehrstoff gegen früher sehr zurückgestellt und im
wesentlichen auf die 2. Stufen der Quarta und Obersekunda eingeschränkt
worden sind.*) Bei der Lage dieser Stufen außerdem, die für 3 Jahre
eine völlige Verdrängung der alten durch die nationale und die neuere
Geschichte gebietet, hat die Behandlung des Altertums außer der starken
Umfangsbeschränkung eine nicht geringere Einbuße an Gewicht und Eindruck,
an Bedeutsamkeit und Wirkung, und damit unleugbar auch an Wertschätzung
bei der beteiligten Jugend selbst erleiden müssen.
Kein Wunder also, wenn jene leidige Erfahrung, auf die wir schon
zum II. Teile hinwiesen, immer neu hervortritt: das starke Vergessen
alter Geschichte bei den Schülern der Oberstufen.
Das ist nun in der That ein Miß- und Notstand, den offenbar die
Lehrpläne selbst keineswegs beabsichtigt haben können. Denn
wenn man auch mit Bewußtsein und nicht ohne Fug und Recht die
vaterländische und neuere Geschichte gegen früher viel mehr in den
Vordergrund, also das Altertum mehr ins Hintertreffen gerückt und stark
beschränkt hat, so darf doch schon um des von der Unterrichtsordnung
selbst ausdrücklich betonten und geforderten allgemeinen historischen Ver-
ständnisses willen unmöglich die Beschäftigung damit schließlich zu einer
solchen Nebensache, einem bloß vorübergehenden Erfolge herabsinken!
Irgend einen Gewinn und sicheren Besitz für Gedächtnis wie Gemüt
muß doch die Jugend davon auch mit in die obersten Klassen, ja mit ins
Leben nehmen! Dies um so mehr, da anerkanntermaßen grade die
antiken Geschichtsbilder in ihrer unvergleichlichen Einfachheit und Klarheit,
ihrer kernigen Geschlossenheit, Kraft und Wucht, lehrmäßig wie erzieherisch
ein Unterrichts-Gut darstellen, das in dieser seiner Eigenart durch
*) Daß nämlich für die Untertertia noch „ein kurzer Überblick über die weströmische
Kaisergeschichte vom Tode des Augustus" vorbehalten ist, kann der Gesamtbeschränkung
gegenüber nur wenig ins Gewicht fallen, da selbstverständlich eine Wiederholung von
Früherem dabei ausgeschlossen erscheint.
keine andern Stoffe der spätern, immer verwickeltem und schwieriger
zu durchschauenden Geschichtsperioden ersetzt werden kann. Zudem ist doch
grade das klassische Altertum die Voraussetzung, die Quelle und damit
die ewig vorbildliche Grundlage für gewisse Grundrichtungen der Geschichts-
und Kultur-Entwickelung. Auch für das Verständnis der Gegenwart also
wie für die tiefere Würdigung der vaterländischen Geschichte bietet die
Einführung in das Altertum eine treffliche Vorschule und eine wirksame
Erleichterung. Und das gilt nicht bloß für Gymnasien, sondern
auch für Realgymnasien und Oberrealschulen aller Art: keine
höhere Schule kann diese Basis ganz entbehren!
Unter den vielen vorgeschlagenen Abhülfsmitteln nun erscheint uns
als eines der wichtigsten eben das Lesebuch, dessen Haupt- und Grundidee
wir ja von vornherein dahin bestimmt halten: daß grade es als ein wirk-
liches Hausbuch, als ein liebgewordener Jugendfreund, auf allen ihm
möglichen und zugänglichen Gebieten den Unterricht auf die eindringlichste
und nachdrücklichste, die lebhafteste, anregendste und fesselndste Weise
unterstützen solle.*)
*) Wenn Krumbach-Sieber in ihrer bekannten gediegenen „Geschichte und
Kritik der deutschen Schullesebücher" II. S. 237 f. den Grundsatz aufstellen: „Das
deutsche Schullesebuch soll die deutsche Art, die Welt und das Leben aufzufassen,
wiederspiegeln," und daraus sofort folgern: „Sagen und geschichtliche Erzählungen aus
dem klassischen Altertum gehören nicht ins deutsche Lesebuch, sondern nur solche
aus der vaterländischen Geschichte" — so meinen sie offenbar nur das Volksschullesebuch.
Denn S. 63—77 nehmen sie in den Plan eines Lesebuchs für höhere Schulen aus-
drücklich nach den Lehrplänen auch altklassische Geschichtsstoffe auf. Leider tritt diese
Unterscheidung nicht überall klar genug hervor. Doch wird auch für das Volksschullesebuch
die Folgerung S. 58 insofern wieder eingeschränkt, als auch hierfür antike Stoffe zu-
gelassen werden, soweit sie „zum Verständnis der deutschen Geschichte" erforderlich oder
„wegen der sittlichen Wahrheiten, die sie aussprechen", erwünscht seien. Von hier aus kann
man dann übrigens den Grundsatz selbst angreifen, wie ja viele treffliche Volksschullesebücher
sich gar nicht scheuen auch Geschichtsbilder aus dem klassischen Altertum zu bringen, natürlich
in beschränkter und sorgfältiger Auswahl. Denn um „deutsche Welt- und Lebensauffassung
wiederspiegeln" zu können, braucht man sich gar nicht so ausschließlich auf heimische,
vaterländische Stoffe zu beschränken. Hängt doch überhaupt diese Aufgabe keineswegs
allein vom Stoffe ab, sondern eben so und oft noch viel mehr von der Art und Weise
seiner Darstellung, Beurteilung und Würdigung! Man kann — wie leider
zahlreiche Beispiele zeigen — die eigene Volks- und Gegenwarts-Geschichte sehr undeutsch
und unpatriotisch, sehr parteiisch und verzerrt, sehr gefährlich und verhängnisvoll auch
schon für die Jugend, für deutsche Erziehung und Bildung darstellen! Und man kann
umgekehrt antike oder fremde Stoffe durchaus deutscher Welt- und Lebensauffassung
dienstbar machen und mit deutschem Geist und Herz erfüllen. Ja, man wird sie um so
echter deutsch und im edelsten nationalen Sinne um so wirksamer darstellen, je schlichter
und treuer, je frischer, wärmer und gemütvoller man sie behandelt. Und wenn das für
höhere Schulen gradezu unumgänglich ist und zwar, wie oben gesagt, für alle Arten
derselben, für die realistischen ebenso wie für die humanistischen: warum sollen
- VI —
Und wenn in voller Übereinstimmung damit auch der preußische
Lehrplan in den methodischen Bemerkungen zum Geschichtsunterricht der
Unterklassen es ausspricht: Für den Erfolg sei es von Wichtigkeit, daß
„das deutsche Lesebuch auf diesen Stufen im engsten Zusammen-
hang mit der Aufgabe stehe" — nun, so glauben wir das eben nicht
auf die Sexta und Quinta beschränken zu sollen, sondem nehmen es auch
für den Quarta- und alle folgenden Teile in Anspruch.
Demnach haben wir, wie früher bei den Sagen, so auch hier bei der
Geschichte uns nicht mit einer bloßen beliebigen Auswahl zusammenhangs-
loser Einzelstücke begnügt, sondern abermals ein gewisses abgerundetes
Ganzes zu geben versucht. Aus der Gesamtheit antiken Menschen-,
Volks- und Staatslebens sollte das Schönste und Gewaltigste, das ge-
schichtlich wie kulturell Bedeutendste und Lehrreichste und darum auch
ethisch wie ästhetisch Eindrucksvollste und Vorbildlichste an Männern und
Thaten, an Ereignissen und Einrichtungen, an Zuständen und Zeiten —
natürlich soweit es eben für die Quartastufe verständlich zu machen ist —
nach den beiden Hauptvölkern in zwei großen Gruppen mit übersichtlicher
Zeitfolge zusammengestellt und so als ein der Art nach Einheitliches
und Vollständiges der Jugend nahegebracht werden. Das Ganze sollte
sich gleich bei diesem ersten Male mit einer gewissen Wucht und Größe
in einer möglichst vollhaltigen Reihe, gleichsam wie eine kleine Gallerie
fesselnder Gemälde darstellen, in welcher schon jetzt die Schüler mit
wachsendem Genuß und Anteil von Bild zu Bild, von einer lebendigen
Anschauung, einem großen Eindruck zum andern fortwandern und sich
einigermaßen heimisch machen könnten.
Letzteres natürlich ganz wie bei den Sagen unter der Voraussetzung,
daß auch dieser Teil und grade diese Stoffe über die Quarta hinaus
noch fortwirken können und sollen; daß also der Schüler sein Lesebuch
wirklich als einen Hausfreund lieb behalte und weiter benutze, und daß
auch die spätern Lehrer sich nicht scheuen, bei Unkenntnis und bedenk-
lichen Lücken selbst einen Sekundaner und Primaner noch darauf zurück
zu verweisen, ja direkt zur auffrischenden Wiederholung eines betreffenden
Stückes anzuhalten.
Allerdings giebt's ja nun treffliche Sammlungen antiker Geschichts-
bilder auch heute noch genug; dazu bemühen sich grade neueste Geschichts-
Lehrbücher, gleichfalls schon dem Quartaner den Stoff durch frische
lebendige Darstellung genießbar und angenehm zu machen. Auch verdanken
nicht von den bekanntesten Männern und Thaten der antiken Welt, deren Namen und
Ruhm gradezu Allgemeinbesitz auch der elementaren Bildung geworden sind, die Volks-
schullesebücher gleichfalls einige Hauptzüge bringen dürfen?
VII
wir natürlich beiden Arten von Büchern manche treffliche Anregung oder
Belehrung.*) Allein bei jener ersten Gruppe ist von vornherein die
Unterstützung des Unterrichts durch sie ganz dem Zufall, dem Belieben
der Eltern, der gelegentlichen Anschaffung zu Geschenken u. dgl. überlassen.
Eigentliche Schulbücher sind sie eben nicht und können es kaum jemals
werden. Auf sie kann kein Lehrer ohne weiteres seine Schüler verpflichten.
Dazu stehen die meisten noch auf dem Standpunkt früherer Lehrpläne,
sind also entweder auf reifere Altersstufen oder doch auf mehr Gebrauchszeit
berechnet, also viel breiter angelegt, viel eingehender ausgeführt, als das
hier zulässig war. Umgekehrt sind die eingeführten Geschichtswerke eben als
solche keine Lese-, sondern vor allem Lehr- und Lernbücher; sie haben
für den Schüler von vornherein den Zug des Fach- und Pflichtmäßigen,
des Zwanges, der Strenge. Auch müssen sie den gesamten Stoff ver-
arbeiten, im einzelnen also sich viel kürzer, knapper und dazu gewissermaßen
verstandesmäßiger, sachlich-trockener fassen; müssen viel Gewicht auch aufs
äußere Gerüst, auf Daten, Zahlen, Übersichten legen. Kurz sie tragen
naturnotwendig Merkmale, die grade beim Lesebuch wegfallen dürfen,
weil's hier eben vor allem auf freiere Beschäftigung und ruhiges Behagen,
auf Weckung natürlicher Freude, auf unmittelbaren und ungezwungenen
Eindruck bedeutender Charaktere und großer Thaten ankommt.
In der That also eine der dankbarsten und erfreulichsten, aber freilich
auch der höchsten und schwierigsten Aufgaben! Ob wir uns nun insbesondere
dieser Schwierigkeit und Verantwortung klar bewußt gewesen sind, das dürfte
schon daraus erhellen, daß grade für diese Gruppe aus all den in ihrer
Art trefflichen Vorlagen doch kein Stück unbesehen und unverändert
herüber genommen worden ist. Vielmehr hat bei den griechischen sogar
eine durchgängige Neubearbeitung, bei den römischen zum mindesten eine
vielfache Umformung stattgefunden, um eben alles möglichst einfach und
doch anschaulich, möglichst klar und doch lebendig, möglichst sachgemäß und
doch frisch und packend zu geben und so dem Knaben-Verständnis und
-Gemüt grade dieser Stufe anzupassen; zugleich auch, um das Ganze nach
den obigen Gesichtspunkten möglichst einheitlich zu gestalten. — Inwieweit
das nun überall schon jetzt gelungen ist, darüber werden ja die Herren
Fachgenossen ihr Urteil abgeben. Jedenfalls wird uns jede wohlwollende
Kritik, die uns im Fortschritte zu immer weiterer Vervollkommnung
fördern kann, zu aufrichtigem Danke verpstichten. — Daß man dabei
etwa schon den hie und da erweiterten Umfang dieses Gebiets bemängeln
*) So z. B. den bekannten Geschichtsdarstellungen von Abicht, Bernhardt,
Cassian, Dielitz, Grube, Jäger, Peter, Roth, Schaubach, Schmelzer, Ferd.
Schmidt, Stacke, Stöckel, Stoll, oder den Lehrbüchern von David Müller,
Neubauer, Schenk, Schultz u. a.
VIII
werde, brauchen wir hoffentlich nicht zu fürchten, da auch so noch die
vaterländischen und neuzeitlichen Stoffe des ganzen Teils weitaus
überwiegen. —
Was sodann diese selbst im engern Sinne, also die Bilder aus der
deutschen Geschichte anlangt, so spiegeln hiervon gleichfalls nur wenige
das Vorbild wieder, und unter diesen bedurfte gleich das erste von den
Femgerichten einer völligen Neubearbeitung, um es mit den Ergebnissen
neuerer Forschung in Einklang zu bringen. Im übrigen folgt die getroffene
Auswahl denselben Gesichtspunkten wie im I. und II. Teil.
Auch in den naturgeschichtlichen Stücken wird der Sachkundige
sofort die durchgängige Rücksicht auf den Lehrplan wahrnehmen und
hoffentlich die Auslese aus dem grade hier überreich sich darbietenden
Stoffe gutheißen.
Zu unmittelbarer Unterstützung des lehrplanmäßigen Unterrichts dient
sodann noch die Gruppe zur „Länder- und Völkerkunde". Für ein
selbständiges Durchlesen seitens der Schüler setzt sie allerdings mit ihren
mehr gegen- und zuständlichen Beschreibungen und Schilderungen schon ein
ruhigeres Verweilen und ein etwas gereifteres Verständnis voraus. Doch
wird sicherlich die Wechselwirkung mit dem lebendig gesprochenen Worte
des Lehrers und die Durchnahme grade solcher Stücke im Unterrichte
selbst auch bei dem Quartaner schon zum Verständnis den Boden bereiten
und die entsprechende Freude an solchen Bildern zu wecken vermögen.
Um vollends diesen Genuß und das Interesse für ein derartiges Gebiet
auch durch die Sache selbst möglichst zu fördern, haben wir nicht nur
zwischen die gegenständlichen Beschreibungen einige packende Schilderungen
von wirklich dramatischem Leben eingereiht, sondern das Ganze auch
gleichsam zu einer Art Rundreise durch die außerdeutschen Länder
Europas geordnet, die von Norden nach Osten, Süden, Westen und
wieder nordwärts, also rings um die deutsche Heimat herum führt. So
kann einerseits der Lehrer von jedem beliebigen Stück seinen Ausgangs-
punkt nehmen und der Reihe folgen; anderseits vermag der lesende Knabe
sich kraft eigener Phantasie gewissermaßen als europäischen Rundfahrer
zu denken und als Besucher in all die geschilderten Gegenden und Örtlich-
keiten zu versetzen. —
Endlich noch ein kurzes Wort über die hie und da unterm Text
gegebenen Anmerkungen.
Bei dem Streit, der betreffs ihrer Verwendung in Lesebüchern über-
haupt unter den Fachleuten herrscht, stehen wir auf Seiten derer, die sie,
natürlich in „geschickter und maßvoller" Auswahl, als unbedenklich, ja fürs
selbständige Lesen der Jugend als unumgänglich erachten. Gleich andern
anerkannten Lesebüchern und gleich unserm Döbelner Vorbilde haben auch
IX
wir sie deshalb bereits im I. und II. Teile zugelassen.*) In diesem III.
haben wir sogar, besonders bei den antiken Stoffen, außer den bloßen
Übersetzungen und Worterklärungen fremder oder seltener Ausdrücke hie
und da bei einem schwierigern Begriffe auch eine kurze Erläuterung gegeben
und ein paarmal auch wirkliche kleine Zusätze gewagt, wenn dadurch Sinn,
Bedeutung oder Anziehungskraft des betreffenden Gegenstandes grade für
Knaben in ein helleres Licht rückte und doch die Einfügung in den Text
selbst sich aus triftigen Gründen verbot. (So z. B. S. 80 beim Gral, übrigens
nach Döbelner Vorbild; 101 bei Solons Münzreform; 118 Anaxagoras'
Vermächtnis eines Schulfeiertags; 121 Wette des Zeuxis und Parrhasius;
131 Diogenes und die Cyniker; 132 Xanthippes Ehrenrettung.) Schließlich
ist — wie gleichfalls schon im „Döbelner" angebahnt — durch gelegentliche
Hinweise nicht nur zwischen einzelnen Stücken oder Gruppen dieses Teils,
sondern auch zwischen ihm als Ganzem und den beiden vorhergehenden
für Quinta und Sexta eine gewisse Wechselwirkung erstrebt und so dem
bisherigen Gesamtunternehmen gleichsam ein auch sichtbares Einheitsband
einverwoben worden. Hoffentlich wird dadurch nicht nur für den Lehrer
die Verwendbarkeit des Buchs zu Hinweisen und Erinnerungen an die
Schüler erhöht, sondern auch für aufmerksame, lern- und leseeifrige Knaben
selbst das Zurechtfinden erleichtert und der Blick für sachliche Zusammen-
hänge und Beziehungen geschärft. — Immerhin bescheiden wir uns auch
bei allen solchen Mitteln dahin, daß über deren Wert und Maß endgültig
erst der praktische Gebrauch entscheiden kann; die hieraus erwachsenden
Urteile der Fachgenossen werden wir mit Dank entgegennehmen.
*) Bei Krumbach läßt die Ankündigungsfrage des I. Teils (a. a. O. S. 81, a, g):
„Sind geschickte und maßvolle Anmerkungen zu verwerfen?" schon in ihrer Fassung
darauf schließen, daß der Verfasser im II. Teile solche Anmerkungen gebilligt haben
würde. Leider bringt der Fortsetzer des Buchs, Sieber, im II. Teile die angekündigte
Antwort nicht, sondern bemerkt nur gelegentlich (S. 143): wer für Fremdwörter, alter-
tümliche Ausdrücke u. dgl. eine Erklärung für nötig halte, möge sie „als Fußnote oder
in besonderm Anhange" geben. Bei dieser letztem Wahl haben wir die sofortige
unmittelbare Aufklärung der erst durch Nachschlagen eines Anhangs vermittelten vor-
gezogen, indes zur Befriedigung aller Wünsche in einem solchen die Aussprache der antiken
Namen und Worte nochmals übersichtlich zusammengestellt.
Barmen, im Mai 1900.
Walz.
Evers.
Inhaltsverzeichnis
A. Prosa.
I. Fabeln, Parabeln und Märchen. Seite
1. Tod und Schlaf................................ F. A. Krummacher 1
2. Drei Freunde................................................ Herder 2
3. Der Knabe und die Schlange.................................. Lessing 2
4. Der Sperling und seine vier Kinder........................Brüder Grimm 3
5. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren . . Topelius (Podewils) 5
6. Brausebach und Sausebach..................Topelius (Podewils) 6
II. Erzählungen.
7. Die Heimkehr eines Künstlers.......................Hermann Uhde 10
8. Luthers Tischreden.....................................Karl Stöber 17
9. Treue Vaterlandsliebe..............................Wilhelm Ziethe 23
10. Auf der Eisscholle...................................... Richard Andree 31
11. Der fliegende Holländer............................ Reinhold Werner 37
12. Mann über Bord...................................... Reinhold Werner 42
III. Deutsche Sagen.
13. Wode, der wilde Jäger........................................Arndt 47
14. Die Rabenschlacht............................................ H. Keck. 49
15. Hildebrand und Hadubrand....................... Nach Adolf Lange 60
16. Gudrun..................................................Heinrich Keck 62
a) Wie Gudrun sich mit Herwig verlobte.............................. 62
b) Die Schlacht auf dem Wülpensande................................ 66
c) Wie Gudrun dienen mußte ............................................. 68
d) Wie Gudrun die Befreiung naht................................... 72
e) Wie Herwig die Burg der Normannen erstürmt und Gudrun erlöst ... 76
17. Lohengrin...............................................A. Richter 79
18. Der Sängerkrieg auf der Wartburg........................A. Richter 85
19. Aus dem Volksbuche vom Dr. Faust...............Nach Gustav Schwab 89
a) Kurzer Lebenslauf..................................................... 89
b) Dr. Faust und die Wittenberger Studenten............................. 90
c) Dr. Faust in Auerbachs Keller........................................ 91
d) Dr. Faust und Kaiser Maximilian...................................... 92
20. Erzählungen des Herrn Baron von Münchhausen..................Bürger 94
XI
IT. Geschichtliches.
a. Griechenland. g
21 (l). Solon als Gesetzgeber und die Erziehung der Athener . . M. Evers 98
22—24 (2). Aus den Perserkriegen................................. M. Evers 105
22 (3). Miltiades und die Schlacht bei Marathon................... M. Evers 106
23 (4). Leonidas und die Schlacht bei Thermopylä.................. M. Evers 109
24 (5). Themistokles und die Schlacht bei Salamis................. M. Evers 113
25 (6). Perikies und seine Zeit.................................... M. Evers 118
26 (7). Alcibiades und der peloponnesische Krieg.................. M. Evers 123
27 (8). Sokrates.................................................. M. Evers 128
28 (9). Epaminondas und Pelopîdas................................. M. Evers 133
29 (10). Philipp von Macédonien. Demosthênes. Phocîon .... M. Evers 138
30 (il). Alexander der Große....................................... M. Evers 142
b. Rom.
31—33. Aus den punischen Kriegen................................. Nach Dielitz 149
31 (l). Aus dem ersten Kriege. Regulus........................................149
32 (2). Aus dem zweiten Kriege. Hannibal........................... M. Evers 150
33 (3). Der dritte Krieg. Karthagos Zerstörung . . . Nach Rotteck verändert 156
34 (4). Marius und Jugurtha.........................Nach Stacke umgearbeitet 158
35 (5). Marius als Sieger über die Cimbern und Teutonen . Nach Cas si an 160
36 (6). Cäsar..................................................Nach Stöckel 164
37 (7). Der Kaiser Augustus. Nach E. Bernhardt und A. Schaubach um-
gearbeitet ............................................................168
38 (8). Der Ausbruch des Vesuv im Jahre 79 n. Chr.................Nach Peter 172
39 (9). Die Erziehung der Römer................ Nach H. Stoll verändert 173
c. Aus der deutschen Geschichte.
40. Die Femgerichte........................................... M. Evers 177
41. Johann Gutenberg. Die Erfindung der Buchdruckerkunst..........Walter 180
42. Luther auf dem Reichstage zu Worms.....................Julius Köstlin 181
43. Katharina von Schwarzburg.........................Friedrich Schiller 185
44. Gustav Adolf........................................... Nach Wernicke 187
45. Der alte Derfflinger..........................................F- Tiegs 189
46. Schwerins Tod in der Schlacht bei Prag . . . A. Varnhagen von Ense 191
47. Friedrich II. und Gellert.................................Fr. Förster 195
48. Die Völkerschlacht bei Leipzig............................F. Kohlrausch 195
49. König Wilhelms Ankunft in Berlin am 16. Juli 1870. Nach Ferd. Schmidt 197
50. Die Schlacht bei Sedan............................Nach Ferd. Schmidt 200
51. Zwei kurze Geschichten aus dem letzten deutsch-französischen Kriege. Nach
N. Lauxmann.................................................................204
a. Die Elsässer Pfarrerin..................................................204
b. Der Hauptmann und seine Kinder ......................................205
52. Ein Schülerbesuch bei Kaiser Wilhelms, in Ems. 1877. E. Esch. Aus dem
Jahresbericht der Realschule Barmen-Wupperfeld............................206
XII
V. Naturgeschichtliches.
53. Bäume und Blumen beim Nahen des Frühlings. . . Nach B. Landsberg
54. Der Wasserreichtum des Waldes...............................Wetzels Lesebuch
55. Unsere Giftpflanzen......................................... Gustav Gesell
56. Blumen und Insekten...................................Nach W. I. Behrens
57. Der Schmetterling........................................Julius Stinde
58. Der Maikäfer.................................................Nach Ruß
59. Der Bienenstaat...................................... Nach O. Schmeil
60. Die rote Waldameise..............................Nach O. Schmeil u. a.
61. Lebensgeschichte einer Stubenfliege..................................Wagner
62. Die Feldgrille.......................................................Wagner
63. Die Spinnen........................................................P. Hebel
64. Tintenfische und Polypen.................................................M. Evers
65. Bon des Regenwurms ehrbarem Lebenswandel.................................E. Budde
66. Der Frosch...........................................................Wagner
Seite
209
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240
VI. Aus der Länder- und Völkerkunde.
67. Im Lande der Mitternachtssonne................................................244
a. Die Lofoten...............................................................244
b. Hammerfest und das Nordkap. A. Heineck-Essen nach Karl Planer u. a. 246
68. Petersburg...............................................Nach I. G. Kohl 248
69. Fahrt von Konstantinopel auf dem Bosporus nach Büjükdere. H. v. Moltke
(aus den „Briefen über Zustände und Begebenheiten in der Türkei") . . . 252
70. Eine Fahrt durch die Pußta. Brief v. Bismarcks an seine Gemahlin 253
71. Über und durch den St. Gotthard..............................Nach Grube 256
72. Entdeckung der blauen Grotte auf der Insel Capri............. Kopisch 260
73. Ein Stiergefecht in Madrid. H. v. Moltke, Spanischer Reisebrief vom
28. Oktober 1846 ........................................................ 264
74. Die Franzosen...........Nach dem Oldenburger Volkslesebuch erweitert 267
75. Holland. Nach dem Oldenburger Volkslesebuch umgearbeitet und erweitert von
M. Evers.................................................................268
76. London und seine Umgebung......Nach Fr. Hahn und A. W. Grube 271
B. Poesie.
I. Epische Dichtung.
a. Aus dem Natur- und Menschenleben.
1. Die Hirsche im Wildgarten............................Robert Reinick 275
2. Das Vogelnest............................................Nik. Lenau 275
3. Die Katzen und der Hausherr......................Gottfr. Lichtwer 277
4. Der Peter in der Fremde. . . . Aug. Gottlob Eberhard (nach Grübel) 277
5. Die Histörchen.......................................Aug. Kopisch 280
6. Seltsame Menschen................................Gottfr. Lichtwer 288
7 Die Sonne bringt es an den Tag..................Adelbert v. Chamisso 289
XIII
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
Die Auswanderer................
Das Gewitter....................
Das Lied vom braven Mann . .
Johanna Sebus ..................
Der Lotse.......................
Die Trommel..............- . .
Der Trompeter...................
Das taube Mütterlein............
Mama bleibt immer schön. . . .
Des fremden Kindes heiliger Christ
. Ferd. Freiligrath
. . Gustav Schwab
Gottfr. Aug. Bürger
Wolfgang Goethe
. Ludw. Giesebrecht
Hermann Besser
. . . Aug. Kopisch
........Fr. Halm
.... Karl Siebel
. . Friedr. Rückert
Seite
291
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293
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298
298
299
300
301
b. Aus der Lage.
18.
19
20.
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
Ohiäher....................
Legende vom Hufeisen. . .
Der Mönch von Heisterbach
Rheinsage..................
Der Klabautermann . . .
Klein Roland...............
Roland Schildträger . . .
Der Skieläufer.............
Der Läufer von Glarus . .
Harras, der kühne Springer
Friedrich Rückert
Wolfgang Goethe
Wolfgang Müller
. Emanuel Geibel
. . . Aug. Kopisch
. . Ludwig Uhland
. . Ludwig Uhland
. Ferd. Bäßler
. . . Adolf Stöber
. . Theod. Körner
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42.
43.
44.
45.
46.
47.
48.
49.
50.
51.
c. Aus der Geschichte.
Lenokrates vor dem Volksgerichte. (396—314 v. Chr.) .... W. Fischer
Lied der römischen Legionen.....................................Felix Dahn
Drusus' Tod. (9 v. Chr.)....................................Karl Simrock
Die Römerstraße.........................................Hermann Lingg
Gotentreue...................................................... Felix Dahn
Das weiße Sachsenroß .............................................Max v. Oer
Kaiser Otto I...........................................Heinr. v. Mühler
Das Mahl zu Heidelberg..............
Zwei Helden.........................
Der schwedische Trompeter . . . .
Fehrbellin..........................
Der alte Derfflinger................
Der alte Dessauer...................
Seydlitz............................
Wie schön leuchtet der Morgenstern!
Nettelbeck. Der Preuße in Lissabon
Da8 Lied vom Schill.................
. . . Gustav Schwab
. . . Julius Sturm
. . . . Felix Dahn
. . Julius Minding
. . Theod. Fontane
. . Theod. Fontane
. . Theod. Fontane
. . Julius Sturm
. . . Karl v. Holtei
Ern8t Moritz Arndt
Die Opfer zu Wesel . .
Die drei Gesellen . . .
Der Husar von Anno 13
Auf Scharnhorsts Tod .
Die Leipziger Schlacht.
Vor Blüchers Standbild
Das Volk in Waffen .
.............M. Schmidt
...........Friedr. Rückert
Hoffmann von Fallersleben
. . . . Max v. Schenkendorf
........Ernst Moritz Arndt
...........Julius Sturm
.............Karl Gerok
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342
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345
348
XIV
52. Bei Spichern..........
53. Bei Mars-la-Tour . . .
54. Bei Gravelotte........
55. General Werder........
56. Kaiser Wilhelm bei Krupp
Seite
. Wilhelm Petsch 348
Verfasser unbekannt 348
. . Franz Jahn 349
. . Franz Jahn 350
E. Schauenburg 351
II. Lyrische Dichtung.
57. Grüß Gott!.............................
58. Halte still, halte fest, halte aus! . . . .
59. Wenn der Herr ein Kreuze schickt . . . .
60. Ein geistlich Abendlied................
61. Abendfriede............................
62. Morgenlied.............................
63. Schönheit der Natur....................
64. Sonntags am Rhein......................
65. Der Wald...............................
66. Waldlied...............................
67. Wanderlied.............................
68. Wanderlied.............................
69. Der Zigeunerbube im Norden.............
70. Heimkehr...............................
71. In der Heimat..........................
72. Mein Heimatland........................
73. Abschied von der Heimat................
74. Frühlingslied..........................
75. Frühling überall.......................
76. Sommerstille...........................
77. Das Ährenfeld..........................
78. Das Gewitter...........................
79. Der Regenbogen.........................
80. Herbst.................................
81. Winternacht............................
82. Im Vaterland...........................
83. Ein Volk, ein Herz, ein Vaterland . .
84. Kriegslied . . ........................
85. Marschgesang. (18. Juli 1870.) ....
86. Das Rheinlied..........................
87. Der Kaiser Napoleon gefangen ....
88.. Lied der Krieger beim Friedensschluß. .
89. Des Kaisers Heimkehr. (17. März 1871.)
90. Im März 1871...........................
91. Germanias Märchen......................
92. Zum 27. Januar.........................
93. Grüß Gott dich, Kaiser!................
94. Das deutsche Banner....................
95. Heil Kaiser und Reich!.................
...............Karl Gerok
. . Hofmann von Nauborn
...........Ernst v. Willich
...........Gottfr. Kinkel
Hoffmann von Fallersleben
.........Wilhelm Müller
...........Philipp Spitta
...........Robert Reinick
...........R. Ehr. Tenner
...............K. E. Ebert
..........Julius Lohmeyer
..........Justinus Kerner
............Emanuel Geibel
........Friedr. Bodenstedt
.............Julius Sturm
...........K. v. Niebufch
...............A. Disselhof
...........Julius Mosen
...........Friedrich Güll
. .Georg Christ. Dieffenbach
...... Julius Hammer
................Karl Gerok
................Karl Gerok
.............Theod. Storm
. . . .Joseph v. Eichendorff
.............Robert Reinick
.............Albert Träger
............Emanuel Geibel
........Emil Rittershaus
. . . . Niklas Becker. (1840.)
...........Fritz Brentano
.............Julius Sturm
..............Ernst Curtius
.............Emanuel Geibel
.................M. Evers
...........Aus Bongaertz
.................H. Jahnke
...............R. Rackwitz
.................., Plath
352
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377
XV
Seite
III. Lehrdichtung.
Sprichwörter, Sprüche und Rätsel.
a) Sprichwörter und Sprüche (Nr. 1—30. 1—20. 1—10).............................. 378
b) Rätsel (Nr. 1—18)...........................................................381
Auflösungen der Rätsel
384
Verzeichnis der zu lernenden Gedichte.
1. Arndt..............................Die Leipziger Schlacht . . . . Nr. 49 S. 344
2. Becker Das Rheinlied S 86 - 370
3. Bürger Das Lied vom braven Mann. . IO - 293
4. Chamisso Die Sonne bringt es an den Tag. - 7 - 289
5. Freiligrath . Die Auswanderer - 8 - 291
6. Goethe . Legende vom Hufeisen .... - 19 - 303
7. Hoffmann von Fallersleben . Abendfriede 61 - 354
8. Kerner . Wanderlied 68 - 358
9. Niebusch . Mein Heimatland 72 - 360
10. Rückert' . Des fremden Kindes heiliger Christ - 17 - 301
11. Schenkendorf . Auf Scharnhorsts Tod .... - 48 - 343
12. Schwab . Das Gewitter - 9 - 292
13. Simrock . Drusus' Tod - 30 - 322
14. Uhland . Klein Roland 23 - 307
I
A Prosa.
I. Fabeln, Parabeln und Märchen.
1. Tod und Schlaf.
Brüderlich umschlungen durchwandelten der Engel des Schlummers
und der Todesengel die Erde. Es war Abend. Sie lagerten sich auf
einem Hügel, nicht fern von den Wohnungen der Menschen. Eine
wehmütige Stille waltete ringsumher; auch das Abendglöcklein im
fernen Dörflein verstummte. Still und schweigend, wie es ihre Weise
ist, saßen die beiden wohlthätigen Genien der Menschheit in traulicher
Umarmung, und schon nahete die Nacht. Da erhob sich der Engel
des Schlummers von seinem bemoosten Lager und streute mit leiser
Hand die unsichtbaren Schlummerkörnlein aus. Die sanften Abend-
winde trugen sie in die Wohnungen des müden Landmanns. Nun um-
fing der Schlaf die Bewohner der ländlichen Hütten, vom Greise, der
am Stahe geht, bis zu dem Säuglinge in der Wiege. Der Kranke ver-
gaß seine Schmerzen, der Trauernde seinen Kummer, der Darbende
seinen Mangel. Aller Augen schlossen sich.
Nun setzte sich nach vollendetem Geschäfte der wohlthätige Engel
des Schlummers wieder zu seinem ernsten Bruder hin. „Wenn die
Morgenröte erwacht,“ sagte er mit fröhlicher Unschuld, „dann preisen
mich die Menschen als ihren Freund und Wohlthäter. 0 es ist süß,
ungesehen und heimlich wohlzuthun! Wie glücklich sind wir unsicht-
baren Boten des guten Geistes! Wie schön ist unser Beruf!“ So
sprach der freundliche Engel des Schlummers. — Ihn sah der Todes-
engel mit stiller Wehmut an, und eine Thräne, wie die Unsterblichen
sie weinen, trat in sein großes, dunkles Auge. „Ach,“ sprach er, „daß
ich nicht wie du des fröhlichen Dankes mich freuen kann! Mich nennt
die Erde ihren Feind und Freudenstörer!“ — „0 mein Bruder,“ erwiderte
der Engel des Schlafes, „wird nicht auch beim Erwachen der Gute in
dir seinen Freund und Wohlthäter erkennen und dankbar dich segnen?
Lesebuch für Höhere Lehranstalten. (Preuß. Ausg.) III. 1
2
Sind wir nicht Brüder und Boten eines Vaters?“ So sprach er. Da
glänzte das Auge des Todesengels, und zärtlicher umfingen sich die
brüderlichen Genien. F. A. Krummacher.
2. Drei Freunde.
Traue keinem Freunde, worin du ihn nicht geprüft hast; an der Tafel
des Gastmahls giebt es mehr derselben, als an der Thür des Kerkers.
Ein Mann hatte drei Freunde; zwei derselben liebte er sehr, der dritte
war ihm gleichgiltig, ob dieser es gleich am redlichsten mit ihm meinte.
Einst ward er vor Gericht gefordert, wo er unschuldig, aber hart verklagt
war. „Wer unter euch," sprach er, „will mit mir gehen und für mich
zeugend Denn ich bin hart verklagt worden, und der König zürnet." Der
erste seiner Freunde entschuldigte sich sogleich, daß er nicht mit ihm gehen
könne wegen anderer Geschäfte. Der zweite begleitete ihn bis zur Thüre
des Richthauses; da wandte er sich und ging zurück aus Furcht vor dem
zornigen Richter. Der dritte, auf den er am wenigsten gebaut hatte, ging
hinein, redete für ihn und zeugte von seiner Unschuld so freudig, daß der
Richter ihn losließ und beschenkte.
Drei Freunde hat der Mensch in dieser Welt; wie betragen sie sich in
der Stunde des Todes, wenn ihn Gott vor Gericht fordert? Das Geld,
sein bester Freund, verläßt ihn zuerst und geht nicht mit ihm. Seine
Verwandten und Freunde begleiten ihn bis zur Thür des Grabes und
kehren wieder in ihre Häuser. Der dritte, den er im Leben oft am meisten
vergaß, sind seine wohlthätigen Werke. Sie allein begleiten ihn bis zum
Throne des Richters; sie gehen voran, sprechen für ihn und finden Barm-
herzigkeit und Gnade. Herder.
3. Der Rnabe und die Schlange.
Ein Knabe spielte mit einer zahmen Schlange.
„Mein liebes Tierchen," sagte der Knabe, „ich würde mich mit dir so
gemein nicht machen, wenn dir das Gift nicht benommen wäre. Ihr
Schlangen seid die boshaftesten, undankbarsten Geschöpfe! Ich habe es
wohl gelesen, wie es einem armen Landmanne ging, der eine, vielleicht von
deinen Urvätern, die er halb erfroren unter einer Hecke fand, mitleidig
aufhob und in seinen erwärmenden Busen steckte. Kaum fühlte sich die
Böse wieder, als sie ihren Wohlthäter biß; und der gute freundliche Mann
mußte sterben.
„Ich erstaune," sagte die Schlange. „Wie parteiisch eure Geschicht-
schreiber sein müssen! Die unsrigen erzählen diese Historie ganz anders.
Dein freundlicher Mann glaubte, die Schlange sei wirklich erfroren, und
3
weil es eine von den bunten Schlangen war, so steckte er sie zu sich, ihr
zu Hause die schöne Haut abzustreifen. War das recht?"
„Ach, schweig nur," erwiderte der Knabe. „Welcher Undankbare hätte
sich nicht zu entschuldigen gewußt!"
„Recht, mein Sohn," fiel der Vater, der dieser Unterredung zugehört hatte,
dem Knaben ins Wort. „Aber gleichwohl, wenn du einmal von einem
außerordentlichen Undanke hören solltest, so untersuche ja alle Umstände
genau, bevor du einen Menschen mit einem so häßlichen Schandflecke brand-
marken lässest. Wahre Wohlthäter haben selten Undankbare verpflichtet;
ja ich will zur Ehre der Menschheit hoffen — niemals. Aber die Wohl-
thäter mit kleinen eigennützigen Absichten, die sind es wert, mein Sohn,
daß sie Undank anstatt Erkenntlichkeit einwuchern. Lesting.
4. Der Sperling und seine vier Linder.
Ein Sperling hatte vier Junge in einem Schwalbennest; wie sie nun
flügge sind, wird ihr Nest von bösen Buben zerstört, sie kommen aber alle
glücklich davon. Nun ist dem Alten, weil seine Söhne in die Welt kommen,
leid, daß er sie nicht vor allerlei Gefahren erst verwarnt und ihnen gute
Lehren mit auf den Weg gegeben hat.
Zum Herbst kommen auf einem Weizenacker viel Sperlinge zusammen;
allda trifft der Alte seine vier Jungen an und führt sie voll Freuden mit
sich heim.
„Ach, meine lieben Söhne, was habt ihr mir den Sommer über
Sorge gemacht, dieweil ihr ohne meine Lehren und Winke fortzöget; hört
meine Worte und folgt eurem Vater und seht euch wohl vor; kleine Vög-
lein haben große Gefahren auszustehen!"
Darauf fragt er den Ältesten, wo er sich den Sommer über auf-
gehalten und wie er sich ernährt habe: „Ich habe mich in den Gärten ge-
halten, Räuplein und Würmlein gesucht, bis die Kirschen reif wurden." —
„Ach, mein Sohn," sagt der Vater, „die Schnabelweid ist nicht bös, aber
es ist große Gefahr dabei, darum habe fortan deiner wohl acht und sonder-
lich, wenn Leut' in Gärten umhergehn, die lange grüne Stangen tragen,
die inwendig hohl sind und oben ein Löchlein haben." — „Ja, mein
Vater, wenn dann ein grünes Blättlein aufs Löchlein mit Wachs geklebt
wäre?" spricht der Sohn. — „Wo hast du das gesehn?" — „In eines
Kaufmanns Garten," sagt der Junge. „O mein Sohn," spricht der Vater,
„Kaufleut', geschwinde Leut'! bist du um die Weltkinder gewesen, so hast
du Weltgeschmeidigkeit genug gelernt, siehe und brauch's nur recht wohl
und trau dir nicht zu viel."
Darauf befragt er den andern: „Wo hast du dein Wesen gehabt?" —
4
„Zu Hofe," spricht der Sohn. — „Sperling und alberne Vögel dienen nicht
an diesem Ort, wo viel Gold, Sammet, Seide, Wehr, Harnisch, Sperber
und Käuze sind; halt dich zum Roßstall, wo man den Hafer schwingt oder
drischt, so kann dir's Glück mit gutem Frieden auch dein Körnlein be-
scheren." — „Ja, Vater," sagt dieser Sohn, „wenn aber die Stalljungen
Maschen und Schlingen machen und ins Stroh binden, da bleibt auch
mancher hängen." — „Wo hast du das gesehn?" sagte der Alte. — „Zu
Hof, beim Roßbuben." — „O mein Sohn, Hofbuben, böse Buben! Bist
zu Hof und um die Herren gewesen und hast keine Federn da gelassen, so
hast du ziemlich gelernt; du wirst dich in der Welt wohl wissen heraus-
zureißen, doch sieh dich um und auf, die Wölfe fressen oft auch die ge-
scheiten Hündlein."
Der Vater nimmt den dritten auch vor sich: „Wo hast du dein Heil
versucht?" — „Auf den Fahrwegen und Landstraßen hab' ich Kübel und
Krippen untersucht und da bisweilen ein Körnlein oder Gräuplein an-
getroffen." — „Das ist ja," sagt der Vater, „eine feine Nahrung, aber
merk gleichwohl auf und sieh fleißig auf, sonderlich wenn sich einer bücket
und einen Stein aufheben will, da ist nicht gut lange zu bleiben." —
„Wahr ist's," spricht der Sohn, „wenn aber einer zuvor einen Stein im
Busen oder in der Tasche trüge?" — „Wo hast du dies gesehn?" — „Bei
den Bergleuten, lieber Vater, wenn sie ausführen, führen sie gemeinlich
Steine bei sich." — „Bergleut', Werkleut', anschlägige Leut'! Bist du um
Bergburgen gewesen, so hast du etwas gesehn und erfahren.
Fahr hin und nimm deiner Sachen gleichwohl gut acht,
Bergbuben haben manchen Sperling mit Kobold umbracht."
Endlich kommt der Vater an den jüngsten Sohn: „Du mein liebes
Nesthäkchen, du warst allzeit der albernste und schwächste, bleib du bei mir,
die Welt hat vieler grober und böser Vögel, die krumme Schnäbel und
lange Krallen haben und nur auf arme Vöglein lauern und sie verschlucken;
halt dich zu deinesgleichen und lies die Spinnlein und Räuplein von den
Bäumen, so bleibst du lange zufrieden." — „Du, mein lieber Vater, wer
sich nährt ohn' andrer Leute Schaden, der kommt lange hin, und kein
Sperber, Habicht, Aar oder Weih wird ihm schaden, wenn er zumal sich
und seine ehrliche Nahrung dem lieben Gott all Abend und Morgen treu-
lich bestehlt." — „Wo hast du dies gelernt?" — Da antwortet der Sohn:
„Als ich fortzog, kam ich in eine Kirche, da las ich den Sommer die Fliegen
und Spinnen von den Fenstern ab und hörte predigen, da hat mich der
Vater aller Sperlinge den Sommer über ernährt und behütet vor allem
Unglück und grimmigen Vögeln." — „Traun! mein lieber Sohn, fliegst du
in die Kirchen und hilfst Spinnen und die sumsenden Fliegen aufräumen
5
und befiehlst dich dem ewigen Schöpfer, so wirst du wohl bleiben, und
wenn die ganze Well voll wilder tückischer Vögel wäre.
Denn wer dem Herrn befiehlt fein’ Sach',
Schweigt, wartet, betet, thut gemach,
Wahrt Glauben und Gewissen rein,
Dem will Gott Schutz und Helfer sein!"
Brüder Grimm. (Gekürzt.)
5. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren!
Was ich euch jetzt erzählen will, ist ganz kurz, aber so merkwürdig,
daß groß und klein daraus deutlich ersehen können, wie es Gottes Wille
ist, daß Vater und Mutter von den Kindern geehrt werden. Denn der
Undank und die Mißachtung der Kinder den Eltern gegenüber ist die aller-
größte Sünde und wird gewiß hart bestraft werden, wenn nicht heute oder
morgen, so doch gewiß in Zukunft, wenn die Kinder selbst erwachsen sind.
Es ist auch eine alte Geschichte, die schon mancher vor mir erzählt hat,
aber man kann sie wohl noch einmal hören.
Es war einmal ein Mann und eine Frau, die hatten ihren alten
Vater bei sich und hatten dazu selbst kleine Kinder. Der Großvater war
grau vor Alter und war schon so schwach, daß seine Hände zitterten und
er nichts sicher festhalten konnte, was er in denselben hielt.
Nun geschah es, daß, wenn er mit den anderen zu Tische saß, er nicht
den Löffel zum Munde führen konnte, ohne sich mit der Suppe zu über-
gießen. Das gefiel den anderen nicht, deshalb banden sie ihm eine Serviette
um den Hals, sowie man es mit kleinen Kindern zu thun pflegt, wenn
sie essen.
Aber die Hände des alten Mannes zitterten beständig, und immer goß
er sich Suppe auf die reine Serviette. Er konnte nicht dafür. Der Mann
und die Frau waren aber hart und dachten nicht daran, wieviel Mühe
und Geduld ihre Eltern mit ihnen gehabt hatten, als sie selbst noch klein
und unbeholfen waren. Sie sprachen also mit harten Worten: „Wenn der
Großvater nicht aufhört die Serviette zu begießen, so soll er mit den
Schweinen zusammen essen."
Aber der Großvater konnte es ja nicht ändern, er war nun einmal so
alt. Da setzten die unbarmherzigen Menschen ihn in die Ecke und stellten
einen Holztrog vor ihn, wie man sie den Schweinen zu geben pflegt, und
daraus mußte Großvater allein essen, während der Mann und die Frau
am Tische saßen und es sich gut schmecken ließen.
Das that dem alten Großvater weh, sehr weh, denn es ist schwer, sich
in seinen alten Tagen verachtet zu sehen und noch dazu von seinen eigenen
r
— 6 —
Kindern. Ein undankbares Herz ist die schwerste Last, die es auf Erden
giebt. Aber der Großvater saß für sich allein in der Ecke und weinte so
still, daß niemand die Thränen sah, die von seinen welken Wangen in
seinen schneeweißen Bart herunterfielen. Nur Gott, der alles sieht, sah
auch den Kummer des Alten und die harten Herzen der anderen, und er
wußte ein Mittel, um die Unbarmherzigen zu demütigen.
Eines Tages saß der Großvater wie gewöhnlich in der Ecke. Der
Mann und die Frau saßen am Tisch, aber auf dem Fußboden saß ihr
kleiner Junge, der vier Jahre alt war, und schnitt an einem Stück Holz.
Da sagte der Mann zu ihm: „Was machst du da, mein Junge?"
Der Knabe antwortete: „Ich mache einen Trog." — „Was willst du damit?"
fragte der Vater. — „Ja," sagte das Kind, „wenn ihr alt seid, du und
die Mutter, da setze ich euch in die Ecke, damit ihr aus dem Trog esset
wie der Großvater."
Da sahen der Mann und die Frau einander an, und Gott that ihre
Augen auf, sodaß sie ihre große Sünde und Undankbarkeit erkannten, und
es schien ihnen die Stimme des Gewissens zu sein, die ihnen durch den
kleinen Kindermund sagte: „So wie ihr euren Vater in seinem Alter ver-
achtet habt, so werden auch euch einst eure Kinder verachten, wenn ihr alt
sein werdet."
Und sie fingen an zu weinen, gingen zu dem alten Vater in der Ecke,
umarmten ihn und sagten: „Verzeih uns, daß wir so schlecht gegen dich
gehandelt haben! Von heute ab sollst du immer an unserem Tisch sitzen
und den Ehrenplatz einnehmen. Denn jetzt wissen wir, daß man nicht das
herrliche und schöne vierte Gebot vergessen soll:
Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß es dir wohl
gehe und du lange lebest auf Erden!" Topelius (Podewils).
6. Ärausebach und Sausebach.
„Es ist doch sonderbar mit dem Bach," sagte Richard, „es kommt mir
vor, als ob er mir etwas Besonderes zu sagen hätte. Jedesmal, wenn ich
ihn mit Kieselsteinen aufdämme, um für meine Schiffe ein tieferes Fahr-
wasser zu machen, spritzt er mir ins Gesicht und murmelt und rieselt, als
wollte er sagen: 'Höre mich doch an, höre mich doch an!' Und ich möchte
auch so gerne hören, aber er spricht ja eine Sprache, die niemand versteht."
— „Weißt du," sagte Rosa, „gerade so ist es auch mit meinem Bach.
Wenn ich darin plätschere, um meine Puppenkleider zu waschen, so meine
ich, daß ich jemand aus dem Wasser herausschauen sehe, der mir freundlich
zunickt und mir sagt: 'Ich weiß etwas, das du nicht weißt'." —
„Das kommt, weil du dich im Wasser spiegelst und dich dann selbst
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siehst," sagte Richard. — „Als ob ich das nicht selber wüßte," sagte Rosa
verdrießlich. „Aber ich will dir sagen, daß das Mädchen im Bach ein
Mädchen für sich ist, und es ist, als wären wir Schwestern. Wenn ich
meinen Mund aufmache, so macht sie den ihren auch auf, und wenn ich
etwas sage, so schweigt sie." — „Das ist die kleine Tochter des Wassergeistes,"
sagte Richard. „Nimm dich in acht, du, wenn sie ihrem Vater gleicht, so
faßt sie dich am Beine und zieht dich ins Wasser hinunter." —
Rosa antwortete nichts, sie war gekränkt.
„Na, sei jetzt nicht bös, Rosa," sagte Richard, „dein Bach und mein
Bach sind so nahe bei einander, daß sie gewiß aus derselben Quelle
kommen. Sie sind sicherlich Bruder und Schwester. Mein Bach ist größer
und stärker als der deinige, er braust manchmal in sehr heftiger Laune,
deshalb soll er Brausebach heißen." — „Mein Bach ist kleiner und sanft-
mütiger," sagte Rosa. „Er saust so fteundlich, wenn der Abend still ist,
und deshalb soll er Sausebach heißen." —
„Es ist gut," sagte Richard. „Brausebach ist mein Bruder, und Sause-
bach ist deine Schwester. Das ist lustig, daß sie beide jetzt Namen haben."
„Weißt du," sagte Rosa, „es ist gerade so, als wenn Brausebach und
Sausebach zwei kleine Kinder wären, ich bin begierig, wohin sie kommen,
wenn sie von hier fortfließen." —
„Sie wandern in die weite Welt hinaus," sagte Richard. „Komm,
wir wollen ihnen folgen, um zu sehen, wohin sie gehen. Du gehst am
Ufer des Sausebachs und ich an dem des Brausebachs entlang, und wenn
wir dahin gekommen sind, wo beide aufhören, so kehren wir um." — „Ja,
warte nur, bis ich nach Hause laufe, um mir ein Butterbrot zu holen,"
sagte Rosa. — „Bringe mir dann auch eins mit," rief Richard. —
Nach einer Weile kam Rosa mit zwei Butterbroten zurück.
„Ade!" sagte sie. — „Ade, ade!" antwortete Richard, und so gingen
sie beide, jeder an seinem Ufer aufwärts: Richard am Brausebach, Rosa
am Sausebach.
Und die Geschichte teilt sich jetzt in zwei Erzählungen. Wir fangen
an mit Rosa und dem Sausebach:
Rosa ging und sagte zu ihrem Bach: „Du kleines Kind, das noch in
seiner Wiege liegt, was wird aus dir werden? Fließe still und ruhig, du
liebe Welle, und zeige mir nachher dein Schicksal, wenn du groß bist." —
Rosa ging und ging, und der Bach floß still dahin und spritzte sein
klares Wasser auf die Blumen des Ufers. Zugleich trank er den Saft der
Wiesen und wuchs allmählich. Und je größer er wurde, um so klarer und
stiller wurde sein Wasser, um so schöner wurde sein Sausen und um so
grüner seine Ufer. Zuletzt verlief er sich in einen spiegelklaren See. Um
diesen herum standen Birken und blühende Ebereschenbüume, und die Sonne
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des Himmels sah in den klaren See herunter, und schneeweiße Schwäne
schwammen darauf in dem strahlenden Glanze des Abendrots. Da faltete
Rosa ihre Hände und sagte zum Bach: „Du bist glücklich, mein lieber
Bach! Auf deinem Wege hast du Segen und Grün um dich verbreitet,
und da deine Laufbahn zu Ende ist, läßt der liebe Gott dich so schön im
Abendrot in die Arme des klaren Sees sinken. Lieber Gott, laß mich
leben und sterben wie meinen kleinen Bach!" —
So ging Rosa zurück, dankbar und froh, und noch ehe es Nacht war,
kam sie wieder nach Hause.
Richard war noch nicht zurück. „Er wird wohl bald kommen," dachte
Rosa. Aber Richard kam nicht; er kam weder den Abend, noch am folgen-
den Morgen, er kam in vielen Jahren nicht. Armer Richard, dachte Rosa,
er hat ja nicht mehr als ein Butterbrot mitgenommen. Schließlich glaubte
man, daß Richard für immer verschwunden sei, und alle trauerten darüber.
Nur Brausebach und Sausebach brausten und sausten immer vernehmlich:
„Wartet nur, wartet nur, er kommt wohl wieder!" Aber niemand glaubte
ihnen. So ging die Zeit hin. Rosa wuchs heran und dachte nicht mehr
daran, ihre Puppenkleider im Sausebach zu waschen oder dem Mädchen im
Bache, das früher ihr bester Kamerad gewesen, zuzunicken. Zuletzt vergaß
sie fast um Richard zu trauern. Da kamen so viele andere Gedanken,
aber noch immer rieselten Brausebach und Sausebach: „Er kommt noch
wieder, ja wartet nur, er kommt noch wieder!"
Und so kam eines Tages ein fremder Herr mit großem, schwarzem
Bart und fragte ein junges Mädchen im Garten nach einem Kinde, Namens
Rosa. Aber das Mädchen, das er fragte, war Rosa selbst. Und sie ant-
wortete nichts und war verlegen und schüchtern. Sie konnte sich nicht
denken, was der fremde Herr hier zu thun habe.
Da wurde der Fremde traurig und sprach: „Niemand kennt mich mehr,
und Rosa, meine Schwester, ist fort Ich will zu Brausebach und Sause-
bach gehen und sie fragen, wo meine Schwester Rosa ist." — Da merkte
Rosa, daß der Fremde ihr eigner, so lange vermißter Bruder Richard sei,
und es fehlte nicht viel, so hätte sie sich ihm in die Arme geworfen und
hätte zu ihm gesagt: „Trame nicht, Richard, ich bin es ja selbst, ich bin
deine Schwester, und wir wollen uns nie mehr trennen!" — Aber sie hielt
an sich und sagte: „Komm, wir wollen zu den Bächen gehn!"
Und sie gingen und zwischen den beiden Bächen war ein schmaler,
mit grünem Rasen bewachsener Pfad.
„Ja, ich erkenne meinen Brausebach wieder," sagte der Fremde. „Fremdes
Mädchen, willst du die Geschichte meines Baches hören?"
„Ja, erzähle sie mir," antwortete Rosa mit klopfendem Herzen. —
Und Richard begann:
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„Ich war noch ein kleiner Knabe, als ich meine Schwester und meine
Heimat verließ, um zu sehen, was aus dem Bache würde, wenn er größer
würde, denn Brausebach war von Anfang an heftig und wild wie ein un-
gezogener Junge und duldete keine Hindernisse auf seinem Wege. Wenn
er auf einen Stein stieß, schäumte er vor Wut und rollte ihn aus dem
Wege. Wenn ihm aber eine Klippe in seinen Laus kam, so kämpften sie
beide um die Übermacht und meistens blieb die Klippe Siegerin. Aber je
weiter Brausebach ging, um so größer wurde er; kleinere Bäche und Flüsse
ergossen ihr Wasser in das seine, und so wurde er ein Strom.
Ich folgte beständig seinem Lauf, und wenn ich Hunger hatte, fo
bettelte ich mir etwas zu essen in den Häusern am Ufer des Stromes, und
wenn ich Durst hatte, so trank ich aus dem Strome, und wenn ich müde
war, schlief ich auf dem weichen Grase an seinem Ufer.
Aber Brausebach wurde immer größer und wilder. Jetzt wich er
keiner Klippe mehr aus, er stürzte sich über sie in brausendem Wasserfall
und stärkte sich nachher in ruhigerem Laufe für neue Kämpfe. Mühlen
standen an seinen Ufern; er arbeitete fleißig, trieb ihre Räder und mahlte
Mehl für manches Dorf. Sägemühlen waren an seinem Wasser errichtet,
und Brausebach sägte Planken und Bretter Tag und Nacht. Große Flöße
und Balken schwammen auf seinem Rücken, Kähne segelten schnell auf ihm
dahin. Er wuchs und wuchs und wurde schließlich ein sehr großer Strom,
ja einer von den größten, die es in der Welt giebt. Ich folgte seinem
Ufer lange, lange Zeit und sah, wie große Flüsse und Ströme ihr Wasser
in ihn ergossen; und Brausebach wurde immer stärker. Ich sah ihn große
Schiffe auf seinem Rücken tragen und durch reiche Städte mit vielen
tausend Einwohnern fließen, die zu mir sagten: Hast du je einen so
mächtigen Strom gesehen?' „Nein," sagte ich, „aber ich habe ihn als
kleines Kind gekannt, ich habe seine Quelle mit Kieselsteinen aufgedämmt,
und das größte Schiff, das er damals trug, war mein Kahn, aus einer
Nußschale gemacht."
Je größer Brausebach wurde, um so nützlicher, aber auch gefährlicher
wurde er für die Menschen. Sie bauten große Dämme an seinen Ufern,
um seine böse Laune zu bändigen, die ihn ab und zu über sein Bett treten
ließ. Eines Tages, es war im Frühjahr und die Sonne schien so heiß, da
schmolz viel Schnee auf den Bergen und floß in vielen kleinen Bächen in
den Strom. Davon wurde Brausebach gar übermütig und wild: er schwoll
an, warf sich über die Dämme, zerriß sie und überschwemmte viele Meilen
fruchtbaren und bevölkerten Landes.
Aber da stand ihm ein Berg im Wege, und was that Brausebach?
Er sammelte all sein Wasser zu einem großen See vor dem Berge und
kämpfte mit ihm, aber der wich nicht von der Stelle. Schließlich stieg der
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See höher und höher, erreichte endlich die Spitze des Berges und stürzte
sich nun in dem schönsten und prachtvollsten Wasserfall, den man je gesehen
hat, herunter. Es war ein Tosen und Schäumen und ein Nebel in allen
Farben des Regenbogens, und Brausebach stürzte mehr als hundert Ellen
hinab in die Tiefe, seinem Ziele, dem großen, fernen Weltmeer, entgegen.
Das lag freilich noch in weiter Ferne, und der Strom ermüdete schließlich
durch seine eigene Größe. Er teilte sich in verschiedene Arme, die trübe
und langsam durch ein sumpfiges Land flössen. Jetzt war Brausebach alt
geworden; da gewannen die Menschen wieder Macht über ihn, sie teilten
seine Laufbahn und dämmten ihn hier und da nach Belieben ein. Und da
schließlich die Zeit kam, wo er im Meere verschwinden sollte, schlich Brause-
bach müde und still in vielen kleinen Flüßchen in die ewige, große Tiefe
des Todes hinein. Aber ich sagte zu mir selber: „O, du lieber Gott, jetzt
habe ich in Brausebach das Bild eines Menschenlebens in seiner Größe,
Schönheit, Nützlichkeit, Übermut und schließlichen Gebrechlichkeit gesehen!
Und jetzt weiß ich, daß keine Größe und Kraft auf Erden ewig ist, sondern
daß das große Weltmeer uns alle erwartet." Und zu Rosa gewendet,
schloß er:
„Nun ist die Geschichte vom Brausebach zu Ende, nur schade, daß ich
meine Schwester Rosa nicht wiederfinde, sondern allein bin in der Welt."
— „Nein, Richard," sagte Rosa, „allein bist du nicht/ denn jetzt umschlingen
dich die Arme deiner Schwester. Jetzt wollen wir hier auf der Wiese eine
Hütte bauen, zwischen Brause- und Sausebach, sodaß wir die beiden be-
ständig sehen können und ihrer verschiedenen Schicksale gedenken. Willst
du das, Richard? Sag, ob du willst?" —
„Ja," antwortete Richard und küßte Rosas Wangen und Hände. Und
so bauten sie sich daselbst eine Hütte und erinnerten sich stets beim Anblick
der Natur der Güte und Weisheit Gottes in der Führung der Menschen.
Topelius (Podewils).
II. Erzählungen.
7. Die Heimkehr eines Künstlers.
In einem der gesegnetsten Gaue unseres herrlichen deutschen Vater-
landes liegt inmitten einer fruchtbaren Ebene, durch welche ein Strom
gleich einem Silberbande sich dahinzieht, malerisch die alte Stadt Augsburg,
deren hohe Türme, Denkmale reinster gotischer Baukunst, das Auge schon
aus der Ferne erfreuen. Ein Besuch dieser altertümlichen und romantischen
Stadt gehört noch jetzt zu den lohnendsten Ausflügen, obgleich die Zeit
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auch hier, wie leider an so manchen historisch denkwürdigen Orten, mehr
als ein wundervolles Kunstwerk aus den Tagen der Väter der Vernichtung
hat anheimfallen lassen.
So sah man noch zu Ende der zwanziger Jahre des ablaufenden
Jahrhunderts in der Hauptkirche zu Augsburg ein großes Gemälde von
Meisterhand, das eine Scene aus den Kreuzzügen darstellte. Eine der
Hauptgestalten auf dem an Figuren reichen Bilde war ein hochgewachsener,
schöner junger Mann in edler Haltung und voll Entschlossenheit im Aus-
druck der feinen, durchgeistigten Züge. Unwillkürlich lenkte sich der Blick
des Beschauers auf diese anziehende Erscheinung, und die Teilnahme an
derselben wuchs, wenn man erfuhr, dies sei, wie eine alte Überlieferung
verbürgen wolle, der Maler des Bildes, der seine landschaftlichen Studien
zu demselben an Ort und Stelle gemacht, überhaupt in seinen Jugendjahren
viele und weite Reisen unternommen habe. Wer diese Umstünde vernahm,
unterließ es gewiß nicht, weiter nach dem Maler zn forschen, der hier ge-
boren und auch hier gestorben war, nachdem er sich um die Kunst im all-
gemeinen und um die Ausbildung derselben besonders in seiner Vaterstadt
die größten Verdienste erworben. Dieser treffliche Künstler, Willibald
Wendelin genannt, hatte in der That ein bewegtes Leben hinter sich, als
er, etwa 30 Jahre alt, nach längerer Abwesenheit in seine Vaterstadt
zurückkehrte, wo man ihn längst zu den Toten rechnete. Die näheren Um-
stände der Rückkehr dieses Künstlers nach der Stätte, wo einst seine Wiege
gestanden, und nach der es ihn lange mit mächtiger Sehnsucht gezogen
hatte, sind merkwürdig genug, um unsere Teilnahme in Anspruch zu nehmen;
möge ihre Erzählung daher nachstehend folgen.
Es war am Nachmittage eines regnerischen, unfreundlichen Oktober-
tages des Jahres 1495, als trotz der schlechten Witterung Müßiggänger,
Gaffer und Neugierige in nicht geringer Zahl vor einem Pfeiler des jetzt
ehrwürdigen und altersgrauen, damals aber noch ziemlich neuen Stadt-
hauses standen, um die Inschrift auf einem dort befestigten schwarzen Brette
zu lesen, auf welchem Käufe und Verkäufe mit Kreideschrift angezeigt zu
werden pflegten, denn öffentliche Blätter hatte man damals und auch viele,
viele Jahre später noch nicht.
Auf jenem schwarzen Brette nun las man an dem oben bezeichneten
Tage folgende Bekanntmachung:
„Balthasar Wendelin, Zunftmeister der Goldschmiede hiesiger Stadt,
benachrichtigt seine Mitbürger, daß er am heutigen Abend in seinem Laden
im Wege der Versteigerung einen Verkauf der gesamten Bestände seines
Lagers von Goldschmiede-Arbeiten aller Art abhalten wird. Das Ver-
zeichnis dieser Gegenstände ist zu groß, als daß es hier mitgeteilt werden
könnte, doch wird Kauflustigen bereitwillig vorgewiesen, was sie zu sehen
— 12 —
wünschen. Die Versteigerung beginnt am heutigen Tage, nachmittags
fünf Uhr."
Während die vor dieser Bekanntmachung versammelte Menge von
Bürgern der Stadt, meist guten Bekannten des Goldschmieds Balthasar
Wendelin, über den Inhalt der oben mitgeteilten Worte teilweise laut und
heftig Rede und Gegenrede wechselte, trat ein stattlicher junger Mann
herzu, den man der Pracht und dem Schnitte seines pelzverbrämten Ge-
wandes zufolge für einen begüterten Fremden halten mußte. Kaum hatte
auch er jene Bekanntmachung gelesen, als er in sichtliche Bewegung geriet.
„Wie?" rief er aus, „der reiche Goldschmied Balthasar Wendelin räumt
sein großes, weitberühmtes Lager? Die schönsten Erzeugnisse seiner edlen
Kunst sollen unter den Hammer kommen? Unmöglich! Was für ein
trauriges Geschick hat ihn in diese harte Notwendigkeit versetzt?"
„Ihr scheint hier fremd, Herr!" gab einer der Umstehenden dem
Sprecher zur Antwort, und als der junge Mann wiederholt rasch mit dem
Kopfe nickte, fuhr jener — ein wackerer einheimischer Handwerksmann,
seiner Tracht nach ein Küfer — mit beredter Zunge fort: „Nun, seht Ihr,
deshalb wißt Ihr nicht, daß Meister Wendelin große und schwere Opfer
gebracht hat, um das Handelshaus seines Schwiegersohns zu stützen, welcher
bis vor kurzem einer der reichsten und angesehensten Kaufherren der alten
Hansastadt Lübeck war, und dessen Schiffe auf allen Meeren kreuzten. Aber
bei diesem hieß es leider: 'Wie gewonnen, so zerronnen'; er ließ sich in
weitaussehende, gewagte Geschäfte ein, nicht bedenkend, daß ein Mann von
redlichem Fleiße, wenn er nur stetig und sorgsam den mühevoll erworbenen
Groschen achtet, am Ende sicherer zum Ziele eines geregelten Wohlstandes
kommt, als ein tollkühner Waghals, der in der Hoffnung auf einen großen
Gewinn all sein Gut an ein zweifelhaftes Unternehmen setzt. So ist es
denn auch dem einst so reichen Lübecker Handelsherrn ergangen wie schon
manchem, der plötzlich mit einem Schritte und mühelos zu Reichtum ge-
langen wollte: seine Berechnungen schlugen fehl, und zwar so vollständig,
daß der in seinen Hoffnungen betrogene, verzweifelnde Mann mit Hinter-
lassung einer gewaltig großen Schuldenlast landflüchtig wurde."
„Entsetzlich!" murmelte der Fremde, der die Erzählung des Küfers
mit gespannter Aufmerksamkeit anhörte. Dieser fuhr fort: „Um nun den
Namen seiner geliebten Enkelkinder in makelloser Reinheit wieder hin-
zustellen, trennt sich der greise Meister heute von seinen Kleinodien, so
sauer ihm das auch werden mag, denn seine Kunstwerke bilden den Stolz
und die einzige Freude seines Alters." — „Die einzige, sagt Ihr?" versetzte
der Fremde; „warum die einzige?" — „Ach," lautete die Antwort des augen-
scheinlich gut unterrichteten und gern erzählenden Gewährsmannes, der nun
mit dem Unbekannten einige Schritte seitwärts trat. „Balthasar Wendelins
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Haar ist vor der Zeit gebleicht, denn während der letzten Jahrzehnte hat
der wackere Alte gar zu viel häuslichen Kummer gehabt. Seine gute, nun
auch längst verstorbene Hausfrau schenkte ihm drei Söhne und eine Tochter;
diese letztere steuerte der Vater sehr stattlich aus und gab sie, wie gesagt,
jenem Lübecker Kaufherrn zum ehelichen Gemahl; die beiden ältesten Söhne
aber traten in fürstliche Dienste, einer in Bayern, der andere bei dem
Herzog von Weimar. In einer schnellen und glänzenden Laufbahn haben
sie ihren alten Vater ganz und gar vergessen; ja sie schämten sich seines
schlichten bürgerlichen, aber ehrenvollen Namens und vertauschten denselben
in falscher Prunksucht mit einem stolzer klingenden Adelstitel. Als ob nicht
auch unter dem bürgerlichen Wams ein edles Herz schlagen könnte!"
Der Fremde hatte die letzten Worte überhört. In Gedanken verloren,
starrte er vor sich hin; endlich fuhr er auf: „Aber des Meisters dritter
Sohn? Ihr spracht von drei Söhnen!"
„Willibald," sagte der Handwerker zögernd — denn so hieß Meister
Balthasars jüngster Sohn — „Willibald wollte ein Maler werden, und
zwar ein Maler, wie man sie in Welschland findet; Ihr habt wohl von
den berühmten Meistern gehört. Nun, berühmt zu werden gleich diesen,
das war des kleinen Willibald Wendelin stete Rede, aber der Vater wider-
setzte sich diesen Absichten seines Sohnes, denn er achtete die Malerkunst
wenig. 'Es giebt keine edlere Kunst als die alte Goldschmiedekunst,' sagte
er, 'du sollst Goldschmied werden wie ich und später einmal mein Werk
fortführen.' Und als Willibald heranwachsend oft tagelang seinen ersten
Versuchen mit dem Kohlenstifte nachhing, endlich immer dringender nach
Pinsel, Palette und Leinwand verlangte und seinen entschiedenen Willen
bekundete, Maler zu werden, da donnerte einst der Vater ihn an: 'Willst
du nicht gehorchen, so sollst du mir fort aus dem Hause. Einen Farben-
kleckser will ich nicht zum Kinde haben!' Als der Sohn aber trotz der
entschiedenen Weigerung des Vaters auf seinem Willen beharrte, kam es
dazu, daß der Alte ihn zwingen wollte, in seine Werkstatt einzutreten." —
„Und was geschah?" fragte der Unbekannte hastig und aufgeregt. — „Tags
darauf — war Willibald Wendelin verschwunden. Darüber sind nun wohl
an die sechzehn oder achtzehn Jahre verstrichen; man hat in unsrer ehr-
samen Stadt nie wieder von ihm gehört. Ob er noch lebt, oder ob er tot
ist, ob er vielleicht unter die Landsknechte oder auf ein Schiff der Hansa
gegangen sein mag — niemand weiß es; keiner hat darüber je Auskunft
gegeben."
Während der letzten Worte des Sprechers entstand ein Laufen, Rennen
und Gedränge; alles strömte nach einer bestimmten Richtung. Auch der
Fremde und sein redseliger Freund folgten dem allgemeinen Zuge, der sich
dem wohlbekannten Laden des Meisters Balthasar Wendelin zuwandte,
ff
— 14 —
denn die Stunde der Versteigerung war gekommen. Ein Schwarm von
Gaffern, Kennern, Liebhabern, Kauflustigen und müßigen Neugierigen wälzte
sich herbei, die Thüren des Goldschmiedehauses öffneten sich weit, und
nach kurzer Vorbereitung begannen die öffentlichen Ausrufer eintönig ihr
Geschäft.
Kunstreich verzierte Teller, Schüsseln, Kannen, Becher, Trinkgeschirre,
Tafelauffätze und schön gearbeitete Geräte aller Art standen wohlgeordnet
da, um feilgeboten zu werden; auch sah man eine Menge edler Steine und
wertvoller Schmucksachen. Die letzteren kamen zunächst an die Reihe und
waren bald zu guten Preisen verkauft; alsdann wurden die eigentlichen
Meisterstücke des berühmten Goldschmieds herbeigetragen, welche sämtlich
mit staunenswürdigem Fleiße und ebenso großer Kunstfertigkeit gearbeitet
waren. Da sah man Kelche mit Reliefs meist nach Erzählungen der Bibel,
Monstranzen, Statuetten, kunstvollen Zierat aller Art und kostbares Ge-
schmeide in der geschmackvollsten Fassung, alles in schwer zu erreichender,
kaum zu übertreffender Vollkommenheit.
Solange noch die gewöhnlicheren, minder bedeutenden Stücke aus
seinen Vorräten zur Versteigerung gekommen waren, hatte der greise Meister
Balthasar Wendelin in einem großen Lehnstuhle still in einer Ecke des
Ladens gesessen. Als aber die Ausrufer, in ihrem Geschäfte fortfahrend,
die köstlichsten Erzeugnisse seiner Hände, — unter diesen solche, denen er
nebst vielen andern, die man in Klöstern, Kirchen und Herrenhäusern fand,
seinen ganzen Ruf als geschickter Meister verdankte, — in marktschreierischer
Weise unter platten Lobeserhebungen Kauflustigen anzupreisen begannen:
da konnte der alte Mann seine tiefe, schmerzliche Erregung nicht länger
unterdrücken; jählings sprang er auf, und wie von einer unsichtbaren Macht
getrieben, ging er um seine Schätze immer im Kreise herum, wie eine
Mutter um die Wiege ihres kranken Kindes. Dabei durchflog ein krampf-
haftes Zittern seinen Körper, und seine Augen bohrten sich gleichsam in
die Kunstwerke ein, welche ihrem Schöpfer nun entrissen werden sollten.
„Sechs getriebene Becher von feinem Golde!" rief jetzt einer der Aus-
rufer in gleichgiltigem Tone.
„Sechzig Goldgülden!" rief eine Stimme. — „Sechshundert!" schallte es
kurz und fest aus einem Winkel des Zimmers.
„Siebenhundert!" — „Achthundert!" hörte man in kurzen Pausen.
„Zweitausend Goldgülden!" ertönte jetzt plötzlich die nämliche Stimme,
welche vorhin das Zehnfache des ersten Einsatzes geboten hatte. All-
gemeine tiefe Stille folgte diesem Rufe; niemand wagte mehr zu bieten.
Die kostbaren Becher wurden beiseite gestellt und mit einem Pergament-
streifchen versehen, auf dem das Wort „Verkauft" und eine Nummer zu
lesen war.
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Meister Balthasar atmete kaum; die Brust war ihm wie zugeschnürt,
sein Gesicht bleich und fahl. Seine Kniee erbebten; dennoch blieb er, mit
der Hand auf den Tisch sich stützend, aufrecht neben dem Beamten stehen,
welcher die Meistgebote, die gethan wurden, auf einem Täfelchen vermerkte.
Nach und nach kam eine überaus bedeutende Summe zusammen — endlich
war alles verkauft. Als das letzte Stück unter den Hammer kam, warf
der greise Goldschmied einen trüben Blick um sich her, ein tiefer Seufzer
entrang sich seiner Brust, eine Thräne rann ihm die Wange hinab in seinen
weißen Bart. Der schrecklichste Augenblick für den alten Mann nahte sich,
nämlich derjenige, in welchem alle diese Kostbarkeiten, die zum Teil mit ihm
alt geworden und doch unverwüstlich neu und schön geblieben waren, die
in seinen Augen gleichsam Schutzgötter seines Hauses bildeten, und von
denen jedes einzelne Stück seine Geschichte hatte, für immer hinausgetragen
und fortgeschafft werden sollten.
„Ich bitte um Angabe der Namen aller Käufer der letzten siebenund-
zwanzig Nummern!" schnarrte einer der Beamten. — „Es ist nur ein Käufer,"
entgegnete der Mann mit dem Täfelchen. „Er hat erstaunlich hohe Gebote
gethan," fuhr er mit einer etwas mißtrauischen Miene fort, indem er seine
Aufzeichnungen mit einem Blicke überflog; „er mag kommen, sich über seine
Person ausweisen und seine Einkäufe bezahlen."
In dem Halbdunkel jenes Winkels, aus welchem zum wachsenden Er-
staunen der Anwesenden ein sehr hohes Gebot nach dem andern erschollen
war, entstand ein Gedränge; man wich zur Seite vor einem stattlichen
Manne in der Blüte der Jahre, der nun zu den Verkaufstischen trat. Sein
Gesicht war sanft und einnehmend gebildet, lange, blonde Locken umrahmten
das edle Haupt und flössen in eins zusammen mit dem krausen, kurzen
Vollbarte. Eine barettartige Sammetkappe bedeckte den Kopf. Die Kleidung
des Mannes war kostbar und nach dem neuesten Schnitt. Als er sich Bahn
brach durch die Menge, streifte die pelzverbrämte Schaube*) sich etwas,
zurück von den kräftigen Schultern, sodaß man gewahrte, wie eine schwere
goldene Kette, mit dem Bildnisse eines Fürsten auf der daran hängenden
großen Schaumünze, sich ihm um den Nacken schlang. Unschwer erkennen
wir in dieser stattlichen Erscheinung den Fremden wieder, welcher kurz vor
dem Beginne der Versteigerung mit dem Meister Küfer sich über Balthasar
Wendelins Schicksale unterhalten hatte.
Vor den Verkaufstisch tretend, legte der junge Mann einen schweren
ledernen Beutel auf denselben nieder. „Hier das Geld!" sagte die zuvor
beim Bieten so kräftige Stimme jetzt leise und bebend, „zählt nach, ich bitte!"
Der Beamte, an den diese Worte gerichtet waren, verneigte sich tief.
*) Überkleid, Talar.
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„Sehr gut, edler Herr!" antwortete er; „doch zuvor muß ich Euch um Euren
Namen bitten. Er muß in die Verkaufslisten eingetragen werden; so will
es das Gesetz."
Der Unbekannte zögerte mit der Antwort. „Schreibt" . . . sagte er
endlich, während der greise Goldschmied angstvoll jedem seiner Worte lauschte,
immer vor dem Augenblicke zitternd, wo der Fremde sein neuerworbenes
Eigentum fortschaffen lassen würde, — „schreibt — Willibald Wendelin,
Meister Balthasars Sohn!"
Diese Worte des Fremden wirkten auf den alten Mann wie ein
Donnerschlag. Rasch trat er auf den Sprecher zu und starrte ihn einen
Augenblick sprachlos an, dann sank er ihm an die Brust mit dem Schrei:
„Willi, mein guter Willi — bist du es denn wirklich, den ich in meinen
Armen halte? O mein Sohn, fest will ich dich an mein Herz drücken und
nimmer von mir lassen! Du hast deinen alten Vater nicht vergessen, du
grollst ihm nicht mehr?" — „Ich meinem teuern Vater grollen?" rief Willi-
bald tief bewegt; „um Verzeihung muß ich Euch bitten, daß ich Euch durch
meine Widersetzlichkeit, meine Flucht und die lange Entfernung vom Vater-
hause Kummer bereitet habe! Aber ich rechne auf die Liebe und das ver-
söhnliche Herz eines Vaters; diese beiden rufe ich an, sie seien meine Für-
sprecher!" — „Eines solchen bedarfst du nicht," entgegnete Meister Balthasar,
den Wiedergefundenen abermals an seine Brust ziehend; „laß uns schweigen
über die Vergangenheit, alles sei zwischen uns vergeben und vergessen!"
„Junge Leute täuschen sich gar oft bei der Wahl ihres künftigen
Lebensberufes," erwiderte der Sohn mit ernster Stimme; „sie müssen erst
beweisen, daß sie zu den Auserwählten gehören, ehe man sie selbständig
gewähren läßt. Wohl wart Ihr strenge gegen mich, mein Vater; aber
diese Strenge war auf den weisen Gedanken gestützt, daß ein tüchtiger
Goldschmied oder Handwerksmann, der emsig und pflichttreu im kleinen
Kreise segensvoll wirkt, mehr wert sei als ein mittelmäßiger Maler, der es
zu nichts Tüchtigem bringt. Ihr wart also ganz in Eurem Rechte, mein
Vater — aber gesteht auch, daß ich ein wenig in dem meinigen gewesen
bin, als ich dem Rufe meiner inneren Stimme folgen wollte." Bescheiden
fuhr er fort: „Des deutschen Kaisers glorreiche Majestät hat mir manchen
ehrenvollen Auftrag erteilt, durch seine fürstliche Unterstützung habe ich zu
meiner Ausbildung weite Reisen, sogar über das Meer nach dem fernen
Heiligen Lande unternehmen können; doch immer war mein Sinn und
Gedanke daheim bei Euch und bei meinen lieben Mitbürgern, die ich auch
in der Fremde nie vergaß. Denn wie soll ein Mann Liebe zum großen
deutschen Vaterlande hegen, wenn er nicht zuerst in Treue und Dankbarkeit
an jener Scholle hängt, wo seine Wiege stand? Darum sehnte ich den
Augenblick herbei, in welchem ich vor Euch, mein Vater, hintreten und Euch
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sagen konnte: Ich habe Euch, ich habe meiner Vaterstadt keine Schande
gemacht — nehmt mich wieder auf und laßt mich froh der Eure fein!
Wollt Ihr?"
Ein stürmischer Jubelruf der Anwesenden, an welche diese Worte halb
und halb mitgerichtet waren, wurde laut, begeistert drängten alle sich herbei,
um Vater und Sohn herzlich zu beglückwünschen. Von der Versteigerung
war nun keine Rede mehr; „meine Kunst," erklärte Willibald, „war ein-
träglich genug, um mich in den Stand zu setzen, Euch, mein Vater, Eure
Lieblingsfchütze zurückzukaufen und einen ruhigen Lebensabend zu bereiten." —
„Gesegnet feist du, mein geliebtes Kind!" rief der Greis unter Thränen,
indem er seinen Sohn innig auf die Stirn küßte, „und gesegnet sei die
Stunde deiner Heimkehr! Du hast heute bewiesen, daß der Mann von
großen, gottbegnadeten Gaben und der edle Mensch in dir vereinigt sind.
So sollte es immer sein, immer sollte ein von der Vorsehung dargeliehenes
Pfund nur zu den edelsten, den höchsten Zwecken angewendet werden."
Dem mit diesen Worten ausgesprochenen Grundsätze seines greisen
Vaters blieb Willibald Wendelin treu, solange er lebte; der Hauptkirche
seiner Vaterstadt aber machte er, zur Erinnerung an seine Heimkehr nach
jahrelanger Entfernung, später jenes Bild zum Geschenke, auf dem sich der
wackere Künstler selbst als Reisender darstellte. Hermann Uhde.
8. Luthers Tischreden.
Wenn man von Nürnberg aus, der Heerstraße nach, immer gerade gen
Süden wandert, kommt man sogleich jenseits der Altmühl in ein kurzes
Seitenthal derselben. Ein Hungerbach, den die Landleute lieber voll als
leer sehen, weil nasse Jahrgänge mehr für die Scheune liefern als trockne,
hat darin sein Bett, und ein hoher Berg schließt es gegen Mittag. Rechts
von der Straße, die an des Berges Seite hinauf liegt, steht ein Bauern-
hof mitten unter den Äckern und Wiesen, die zu demselben gehören. Ge-
waltige Apfelbäume und Nußbäume legen zum Teil ihre Arme auf die
Schieferdächer des Wohnhauses und der Scheune. Eine Quelle hinter dem
Garten, die in eine Rinne gefaßt ist, hält nicht nur den eichenen Trünktrog
für das Vieh, sondern auch eine kleine Pfütze für einige Frösche und Unken
immer voll.
Dieses Bauerngut stand schon im Jahre 1518, und wie es heute
darin hergeht, gerade so ging es vielleicht damals zu, als es am vierzehnten
Trinitatissonntage jenes Jahres Abend werden wollte. Der Bauer, die
beiden Hände unter dem breiten, schwarzen Hosenträger, lehnte unter der
Hausthüre, sein Weib saß auf der Bank, mit Flickwerk beschäftigt, und seine
drei Kinder, zwei Knaben und ein Mädchen, trieben sich im Garten umher
Lesebuch für höhere Lehranstalten. (Preuß. Ausg.) m. 2
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und stießen mitunter an die Bäume, um die blauen Pflaumen zum Fallen
zu bringen. Dazwischen löste sich ohne ihr Zuthun ein großer Apfel von
seinem Zweige, that einen dumpfen Fall in das Gras und wurde nun das
Ziel ihres Wettlaufs. In diesen Spielen, welche ihnen der freigebige Herbst
bereitete, wurden die Kinder durch zwei Fremdlinge unterbrochen, die von
dem gewöhnlichen Wege abgewichen waren und auf den Bauernhof zu-
kamen. Es war ein Augustinermönch auf einem Pferde und ein Mann
aus dem Laienstande, der vorausging und das müde Roß am Zügel mehr
hinter sich nachzog als führte. Bettelmönche zu Fuß, welche für ihre
Klöster die jährlichen Gaben der Landleute in Hülsenfrüchten, Eiern, Schmalz
und dergleichen einsammelten, hatten die Kinder schon oft gesehen; aber ein
Klosterbruder dieses Ordens zu Pferde war ihnen ein außergewöhnlicher An-
blick, und sie liefen, was sie laufen konnten, um es ihrem Vater zu verkündigen.
Der Bauer, der in seiner Gottesfurcht den geistlichen Stand von
Herzen ehrte, ging dem Augustiner bis in den hohlen Weg vor seinem
Hofe entgegen und folgte ihm, nachdem er seinen Segen empfangen hatte,
bis vor sein Haus. Da half er ihm vom Pferde und sah mit herzlichem
Bedauern, wie Mann und Roß, wahrscheinlich nach einem angestrengten
Ritte von ungewöhnlicher Dauer, einer so angegriffen war wie das andere.
Das Tier überließ er dem Führer und seinem eignen Knechte, den Mönch
führte er in seine Stube und ließ ihn auf dem Lotterbette, dem bequemen
Sofa der Landleute in jener Gegend, Platz nehmen. Hier erholte sich
dieser schnell, und das zwölfjährige Mädchen des Bauern schöpfte nun aus
dem sogenannten Höllhafen hinter dem Ofen lauwarmes Wasser in eine
Gelte*), band ihrem Gaste die schweren Sandalen ab und wusch seine Füße,
die mit Staub und Straßenkot bedeckt waren.
Inzwischen hatte die Bäuerin schon ein prasselndes Feuer auf dem
Herde angeschürt und eine Pfanne mit goldgelbem Schmalz darüber gehängt.
Die Eier und der kleingeschnittene Schinken, welche durcheinandergerührt
hineingeschüttet wurden, verbreiteten durch das ganze Haus einen köstlichen
Wohlgeruch und brachten den Führer des Mönchs vollends zur Überzeugung,
daß der Gott des Propheten Elias ihn und den Priester in eine gute
Herberge geleitet habe.
Sein schönes Roß, das keinem gemeinen Manne angehören mochte,
wieherte auch schon über den schneeweißen Hafer, der in der Krippe lag,
und über die gute Pflege mit Strohwisch und Wasser, die es in dem
Stalle eines Bürgermeisters auch nicht besser gefunden hätte. Als aber in
Küche und Ställen die gewöhnlichen Dinge beschickt waren, versammelten
sich alle Leute des Hauses um den gedeckten Tisch in der Stube. Die
Gebete vor und nach dem Essen sprach der Mönch, aber nicht, wie seine
*) Rundes hölzernes Wirtschaftsgefäß.
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Kollegen, die sich schon an diesem Tische gesättigt hatten, in lateinischer,
sondern in deutscher Sprache. Ja er ließ es nicht bei der Danksagung
allein bewenden, sondern sprach auch zu dem Manne, dessen Weibe, den
Kindern und Dienstboten die Worte, welche sich über dieselben in der
Haustafel Luthers finden. Diese kurzen Ermahnungen des Mönchs, der
so leidend aussah und doch eine so kräftige, reine und glockenhelle Stimme
hatte, ergriffen seine Zuhörer auf wunderbare Weise. Freilich waren ihre
Herzen schon zubereitet durch die lieblichen Tischreden, die er geführt hatte.
Als zum Beispiel der Mönch bemerkte, daß das Töchterlein seines
Hauswirtes für die Nudeln dankte, die es aus der Hand der Mutter
empfing, sagte er: „Das ist fein, mein Kind. Auch in Klöstern gewöhnt
man die jungen Mönche, wer ihnen nur eine geschnittene Feder schenkt,
daß sie sich bücken und sagen müssen: Benedictus deus in omnibus donis
suis! Das ist verdolmetschet: Gott sei gelobt um alles, das er uns schenket!
Und solches ist nicht eine böse Weise, denn es geschieht darum, daß das
junge Volk sich gewöhnen soll, alles mit Danksagung gegen Gott und
Menschen anzunehmen. Auch ist es recht und wohl gesagt von alten, weisen
Leuten: Deo, parentibus et magistris non potest satis gratiae reddi, das
ist: Gott, den Eltern und Schulmeistern kann man nimmer genugsam danken
noch vergelten."
Die Bäuerin schnitt einen großen Schinken an, den ihr Mann von
der Rauchkammer herabgeholt und aus den Tisch gelegt hatte. Dabei be-
merkte sie, daß ihr Messer einige Scharten bekommen hatte und überhaupt
arg mitgenommen worden war. Sie fragte ihre Kinder, welches von ihnen
das Messer so zugerichtet hätte. Hans rief: „Ich nicht!" und Michel: „Ich
auch nicht!" Lene aber antwortete gar nicht, sondern wurde blutrot im
Gesicht, rutschte über die Bank herab und lief weinend zur Thüre hinaus.
Dabei bemerkte der Mönch, daß es ein zart, schwach Ding sei um ein
böses Gewissen; denn es könne sich nicht bergen, wie auch die Heiden davon
gesagt haben: Conseia mens pravi de se putat omnia dici, das ist: Ein
böses Gewissen bezieht alles, was geredet wird, immer aus sich. Und er
erzählte darauf diese Geschichte: Es sei ein Prediger gewesen, der habe ein-
mal auf der Kanzel die Gartendiebe übel gescholten und gesagt: „Ich hatte
in meinem Wurzgarten zwei Beetlein mit Gurken von der Bamberger Art,
immer eine größer und schöner denn die andre. Da sind in der ver-
gangenen Nacht die Diebe eingestiegen und haben nicht den Zehnten, nicht
den Fünften genommen, sondern alle bis auf diese eine in meiner Hand.
Ich habe nun lange die Sünder wider das siebente Gebot mit Worten
gestrafet, jetzt will ich sie auch mit der That strafen. Denn ich weiß einen
Dieb unter diesem Haufen meiner Zuhörer, und ich sehe ihn vor meinen
Augen, und ich kenne ihn so gut, daß ich ihn auch mit dieser Gurke treffen
20
will" Und er hob seine Hand auf und stellte sich ernstlich, als wollte er
einen großen Wurf thun. Da standen etliche junge Bursche unter der
Kanzel, die duckten sich alle, und fürchtete ein jeder, er wollte auf ihn
werfen. Da sagte der Pfarrherr: „Ei, ich meinte, es wäre nur einer
der Gurkendieb; nun sind es mehr. Sehet, der Magen verdauet die ge-
stohlenen Früchte, aber nicht das Gewissen, darinnen sie liegen bleiben wie
Kieselsteine!"
Item, sagte der Mönch, als sich einmal der Tag geneigt habe, sei einer
in die Herberge eingekehret, daß er darinnen übernachte. „Der saß im Eck
hinter dem Tisch, und der Wirt auf der Bank hinter dem Ofen, und der
Hausknecht mitten in der Stube und machte eine Schnur an seine Peitsche.
Da rief der Wirt auf einmal: 'Hansgörg, ein Räuber, ein Räuber!' und
der Hausknecht fuhr auf, das Licht auf dem Tische zu schneuzen, denn es
hatte angefangen zu fackeln, weil ein Knoten im Dochte war. Aber der
Gast sprang vom Tische hervor und über Hals und Kopf zur Thüre hinaus.
Darüber fiel ihm eine Diebslaterne aus der Tasche. Und der Wirt sah
nun, daß er zwei Räuber in der Stube gehabt hatte, einen auf dem Tische
und einen hinter demselben. Also läuft das böse Gewissen vor einem
Knoten im Dochte davon."
Wiederum, als die Bäuerin ihre Gabel unter den Tisch fallen ließ
und Hans, der zunächst dabei faß, dieselbe nicht alsobald aufhob, sagte der
Mönch: „Ei, Hänslein, wie faul! Da wäre das Knäblein Jesus gesprungen
und hätte der Mutter die Gabel flugs aufgehoben; denn Christus ist ge-
gangen in den Werken des vierten Gebotes. Das sind aber solche Werke,
deren Vater und Mutter im Hause bedürfen, daß er Wasser, Brot, Fleisch
geholet, das Haus gehütet und dergleichen mehr gethan hat, was man ihn
hat geheißen, wie ein ander Kind. Solches hat das liebe Jesusknäblein
gethan. Wenn seine Mutter gesagt hat: 'Sohn, lauf hin und hole mir
eine Kanne voll Wasser oder um eine Landmünz Salz', so ist er fröhlich
hingelaufen und hat's geholt. Da sollen alle Kinder, die gottselig und
fromm sind, sprechen: Hat Jesus in der Werkstatt des Joseph Zimmerspäne
aufgelesen und andres, was ihm seine Eltern befohlen haben, gethan, ei,
wie feine Kinder wären wir, wenn wir seinem Exempel folgten und auch
dasjenige willig thäten, was uns unsre Eltern heißen, es wäre auch so
schlecht und gering, als es sein könnte."
Als die zwei Knaben dem Mönche die Hand geküßt hatten und auf
ihre Kammer zu Bette gingen, schaute ihnen ihre Mutter mit einem Seufzer
nach und sagte: „O, was für Sorgen machen doch die Kinder!" Darauf
versetzte der Klosterbruder: „O Weib, die Vöglein fliegen vor unsern Augen
vorüber, uns zu kleiner Ehre, daß wir wohl möchten unsere Hütlein vor
ihnen abthun und sagen: Mein lieber Herr Doktor, ich muß ja bekennen,
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daß ich die Kunst nicht kann, die du kannst. Du schläfst die Nacht in
deinem Nestlein ohne Sorge; des Morgens stehst du wieder auf, bist fröhlich
und guter Dinge, setzest dich auf ein Bäumlein und fingst, lobst und dankest
Gott. Danach suchst du Nahrung und findest sie. Pfui, was habe ich alter
Narr gelernt, daß ich's nicht auch thue, der ich doch so viel Ursache dazu
habe? Thut doch wie die Vöglein, lernet glauben, singet, seid fröhlich und
lasset euren himmlischen Vater für euch sorgen!"
„Sehet, Leute," fuhr der Klosterbruder fort, „daheim vor dem Fenster-
lein meiner Zelle steht ein Kraut im Topfe. Der Bruder Gärtner heißt
es Reseda, und der Geruch seiner Blüte übertrifft alle Würze. Dieses
Kraut besucht je um Ägidi ein Schmetterling, weiß mit etlichen Flecken auf
seinen Flügeln. Ter legt seine Eier mitten unter die Blätter, je eins und
eins fern von einander, daß sie nicht naß werden von Tau und Regen,
und daß die Jungen einander die Nahrung nicht schmälern. Die Eier
aber kleben mit dem offenen Ende am Blatte, und wenn nun das Junge
darin aus seinem Schlafe aufwacht und heraus will, findet es den Ausgang
versperrt, aber nicht mit Eisen, Stein oder Holz, sondern nur mit seinem
Futter, das ihm so gut schmeckt und mundet, wie unsereinem Rosinen und
Mandeln. Und wenn es sich dnrchgefpeist hat, streckt es fein Köpflein
zwei- oder dreimal in die Höhe und weidet dann fort, bald zur Rechten,
bald zur Linken, wie es will. Der Vater im Himmel macht es dem kleinen
Würmlein, als schlöffet ihr ein Knäblein oder Mägdlein in eine stille
Kammer, deren Thüre ein großer Pfefferkuchen ist, und sprächet zu ihm:
'Jetzt schlaf! und wenn du aufwachst und willst zu uns heraus in den
Sonnenschein, so mußt du dich durch den Honigkuchen hindurchessen.' So
aber Gott für ein Würmlein also sorgt, das heute lebt und morgen dem
Sperling zur Speise dient, sollte er das nicht vielmehr euren Kindlein
thun? O ihr Kleingläubigen!"
Und da es Zeit war, erhoben sich auch die drei Dienstboten des
Bauern vom Tische, bückten sich tief vor dem Priester und gingen ihres
Wegs, mit ihnen der Begleiter des Mönchs. Die Bäuerin schaute ihnen
nach und seufzte: „Wie schwer sind die Dienstboten in unserer Zeit zu
regieren!" — „Wohl," versetzte der Klosterbruder, „aber auch mit Kurzweil
und Fabeln, wenn man sie wohl zu gebrauchen weiß. Daß ich ein Exempel
gebe: Wenn's einem Knechte zu wohl ist, und er will's besser und spricht
in seinem Herzen: Bei meinem Herrn habe ich zwar alles sicher, Jahr um
Jahr fünf Gulden und Leinwand zu zwei Hemden und einen Schurz, aber
nichts darüber; beim Kronenwirte in Schwabach giebt's zwar keinen Lohn,
aber viel Trinkgeld und Unterhaltung, denn das Fuhrwerken geht Tag und
Nacht, zu dem will ich mich verdingen — diesem Knechte wollte ich^ er-
zählen: Es war einmal ein Hündlein, das strich eines Morgens durch die
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Fleischbank und erhaschte eine Kalbslunge. Zuerst lief es aus Leibeskräften,
weil die Metzger hinter ihm drein waren; zuletzt, da seine Verfolger um-
kehrten, ging es langsam über einen Steg. Da sah es unter sich einen
andern Hund im Wasser, mit einem Stück Fleisch im Maule, das ihm
größer und schöner dünkte denn das seine. Folglich ließ es die Lunge
fallen und schnappte nach dem Fleisch, worüber es den guten Bissen verlor
und seine Schnauze in das leere Wasser stieß. Denn es erging ihm wie
allen Unzufriedenen, die das Gute verlieren und jenes Bessere nicht
kriegen."
„Item, wenn sich eine Magd an eine andre hängt und Gefahr vor-
handen ist, daß sie von der bösen Freundin verführt werde, so wollte ich
bei Gelegenheit erzählen: Naschmunde, die junge Maus, die bei dem reichen
Bauer Wackerbart diente, erging sich eines Sonntags nach der Vesperkirche
an der Altmühl. Jenseits des Wassers aber auf einem niederen Weiden-
stumpfe saß der grüne Grashüpfer und geigte, und die Wassermäuse, Jüng-
linge und Jungfrauen, daneben auch etliche Knüblein und Mägdlein, tanzten
dazu auf dem Sande, daß es stäubte. Als diese ihre Kameradin am andern
Ufer ersahen, schwamm sogleich ihre beste Freundin, wie sie sich nannte, zu
ihr hinüber und sprach: 'Munde, komm zu uns herüber zu einem Walzer.' —
Meine Frau', antwortete Munde, 'hat gesagt, wo die Bursche und Dirnen
zur Fiedel tanzten, daß es stäubt, da sollte ich davonbleiben.' — Sprach
die Freundin: 'Ein Tänzlein in Ehren kann niemand wehren.' — Sprach
Munde: 'Und dann komm ich zu spät nach Hause.' — Sagte die Freundin:
'Einmal ist keinmal.' — Sprach Munde: 'Und wie komme ich über das
tiefe Wasser hinüber und wieder herüber?' — Sagte die Freundin: 'Ich
trage dich auf meinem Rücken hin und wieder.' — Gesagt, gethan. Nasch-
munde setzte sich auf, und die Freundin schwamm mit ihr an das andre
Ufer, wo sie mit Jauchzen empfangen wurden. Da tanzte sie bis tief in
die Nacht, und weil sie in den Ringelreihen schwindlig geworden war, band
sie sich auf dem Rückwege mit einer Binse an den Hals der Freundin,
damit sie nicht in die Altmühl falle. Aber als sie mitten im Flusse
waren, kam ein großer Raubfisch aus der finstern Tiefe und verschlang
beide. Naschmunde, das junge Blut, hätte sich vielleicht noch retten können,
wenn sie allein gewesen wäre, aber sie hing zu fest an dem Halse der
Freundin."
Nach diesen und andern Tischreden boten auch der Bauer und sein
Weib dem Gaste gute Nacht, der sich dann sogleich zur Ruhe legte. Am
andern Morgen, als es noch dämmerte, ritt er wieder weiter nach Weißen-
burg zu.
In dem Leben Dr. Martin Luthers nach Johann Matthesius lesen
wir: „Da nun der römische Legat in Augsburg auf Luthers Schriften keine
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Antwort gab, ward allen Freunden dieses lange Stillschweigen verdächtig,
also daß sie böse Anschläge befürchteten. Daher verschaffte ihm Dr. Staupitz
ein Pferd; der Rat von Augsburg gab ihm einen Ausreiter zu, der die
Wege wußte, und Herr Christoph Langemantel half ihm des Nachts durch
ein Pförtlein aus der Stadt. Da ritt er den ersten Tag acht Meilen,
hernach etwas langsamer, und kam über Nürnberg glücklich nach Witten-
berg." — Ist nun unser Mönch und Klosterbruder Dr. Martin Luther-
gewesen oder nicht? Karl Stöber.
9. Treue Vaterlandsliebe.
I.
Es war am 12. Oktober 1806. Preußen hatte den Krieg an Frank-
reich erklärt, und vor zwei Tagen hatte das Gefecht bei Saalfeld statt-
gefunden, in welchem der Prinz Louis Ferdinand gefallen war. Nun
waren die beiden Hauptheere einander näher gekommen, nur noch zwei
Tage, und die unglückliche Schlacht bei Jena und Auerstädt sollte ge-
schlagen werden.
Ein preußisches Armeecorps unter dem Fürsten Hohenlohe, etwa
40000 Mann stark, stand rechts von der Straße, die von Jena nach
Weimar führt, zwischen den beiden Flüssen Ilm und Saale; seine Vor-
posten standen auf dem Landgrafenberge, einer steilen Höhe, welche zwischen
diesen Truppen und der Stadt Jena lag. Von dem Gipfel dieses Berges
konnte man das Heer der Preußen ganz und gar übersehen, und über ihn
führte der einzige Weg, um dieses von vorn anzugreifen. Die preußische
Hauptarmee, über 65000 Mann stark, befand sich unter dem Kommando
des Herzogs von Braunschweig und hatte sich eine Stunde weiter nach
Weimar zu aufgestellt. Die Preußen waren mit gutem Mut, ja mit Über-
mut in den Kampf gezogen. Ihnen gegenüber standen die Feinde, die
Franzosen. Schon wurden die Vorbereitungen zu der großen Schlacht ge-
troffen, die in zwei Tagen geschlagen werden sollte. Es lag wie eine
schwere, drückende Gewitterschwüle auf der ganzen Gegend. Alle Dörfer
ringsum waren bereits von den Feinden geplündert, und viele von ihren
Einwohnern hatten sich mit einem Teile ihrer Habe und ihres Viehes auf
die bewaldeten Höhen jenseits der Saale geflüchtet.
An einem Bergabhange des linken Saalufers stand am Nachmittage
des 12. Oktober ein Mann, der den Kopf auf einen langen Stab gestützt
hatte und so in das Thal hinabschaute, durch welches die Straße von Jena
nach Naumburg sich hindurchzieht. Unten war ein buntes, wirres Leben;
Soldaten, Pferde, Wagen drängten einander. Starr und gedankenvoll ruhte
sein Auge auf diesem Treiben. Die Kleidung des Mannes, ein blauer,
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langer Rock, ein großer, breitkrempiger, schwarzer Hut und eine lange Weste,
sowie seine ganze Erscheinung zeigten auf den ersten Blick, daß er ein
Schafhirt war. Nur zuweilen warf er einen Blick auf die vier oder fünf
Schafe, welche neben ihm weideten, und dann zuckte um seinen Mund ein
trauriges Lächeln. Noch vor kurzer Zeit hatte er hier für seinen Herrn
eine zahlreiche Herde gehütet, diese wenigen Tiere waren alles, was ihm
davon übrig geblieben war; sie waren sein Eigentum, und er hatte sich mit
ihnen hierher geflüchtet. Der Abhang des Berges war steil, sodaß er
hoffen durfte, die Feinde würden nicht auf die Höhe kommen. In dem
Dorfe dort unten im Thale besaß der Schäfer ein Haus, die Franzosen
aber hatten sich in demselben einquartiert, ihn daraus vertrieben und alle
Vorräte, die er für seine Familie und seine Tiere zum Winter gesammelt
hatte, ihm genommen. Was sollte er nun noch da unten im Dorfe? Seine
beiden Söhne standen drüben in dem preußischen Heere, und zu ihnen eilten
seine Gedanken. Wenn er jünger gewesen wäre, er hätte gem die Waffen
zur Hand genommen, um die Frechheit der übermütigen Eroberer züchtigen
zu helfen; aber in seinen Jahren konnte er nicht mehr daran denken, unter
die Soldaten zu gehen. Seine Hände ballten sich oft unwillkürlich in
stillem Zorne, und er stieß den Hirtenstab auf die Erde, wenn er des Über-
mutes und der Grausamkeit der Franzosen gedachte.
Da kam ein Mann schräg an dem Abhange des Berges daher und
eilte auf ihn zu, aber er hörte ihn nicht, bis der neben ihm sitzende Hund
laut anschlug. Schnell wandte der Hirte den Kopf, doch seine Augenbrauen
zogen sich finster zusammen, als er den Kommenden erkannte.
„Nun, Born!" rief dieser, ein Mann von etwa fünfundzwanzig bis
dreißig Jahren, dessen stechende Augen seinem Gesicht einen unheimlichen
und unangenehmen Ausdruck gaben; „Ihr steht hier so ruhig, als ob da
unten nichts los wäre. Das ist ein Leben und Treiben ringsum; man
sollte eigentlich Gott danken, wenn man mit heiler Haut daraus wäre."
„Niemand hindert Euch daran," antwortete kalt der Schäfer. „Eure Söhne
stehen dort oben unter den Preußen, nicht wahr?" fragte der Fremde.
Born nickte bejahend. „Und Eure Frau und Tochter?" — „Sie sind da
drüben," erwiderte der Hirt und zeigte mit der Hand nach den Bergen
jenseits der Saale. „Denkt Ihr denn, daß sie dort in Sicherheit sind?
Dorthin wird der Feind auch dringen." — „Wer weiß?" sprach Born. „Es
kommt vielleicht auf einen einzigen Tag an, und die Fremden müssen wieder
aus dem Lande hinaus, wie sie hereingekommen sind." — „Ha, ha!" lachte
Sielert (so hieß der Mann), „denkt Ihr denn, daß die Preußen siegen
werden? Ich komme heute von Kahla und Jena und habe gesehen, wie
zahlreich die Franzosen sind. Es sollen viel über hunderttausend Mann
sein, und die lassen sich nicht so leicht zum Lande hinausjagen."
25
Born blickte den Mann scharf und finster an; dann sprach er langsam:
„Ihr scheint es mit den Feinden zu halten?" — „Nein, nein!" war die Ant-
wort, „aber der Napoleon versteht den Krieg." — „Dem mag sein, wie ihm
will," erwiderte der Schäfer, „seine Reiter und Kanonen wird er doch nicht
an diesen Bergen in die Höhe schaffen. Es giebt nur einen Weg, auf
dem es möglich wäre, und den kennt er nicht und wird ihn auch nicht
finden." — „Kennt Ihr den Weg?" fragte Sielert schnell. — „Ich kenn' ihn,"
antwortete Born ruhig; „doch wohin wollt Ihr?" — „Nach Naumburg," er-
widerte Sielert, „man kann auf der Landstraße vor den Soldaten und
Pferden, Wagen und Kanonen nicht durchkommen, ich muß deshalb Neben-
wege suchen und einschlagen. Lebt wohl!"
Mit diesen Worten eilte der Mann hastig von dannen. Der Schaf-
hirt sah ihm lange nach, und seine Augen nahmen einen düsteren Ausdruck
an. Dann trieb er seine Tiere langsam in ein kleines Gehölz, welches
nicht weit am Abhange des Berges sich hinzog, um dort mit ihnen über
Nacht zu bleiben. Wohl waren die Nächte schon kalt und feucht geworden;
aber Born war von Jugend auf an Wind und Wetter gewöhnt und hatte
schon in kälterer Zeit manche Nacht im Freien zugebracht. Der Abend
brach herein, und stiller wurde es auf den Bergen, doch um so lauter
schallte das kriegerische Geräusch aus dem Thale herauf. Der Schäfer
hörte lange zu, dann setzte er sich zur Erde und lehnte sich an einen Baum;
neben ihm lagerten sich sein treuer Hund und die kleine Herde. So schlief
er endlich ein.
Der dreizehnte Oktober brach an. Der Herzog von Braunschweig
hatte seine Armee geteilt; der Hauptteil derselben zog mit dem Könige von
Preußen bei Tagesanbruch nach Sulza und kam am Abend jenes Tages
auf den Höhen von Auerstüdt an. Der Fürst Hohenlohe war mit den
Truppen, die er befehligte, auf den Bergen zwischen Jena und Weimar
zurückgeblieben. Leider dehnte er seine Armee über eine Länge von sechs
Stunden aus und vergaß es, den wichtigsten und höchsten Punkt der ganzen
Stellung, den Landgrafenberg, zu besetzen. Napoleon hatte mit scharfem
Feldherrnblick diesen Fehler sogleich bemerkt und von einem Teile seiner
Truppen den Berg besetzen lassen. Er selbst bestieg ihn, und von hier aus
konnte er die ganze Stellung des preußischen Heeres beobachten und seinen
Schlachtplan für den folgenden Tag entwerfen. Noch aber fehlten ihm die
Reiterei und die Artillerie, ohne welche er die Schlacht nicht wagen konnte.
Man hatte vergebens alles mögliche aufgeboten, um sie an den hohen und
steilen Abhängen des Landgrafenberges hinauszuschaffen. Selbst die In-
fanterie hatte die größte Mühe gehabt, auf den schmalen und steilansteigenden
Pfaden den Berg zu erklimmen.
Am Morgen stand der Schafhirt wieder an dem Abhange des Berges,
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um seine Tiere zu weiden. Es leuchtete wie Freude auf seinem ernsten
Angesichte, als er die zahlreichen Geschütze und die Reiterei der Franzosen
unten im Thale sah. Es war also noch nicht gelungen, dieselben den Berg
hinauszuschaffen, und er jubelte darüber in seinem Herzen. „Wenn er den
Weg wüßte," sprach er vor sich hin, „der dort auf die Höhe führt! Aber
er weiß ihn nicht und wird ihn nicht finden, denn es weiß ihn ja kaum
jemand außer mir. Fast scherüt es unmöglich, den Berg hinaufzukommen;
und doch bin ich früher mehr als einmal auf dem Wege nach seinem Gipfel
geritten."
Wieder kam der Mann, der ihn am Tage zuvor überrascht hatte, zu
dem Schäfer herab. Dieser sah ihn finster und beffemdet an und rief
endlich: „Ihr sagtet ja gestern, daß Ihr nach Naumburg gehen wolltet?" —
„Das war auch mein Wille," sprach Sielert, „aber die Wege sind alle wie
versperrt, und es ist beinahe nicht möglich hindurchzukommen. Ich habe
übrigens gestern noch ein gutes Geschäft gemacht, von dem ich schon eine
Zeit lang leben kann."
Mit diesen Worten hielt er einen Geldbeutel empor, in welchem
mehrere Goldstücke glänzten. Dann fuhr er fort: „Sehet, es sind jetzt
schlechte Zeiten; Handel und Wandel liegen an allen Orten danieder, die
Arbeit stockt, und es ist schwer, etwas zu verdienen. Man weiß auch nicht,
was aus dem allen werden wird, und welche Schicksale uns noch bevor-
stehen. Mit diesem Gelde will ich wieder einen kleinen Handel beginnen,
und Ihr sollt mir dazu einen guten Rat geben. Seht, die französische
Infanterie hat den Landgrafenberg und die Höhen dort besetzt, die Soldaten
sind wie Katzen hinaufgeklettert. Da oben giebt es nichts zu essen und zu
trinken; es getraut sich auch niemand so leicht zu den Franzosen hin, ich
aber fürchte mich vor ihnen nicht. Nun möchte ich gern mit einem kleinen
Wagen Wein und Bier hinauffahren, und man würde es mir gut bezahlen.
Aber wie soll ich hinaufkommen? Seht, Born, ich schenke Euch eins von
diesen Goldstücken, wenn Ihr mir den Weg zeigt, von dem Ihr gestern
spracht; wollt Ihr?"
Born hatte den Worten des Mannes mit steigender Aufmerksamkeit
zugehört. Ernst und düster blickten seine Augen auf ihn, endlich sprach
er: „Ich soll Euch den Weg zeigen? Nimmermehr. Ihr werdet ihn an
die Franzosen verraten." Sielert lächelte listig, dann sprach er: „Seid kein
Thor, Born! Und wenn dies wirklich meine Absicht wäre? Kommt, wir
wollen beide zusammen das Geschäft machen. Ich will mit den Franzosen
unterhandeln und unsere Forderungen stellen, und sie sollen uns, darauf
könnt Ihr Euch verlassen, so viel Geld geben, daß wir beide in unsern!
ganzen Leben nicht mehr zu arbeiten brauchen."
Die Wangen des Hirten hatten sich bei diesen Worten mehr und mehr
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gerötet, die Adern waren auf seiner Stirn angeschwollen, ein heißer Zorn
glühte in seinen ehrlichen Augen; aber noch hielt er sich, so schwer es ihm
auch wurde. „Nun sprecht, Born!" drängte Sielert. „Ich, ich soll den
verwünschten Franzosen den Weg verraten?" rief Born, der noch immer
nicht Luft für seinen Zorn bekommen konnte. „Nun, weshalb denn nicht?"
sprach lächelnd der Versucher. „Was ist daran gelegen, wenn es nur gut
bezahlt wird? Und dafür will ich wohl einstehen."
„Schuft!" unterbrach ihn der Hirt heftig, indem er ihn an der Brust
packte; „du Schuft, du Judas! Mein eignes Vaterland und das Leben
meiner Söhne soll ich für Geld verraten? Da, fahr hin, wohin du ge-
hörst!" rief er, indem er Sielert trotz seines Alters mit starkem Arme den
Abhang hinabstieß. Der Verräter überschlug sich mehrere Male, indem er
hinunterrollte, dann raffte er sich auf, stürmte wieder den Berg hinauf und
drang wütend auf den Alten ein. Dieser hatte seinen Schäferstab erhoben
und schwang ihn mit kräftiger Hand; sein Hund eilte knurrend und bellend
herbei und war jeden Augenblick bereit, sich auf den Angreifer zu stürzen.
Sielert wagte sich darum nicht heran, er rief nur wütend: „Das sollt Ihr
mir büßen!" und eilte dann den Berg wieder hinab."— „Denke nur an dein
eignes Leben, das gewiß am Galgen endet!" rief ihm der Alte zornig nach.
Sein ehrlicher und schlichter Sinn konnte die Schändlichkeit dieses
Menschen kaum fassen. Er setzte sich nieder und stützte das Haupt in die
Hand. Wie war es möglich, daß jemand sein eignes Vaterland verraten
konnte? Dann dachte er an seine Söhne, seine Tochter und seine Frau;
er hatte sie lange nicht gesehen, noch waren sie in keiner Gefahr. Die
Feinde waren noch nicht jenseits der Saale, die dortigen Höhen waren noch
von ihnen frei; aber was sollte aus ihnen allen werden, wenn die Franzosen
siegten? Nein, das konnte, das durfte nicht geschehen!
II.
Der alte Schäfer hatte wohl eine Stunde und darüber sinnend und
sorgend dort oben gesessen, als er plötzlich das Geräusch von herannahenden
Schritten hörte und aus seinen Gedanken emporschreckte. Mehrere französische
Soldaten waren den Abhang herabgekommen und näherten sich ihm; hinter
ihnen erblickte er auch den schurkischen Sielert in einiger Entfernung. Eine
bange Ahnung stieg in dem Herzen des Hirten auf, er sprang von seinem
Sitze erschrocken in die Höhe. Sollte er fliehen, so schnell er konnte? Sollte
er sich zur Wehr setzen? Es wäre vergeblich gewesen; er blieb darum
scheinbar ruhig stehen. Die Soldaten waren unterdessen an ihn heran-
gekommen, und einer von ihnen forderte den Schäfer in gebrochenem Deutsch
auf, ihnen sogleich zu folgen.
„Wohin?" fragte Born, dessen Fassung und Ruhe zum großen Teile
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zurückgekehrt waren. „Zum Marschall!" lautete die Antwort. Born zögerte.
Was wollte man von ihm? Sollte seine Befürchtung sich wirklich erfüllen?
„Hat euch der hierher geführt?" sagte er endlich, indem er auf Sielert
zeigte. Die Soldaten nickten bejahend. Jetzt war kein Zweifel mehr, er
sollte den geheimen Weg auf den Landgrafenberg zeigen. Ihm schwindelte
beinahe, aber konnte er sich weigern, den Soldaten zu folgen? Schweigend
und mit bangem Herzen folgte er den Franzosen, welche rasch die Anhöhe
hinaufschritten. Eine innere Stimme rief ihm warnend zu: Dies ist ein
schwerer, furchtbarer Gang für dich! Entdecke ihnen den Weg, oder du
stürzest dich und die Deinen ins Unglück; entdecke ihn, ehe man dich mit
Gewalt dazu zwingt! Aber er beschwichtigte diese Stimme und sprach dann
wieder zu sich selbst: Man kann dich nicht zwingen; man mag dir mit
Gewalt den Mund öffnen, aber man kann das Geheimnis nicht aus deiner
Brust herausholen, wenn du es ihnen nicht entdecken willst.
Die Soldaten hatten mit ihrem Gefangenen endlich den Landgrafen-
berg erstiegen und führten ihn sogleich in das Hauptquartier zu dem
Marschall Lannes, welcher den Berg besetzt hielt. Der Marschall ließ eine
Weile seine Augen forschend auf dem Hirten ruhen, dann fragte er ihn, ob
er, wie er zu Sielert gesagt habe, einen Weg wisse, auf welchem Pferde
und Geschütze hier herausgeschafft werden könnten.
„Ja," sprach Born ruhig, da er weder lügen konnte noch wollte. „So
zeigt uns den Weg!" sagte der Marschall. „Ihr sollt eine reiche Belohnung
dafür haben." Born schwieg, es wogte in seinem Herzen wie ein stürmen-
der See; er konnte, er durfte nicht zum Verräter werden. „Wollt Ihr
uns den Weg zeigen?" fragte der Marschall. — „Nein!" antwortete der
Schäfer fest und bestimmt; „ich würde schlecht gegen meine eignen Lands-
leute handeln, wenn ich es thun wollte." — „Ihr wollt also nicht?" rief der
Marschall. „Glaubt Ihr, daß wir nicht auch ohne Euch den Weg finden
werden? Wir dürfen ja nur den Berg nach allen Seiten untersuchen.
Aber es liegt mir viel daran, diesen Weg heute noch und in dieser Stunde
zu erfahren." — „Ich verrate ihn nicht," entgegnete Born mit aller Festigkeit
eines deutschen Mannes und eines guten Gewissens. — „Ihr wollt nicht?"
fuhr der Franzose auf; „Ihr wagt es, mir zu trotzen? Glaubt Ihr, daß
ich Euch dazu nicht zwingen kann, wenn ich will?" — „Mich kann niemand
dazu zwingen," erwiderte der brave Hirte. — „Nicht? Nun, ich werde es dir
zeigen. Der Ausgang einer ganzen Schlacht soll nicht von deinem guten
oder bösen Willen abhängen. Du erhältst eine reiche Belohnung, wenn du
uns den Weg zeigst; beharrst du aber bei deiner boshaften Weigerung, so
mußt du sterben, — hörst du? sterben! — nun entscheide dich!"
Born schwieg. Keine Muskel zuckte oder verzog sich auf seinem wetter-
harten und ehrlichen Angesichte. „Es ist mein Ernst!" rief der Marschall
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noch einmal; „du stirbst, wenn du mir zu trotzen wagst!" Der Schäfer
sah und hörte nur zu deutlich, daß die Drohung ernst gemeint war, er
konnte an ihrer Ausführung nicht zweifeln. Sein Gesicht wurde bleich, er
zitterte leise, und einen Augenblick lang drohten seine Kniee unter ihm
zusammenzubrechen. Er dachte an sein armes Weib und tut seine Kinder.
Die Versuchung war groß und schwer, aber er überwand sich und erlangte
bald seine frühere Fassung wieder. Dann sprach er fest: „Ich bin kein
Verräter und will auch keiner werden!" — „Du willst also nicht?" rief der
Marschall heftig. — „Nein!" antwortete der wackere, heldenmütige Mann. —
„Führt ihn fort!" befahl der Marschall in heftigem Zorne einem Offizier.
„Führt ihn fort! gebt ihm noch eine halbe Stunde Zeit, sich zu besinnen;
wenn er dann noch ebenso trotzig ist, so laßt ihn ohne weiteres erschießen!"
Er wandte sich ab, und Born wurde von den Soldaten fortgeführt.
Sielert, dem durch den Tod des Alten ein gehoffter Gewinn entging, trat
listig und schmeichelnd an ihn heran und stellte ihm vor, was er durch
kluges Nachgeben gewinnen und dagegen durch fortgesetzten Trotz verlieren
würde; der Schäfer aber wandte sich verächtlich von dem Verräter hinweg.
Auch der französische Offizier redete ihm mit gütigen und freundlichen
Worten zu; er sollte nur mit einem einzigen Winke seiner Hand die Rich-
tung bezeichnen, in welcher der gesuchte Weg lag, dann würde er augen-
blicklich freigelassen und reich belohnt werden. Born schwieg auch diesem
Zureden gegenüber. Seine Hände wurden ihm auf dem Rücken gebunden,
und so führte man ihn den Abhang des Berges hinab. Drei Soldaten
luden vor seinen Augen ihre Gewehre, er wußte, was es bedeutete, und
wandte sich ab. Eine halbe Stunde war ihm noch vergönnt, um sich zu
besinnen. Er richtete den Blick hinunter in das Thal und zu den fernen
Bergeshöhen. Hier waren seine Söhne und dort sein Weib und seine
Tochter; ach, sie ahnten nicht, was ihn betroffen hatte, und was er in einer-
halben Stunde erleiden sollte! Dort stand sein kleines Haus, die Fenster
leuchteten so freundlich im Glanze der Morgensonne; er sollte es nie wieder
betreten und seines stillen Glückes sich fteuen. Hier und dort herum waren
die Berge und die Thäler seiner geliebten Heimat, in wenigen Augen-
blicken sollte er von ihr scheiden und sie für immer verlassen. Seine
Wangen waren bleich geworden, eine Thräne war ihm in das ehrliche Auge
getreten, er drängte sie zurück; dann senkte er sein Haupt still zur Erde
uud betete, wenn er auch seine gebundenen Hände nicht fallen konnte, zu
seinem Gott und Heiland, vor dessen Angesicht er in so kurzer Zeit
treten sollte.
Eine Minute nach der andern verging. Born betete still und in-
brünstig, während seine Lippen sich nur unmerklich bewegten, und das
Gebet gab ihm neue Kraft, neuen Mut, Frieden und Freude. Eiue stille,
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heitere Ruhe legte sich auf sein Angesicht und glänzte aus seinen Augen.
Als endlich die bestimmte Zeit verflossen war, trat der Offizier zu dem
Schäfer und fragte ihn, ob er jetzt den Weg zeigen wollte; ein schweigendes
Schütteln seines Kopfes war die einzige Antwort, die er auf diese Frage
gab. Der Offizier sah ihn einen Augenblick teilnehmend und mitleidig,
aber doch auch mit stiller Bewunderung an, dann gab er den Soldaten
einen Wink, und sie nahmen ihre Gewehre zur Hand. Man verband dem
Schäfer die Augen, stellte ihn an einen Baum, und die Soldaten traten
auf das Kommando an. Noch einmal wiederholte der französische Offizier
seine vorige Frage; ja, er legte sie ihm zögernd sogar zum dritten Male
vor. Schweigend, aber fest verneinend schüttelte Born das Haupt. Da
ertönte das furchtbare Kommandowort: „Feuer!" Drei Blitze fuhren aus
den Gewehren, drei Schüsse hallten zugleich an den gegenüberliegenden
Bergen wieder. Ohne einen Laut sank der wackere Hirte zusammen; er
war gut getroffen worden, es zuckte keine Muskel in seinem Gesichte. Die
Soldaten ließen den Leichnam liegen und kehrten in das Lager zurück;
es war ja Krieg, was hatte da ein einzelnes Menschenleben zu be-
deuten!
Napoleon war sehr unwillig, daß man den Weg nicht entdecken konnte.
Endlich meldete ihm ein Offizier, daß man einen andern Mann gefunden
hatte, welcher ihn ebenso gut kannte als der Schäfer. Der Mann wurde
zu ihm gebracht, dieser hatte nicht den Mut und die Kraft, der Forderung
zu widerstehen und sich zu weigern, und zeigte den Weg, der durch das
von einem Gießbache durchströmte, von Felsen eingeengte und mit Wald
bewachsene Rauthal führt. Das Bett des Baches bildete den Weg. Napoleon
erkannte mit scharfem Auge sogleich die Möglichkeit, die Geschütze auf diesem
Wege den Berg hinauszuschaffen. Zwar mußten hier und dort einzelne
Bäume gefüllt, einzelne Felsen gesprengt werden, allein diese Schwierig-
keiten ließen sich überwinden, und der Kaiser befahl, sogleich an das Werk
zu gehen und den Weg fahrbar zu machen. Um 8 Uhr abends war man
damit fertig geworden, und noch während der Nacht wurden die meisten
Geschütze, halb gezogen und halb getragen, auf den Gipfel des Berges ge-
bracht. Als der 14. Oktober anbrach, war die Schlacht bei Jena beinahe
schon entschieden, ehe noch der Kämpf begonnen hatte.
Wir wissen, wie sie leider ausgefallen ist; das preußische Heer wurde
gänzlich geschlagen und in die wildeste Flucht auseinander gesprengt. Auf
den Feldern von Jena begannen die sieben Jahre preußischer Not und
Schmach, bis sie endlich durch Gottes Gnade in den glorreichen Tagen der
Befreiungskriege ihr Ende erreichten. Das Opfer des alten, wackeren
Schafhirten war vergeblich gewesen. Zwei Tage nach der Schlacht war er
mit Hunderten von gefallenen Preußen und Franzosen in ein gemeinsames
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Grab gebettet worden, erst lange darauf erhielten die Seinen die Nachricht
von seinem Tode.
Kein Geschichtsbuch erzählt den Heldentod des braven Mannes, nur
einzelne Landleute in der Gegend von Jena wissen noch heute davon zu
berichten. Niemand kennt sein Grab, von seiner That redet kein glänzendes
Denkmal. Er war nur ein armer Schafhirt, aber er ist getreu gewesen
bis zum Tode; darum soll seines Namens nie und nimmer vergessen werden.
Wilhelm Ziethe.
10. Auf der Eisscholle.
Im Jahre 1869 wurde eine zweite deutsche Nordpolarexpedition unter-
nommen, welche den Plan verfolgte, an der ostgrönländischen Küste nach
Norden vorzudringen. Zwei größere Schiffe wurden zu dieser Expedition
bestimmt: der Dampfer „Germania" und das Segelschiff „Hansa". Letztere
hatte mit weit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen, als die Germania,
welcher Dampf zu Gebote stand. Man kann mit Dampfkraft leicht in
plötzlich sich öffnende Kanäle zwischen den Eisschollen eindringen und diese
Straßen mit Vorteil verfolgen, während ein Segelschiff in solchen Fällen
stets vom Winde abhängig ist und bei widrigen Winden nicht wagen darf
in die rasch sich schließenden Eiskanäle einzudringen, weil die Gefahr nahe
liegt, daß das Schiff dort von den Schollen zerquetscht werde, ehe es aus
den Kanülen hinausgelangen kann.
Als beide Schiffe die Breite von 75 Grad erreicht hatten, auf der sie
durch das Eis dringen und nach Grönlands Küste gelangen sollten, traten
dichte Nebel auf, und infolge eines mißverstandenen Signals wurden beide
voneinander getrennt, um niemals wieder zusammenzutreffen. Als sich der
Nebel verzogen hatte, bemerkte die Bemannung der Hansa, daß ihr Schiff
tief ins Eis hineingeraten war. Alle Versuche, durch einen Kanal das
freie Wasser zu gewinnen und die Küste Grönlands zu erreichen, scheiterten.
Gegenüber der Macht der Elemente erwies sich die Anstrengung der Menschen
wirkungslos. Am 19. September 1869 war die Hansa, um welche sich
eine dicke Eisdecke gebildet hatte, vollständig eingefroren. Jetzt war die
größte Vorsicht geboten. Die Bemannung mußte daran denken, daß
das Schiff von den Eisschollen gänzlich zerquetscht werden konnte, und
daß sie dann hilflos, ohne Obdach, ohne Lebensmittel mitten im Ozean
auf dem Eise stehen würden. Zum Glück hatte die Hansa einen großen
Vorrat von Kohlen an Bord. Dieser bestand nicht aus gewöhnlichen Stück-
kohlen, sondern aus Briquetts, aus ziegelartig geformten Patentkohlen, die
nun als ein vortreffliches Baumaterial dienen mußten. Aus ihnen wurde
auf dem großen Eisfelde, in dem die Hanfa festgefroren war, ein Kohlen-
haus errichtet, groß genug, um alle vierzehn Mann (so stark war die Be-
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mannung des Schiffes) zu beherbergen. Als Mörtel diente Schnee, den
man mit Wasser vermischte, und der sofort zu Eis gefror; dieser Eiskitt
hielt sehr fest. In dem Hause wurde ein Kochherd aufgestellt und alles
zum Leben Nötige untergebracht. Das Dach wurde aus Stangen und
Brettern gebildet, die man vom Schiffe nahm; für einen warmen Schnee-
mantel, der über das Ganze sich hinzog, sorgte der Himmel selbst, und auf
eine kurze Entfernung hin konnte man es für einen großen Schneehaufen
ansehen, aus dem ein paar Schornsteine hervorragten. Bei dem Hause
flatterte die schwarz-weiß-rote Fahne von einem Flaggenstocke und lagen die
drei Boote der Hansa. Man hatte sie „Hoffnung", „Bismarck" und „König
Wilhelm" getauft. Alle waren segelfertig und mit Proviant versehen,
damit, im Falle die Eisscholle zerbarst, die Mannschaften sich in die Boote
retten könnten.
Die Eismassen drückten immer gewaltiger auf das Schiff. Allen
Proviant und alle Vorräte rettete man in das Kohlenhaus. Unter der
Wucht des von allen Seiten herandringenden Eises sprangen die Decknähte
des Schiffes, seine Planken barsten — und am 19. Oktober des Jahres
1869 versank die Hansa in die Tiefen des Meeres. Hilflos standen die
vierzehn Männer, welche die Besatzung der Hansa gebildet hatten, mit ihren
wenigen geretteten Sachen in der weiten Eiswüste. Aber sie verzagten
keineswegs. Da das Eis in Bewegung geriet, rechneten sie darauf, daß
es sie gegen Süden treiben und nach Verlauf von etwa drei Viertel Jahren
in Gegenden bringen werde, wo eine Rettung möglich sei. Zweihundert
Tage trieben sie auf der Eisscholle, vom Tage des Schiffbruches, vom
19. Oktober, den ganzen schweren Winter hindurch bis zum 7. Mai 1870,
dem Tage, an welchem die Schiffbrüchigen in den Booten ihr Eisfeld ver-
ließen.
An die Stelle der schmucken, tüchtigen Hansa war eine gebrechliche
Eisscholle getreten, die etwa 7 Seemeilen oder 2% Stunden im Umfang
hatte, also noch immer den Schiffbrüchigen ziemlich viel Spielraum gewährte.
Die Scholle, oder besser gesagt das Eisfeld, war im ganzen 14 Meter dick,
doch ragten von diesen nur 1% Meter über das Wasser empor. Trotz
dieser Stärke war das Eisfeld nur ein äußerst gebrechliches Fahrzeug, das
in der Gewalt der Stürme, bei dem fürchterlichen Toben der Elemente
leicht zersplittern konnte. Die drei Boote mußten daher vollständig in stand
gesetzt werden, um jeden Augenblick, wenn das Eisfeld zertrümmert werden
sollte, die Schiffbrüchigen aufnehmen zu können.
Die nächste Sorge war dem „Hansahanse" gewidmet, das in einen
möglichst wohnlichen Zustand gebracht wurde. Anfangs zeigte es nur die
kahlen, nackten Kohlenwände, aber allmählich bekam es einen freundlicheren
Anstrich, wenn von Freundlichkeit in einem Hause die Rede sein kann, in
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dem die Fenster fehlten, und in dem qualmende Lampen das Licht des
Tages ersetzen mußten. Aus den Kajüten waren allerlei Gegenstände ge-
rettet worden, die nun im Hause ihren Platz fanden. Segel und Decken
bildeten die Tapeten der Wände, an denen Spiegel, Karten und In-
strumente als Zierat hingen. Über diesen prangten die Küchengeräte des
Kochs. Für Wärme sorgte ein Ofen und der Kochherd, als Schlaf- und
Sitzplatz, als Stuhl und Sofa diente eine Pritsche. Alle diese Gegen-
stände beengten den Raum sehr, und waren alle vierzehn Schiffbrüchigen
versammelt, so war es gänzlich vollgepfropft. Dann war der Aufenthalt
natürlich ein höchst unbequemer, aber mit der Zeit gewöhnte man sich
wenigstens einigermaßen hieran.
Fern von allen Menschen, fern von jeder Rettung trieb nun die Scholle
in südwestlicher Richtung weiter. Ergeben in ihr Schicksal, nur Gefahren
vor Augen, sahen die Männer anfangs einen Tag wie den andern vergehen,
bis die Stürme und die Kälte des Winters Änderungen hervorbrachten.
Was Regelmäßigkeit, Wachtdienst, Verteilung der Arbeit betraf, so wurde
ganz die Ordnung wie auf dem Schiffe beibehalten. Nur zuweilen bot die
Jagd eine Abwechslung; man erlegte mehrere Seehunde und auch ein Wal-
roß. Nahrung suchend kamen vom Lande Eisfüchse über die Schollen bis
zum Hansahause, in dem sie Beute wittern mochten; sie wurden erlegt.
Auch die Eisbären wurden herangelockt. Sechs von ihnen mußten ihr
kühnes Beginnen mit dem Tode bezahlen. Sie lieferten frisches Fleisch in
die Kochtöpfe und warme Decken für die erstarrten Glieder; denn die Kälte
hatte allmählich zugenommen. Im Durchschnitt betrug sie — 22° R.; allein
einige Male fiel die Temperatur auf — 25°; die höchste, bloß während
kurzer Dauer bemerkte Kälte war — 26° R.
Das Treiben nach Süden, längs der Küste hin, die man bei heller
Witterung deutlich sah, ging unausgesetzt vor sich. Wohl hätte man die
Küste selbst, über die Schollen springend, erreichen können; aber was hätte
man dort, wo man kaum Eskimos zu treffen hoffen konnte, beginnen sollen?
Unfehlbar wären am Lande die Hansamänner alle erfroren und verhungert,
denn ihre Geräte, ihre Lebensmittel hätten sie nicht dort mit hinschleppen
können. Ende Dezember befand man sich unter dem 68. Breitengrade, fast
drei Grade südlicher als der Ort, wo der Schiffbruch stattgefunden hatte.
So nahte die Weihnachtszeit heran, wo in der Heimat alles Lust und
Freude atmete, wo die Tannenbäume geschmückt wurden. Gewiß dachte
damals in Deutschland mancher an seine Lieben, die er oben im hohen
Norden auf der Entdeckungsreise wußte — aber noch sehnsüchtiger, so recht
aus dem tiefsten Grunde des Herzens heraus eilten die Gedanken der
schiffbrüchigen Hansamänner nach der Heimat der Lieben. Aber auch für
jene sollte das schönste Fest des Jahres nicht ungefeiert vorübergehen. Wohin
Lesebuch für höhere Lehranstalten. (Preuß. Ausg.) Ul. Z
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auch der Deutsche kommt, er nimmt die herrliche Sitte, den Weihnachts-
feiertag zu feiern, überall mit hin. Fehlen ihm in den Tropen unsere
duftenden Tannenbäume, dann nimmt er Palmen, die er mit Lichtern
schmückt, und erzählt den in der Fremde geborenen Kindern, wie jetzt
daheim, im großen, weiten Vaterlande, überall die geschmückten Bäume
flammen zur Feier der Geburt des Christuskindleins. Und auch die
Deutschen auf der Eisscholle im arktischen Ozean wußten sich auf ihre Art
zu helfen. Wir lesen in einem der Tagebücher: „Am Weihnachtstage
hatten wir Regen. Während wir nachmittags spazieren gingen, richteten
die Steuerleute den Christbaum her, indem sie in einen Stab Besenreiser
wie Tannenäste einfügten. Für die Lichter hatte ich einen Wachsstock ge-
spart. Papierketten und selbstgebackene Lebkuchen zierten den Baum; die
Leute hatten dem Kapitän einen Knappsack und eine Revolvertasche gemacht;
wir öffneten die Blechkiste von Professor Hochstetter und die andere von
der geologischen Reichsanstalt, deren Inhalt uns viel Spaß machte. Dann
tranken wir ein Gläschen Portwein, fielen über die alten Zeitungen her,
welche sich in der Kiste fanden, und verlosten die Geschenke von Hochstetter.
In stiller Weihe ging das Fest vorüber; welche Gedanken an der Seele
vorbeizogen — sie waren wohl bei allen gleich — schreibe ich nicht nieder.
Wenn diese Weihnachten die letzten sind, die wir erleben, so waren sie
immer noch schön genug. Ist uns aber eine glückliche Rückkehr beschieden,
so werden die nächsten Weihnachten noch ein größeres Fest sein; das
walte Gott!"
So kam das neue Jahr 1870 heran. Weiter und weiter trieb die
Scholle nach Süden. Am 2. Januar war sie bis dicht an die grönländische
Küste unter dem 67. Grade getrieben. Man sah eine Bucht, die man
„Schreckensbucht" taufte. Warum sie so genannt wurde, darüber berichtet
eines der Tagebücher wie folgt: „Ein plötzliches starkes Dröhnen unserer
Scholle jagte uns alle von unsern Lagern empor; wir hatten keine Ahnung
davon, was dieses Getöse bedeuten könne; draußen wütete das Wetter un-
aufhaltsam — wäre es hell und klar gewesen, so würden wir in noch
größerer Unruhe gelebt haben. Obgleich unser Eingang vollständig ver-
schneit, ja das ganze Haus mehr als einen Fuß tief im Eise begraben
war, liefen alle hinaus; aber natürlich konnte man keine zehn Schritte weit
sehen und kein anderes Lärmen vernehmen als das Wüten des Sturmes.
Wir legten uns nun im Gange platt nieder, das Ohr gegen den Boden,
und vernahmen ein Geräusch wie das Singen des Eises, wenn es stark
gepreßt wird, und wie das Reiben des Eises, wenn es über Klippen hin-
weggeht. Es war kein Zweifel, wir befanden uns in sehr gefahrvoller
Lage. Angekleidet legten wir uns um zwei Uhr nachts auf unsere Schlaf-
säcke und erwarteten sehnsüchtig das Tageslicht. Das Wetter ward schlimmer
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und schlimmer. Etwa um zehn Uhr morgens gingen einige von uns, als
der Wind etwas abnahm und der Schnee nicht so stark gepeitscht wurde,
durch den tiefsten Schnee nach dem Platze, neben dem die „Hansa" gelegen
hatte. Etwa zweihundert Schritte vom Hause entfernt, sahen wir zu unserem
größten Entsetzen die aufgetürmte Grenze unseres Feldes dicht vor uns.
Soweit wir sehen konnten, war unser Feld zertrümmert. Dunkle Gegen-
stände, welche hin und wieder in dem dichten Schneegestöber sich erkennen
ließen, waren die Eistrümmer unserer Scholle. Sie war in zahlreiche
Stücke zerbrochen, von welchen das, auf dem wir wohnten, freilich noch das
größte war, aber auch bei dem nächsten Schieben zertrümmern konnte. Wir
machten unsere Brottaschen fertig, um bei der schnellsten Flucht doch
wenigstens noch auf kurze Zeit das Leben fristen zu können; aber bei diesem
Unwetter sank man bei jedem Schritte bis über die Hüften in den Schnee
und eilte vielleicht gerade in die größte Gefahr hinein."
Nur der achte Teil des anfangs ziemlich ansehnlichen Eisfeldes war
übrig geblieben, und dieses kleine Stück war nun um so größeren Gefahren
ausgesetzt. Schaukelnd trieb es hinaus in die offene See, wo es noch
mehrere Monate den Schiffbrüchigen zum Aufenthalte dienen sollte. Zu-
nächst wiederholten sich ähnliche Scenen in rascher Aufeinanderfolge; ein
Stück der Scholle nach dem andern bröckelte ab, es war, als ob der Boden
unter den Füßen weggerissen würde. Man stelle sich vor, wie Dunkelheit
über der treibenden Eisscholle und den entsetzten Menschen lagert; der
Sturm heult und tobt, als ob er alles mit sich fortreißen wolle; die Eis-
scholle schaukelt und schwankt; der Schnee stiegt in dichten Massen herab
und deckt alles mit seinem Leichentuche; er dringt durch die feinsten Ritzen
der Kleidung und erstarrt den ohnehin von Frost geschüttelten Körper.
Keine Feder ist im stände, die Gemütslage der armen Schiffbrüchigen zu
schildern.
Indessen die Scholle, wiewohl sie immer kleiner wurde und mehr und
mehr zerbröckelte, hielt immer noch. Bereits stand das Kohlenhaus dicht
am Rande des schäumenden, eisbedeckten Meeres — da sollte der gefähr-
lichste Augenblick herantreten. In der Nacht vom 14. zum 15. Januar,
während die Schiffbrüchigen teils auf dem Schnee lagen, teils bei den
Booten standen, hatte das Toben des Eises und Sturmes eine solche Ge-
walt erreicht, daß es den noch übrigen kleinen Teil der Scholle mitten
entzwei brach. Der dadurch entstandene Riß ging gerade durch das Kohlen-
haus, und die Hälfte desselben mit einem großen Teile der Einrichtung
trieb hinaus ins Meer. So war also auch das Obdach vernichtet, und
schutzlos standen die Männer im schneidend kalten Sturme, im furchtbaren
Schneegestöber. Immer näher sahen sie ihr Ende heranrücken, und doch
verließen Mut und Gottvertrauen sie nicht. Man hatte ja noch die Boote,
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diese wurden mit den geretteten Brettern und Segeln bedeckt, und darunter
lagerten sich die Vielgeprüften, nur auf das geringste Maß an Nahrung
beschränkt. Der Koch, welcher während der ganzen Eisfahrt viel Mut be-
wies, wagte es sogar, in das zerstörte Haus vorzudringen und dort an dem
noch stehen gebliebenen Herde, neben dem die offene See wütete, etwas
Kaffee zu kochen, welcher die gesunkenen Lebensgeister wieder auffrischte.
Die ganze Scholle hatte nur noch zweihundert 'Schritte Umfang. Auf
diesem beschränkten Raume errichtete man aus den Ruinen des alten ein
neues Haus, da das Liegen in den Booten allmählich unerträglich wurde.
In dieser Hütte konnten aber nur sechs Personen eng aneinander gepreßt
schlafen — die übrigen acht mußten immer noch mit den Booten vorlieb
nehmen. Die Kleinheit der Scholle war in den Regionen der schwimmen-
den Eisberge übrigens ein entschiedener Vorteil, da sie leichter sich durch
die offenen Kanäle hindurchwand und mit nicht so großer Gewalt an ihre
Nachbarn anrannte, also auch weniger Gefahr lief, zertrümmert zu werden.
Sie glitt zwischen den Kolossen hindurch, als werde sie von unsichtbarer
Hand gesteuert.
Seit dem Zerbrechen der großen Scholle und der Zertrümmerung des
ersten Kohlenhauses am 14. Januar waren 112 Tage verflossen und seit
dem Untergange der „Hansa" 200 Tage. Man hatte den fortwährenden
Tag, die fortwährende Nacht gesehen. Jetzt war der Frühling heran-
gekommen, der auch an Grönlands Küste durch das Wiedererwachen der
Natur, durch das frische Sprossen der Kräuter, durch das Heranziehen der
Vögelscharen sich ankündigt. Jetzt sollte auch eine Änderung in der Lage
der Schiffbrüchigen herbeigeführt werden, welche der Beginn der Rettung
war. Am 7. Mai 1870 war man bis zum 61. Grade abwärts getrieben,
im ganzen 243 Meilen, eine Entfernung, die in gerader Linie etwa so groß
ist, wie von Konstantinopel nach Berlin. Man wußte nun, daß die Süd-
spitze Grönlands, wo civilisierte Menschen wohnen, nicht mehr fern war.
Dort lag die kleine von deutschen Missionaren geleitete Kolonie Friedrichs-
thal, und da nach der Küste zu offenes Wasser vorhanden war, so beschloß
man die Boote in dasselbe zu bringen. Es war auch die höchste Zeit,
daß man schneller vorwärts kam, denn die Lebensmittel wurden schon
knapp und die Kleider waren zerfetzt. Noch über einen Monat lang sollte
aber doch die Fahrt an der Südostküste Grönlands bis zum Rettungshafen
dauern.
Die drei Boote, die stets segelfertig waren, lagen mit ihrem Zubehör
nach Verlauf von vier Stunden in schiffbarem Wasser; die Mannschaft
verteilte sich in die Boote. Ein dreifaches Hurra! und fort ging es unter
Segel; aber nur zwei Tage sollte die Fahrt dauern. Bis auf drei See-
meilen etwa hatte man sich der Küste genähert, da verhinderten undurch-
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dringliche Eismassen jedes Vordringen. Man mußte sich entschließen, die
Boote über das Eis zu ziehen und aufs neue auf dem Eise zu leben.
Jene Arbeit dauerte vom 10. Mai bis 4. Juni, und diese 25 Tage ver-
langten bei halben Mahlzeiten unerhörte Anstrengungen von der Mann-
schaft. Kaum fünfhundert Schritt waren die Boote in einem Tage von
der Stelle zu bringen; auf Spirituslampen mußte die Nahrung erwärmt
werden; die Schneeblindheit brach aus, sodaß die Blendgläser aus den
astronomischen Instrumenten die verloren gegangenen Schneebrillen ersetzen
mußten. Endlich am 4. Juni ward das Land erreicht, die öde Felseninsel
Jdluitlik auf 61 Grad nördlicher Breite. Auf dem Eise ward gerastet und
Pfingsten gefeiert. Vom 6. bis 13. Juni fuhren die drei Boote der „Hansa"
an der Küste herunter längs der steil abfallenden Klippen, die kaum die
ersten Anfänge einer Vegetation zeigten. Trotz mancher Hindernisse und
Stürme gelang die Fahrt; am 13. Juni öffnete sich eine breite Bucht, es
zeigte sich Grün, rote Häuser wurden sichtbar, Menschen standen auf den
Klippen und schauten erstaunt der rätselhaften Fahrt der Boote zu. „Das
ist ja unsere deutsche Flagge!" tönte es vom Lande her über das Wasser.
Die Rettung war da; die ersten Menschen, denen die Geretteten die Hand
drückten, waren deutsche Landsleute. Zwei deutsche Missionare, Starik und
Gericke mit Namen, waren es, welche die Schiffbrüchigen auf das liebreichste
bewirteten und alles thaten, um die halb Erfrorenen und halb Verhungerten
zu erquicken. In ihrer Pflege erholten sich die Schiffbrüchigen bald wieder
und konnten kurze Zeit darauf die Rückkehr nach Europa antreten.
Richard Andree.
11. Der fliegende Holländer.
Es war im Jahre 1820, — so erzählte ein alter Matrose seinen
Kameraden, — als ich mich an Bord eines schönen Ostindienfahrers in
Holland einschiffte. Ich war kurz vorher mit einer holländischen Kriegs-
brigg*) von Westindien zurückgekommen und wollte eigentlich wieder nach
Hause, weil mir der holländische Kriegsschiffsdienst gar nicht gefiel; aber
ihr wißt wohl, wie es einem geht, wenn man ein junger Kerl ist; das Geld
fliegt fort, und so mußte ich schon wieder an Bord.
Es war ein schönes Fahrzeug, eben vom Stapel gelaufen, und gehörte
dem Kapitän. Diesem sah man auf den ersten Blick den tüchtigen See-
mann an; gegen die Mannschaft war er gut, verstand aber auch sie in
Ordnung zu halten; dabei gab es vortreffliches Essen und hohe Löhnung —
was konnte mir also weiter fehlen?
Nur die Mannschaft selbst wollte mir nicht recht gefallen. Es war
') Ein schnellsegelndes Kriegsschiff.
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wildes, zusammengelaufenes Volk aus aller Herren Ländern, das sich aus
Gott und der Welt nichts machte und den ganzen Tag lästerte und fluchte.
Anfänglich kehrte ich mich nicht daran und dachte: mit den Wölfen muß
man heulen; ich wunderte mich jedoch, daß auf einem so schönen Schiffe
sich kein ordentlicher Matrose verdungen hatte.
Hätte ich freilich den Grund gewußt, so würde ich keinen Fuß auf das
Fahrzeug gesetzt haben; aber als ich die näheren Umstände erfuhr, war es
zu spät; ich konnte nicht mehr fort und mußte die Reise mitmachen.
Der Kapitän war nämlich bei allen seinen guten Eigenschaften ein so-
genannter „Freigeist", sprach verächtlich von dem seemännischen „Aberglauben",
lachte über die Furcht vor dem Freitagsegeln, nannte den „Klabautermann"
und den „Kraken" Ammenmärchen und den „fliegenden Holländer" unsinniges
Geschwätz. Ja, denkt nur! Um, wie er sagte, dem Aberglauben so recht
auf den Kopf zu treten, hatte er sein Schiff nicht nur „Freitag" getauft,
sondern auch an einem Freitag den Kiel strecken und wieder an einem
Freitag es vom Stapel laufen lassen.
Das Allerschlimmste kam aber noch. Wir segelten Mittwoch in der
Osterwoche aus Vlifsingen. Das Schiff war seeklar, der Wind gut, aber
wir gingen nicht etwa in See — nein, der Kapitän legte sich ruhig auf
der Schelde vor Anker und wartete bis Karfreitag Morgen, dann erst lief
er in die Nordsee aus. Ja er rühmte sich auch noch damit und sagte, er
wolle es dem fliegenden Holländer nachmachen, hoffe aber weiter als bis
zum Kap der guten Hoffnung zu kommen.
Ich stand gerade am Steuerruder, als er dies den Steuerleuten auf
dem Hinterdeck erzählte, und sie lachten darüber, mir aber lief es eiskalt
über den Rücken. Von dem Augenblicke an wußte ich, daß ich mich auf
einem Unglücksschiffe befand, und konnte keine Stunde mehr froh werden.
Von meinen gottlosen Kameraden zog ich mich ganz zurück, und meine
einzige Freude war, den zehnjährigen Sohn des Kapitäns in seemännischen
Fertigkeiten zu unterrichten. Der hübsche muntere Knabe schloß sich eng
an mich an, und da auch sein Vater mich wohl leiden mochte, war ich in
meinen Freistunden fast immer um ihn. Ein großer Neufundländer Hund
war der dritte in unserem Bunde. Er war mit dem Knaben aufgewachsen,
sein treuer Spielkamerad und wich fast nie von seiner Seite.
Anfangs hatten wir eine so gute Reise, wie ich sie nie wieder erlebt
habe, stets das prachtvollste Wetter und günstigen Wind. Nach sechs
Wochen hatten wir bereits die Höhe des Kaps erreicht, und fast schien es,
als ob der Kapitän recht haben sollte.
Eines Mittags jedoch — es war gerade wieder Freitag — änderte
sich Plötzlich das Wetter. Der klare Himmel bezog sich mit einem gleich-
mäßigen Grau, durch welches die Sonnenscheibe bleich und strahlenlos
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blickte, und in Südwest kam eine drohende, dunkle Bank mit messerscharfen
Rändern langsam am Horizonte herauf, von der sich einzelne schwarze
Flocken ablösten und mit Blitzesschnelle über die graue Wolkendecke jagten.
Die See wurde unruhig und brach hohl und dumpf rauschend zusammen;
die Kaptauben flatterten ängstlich und in dichten Scharen über unseren
Köpfen, und die Sturmvögel kreischten, daß es uns durch Mark und
Bein ging.
Jeder von uns sah, daß schlecht Wetter im Anzuge war, und der
Kapitän ließ auch, obwohl es noch gar nicht schwer wehte, alle Leinwand
bis auf die Sturmsegel fortnehmen.
Nun war ja ein Sturm nichts so Besonderes; unsereiner macht hunderte
durch, ohne sich viel darum zu kümmern, und namentlich wir, mit einem
neuen, festen Schiffe unter den Füßen und freiem Wasser unter Lee,*)
brauchten uns nicht daran zu kehren — aber an jenem Tage war es so
anders, und jeder fühlte, daß etwas Schlimmes in der Luft lag. Die
Bank zog sehr langsam herauf; aber während sie wie eine starre Mauer
dazustehen schien, zuckte und bebte es in ihren weißgrauen Rändern, und
ein Schein wie schwaches Wetterleuchten flammte hinter ihnen auf. Dabei
hörten wir plötzlich ein seltsames Geräusch. Es war nicht das Rauschen
der See und auch nicht der Wind im Takelwerk, nein, hoch oben in den
Lüften tobte es so unheimlich, anfänglich in weiter Ferne, wie grollender
Donner, und dann näher und näher wie das Getöse einer Schlacht. O, wie
schaurig das war! Niemand von uns hatte je etwas Ähnliches erlebt.
Und nun kam die Nacht dazu, so dunkel und so schwarz. Die See brach
brüllend zusammen, und ihre Kämme schäumten in grünlichem Lichte. All-
mählich wuchs auch der Wind, und das Schiff ächzte und stöhnte unter
seinem Drucke, als ob es Leben hätte.
Ich hatte Freiwache, aber an Schlaf war nicht zu denken. Es trieb
mich mit Gewalt nach oben, und dort fand ich auch fchon die ganze Mann-
schaft. Aber heute hörte man kein Lästern und Fluchen. Schweigend
hielten sie sich an der Verschanzung fest und blickten in die Nacht hinaus.
Eine innere Angst sprach aus ihren Gesichtern, und sie waren totenbleich.
Ich glaube, es packte sie Plötzlich, daß es wieder Freitag war, und das
Tosen in der Luft rüttelte an ihren ungläubigen Herzen.
Mir selbst lag es schwer auf der Seele wie die Ahnung eines ent-
setzlichen Unglücks. Der Kapitän war einen Augenblick in die Kajüte
gegangen, um nach der Karte zu sehen; ich folgte ihm, denn mich ergriff
auf einmal eine schreckliche Angst wegen des Knaben, den ich nicht auf
*) Seemännischer Ausdruck für die Seite des Schiffes, woher der Wind nicht kommt;
Gegensatz: Luvseite, die dem Winde zugekehrte.
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dem Deck sah. Doch dieser lag schlummernd auf seinem Bett, treu bewacht
von dem Hunde, der aufmerksam die klugen Augen auf ihn gerichtet hielt.
Die friedlichen Atemzüge des Kindes beschwichtigten meine Angst, schon
wollte ich die Kammer wieder verlassen — da ertönte an Deck plötzlich
ein gellender Schrei. Der Kapitän stürzte an mir vorbei nach oben; der
Knabe erwachte und verlangte nach seinem Vater. Ich brachte ihn hinauf,
aber mein Blut erstarrte in den Adern, als ich das Deck betrat; es war
nicht mehr Nacht, sondern heller Tag. Der gelbe Schein über den Rändern
der Bank flammte wie eine Feuersbrunst und erleuchtete Schiff und See.
Das Getöse in den Lüften war furchtbar, als ob hundert Gewitter ihre
Donner entlüden, und aus der schwarzen Bank zuckten und sprühten dunkel-
rote Blitze. Dabei heulte der Sturm im Takelwerk, und die See zischte
brausend auf.
Doch das war es nicht, was jenen gellenden Angstschrei der Mann-
schaft erpreßte und uns alle in jähem Schrecken gebannt hielt — nein,
dort in der Bank das bleiche Gespenst war es, das uns das Blut aus
dem Herzen trieb. Dort kam es her über das Wasser, wie von unsicht-
barer Macht getrieben; in geisterhaftem Lichte glühten Segel und Rumpf,
an den Spitzen der Masten und Rahen hüpften die bläulichen Flammen
der Elmsfeuer*) — nein, das war kein Schiff, das war der fliegende
Holländer, der auf uns zustürmte, um Rache zu nehmen für das Segeln
am Karfreitag, für das Fluchen und Lästern der gottlosen Mannschaft, für
den Unglauben und Spott des Kapitäns.
Immer näher kam das Geisterschiff, immer höher und riesiger wuchsen
seine Formen. Wie auch der Sturm brüllte und die See sich türmte, sie
vermochte ihm nichts anzuhaben; mit vollen Segeln zog es daher, ohne
daß die Masten brachen, sein dunkler Rumpf glitt über die schäumenden
Wogen, ohne daß es schwankte. Jetzt flog es an uns vorüber, ganz nahe —
wir sahen alles genau. Das Deck war leer, kein Mensch auf ihm, aber
oben auf dem Halbdeck da stand eine Gestalt. Deutlich konnten wir die
Züge unterscheiden, das Haar flatterte im Sturme, und drohend war der
Arm gegen uns erhoben. Das war er, der fliegende Holländer, der alte
van Straten, der am Karfreitag gesegelt war, der geschworen hatte, das
Kap zu umsegeln, sollten auch Himmel und Hölle gegen ihn sein, und der
dafür in Ewigkeit auf allen Meeren kreuzen muß. Wehe dem Schiffe, dem
er erscheint! Es ist unrettbar dem Untergange geweiht. Ich konnte den
furchtbaren Anblick nicht länger ertragen; ich fiel auf die Kniee und betete.
Ich wußte, daß wir verloren waren; ich betete auch nicht für mich, sondern
für den unschuldigen Knaben — da ertönte plötzlich ein Krachen, als ob
°) Elektrische Lichterscheinungen.
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der Erdball sich spaltete, Millionen Blitze flammten am Himmel auf —
dann war es auf einmal Nacht. Das Geisterschiff war verschwunden, das
Getöse in der Luft hatte aufgehört, der Sturm schwieg, und es herrschte
einen Augenblick Totenstille; aber jetzt brannten die Elmsfeuer auf unseren
Rahen und Masten — das waren die Totenfackeln. Und wie sie so schaurig
tanzten und flackerten, da schlug der Donner einer brechenden Sturzsee an
unser Ohr — das war das Grabgeläute. Langsam wälzte sie sich heran;
ihr schäumender Kamm glühte wie ein Feuermeer — jetzt hatte er das
Schiff erreicht, brüllend rollte er darüber hin und begrub es unter seinem
kochenden Gischt.
Als ich wieder zur Besinnung kam, glaubte ich einen schweren Traum
geträumt zu haben. Es war lichter Tag, die Sonne schien hell und klar
vom Himmel herab, und das Schiff wiegte sich leise auf den Wogen.
Als ich jedoch den ersten Blick um mich warf, da wußte ich auch,
daß alles, alles furchtbare Wahrheit gewesen war. Ich befand mich noch
auf dem „Freitag", aber wie sah er aus? Die Masten waren gebrochen,
Boote und Verschanzung fortgeschlagen, das schöne Schiff ein völliges
Wrack. Mich hatte die Sturzsee durch die Thür des Halbdecks geschleudert,
dadurch war ich gerettet worden. Ich hatte sechs bis acht Stunden ohne
Besinnung gelegen, war jedoch sonst ohne ernstlichen Schaden davon-
gekommen.
Von der übrigen Besatzung war niemand da, die See hatte alle mit-
genommen in ihre dunkle Tiefe. Ich war allein übrig geblieben, allein
gerettet, aber freilich nur, um eines langsameren, desto qualvolleren Todes
zu sterben. Das Schiff befand sich in sinkendem Zustande, im Raum
hörte ich bereits das eindringende Wasser hin und her rauschen; nur noch
wenige Stunden konnte es sich flott halten, dann wurde auch ich mit ihm
im Meere begraben.
Verzweiflung ergriff meine Seele; ich hatte keine Kraft mehr, zu beten,
wie in der vorigen Nacht; schon wollte ich durch einen Sprung über Bord
meinen Leiden ein Ende machen, da fühlte ich mich plötzlich von hinten
berührt. Erschreckt sah ich mich um — es war der Hund, der seine klugen
Augen bittend auf mich gerichtet hielt. Eine freudige Ahnung durchzog
mein Herz, und die Verzweiflung verschwand.
Ein leises Wimmern an der andern Seite des Halbdecks ließ sich
hören. Der Hund lief schleunigst dorthin, und als ich ihm nacheilte, fand
ich meine Ahnung bestätigt. Dort lag mein armer Wilhelm, der Sohn
des Kapitäns, mit blutendem Haupte und soeben aus seiner Betäubung
erwacht. Wie er dorthin gekommen, wußte er nicht; als er zu sich kam,
saß sein treuer Hund neben ihm und leckte zärtlich sein Gesicht. Wahr-
scheinlich war dieser auch sein Retter gewesen, doch das Wie blieb ein
42
Rätsel. Als die Sturzsee heranrollte, hielt er seinen Vater umklammert,
dann waren ihm die Sinne geschwunden.
Mir gab jedoch diese wunderbare Rettung mein volles Gottvertrauen
wieder. Als ich den Knaben verbunden und aus sein Bett gelegt hatte
und das Deck betrat, da überraschte es mich nicht, wie ich ein Schiff mit
vollen Segeln auf uns zukommen sah. Ich wußte, daß mein Gebet in
der Nacht erhört, und daß uns Hilfe nahe war. Ein Boot holte uns
ab, ein heimkehrender Ostindienfahrer nahm uns auf das menschenfreund-
lichste auf.
Als wir an Bord des fremden Schiffes waren und noch einen Blick
nach dem „Freitag" warfen, da öffnete sich die Tiefe unter ihm, und die
Fluten schlugen über den Stümpfen der gebrochenen Masten zusammen.
Der fliegende Holländer hatte sein Opfer erlangt.
Den kleinen Wilhelm brachte ich nach Holland zu seinen Verwandten.
Er ist ein tüchtiger Seemann geworden und fährt jetzt sein eigenes Schiff,
das er zum Andenken an seinen treuen Hund „Pluto" getauft hat. Er
fährt sehr glücklich und hat wohl schon zwanzigmal ohne Unfall das Kap
umsegelt. Aber er ist kein Freigeist wie sein unglücklicher Vater und segelt
nie an einem Freitag. Reinhold Werner.
12. Mann über Äord.
Fast vierzehn Tage lang hat die Fregatte im Biscayischen Meerbusen
gekreuzt, bei Regen, Hagel und allen Attributen eines nordischen Spät-
herbstes gegen Westwinde gekämpft, sich jedoch allmählich nach Süden
gearbeitet. Das Wasser hat seine Farbe gewechselt, und dem dunklen
Grün, das die Nähe des Landes verkündet, ist tiefes Blau gefolgt, der
Widerschein des Himmels und das Kennzeichen unergründlicher Tiefe. Eine
mildere Temperatur stellt sich ein, und sie wird von jedem bei dem Ge-
danken an die ungastliche Heimat angenehm empfunden, die jetzt von Schnee
und Eis starrt.
In der Nähe der portugiesischen Küste setzt ein tüchtiger „Norder" ein
und treibt den „Seestern" mit zehn Meilen Fahrt Madeira zu. In den
Sommermonaten erstreckt sich der Passatwind bis zur Höhe dieser Insel,
aber im Winter steht er südlicher, und auf seiner Grenze herrscht unruhiges
und böiges*) Wetter. Auch die Fregatte entgeht dem letzteren nicht, die
Windstöße werden heftiger und nehmen einen stürmischen Charakter an.
Es ist gegen 11 Uhr abends und seit längerer Zeit keine Bö ein-
gefallen; die Posten werden abgelöst, der wachhabende Offizier geht in
Träumereien versunken auf dem Hinterdeck auf und ab, die Mannschaft
*) böig von Bö, d. i. plötzlicher, kurz dauernder Windstoß.
43
der Wache sitzt gruppenweise in Lee von den Booten, und ihr jüngerer
Teil horcht aufmerksam der abenteuerlichen Erzählung eines Kameraden.
Da unterbricht diese plötzlich der Angstruf: „Mann über Bord!" und bringt
alles mit Blitzesschnelle auf die Füße. Der auf der Fockrahe*) ablösende
Ausguck ist über Bord gefallen. „Hinunter mit der Rettungsboje!"**) ist
das fast gleichzeitige Kommando des Offiziers. Ein Druck des bei der
Boje stehenden Postens an einer Feder entzündet deren Licht, und die
Berührung einer zweiten Feder läßt sie von ihren Haltern in das Wasser
fallen. Die Rettungsmannschaft stürzt nach dem Leeboot, Kadett Vogel
voran. Das Boot ist im Augenblicke fertig zum Niederlassen, und auch
das Großsegel fliegt mit einer Geschwindigkeit in die Höhe, wie nie zuvor.
Heute bedarf es keiner Ermunterung, es gilt, einen Kameraden vom Tode
zu retten.
Ebenso schnell wird das Schiff an den Wind gebracht und back***)
gelegt. Der Wind ist von hinten, die Fregatte macht bedeutende Fahrt
und muß einen großen Bogen beschreiben, ehe sie zum Stillstände kommt.
Als der Kutter ff) endlich abstoßen kann, ist das Licht der Boje kaum noch
zu sehen und zittert in blassem Schimmer wie ein Irrlicht auf der dunklen
Meeresfläche. Das Boot steuert darauf zu und wird von seiner Besatzung
mit einer Kraft durch das Wasser getrieben, die Zeugnis davon giebt, wie
jeder sein möglichstes thun will, um dem Kameraden zu helfen. Eine Zeit
lang dient noch das Licht als Führer und leitet den Kutter den richtigen
Weg; allein es ist viel Zeit mit dem Beidrehen verloren worden, und ehe
das Boot den Rettungsapparat erreichen kann, ist die bleiche Flamme
erloschen. Weit ist es jedoch nicht mehr davon entfernt, und als Vogel
den Ort erreicht zu haben glaubt, läßt er innehalten mit Rudern. Der
Name des Verunglückten wird gerufen; jeder lauscht mit gespanntem Ohr,
doch alles ist still.
„Kann er schwimmen?" fragt der Kadett. „O gewiß," antwortet ein
Matrose; „Ernst Reuter schwimmt wie eine Ente." In einiger Entfernung
luvwärts ertönt jetzt ein schwacher Schrei. „Hurra, Jungens," ruft Schramm,
der Bootssteurer, „holt tüchtig aus, ich höre ihn an Steuerbord." „Horch!
das ist die Stimme des Kapitäns," sagt ein Bootsgast,ftch) „er ruft uns
zu." Der Mann hat sich nicht getäuscht. Die Fregatte hat gewendet, ihr
*) Fockrahe — die untere Segelstange am vordem Maste.
**) Rettungsring, Kranzkissen.
***) back, engl, back = zurück; back legen ---- die Segel so stellen, daß der Wind
sie von vorn trifft und das Schiff aufhält oder rückwärts treibt.
4) Boot.
ff) Bootsgast, Plur. Bootsgasten = die zur Bedienung des Bootes bestimmten
Matrosen.
I
— 44 —
dunkler Rumpf gleitet gespenstisch in einiger Entfernung an dem Boote
vorüber. Drei Laternen sind aufgezogen, sie sollen dem Kutter den Weg
zeigen, welchen der „Seestern" nimmt. „Habt ihr ihn gefunden?" hallt
die gewaltige Stimme des Kapitäns durch die Nacht. Er hat das Boot
gesehen. „Nein, Herr Kapitän!" ist die Antwort des Kadetten. „Ihr seid
zu weit gerudert, er ist mehr an Backbord;*) holt aus, so viel ihr könnt!"
Die Bootsgasten rudern mit übermenschlichen Kräften weiter nach Lee.
Es wird angehalten, um zu horchen, aber nicht der leiseste Laut läßt sich
vernehmen; nur das Rauschen der Wellen und des Windes schlägt an das
lauschende Ohr. „Pst!" macht jetzt jeder fast gleichzeitig. Ein schwaches,
dumpfes Gestöhn, scheinbar von einem Orte fast ganz in der Nähe, weht
über das Wasser. Jeder Nerv wird angestrengt, bald ist die Stelle erreicht,
doch nichts zu entdecken.
Abermals hält das Boot inne und treibt auf der Oberfläche der
Wogen, deren dunkle, mit Perlenschaum besäumte Kämme im Mondlichte
wie Silber schimmern. Einen Augenblick glaubt man denselben Schrei zu
hören, jedoch ist es nur der Ruf einer Möwe, die vom Boote aufgeschreckt
sich kreischend in die Lüfte schwingt. „Dort ist er, ich höre ihn!" ruft
Schramm, und diesmal ist es keine Täuschung. Deutlich läßt sich das
Geräusch eines Schwimmenden vernehmen. „Ruft ihn bei Namen!" sagt
Vogel, dessen Stimme vor freudiger Aufregung zittert. „Reuter, Ernst
Reuter! Hallo, mein Junge, hier ist das Boot!" ruft Schramm mit einer
Stentorstimme. Keine Antwort erfolgt.
„Es ist vorbei," sagt der Mann am vordem Riemen**) in eigentüm-
lichem Tone. „Wäre es nicht besser, wieder an Bord zu rudern? Die
Laternen des 'Seestern' entfernen sich immer mehr und sind bisweilen
schon verschwunden." „Horch, da ist es wieder!" ruft ein Bootsgast. „Ich
höre nichts," sagt der lauschende Bootssteurer. „Ich auch nicht," läßt sich
der Mann am vordem Riemen wieder vernehmen. „Wir müssen an Bord
zurück," fährt er in einem Tone fort, der fast drohend klingt. „Holt noch
einmal aus," ermuntert der Kadett die Leute, „vielleicht glückt es uns jetzt,
ihn zu finden." „Wir wollen nicht hoffen," sagt der vorige Sprecher, „daß
Sie gesonnen sind, die Nacht hier zu verbringen." „Das beste ist umzu-
kehren," äußert jetzt auch Schramm, „die Fregatte ist außer Sicht."
Der Ausdruck in den Gesichtern der übrigen Leute verkündet nichts
Gutes; doch der Kadett läßt sich dadurch nicht einschüchtern. Vogel ist
zwar leichtsinnig, jedoch energisch und hat das Herz auf dem rechten Fleck.
„Thut, was ich befehle," herrscht er den Leuten zu; „solange noch eine
*) Backbord, d. i. die Seite des Schiffes, welche man zur Linken hat, wenn man
nach dem Vorderteile desselben blickt.
**) Riemen = Ruder.
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Aussicht bleibt, soll sie nicht verloren gehn. Wir wollen noch einmal luv-
wärts versuchen." Die Leute beginnen wieder zu rudern; der Ernst des
Kadetten, der plötzlich zum Manne gereift scheint, macht liefen Eindruck.
Jedoch der frühere Eifer ist geschwunden; ein geheimnisvoller Einfluß be-
herrscht sie, und ihre düstern Mienen verkünden, mit welchem Widerstreben
sie dem Befehle Folge leisten. „Hier ist er endlich, ich sehe ihn, dicht auf
der Seite," ruft aufspringend der Kadett und stürzt in seinem Eifer, den
vermeintlichen Gegenstand zu erfassen, fast über Bord. O Gott! es ist nur
die Mütze des Armen, der Körper fehlt. Doch dieser muß in der Nähe
sein, und jeder strengt die Augen an, um den Verlorenen zu erblicken.
„Da ist er!" ertönt es aus aller Munde zugleich. Kein Zweifel mehr, der
Gesuchte schwimmt auf das Boot zu. „Frisch zu, mein Junge!" ruft ihm
der Kadett freudig zu und streckt ihm ein Ruder entgegen, „noch ein paar
Stöße, und wir haben dich an Bord."
Plötzlich stockt die schwimmende Bewegung. Kaum berührt das Ruder
die Oberfläche des Wasser, als eine Welle von Schaum das Boot über-
schüttet und es fast zum Sinken bringt. Es zittert und bebt, als sei es
zerschmettert. Niemand äußert einen Laut; die Augen sind starr vor
Schrecken, kalter Schweiß steht vor der Stirn, und eine Totenblässe über-
zieht das Gesicht. Unwillkürlich klammern sich alle an die Seiten des
heftig hin- und herschwankenden Bootes, als wollten sie es stützen. „All-
mächtiger Gott, der arme Ernst!" ruft jetzt der Bootssteurer. „Was ist
damit?" fragt der Kadett, der vergebens den vorhin gesehenen Gegenstand
zu unterscheiden sucht, aber allein seine Ruhe behalten hat. „Ein Hai!"
stößt Schramm gepreßt hervor, „seht, dort geht er." Eine grünlich schim-
mernde Masse gleitet langsam durch die dunklen Fluten. Ein unwillkür-
licher Schauder überläuft jetzt auch Vogel, und er schweigt starrend wie
die Mannschaft, deren Vernunft der Schreck gebannt zu haben scheint.
„Ah!" unterbricht endlich ein Bootsgast die Stille, „jetzt heißt es rudern
fürs Leben, wenn wir das Schiff wieder haben wollen." „Aber wo ist die
Fregatte?" sagt Schramm, sich aufrichtend und umherschauend, „ich sehe sie
nicht." Auch der Kadett springt auf und mustert mit scharfem Auge den
Horizont. Vergebens, soweit der Blick reicht, nichts als spurlose Fläche,
nur unterbrochen von den schäumenden Rücken der Wellen, die im Monden-
lichte erglänzen. Kein Mast, kein Segel ist zu entdecken; eine gleiche trostlose
Dunkelheit umgiebt das Boot. Der Stand des Mondes und die Richtung
des Windes sind die einzigen Anzeichen, wo das Schiff zu suchen ist.
„Nun, Leute, holt aus!" sagt der Kadett, „wenn wir an Bord wollen,
so müßt ihr rudern." „Ha gewiß," erwidert finster der Bootssteurer, „denn
dort unten geht einer, der sonst bald mit einigen von uns Bekanntschaft
machen würde." Vogel folgt mit dem Auge der Richtung des Sprechers
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und unterdrückt kaum einen Schreckensschrei, als er dieselbe dunkle Masse
von vorhin sich unter der Oberfläche des Wassers bewegen sieht. Ein
langer Phosphorstreifen folgt wie ein glühendes Meteor ihrem Kielwasser.
Großer Gott, es ist wirklich ein Hai!
In diesem Augenblicke beginnt der Wind stoßweise zu wehen. Dunkle
Wolkenmassen verdecken den Mond, der bisher noch eine gewisse Helle
verbreitet hat, und um die Verwirrung vollständig zu machen, scheinen die
Leute nicht mehr den Befehlen des Kadetten gehorchen zu wollen. Sie
scheuen sich nicht, zu murren und ihm Vorwürfe zu machen, daß er sie in
das Unglück gebracht habe. Doch Vogels ganze Willenskraft ist wach-
gerufen, er fühlt das Kritische seiner Lage und darf nicht wanken. „Ruhe!"
befiehlt er gebieterisch, „rudert ordentlich und haltet Schlag, oder ich bringe
euch alle vor ein Kriegsgericht, wenn wir an Bord kommen." „Ich möchte
wohl wissen, wann das ist!" äußert in höhnischem Tone, wenngleich etwas
eingeschüchtert, der Mann am vordern Riemen, doch unwillkürlich fallen
die Riemen wieder in Tdkt; der Gehorsam ist erschüttert, aber doch nicht
geschwunden.
Da zuckt ein heller Blitz am Horizonte auf, der Donner eines Schusses
folgt ihm und rollt in dumpfem Echo über die Wasserfläche. „Hurra das
Schiff!" jubelt die Bootsmannschaft; augenblicklich ist die Disziplin wieder-
gekehrt, und die Leute rudern mit äußerster Anstrengung der Richtung zu,
aus welcher der Schuß ertönte. Bald sind sie in Schweiß gebadet, doch
das Boot scheint an den Ort gebannt zu sein und nicht von der Stelle zu
kommen. Wiederum ist nichts zu sehen als die unendliche, weglose Meeres-
fläche, nur Wasser und Himmel überall.
Jetzt rauscht abermals ein donnerndes Tosen über das Meer, doch
diesmal kommt es von luvwärts. Das bis dahin ziemlich ruhige Wasser
erhält plötzlich eine wallende Bewegung, und ein orkanähnlicher Windstoß,
eine Wolke von Gischt vor sich hertreibend, stürmt auf das Boot los. Die
Ruder sind überflüssig geworden, das Boot fliegt dahin vor der Bö, wie
ein welkes Blatt vor dem Herbststurme. Seiner Besatzung bleibt nichts
übrig, als zu erwarten, was Gott über sie verhängt. Der Schaum der
Wogen spritzt hoch empor und verdunkelt wie ein Nebel die Luft noch
mehr. Der Ozean kocht, und am Himmel ballt sich schwarzes Gewölk zu
drohenden Massen. Der Kutter ist halb mit Wasser gefüllt und kann
nur mit größter Mühe flott gehalten werden. Jeder erwartet das augen-
blickliche Sinken.
Der qualvolle Zustand des Todeskampfes erschöpft die letzten Kräfte
der Leute; sie fühlen, daß es bald mit ihnen zu Ende gehen muß. Ihre
irrenden Blicke starren bald auf die schäumenden Wogen, bald auf den
düstern Himmel, der ihnen keine Rettung verheißt Ihre Gesichter, die
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hundertmal im Sturm und Schiffbruch nicht gezuckt, die mit eiserner Ruye
den feindlichen Geschossen im Kampfe entgegenblickten — sie sind jetzt bleich
und entstellt. Das Antlitz des Todes grinst sie an, des Todes in seiner
fürchterlichsten Gestalt.
Neben dem feurigen Streifen, den das Kielwasser des Bootes macht,
zieht sich noch ein zweiter. Es ist der Hai, der dem Kutter folgt — er
wittert Beute! Gräßlicher Gedanke, in dem Rachen eines Hai sein Grab zu
finden! Gebete, Flüche und Gesang mischen sich mit dem Tosen des Wetters.
Schramm ist der einzige der Besatzung, der ruhig bleibt, doch er
murmelt: „Ich wußte es wohl, Freitag segeln bringt nimmer etwas Gutes."
Der Kadett sitzt schweigend in dem Chaos, das ihn umgiebt. Wie oft auch
sein Name in Verbindung mit den Flüchen genannt wird, — er ist sich
bewußt, als Mann gehandelt, seine Pflicht gethan zu haben, und erwartet
deshalb gefaßt sein Schicksal.
Da spaltet sich auf einmal das schwarze Gewölk, ein betäubender
Donnerschlag erschüttert die Luft, die Schleusen des Himmels scheinen sich
zu öffnen, und der Regen gießt in Strömen hernieder. Die Gewalt der
Bö ist gebrochen, und der Wind legt sich. Aus den sich teilenden Wolken
tritt strahlend in tiefem Himmelsblau die goldene Scheibe des Mondes
und beleuchtet mit friedlichem Glanze die Scene des Schreckens. Neues
Leben strömt in das Herz der Geängsteten, und die Flüche verwandeln
sich in heiße Dankgebete.
Sieh, dort, kaum einige tausend Schritte entfernt, schimmern auch die
weißen Segel der Fregatte. Sie hat das Boot gesehen und hält nach
ihm ab. Ein Blitz zuckt aus ihren Pforten, ein Schuß erkracht und rollt
wie ferner Donner über die Wogen.
Sie sind gerettet! Drei Hurras begrüßen das neugewonnene Leben,
und die Bitterkeit der Todesstunde ist für diesmal an ihnen vorüber-
gegangen. Reinhold Werner.
III. Deutsche Sagen.
13. Wode, -er wilde Jäger.
Ihr habt wohl zuweilen von dem Mode gehört, dem wilden Jäger,
der nachts durch Wald und Feld streunt*) und ruft: „Hallo, hoho! Halt
den Mittelweg! Halt den Mittelweg!" Dieser war vor langen, langen
Zeiten ein großer Fürst im Sachsenlande, der viele Burgen und Schlösser
und Dörfer und Forsten hatte.**) Er liebte von allen Dingen in der Welt
*) S. v. a. streift, jagt.
**) Nach der ältesten Sagenform steckt im wilden Jäger der altdeutfche Gott Wodan selbst.
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am meisten die Jagd und lebte mehr in den wilden Wäldern als auf
seinen Schlössern; er war überhaupt eines jähen und wütigen Gemütes
und ein rechter Zwingherr. Dieser Fürst hat Unthaten begangen, die man
für Fabeln aus der allerältesten und allergrausendsten Heidenzeit erklären
möchte. So hat er einen Bauer, der auf einen Hirsch schoß, welcher ihm
sein Korn abweidete, ohne alle Barmherzigkeit lebendig auf den Hirsch fest-
schmieden und das wilde Tier so mit ihm in den Wald laufen lassen.
Da ist das geängstete Tier mit dem armen Manne so lange gelaufen und
hat ihm Leib und Haupt und Schenkel an den Bäumen und Sträuchern
so lange jämmerlich zerquetscht und zerrissen, bis zuerst der Bauer tot war,
dann auch der Hirsch hinstürzte. Für solche greuliche Thaten hat der
Unhold endlich auch seinen verdienten Lohn bekommen. Auf der Jagd
ging sein Pferd mit ihm durch und rannte so gewaltig gegen eine Buche,
daß es den Augenblick tot hinfiel, dem Reiter aber an dem Baume das
Gehirn in tausend Stücke zerstob. Und das ist nun seine Strafe nach dem
Tode, daß er auch noch im Grabe keine Ruhe hat, sondern die ganze Nacht
umherschweifen und wie ein wildes Ungeheuer jagen muß. Dies geschieht
jede Nacht, Winter und Sommer, von Mitternacht bis eine Stunde vor
Sonnenaufgang, und dann hören die Leute ihn oft „Wod! Wod! Hohoi
Hallo! Hallo!" schreien; davon wird er selbst an manchen Orten der Wode
genannt.
Der Wode sieht fürchterlich aus, und fürchterlich ist auch sein Aufzug
und Gefolge. Sein Pferd ist ein schneeweißer Schimmel oder ein feuer-
flammiges Roß, aus dessen brausenden Nüstern Funken sprühen. Darauf
sitzt er, ein langer, hagerer Mann in eiserner Rüstung; Zorn und Grimm
funkeln seine Augen, und Feuer fliegt aus seinem Angesicht; sein Leib ist
vornübergebeugt, weil es immer in hallendem, sausendem Galopp geht,
seine Rechte schwingt eine lange Peitsche, mit welcher er knallt und sein
Wild aufjagt oder auch auf das verfolgte haut. Wütende Hunde ohne
Zahl umschwärmen ihn und machen ein fürchterliches Getöse und Geheul;
er aber ruft von Zeit zu Zeit drein: „Wod! Wod! Hallo! Hallo! Halt
den Mittelweg! Halt den Mittelweg!" Seine Fahrt geht meistens durch
wilde Wälder und öde Heiden, und in der Mitte der ordentlichen Straßen
und Wege darf er nicht reiten. Trifft er zufällig auf einen Kreuzweg, so
stürzt er mit Pferd und Mann und Maus fürchterlich über Kopf und
rafft sich weit jenseits erst wieder auf; doch auch die, welche er jagt, dürfen
diesem Kreuzwege nicht zu nahe kommen. Und was für Wildbret jagt er?
Unter den Tieren alles diebische und räuberische Gesindel, welches zur
Nachtzeit auf Mord und Beute schleicht, Wölfe, Füchse, Luchse, Katzen,
Marder, Iltisse, Ratten und Mäuse, und von Menschen Mörder, Diebe,
Räuber, Hexen und Hexenmeister und alles, was von dunkeln und nächt-
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lichen Künsten lebt. So muß dieser Bösewicht, der im Leben so viel
Unglück anrichtete, es gewissermaßen im Tode wieder gut machen. Er hält,
was die Leute sagen, die Straße rein; denn wehe dem, welchen er bei
nächtlicher Weile auf verbotenen Schleichwegen oder im Felde und Walde
antrifft und der nicht ein gutes Gewissen hat! Wie mancher muß wohl
zittern, wenn er sein „Hoho! Hallo! Halt den Mittelweg! Halt den Mittel-
weg!" hört. Denn gewöhnlich jagt er, was er vor seine Peitsche nimmt,
so lange, bis es die Zunge aus dem Halse streckt und tot hinfällt.
Arndt.
14. Die Uabenschlacht.
I.
Zehn Winter waren vergangen, seit König Dietrich von Bern, der
starke Held, der durch seinen Oheim Ermanrich von Romaburg schändlich
gezwungen worden war, Urfehde zu schwören und mit seinen Helden auf
zehn Jahre das Land zu meiden, bei König Etzel im Hunnenlande die
gastlichste Aufnahme und wegen seiner glücklichen Heerfahrten die größte
Ehre gefunden hatte. Nun, nach Ablauf der gesetzten Frist, zog er aus
auf die Wiedergewinnung seines Landes, begleitet von dem Heerhaufen
seiner Amalungen und einer Schar Hunnen, an deren Spitze Erp und
Ortwin, Etzels junge Söhne, und Dietrichs Bruder Diether unter dem
Schutze des besonnenen Helferich daherritten, während einen dritten Zug
der edle Markgraf Rüdiger führte. Alle waren erfüllt von froher Zu-
versicht, daß es ihnen im Kampfe mit Ermanrich nicht mißlingen könne;
sie hofften, für Dietrich sein Reich, für sich aber Ruhm und Ehre zu
erstreiten.
Ohne Unfall hatte Dietrich mit seinem Heere die Berge überstiegen.
Da die beschworene Frist abgelaufen war, hätte er sein väterliches Erbe
wieder zu besetzen versuchen können, ohne seinem Oheim Fehde zu verkün-
digen; aber seinem Heldensinne widerstrebte das. Er sandte daher, als er
kaum am Fuße der Berge angelangt war, zwei Boten an Ermanrich und
ließ melden, daß er und sein Bruder Diether nun heimreiten wollten in
das Land der Amalungen und mit einem großen Heere kämen; wenn
Ermanrich ihnen das Land wehren wollte, so möge er ihnen mit seinen
Mannen bei Ravenna entgegenkommen.
Die Boten ritten Tag und Nacht, so schnell sie nur konnten, und da
sie vor den König in Romaburg traten, richteten sie ihren Auftrag aus:
daß Dietrich sich nicht in sein Land stehlen wolle, sondern ihm offen Fehde
ankündige. Da lachte Ermanrich laut auf, und ohne die Boten eines
Blickes zu würdigen, sprach er zu Sibich, seinem arglistigen Ratgeber:
„Mein Neffe bleibt doch, solange er lebt, ein Narr. Hätte er mit dem
Lesebuch für höhere Lehranstalten. (Prcuß. Ansg.) III. 4
I
50
Hunnenheere uns überrascht, so hätte er uns Schaden zufügen mögen.
Nun wollen wir uns schon seiner krummbeinigen Gesellen erwehren. Laß
seinen Läufern, Sibich, für die nützliche Botschaft, die sie uns gebracht
haben, Trank und Speise und gute Kleider zukommen; sie haben's um
uns verdient."
Sobald die Boten weggeritten waren, ließ Ermanrich den Befehl über
sein ganzes Land ergehen, daß jeder Mann, der die Waffen tragen könnte,
sich nach Ravenna begeben und unter Wittichs Führung stellen sollte. Und
als die Zeit verstrichen war, begaben sich auch der König und Sibich nach
Ravenna. Da fanden sie ein großes Heer versammelt, und dessen Anführer
Wittich sprach: „Nie habe ich in so kurzer Zeit ein stärkeres Volk zusammen-
gebracht; mögen die Hunnen, die Stülpnasen, nur kommen — wir sind
bereit, sie zu empfangen. Nur bitte ich dich, mein König, mich nicht deinem
Neffen gegenüberzustellen; erlasse mir den Kampf gegen diejenigen, die
meine Blutsfreunde gewesen sind." Da antwortete Ermanrich: „Mein guter
Freund Sibich, du sollst mein Banner führen und mit dem dritten Teile
des Heeres gegen Dietrich kämpfen; es wäre männlich, wenn du diesen
Kampf so entschiedest, daß du sein Schwert Eggesax gewännst. Denn meine
Neffen Dietrich und Diether müssen in diesem Streite erschlagen werden;
auch dürfen Etzels Söhne nicht mit dem Leben davonkommen. Du, Wittich,
sollst mit dem andern Drittel gegen die Hunnen kämpfen; das letzte Drittel
aber soll Randolt gegen Rüdiger von Bechlaren führen. Wenn ihr Dietrich
und seine Gesellen im offnen Felde geschlagen habt, so sind sie verloren;
denn unsere Burgen sind alle so fest verschlossen, daß sie sich nirgends
hineinwerfen können, sie müssen auf der Flucht hingemäht werden wie reife
Ähren." Fröhlich erwiderte Wittich, daß er nun mit gutem Mut in den
Kampf gehe, und die Söhne Etzels zu besiegen und zu töten, werde für
ihn eine Lust sein. Auch Sibich war mit den Anordnungen seines Königs
von Herzen einverstanden, aus seinem Auge leuchtete boshafte Freude; denn
schon dämmerte in seinem erfindungsreichen Kopfe eine List auf, durch
welche sein Gegner Dietrich zu Fall gebracht werden sollte.
Inzwischen rückten die Amalungen so eilig, wie sie nur vermochten,
gegen Mittag vor. Die festen Burgen waren ihnen verschlossen, aber sie
hofften, daß diese sich ihnen sogleich ergeben würden, wenn sie erst im
offnen Felde Ermanrichs Heer geschlagen hätten. Darum stand ihr Sinn
darauf, sobald wie möglich zur Feldschlacht zu kommen, und Hildebrand,
Dietrichs treuester Waffengefährte, gönnte sich nicht einmal die Zeit, am
Gartensee vorzusprechen und Frau Ute und sein Söhnlein aufzusuchen.
So gelangten sie bald in die Gegend von Ravenna und schlugen ihr
Lager in der Nähe der Feinde auf. Es war ein milder und weicher
Frühlingsabend, doch brach das Dunkel frühzeitig herein, trübe Wolken
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verdeckten allen Sternenschimmer des Himmels. Bald war in dem Lager
der Amalungen und der Hunnen tiefe Ruhe eingetreten; alles schlief, nur
die Wachtmänner spähten vorsichtig in das Dunkel hinaus. Meister Hilde-
brand aber vermochte nicht der Ruhe zu Pflegen; Sorge um den Ausgang
des folgenden Tages hielt ihn lange wach, und endlich erhob er sich leise,
nahm sein Roß und ritt in die Dunkelheit hinaus, um die Stellung der
Feinde zu erspähen.
Es war so finster, daß selbst fein scharfes Auge nichts von dem
erkennen konnte, was weiter als drei Schritte vor ihm lag. So ritt er
leise und behutsam vorwärts, sein gutes Schwert immer in der Rechten
haltend. Da hemmte er plötzlich den Schritt seines Pferdes, sein scharfes
Ohr glaubte einen ihm entgegenkommenden Huftritt vernommen zu haben.
Lcharf horchte er in die Nacht hinaus, er hatte sich nicht geirrt, der
Huftritt kam näher und näher. Er umklammerte fester den Griff seines
Schwertes. Da tauchte aus dem Dunkel der Kopf eines Rosses auf,
unmittelbar danach ein bewaffneter Reiter. „Halt!" rief Hildebrand; „wer
bist du, der hier so eilig durch die finstre Nacht reitet?" Das Pferd des
Angerufenen stutzte und that einen Satz zur Seite, der Reiter aber brachte
es rasch zum Stehen und erwiderte: „Ich brauche dir nicht meinen Namen
zu sagen, du reitest ja allein wie ich. Dich aber frage ich nicht erst nach
deinem Namen, weil ich dich an der Stimme kenne: du bist Hildebrand,
König Dietrichs Waffenmeister." Da antwortete der andere: „Du sprichst
wahr, ich bin es, der beste Freund König Dietrichs; das will ich vor dir
nicht und vor keinem Menschen verhehlen. Aber ich erkenne nun auch dich,
Randoll. Du bist unser Gegner und mußt dich morgen mit uns schlagen,
aber ich weiß, daß du es ungern thust und uns freundlich gesinnt bist.
So laß uns diese Nacht noch gute Freunde sein, wie wir es vordem in
Bern waren, als du mit einer Botschaft von Ermanrich dorthin kamst."
Da freute sich Randolt und reichte dem Meister Hildebrand, indem er sein
Schwert in die andere Hand nahm, die Rechte, und beide begrüßten sich
so herzlich, als lebten sie im tiefsten Frieden.
Randolt lenkte sein Roß herum und ritt an Hildebrands Seite auf
Ermanrichs Lager zu. Eben ging die Mondsichel am östlichen Himmel
auf, und da sich auch die Wolken etwas verzogen, so ward das nächtliche
Dunkel mehr und mehr gelichtet. „Sieh," sprach Randolt, „es ist gut, daß
wir uns getroffen haben. Meine Heergesellen glauben, daß ich in tiefem
Schlafe liege, aber ich ritt heimlich aus in der Hoffnung, daß ich dich oder
einen andern der Wölfinge fände. Über das Heer, das dort am weitesten
nach Westen liegt, ist der böse Sibich gesetzt; er möchte am liebsten, wenn
es sich so fügt, gegen Dietrich reiten, um seinem tödlichen Hasse gegen die
Amalungen zu genügen, und wir andern gönnen ihm gern diese Auszeichnung,
4*
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denn weder Wittich noch ich möchten gegen euch kämpfen. Wir würden
uns wahrlich nicht grämen, wenn der Schurke Sibich, der seinen König
gegen alle seine Blutsfreunde verhetzt, in diesem Kampfe fiele; die Erde
trüge dann ein Scheusal weniger. Dort die Mitte des Heeres nimmt
Wittich ein; er ist, wie du weißt, ein trefflicher Kämpe, und in der Schlacht
würde er auch euer nicht schonen, aber er hat sich's ausgebeten, nicht gegen
euch zu kämpfen, sondern gegen die Königssöhne aus Hunnenland. Er ist
ein hochstrebender Held, und es mag sein, daß er gegen euch nicht recht
gehandelt hat, aber er bewahrt euch noch immer die alte Liebe, und es
würde ihm hart dünken, gegen einen von euch zu streiten." „Sprich mir
nicht von der Liebe dieses Meineidigen," warf Hildebrand grimmig ein;
„ich selbst habe mit ihm Blutsbrüderschaft geschlossen, aber er hat die Treue
schmählich gebrochen. Die Furcht des bösen Gewissens ist's, die ihn nicht
den Amalungen entgegentreten läßt." Randolt widersprach nicht, sondern
fuhr fort: „Dort am weitesten gegen Aufgang der Sonne, dem Meere
zunächst lagert mein Heer. Aber auch ich möchte viel lieber gegen die
Hunnen, als gegen euch kämpfen. Mich schmerzt tief euer Zerwürfnis mit
Ermanrich, und ich würde mit Freuden Bern feinem rechtmäßigen Könige
zurückgeben, aber mich bindet mein Eid." „Wackrer Freund," erwiderte
Hildebrand, indem er ihm die Hand drückte, „ich verstehe deinen edlen
Sinn. Aber es soll alles geschehen, wie du es wünschest; der Zufall hat
es gut gefügt, daß wir nicht gegeneinander das Schwert zu ziehen brauchen.
König Dietrich mit den Amalungen lagert am weitesten gegen Niedergang
der Sonne, er wird am liebsten gegen seinen Erzfeind Sibich kämpfen;
wir haben Frieden mit Ermanrich, wenn es uns gelingt, seinen hündischen
Ratgeber in der Schlacht zu fällen. Die Mitte unseres Heeres nehmen
die Söhne Etzels ein, aber mit ihnen ist der junge Diether, und zu Rat
und Beistand haben sie Helferich. Da wird es dem meineidigen Wittich
doch nicht erspart bleiben, gegen die Wölfinge zu streiten. Dir selber steht
der edle Markgraf Rüdiger gegenüber; du wirst die Kraft seines Armes
und die Kühnheit seiner Pläne bald erleben."
So sprachen sie noch manches miteinander, dann aber nahmen sie
herzlich Abschied; Hildebrand ritt nachdenklich gen Norden, Randolt aber
kehrte heiteren Mutes in sein Lager zurück. Doch ehe er es erreichte,
begegnete er Sibich mit zahlreichen Mannen, und er erzählte ihm von
seinem Zusammentreffen mit Hildebrand, und daß nun Sibichs Wunsch,
Dietrich selber zum Gegner zu haben, sich erfülle. Kaum hatte jener die
Nachricht vernommen, als er seinen Mannen zurief: „Wohlauf, verfolgen
wir den Meister Hildebrand! Wenn wir den einsamen Reiter überfallen
und niedermachen, so gilt das so viel, als ob wir über ein Heer den Sieg
gewännen." Aber Randolt griff dem Rosse Sibichs in den Zügel und
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sprach zornig: „Willst du Hildebrand nachreiten und ihn erschlagen, so sollst
du eher mit mir kämpfen als mit ihm, und ich denke, daß, ehe du ihm
nahest, du manchen Mann lassen mußt." Da antwortete Sibich: „Randolt,
willst du König Ermanrichs Feind werden? Er setzte mich zum Häupt-
linge dieser Heerfahrt. Und du willst unsern Feinden beistehen?" Aber
Randolt erwiderte: „Ich will nicht König Ermanrichs Feind werden, ihm
hab' ich Treue geschworen. Aber ich kann dir und deinen Mannen nicht
gewähren, daß ihr Hildebrand erschlagt, da er allein von dannen reitet.
Morgen kannst du gute Gelegenheit haben, ihn in der Schlacht zu treffen."
Auf diese Worte fügte sich der schlaue Sibich, aber er ritt dahin, wo er
Wittich noch wach in seinem Zelte wußte, erzählte ihm von Randolts
Zusammentreffen mit Hildebrand und teilte ihm den listigen Plan mit,
den er lange erwogen hatte: „Du kannst dir wohl denken, guter Freund,
daß ich ebenso wenig wie du Lust trage Dietrich persönlich zu begegnen;
mich verlangt nicht, in solcher Weise seinen Eggesax kennen zu lernen. Ich
habe eine ganz andre List ersonnen. Sobald die beiden Heere zusammen-
gestoßen sind, geb' ich meiner Schar alsbald das Zeichen zu fliehen.
Dietrich wird sofort uns verfolgen. Nach kurzer Zeit sammeln wir uns,
als wollten wir ihm wieder standhalten. Aber kaum hat der Kampf be-
gonnen, so lass' ich wieder zur Flucht blasen. Dadurch wird es uns ge-
lingen, die Amalungen weit nach Süden zu locken. Inzwischen werdet ihr,
du und Randolt, leichtes Spiel haben mit den Hunnen, und wenn ihr sie
niedergemacht oder zersprengt habt, so verfolgt ihr Dietrich, und sein Heer
wird zwischen euch und uns wie zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben."
„Dein Plan ist gut," erwiderte Wittich düster; „nur hoffe ich, daß du
schließlich als Mühlrad deine Schuldigkeit thust und die Amalungen auf-
reiben hilfst." Damit schieden sie voneinander, um bis zum Sonnen-
aufgange der Ruhe zu pflegen.
II.
Ein blutiges Morgenrot führte den nächsten Tag herauf. Noch ehe
die Sonne aufgegangen war, hatte Dietrich seine Reiter geordnet. Er war
prächtig anzuschauen, wie er die Reihen entlang flog auf seinem Hengst G
Falke; seine Auge strahlte von Kampfeslust, sein Schwert Eggesax funkelte
im Morgenrot. Seinen Mannen rief er zu: „Wohlauf, liebe Gesellen,
heute gilt's, hitzig und mannhaft zu kämpfen. Ihr habt oft gegen Milzen
und Friesen und Dünen gestritten nur um der Ehre willen, und nie habt
ihr eine Niederlage erlitten; heute streiten wir um unser Land und Erbe,
und wenn wir siegen, so treten wir Tücke und Untreue danieder. Nun
bewähret mir eure Treue und kämpfet tapfer!" Bei diesen Worten schlugen
alle an ihre Schilde, und fröhliche Rufe erschollen.
54
Als Dietrich aber sah, daß auch die Hunnen alle gerüstet dastanden,
ließ er seine Hörner erklingen, und die kriegerischen Töne pflanzten sich
weiter fort durch die Reihen der Hunnen, bis sie kaum noch sein Ohr
erreichten. Da setzten sich die drei Heerhaufen in Bewegung, und sie ritten
kühnlich ihren Feinden entgegen. Diese empfingen sie kampfbereit, und
bald erklang das ganze Feld von Hufgestampf und Schwerthieben und
lauten Rufen. Dietrich und die Seinen drangen unwiderstehlich in Sibichs
Scharen hinein; der König selbst brauste wie auf Flügeln des Sturmwindes
hierhin und dorthin, um seinen Feind Sibich zu erspähen, aber der war
nirgends zu schauen, jedenfalls war er nicht unter den Vorkämpfern. Plötzlich
erscholl hinter der Schlachtreihe Ermanrichs ein Horn, und auf dies Zeichen
wandte sich der ganze Heerhaufen Sibichs zur Flucht. In wildem Rennen
ging es südwärts, aber hinter den Fliehenden jagten die Amalungen daher,
und wen sie erreichten, der mußte um sein Leben kämpfen.
So wurden die Amalungen durch Sibichs feige List immer weiter
vom Hauptkampfplatze entfernt, indem sie ihren Feinden fortwährend ver-
nichtende Schläge versetzten und dadurch zur weiteren Verfolgung angefeuert
wurden. Indessen kämpften Wittich und Randolt tapfer gegen die ihnen
gegenüberstehenden Hunnen. Wittich erschlug Rüdigers Sohn, den jugend-
lichen Nudung, der das Banner der Söhne Etzels trug, und das stolze
Feldzeichen, das die Königin Helche ihren Knaben mitgegeben hatte, sank
in den Staub. Das sah Ortwin, der den riesigen Heerführer der Feinde
leicht an Hammer und Zange auf dem Schilde erkannte, und er rief
Helferich zu: „Siehst du, wie der böse Hund Wittich unsern Mannen
Schaden zufügt? Da hat er eben unsern guten Nudung erschlagen. Reiten
wir hin, ihm das zu vergelten!" Und mit wildem Ungestüm ritt er auf
Wittich zu, Helferich aber blieb ihm treu zur Seite. Da entspann sich ein
furchtbarer Kampf; von der einen Seite stritten Wittich und sein Banner-
träger Runge, von der andern der noch zarte, aber von edlem Mute ent-
flammte Ortwin und der Wölfing Helferich. Zornglühend hieb Ortwin
auf Wittich ein; der erfahrene Streiter fühlte wohl die Kraft seines jugend-
lichen Gegners, aber ruhig fing er die Schläge mit seinem Schilde auf,
4 bis er plötzlich den Mimung schwang und, eine Blöße am Halse erspähend,
ihm das Haupt vom Rumpfe trennte. Mit einem wilden Schrei ließ jetzt
Helferich von Runge ab, um sich auf Wittich zu stürzen; aber es dauerte
nur einen Augenblick, da war auch er den Streichen Mimungs erlegen.
Da stürmten Diether und Erp auf die beiden Sieger zu, um ihren
Bruder zu rächen. Diether kämpfte gegen den riesigen Runge und zeigte,
welche Kraft in ihm lebte; lange blieb der Streit zwischen dem Jünglinge
und dem gereiften Manne unentschieden, denn beide schlugen sich mit
ebensoviel Geschick wie Heldenmut, aber endlich sauste das Schwert des
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Amalungen mit einem so furchtbaren Hiebe auf den Helm des Gegners,
daß das Eisen Helm und Haupt spaltete und in den Backenzähnen stecken
blieb. Runge sank lautlos zu Boden, Diether aber rief jauchzend: „So
soll jeder Gegner die Kraft meines Armes fühlen!" Doch wie entsetzte
er sich, als er sich umsah; während seines Kampfes gegen Runge hatte
Wittich den zweiten Königssohn erschlagen. Da erfaßte ihn ingrimmige
Wut, und er lenkte sein Roß gegen Wittich; er wollte seine Pflegebrüder
rächen oder sein Leben lassen. „Nun stehe mir," rief er zornig, „und büße
deine Schuld gegen meinen Bruder Dietrich." Doch Wittich ließ seinen
Schimming einen Sprung zur Seite machen und rief: „Bist du Diether,
der Bruder des Königs von Bern? Ja, ja, ich erkenne dich an deinen
Zügen. Reite hinweg an eine andere Statt und schlage dich mit andern
Männern! Um deines Bruders willen möchte ich dir keinen Schaden thun."
Aber Diether antwortete zornglühend: „Sprich mir nicht von Schonung,
du Verräter! Schon was du an meinem Bruder gethan hast, verdient
zehnfachen Tod. Und nun, da du meine beiden Pflegebrüder erschlagen
hast, will ich nicht leben, es sei denn, daß ich Rache für sie nehme. Du
oder ich! einer von uns beiden muß fallen." Und damit drang er noch
heftiger und grimmiger als zuvor auf Wittich ein. Dieser kämpfte ruhig
und ohne Zorn; er begnügte sich, die Hiebe des kühnen jungen Kämpen
aufzufangen, aber er vergalt sie nicht. Da hieb aber Diether aus aller
Macht auf den Helm Limme; doch der war so hart, daß kein Stahl härter
war. Das Schwert sprang ab und fuhr hernieder auf den Sattelbogen,
es streifte dabei Schimming am Halse, und das Blut spritzte heraus. Da
rief Wittich: „Nun thue ich etwas, wovon ich wahrlich glaubte, daß ich es
nimmer thun würde; aber große Not erfaßt mich, ich muß nun mein Leben
lassen oder dich erschlagen." Und er packte mit beiden Händen den Griss
seines Mimung und schwang sein Schwert von oben auf Diether, also daß
er ihn mitten durchspaltete und die beiden Stücke zu Boden sanken.
So waren die drei jungen Königssöhne und ihr Schützer Helferich
gefallen. Als das die Hunnen sahen, erhoben sie ein Jammergeheul, und
da nun Wittich mit seinen Scharen auf sie eindrang, hielten sie nicht länger
stand, sondern wandten sich zu regelloser Flucht. Da wurde alles nieder-
gestochen oder erschlagen, was von Wittich und seinen Gesellen ereilt ward,
und weit und breit war das Feld bedeckt von hunnischen Leichen und
herrenlosen Pferden, nirgends aber war mehr ein Streiter zu sehen, der
noch Widerstand leistete.
Inzwischen hatten auch Randolts und Rüdigers Scharen tapfer mit-
einander gekämpft. Sogleich im Beginne der Schlacht stießen der Banner-
träger Wolfhart und Randolt zusammen. Aber sie erkannten sich sofort,
und der hochgemute Wolfhart rief: „Laß uns eingedenk bleiben, Randolt,
56
daß wir vor zehn Wintern in Bern Blutsbrüderschaft miteinander geschlossen
haben. Für uns beide giebt es genug der Feinde, die wir erschlagen
können. Nur in der grimmigsten Not sollen Blutsbrüder sich bekämpfen.
Denkst du wie ich, so meiden wir heute einander." Und Randolt erwiderte
fröhlich: „So soll es sein, mein Bruder. Schlimm genug, daß ich deine,
du meine Freunde bekämpfen mußt. Aber wir wollen die beschworene
Treue halten. Zum Unterpfande biete ich dir mein Schwert, gieb du mir
das deinige." Und beide lösten die Wehrgehänge und tauschten die Schwerter.
Dann nickten sie einander zu und suchten sich andere Gegner.
Lange wogte der Kampf zwischen Rüdigers und Randolts Scharen
unentschieden hin und her. Aber als der mittlere Heerhaufen, den die
Königssöhne geführt hatten, völlig vernichtet war, stürzten sich auch Wittichs
Gesellen auf Rüdiger, und dieser bekam jetzt einen schweren Stand gegen
die furchtbare Übermacht. Verzweifelnd schaute er sich um, wo Dietrich
mit den Amalungen bliebe; aber weit und breit war von ihnen nichts zu
sehen. Und bald erfuhr er auch die schmerzliche Kunde, daß sein Sohn
Nudung nicht nur, sondern auch Diether und Etzels Söhne gefallen wären.
Ihre blutigen Rosse waren eingefangen worden, ein Hunne führte sie dem
Markgrafen Rüdiger vor. Da stöhnte er schwer auf, und wie er Wolfhart
an seiner Seite gewahrte, rief er ihm zu: „Gieb mir das Banner und reite
so schnell, wie du vermagst, um Dietrich und die Amalungen einzuholen.
Sage ihnen, es sei die höchste Zeit, uns zu Hilfe zu kommen; Diether
und die Königssöhne seien von Wittich erschlagen und ihr Heerhaufe ver-
nichtet, jetzt hätten wir gegen die vereinigte Macht von Randolt und Wittich
zu kämpfen." Und Wolfhart gab ihm das Banner und warf sein Pferd
herum und hieb durch die Feinde sich Bahn, um Dietrich nachzueilen.
Rüdiger aber, sein Banner hoch in der Linken haltend, drang mit Er-
bitterung auf Randolts Scharen ein und hauste mit seinem guten Schwerte
erbarmungslos; es gelang ihm noch, den feindlichen Bannerträger zu fällen,
aber da ward sein Pferd von Randolt erstochen, und das sterbende Tier
riß ihn mit zu Boden. Über ihn hin gingen die Hufe der Rosse, und
ihm schwanden die Sinne.
III.
Dietrich hatte inzwischen Sibich und seine Scharen verfolgt, bis diese
sich hinter eine feste Mauer flüchteten, wo sie für die Reiter unangreifbar
waren. Da kehrten die Amalungen um, zwar unwillig über Sibichs Feig-
heit, aber doch zufrieden mit dem schweren Schaden, den sie ihm zugefügt
hatten. Sie eilten jetzt dem Schlachtfelde wieder zu; was sie in der Hitze
der Verfolgung nicht bedacht hatten, fiel ihnen nun schwer aufs Herz, die
Sorge um die beiden andern Heerhaufen. Da begegnete ihnen auf keuchendem
57
Renner Wolfhart, sein Gesicht glühte vor Aufregung und Zorn. Schon
von ferne rief er Dietrich zu: „Eile, eile, mein König! Nudung und dein
Bruder und Etzels Söhne samt Helferich sind erschlagen, ihre ganze Schar
ist vernichtet. Das alles hat der böse Wittich gethan. Und jetzt bedrängt
er mit Randolt den Markgrafen Rüdiger. Eile, um zu rächen und zu
retten!" Da antwortete Dietrich: „Welch ein böser Tag ist über mich
gekommen, daß keine Waffe auf mir heute haftete und ich keine Wunde
habe, dafür aber sind mein Bruder und meine liebsten Freunde erschlagen!
Nun will ich sie auch rächen, oder ich will sterben." Und er befahl Hilde-
brand, mit seiner Schar ihm so schnell wie möglich zu folgen; er selbst
aber flog voran auf seinem Falke. Aller Vorsicht vergessend, nur von
Schmerz und Wut erfüllt, strich er wie ein Sturmwind dahin, um das
Schlachtfeld zu erreichen.
Als er schweißtriefend dort ankam, war von seinen verbündeten Scharen
nichts mehr zu sehen; was nicht hingestreckt am Boden lag, war in wilde
Flucht versprengt. Ein unsägliches Weh zog ihm durchs Herz, aber ohne
sich einen Augenblick zu besinnen, flog er dahin, wo er Wittichs Banner
gewahrte. Ihn selbst erkannte er bald an seiner weißen, strahlenden Rüstung
und dem Helm Limme. „Nun halte mir still, du Schuft," rief er von
ferne, „nun will ich meinen Bruder und meine Freunde an dir rächen!"
Aber kaum hatte Wittich die Donnerstimme seines gefürchteten Feindes
erkannt, da überkam ihn eine Angst, wie noch nie im Leben. Er warf
seinen Schimming herum und flog dahin so schnell wie eine Taube. Und
nun gab es ein Schauspiel, so wunderbar, daß die andern Krieger sich
nicht rührten, sondern wie vom Donner getroffen dastanden. Die Hufe
Schimmings schienen kaum den Boden zu berühren, in weiten Sätzen flog
er gen Sonnenaufgang. Aber auf den Fersen folgte ihm Falke, und man
hätte jeden Augenblick glauben sollen, daß er ihn überholen würde. Dietrich
rief dem verfolgten Wittich zu: „Nun warte, du Kraftreicher, laß mich deine
Mannheit schauen! Bist du ein Held, so stehe mir!" Aber jener dachte:
„Ich hüte mich zu warten," und gab seinem Schimming die Sporen. Und
abermals rief Dietrich: „Wenn du nicht ein Feigling heißen willst, so
warte; ich kann ohne Streit von dir nicht scheiden." Aber Wittich ritt
schneller und schneller, und sich niederbeugend rief er Schimming ins Ohr:
„Hafer und lindes Heu sollst du haben, wenn du mir das Leben rettest."
Und sein Hengst machte noch weitere Sprünge als zuvor. Aber auch
Dietrich spornte seinen Falke, daß das Blut aus den Flanken sprang, ihm
flammte das Antlitz, er war anzuschauen, als wäre er der Donnergott
selber. Nun waren sie dem Meere nahe gekommen, und verzweifelnd
schaute Wittich sich flüchtig um; wie er aber das furchtbare Aussehen seines
Verfolgers gewahrte, hetzte er sein Roß zu immer wilderen Sprüngen.
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Ta sah er, wie vor ihm im Wasser eine Meerfrau auftauchte; er erkannte
seine Ahnmutter Waghilde, und als sie mit traurigem Blicke ihre Arme
ausbreitete, wie um ihn zu empfangen, da setzte er in seiner Todesangst
in die See hinein, und Waghilde führte ihn samt seinem Rosse an den
Grund des Meeres. Dietrich verfolgte ihn noch ins Wasser hinein, bis
an den Sattelknopf umspülten ihn die Wogen; da aber tauchte die Meer-
göttin wieder auf und rief ihm zu: „Wolle nicht das Unmögliche, starker
Dietrich! Meinen Enkel habe ich an mich genommen, er wird nie mehr
auf die Erde zurückkehren. Du kehre um und walte dessen, was die Nomen
dir beschieden haben. Du wirst dein Erbe wiedergewinnen, aber nicht auf
dieser Heerfahrt. Noch furchtbare Kämpfe mußt du schauen, ehe du den
Sieg gewinnst, der dir gebührt."
Langsam und traurig ritt Dietrich zurück, um seine Gesellen wieder
aufzufinden. Er achtete es nicht, daß Scharen von Feinden ihn um-
schwärmten; das Leben war ihm in diesem Augenblicke gleichgiltig. Es
war ihm nicht genug, Wittich für immer beseitigt zu wissen; das fraß ihm
am Herzen, daß er ihn nicht mit eigner Hand erlegt hatte zur Rache für
seinen Bruder und Etzels Söhne. Obgleich er aber so langsam dahinritt,
wagte doch keiner der Feinde sich an ihn heran; den Helden, vor dem der
starke Wittich geflohen war, getraute sich niemand anzugreifen. So erreichte
er seine Gesellen wieder, als die Sonne des heißen Tages schon sank. Er
erzählte den Seinigen von Wittichs wunderbarem Verschwinden und von
der Weissagung des Meerweibes; also schloß er seine Rede: „Unser Sieg,
ihr Freunde, ist unsere Niederlage gewesen; weil wir zu hastig unsern
Vorteil über den schlauen Sibich verfolgten, ist es Randolt und Wittich
gelungen, das hunnische Heer zu vernichten. Die Schar der Amalungen
ist zu klein, um sich im Felde gegen Ermanrichs Heer zu verteidigen, und
die Burgen sind alle von den Feinden besetzt. So bleibt uns nichts übrig,
als unser Land abermals zu meiden und auf bessere Zeiten zu hoffen.
Aber wie werden uns Etzel und Helche empfangen?"
Traurig hörten Hildebrand und seine Gesellen Dietrichs Worte. Zwar
wagte noch der rasche Wolfhart einen Widerspruch, indem er rief: „Wer
wird uns im offnen Felde besiegen?" Aber Hildebrand sagte fest und
bestimmt: „Ein rühmloses Räuberleben könnten wir diesseits der Berge
noch lange fristen, uns in Wäldern bergend und wie die Wölfe daraus
hervorbrechend, aber nie könnte Dietrich so die Herrschaft über sein Land
wiedergewinnen. Weise ist der, welcher die Grenzen seiner Macht erkennt.
Wahl ist es demütigend, nach erfochtenem Siege geschlagen heimzukehren,
aber Dietrich hat recht: fügen wir uns in die Notwendigkeit."
Da gedachte Wolfhart des edlen Markgrafen Rüdiger, und er rief
laut: „Was ist aus unserm Rüdiger geworden? Als er mich fortsandte,
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war er noch unverwundet. Sollte auch dieser treffliche Held gefallen fein?"
Und Dietrich sprach: „Weder von ihm noch von manchem andern wissen
wir, ob er auf der Walstatt liegt, oder ob ihn die Flucht gerettet hat.
Auch ist vielleicht in manchem, der wie tot gebettet ist, noch ein Lebens-
funke. Reite zu Randolt, Wolfhart, und bitte ihn um Waffenstillstand,
daß wir das Walfeld absuchen und unsere Toten bestatten, die aber, welche
von ihren Wunden nur ohnmächtig sind, aufheben und hinwegführen."
Und schnell ritt Wolfhart dahin, wo er feinen Blutsfreund Randolt
fand. Dieser begrüßte ihn mit Jubel, und da er die Bitte Dietrichs ver-
nahm, sprach er: „Gern vergönn' ich euch wackern Helden, was ihr begehrt.
Vor uns habet Frieden, das Walfeld abzusuchen. Zum Glück ist Sibich
zu weit geflohen, als daß er heut abend zurückkehren könnte, und Ermanrich
kann schon darum Ravenna nicht verlassen, weil kein Roß ihn mehr trägt.
So bin ich hier unumschränkter Herr, und ich ehre eure Tapferkeit, wie
euer Unglück."
Mit dankendem Gruße ritt Wolfhart zu den Seinen, die Botschaft
zu melden. Da stiegen die Amalungen von ihren Rossen, und sie sonderten
sich in kleine Häuflein, um die blutige Walstatt zu durchforschen. Dietrich
fand zuerst die Leiche des treuen Helferich, dann auch die der Söhne Etzels
und Nudungs und des jungen Diether. Bei ihrem Anblicke weinte der
Held von Bern und rief klagend aus: „Ach mein Bruder, daß dich so
jung die Walküre in Wodans Halle geführt hat! Wie große Thaten hättest
du vollbringen können, wenn die Nornen dir längeres Leben beschieden
hätten! Mit Vaterstolz schaute ich auf deine blühende Jugend, aber der
Stamm der Amalungen soll ja wohl verdorren." Und wieder auf die
Leichen Erps und Ortwins blickend rief er schmerzlich: „Was wird Helche
sagen, wenn sie die Kunde von eurem frühen Tode empfängt? Ich hätte
lieber meine linke Hand verloren als euch, meine Schützlinge. Weh mir,
daß ich ohne euch heimkehren muß!" Auch seinen treuen Gesellen Helferich
und den jungen Nutzung beklagte er mit heißen Thränen. Bei allen diesen
Leichen nach einer Spur von Leben zu forschen wäre eitel gewesen; Wittichs
Mimung hatte allzu scharf geschnitten. Aber Dietrich winkte seinen Knechten,
und sie legten die Gefallenen nebeneinander in einer Reihe, um sie vor
Einbruch der Nacht zu bestatten. In Heldenehren sollte ihre Asche auf der
Walstatt ruhen.
Inzwischen waren Hildebrand und Wolfhart mit ihren Nachforschungen
glücklicher. Sie fanden den Markgrafen Rüdiger, auf ihm lag sein totes
Roß. Aber nachdem sie diese Last von ihm abgewälzt hatten, erkannten
sie sofort, daß noch Leben in ihm sei. Von keinem Schwerthiebe war er
verletzt, nur von den Pferdehufen, die über ihn hinweggegangen waren,
blutete fein schönes Antlitz aus mehreren Wunden. Hildebrand nahm ihm
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den Helm ab und legte sein Haupt sich in den Schoß; Wolfhart aber lief
eilig, bis er an eine Quelle kam, aus der er den Helm füllte. Dann
wuschen sie die Wunden Rüdigers und flößten ihm kühles Wasser in den
Mund. Endlich schlug er die Augen auf, und seine Freunde erkennend
sagte er leise: „Wo ist mein Sohn Nudung?" Aber er bedurfte der Ant-
wort nicht; indem er sich umschaute, kehrte ihm das volle Bewußtsein
zurück und er rief schmerzlich: „O Jammer, Jammer, wenn Väter ihre
blühenden Söhne begraben! Auf meinen Nudung hatte ich alle meine
Hoffnungen gesetzt. Er sollte größere Thaten vollführen als ich, er sollte
mehr, als ich es konnte, eine Leuchte der Welt sein. Nun dunkelt alles
um mich." Und er schloß die Augen wieder, und kraftlos sank sein Haupt
zurück in Hildebrands Schoß. Aber die Wölfinge ließen nicht ab von
ihren Bemühungen seine Lebensgeister anzufachen. Er richtete sich wieder
auf und fragte: „Wie geht es Dietrich? wo ist er?" Und als er erfahren
hatte, *daß jener lebe und gesund sei, glitt ein Schein von Freude über
seine schönen Züge, und er rief: „Solange Dietrich lebt, ist noch nicht
alles verloren. Wohl uns, daß sein Stern noch glänzt!"
So wurden beim Absuchen der Walstatt noch manche dem Tode ent-
rissen, die Leichen aber trugen die Amalungen in mehrere Haufen zu-
sammen, um sie auf hochgetürmten Scheitern zu verbrennen. Als der
Abend hereinbrach, sah man weithin die Holzstöße flammen; um sie be-
wegten sich hohe Gestalten mit düsteren Mienen. Kein Angriff der Feinde
störte sie in ihrem ernsten Thun, Randolt hielt seine Scharen in straffem
Gehorsam.
Über den Feuerstätten wölbten die Amalungen in der Nacht hohe
Erdhügel, und mit feierlichem Gesänge umschritten sie die Gräber, welche
die Überreste ihrer Kampfgesellen enthielten. Nachdem sie den Toten also
die gebührenden Ehren dargebracht hatten, pflegten sie während der noch
übrigen Nacht der Ruhe, um sich für die bevorstehende traurige Rückfahrt
zu stärken. H. Keck.
15. Hildebrand und Hadubrand.
Dreißig Jahre lang war der alte Hildebrand, Dietrichs Waffenmeister
und treuer Begleiter, außer Landes gewesen; nun ritt er seinem Könige voraus
gen Bern, voll Verlangens seinen Sohn zu sehen, den ihm seine Gattin Ute erst,
nachdem er mit Dietrich ins Hunnenland geflohen war, daheim geboren, den
er also noch nie von Auge zu Auge geschaut hatte. Schon erblickte er von fern
die Zinnen der Burg, als ihm an der Spitze einer gewaffneten Schar ein statt-
licher Ritter in glänzender Rüstung entgegenritt; Hadubrand war es, Hilde-
brands Sohn. Kampfgerüstet hielten beide ihre Rosse an. Hildebrand rief
dem Recken zu: „Wer ist dein Vater, oder von welchem Geschlecht bist du?
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Wenn du mir einen nennst, kenne ich die andern; kund ist mir alles Erden-
volk." Hadubrand antwortete: „Das sagten mir unsere Mannen, alte und
erfahrene, daß Hildebrand mein Vater hieß; ich heiße Hadubrand. Ost-
wärts zog jener flüchtend mit Dietrich und vielen seiner Degen. Schutzlos
ließ er im Lande die Gattin; nie schaute ich meines Vaters Antlitz. Der
Degen wertester war er bei Dietrich, stets stand er an des Heervolkes
Spitze, als Held bekannt war er kühnen Männern. Nicht wähne ich, daß
er noch am Leben sei." „Gott vom Himmel ruf' ich zum Zeugen," ver-
setzte Hildebrand, „daß du noch nie mit so nah verwandtem Manne hast
Worte gewechselt. Ich bin dein Vater." Damit zog er vom Arme ge-
wundene Goldringe, die ihm der König der Hunnen zum Lohn gegeben,
und bot sie Hadubrand zum Geschenk und Willkommen. Hadubrand aber
entgegnete: „Mit dem Ger soll der Mann Gabe empfangen. Du bist,
alter Hunne, ohnemaßen schlau, du lockst mich mit deinen Worten, um
mit dem Speer mich zu treffen. In Trug und Tücke bist du alt ge-
worden. Seefahrer kündeten mir, die von Osten übers Meer kamen, daß
Kampf meinen Vater hinweggerafft; tot ist Hildebrand, Heribrands Sohn."
Wie nun der Ritter dem alten Recken nicht Glauben schenken mochte und
vielmehr ihn zum Zweikampf forderte, da seufzte Hildebrand schwer und
rief: „Weh, welch böses Geschick naht sich mir nun! Wohl manchen Winter
und Sommer weilte ich fern der Heimat und bestand rühmlich so manchen
Kampf; nun ich heimgekehrt bin, soll mich mein leiblicher Sohn mit der
Waffe erschlagen oder ich ihm zum Mörder werden! Doch bin ich nicht
so feige, dir den Kampf zu weigern, da so sehr dich danach gelüstet. Ver-
suche ein jeder, wem es beschieden sei, heute zu siegen oder zu fallen!"
Da ließen die beiden zuerst ihre Eschenspeere gegeneinander sausen,
mit solcher Kraft, daß sie in den Schilden staken. Dann sprengten sie
gegeneinander und hieben so heftig mit den Schwertern drein, daß ihre
Schilde bald zerspalten wurden. Mit gewaltigem Schlag traf Hildebrand
seines Sohnes Brünne (Panzer) und schlug ihm eine tiefe Wunde. Da
rief Hadubrand: „Nimm hin mein Schwert, dir kann ich nicht länger
standhalten!" und hielt ihm die Waffe entgegen. Der Alte streckte die
Hand aus, um Hadubrands Schwert zu ergreifen; da hieb dieser arglistig
nach Hildebrands Hand. Zornig riß der Alte den Schild empor und rief:
„Ein Weib lehrte dich diesen Schlag." Dann stürzte er sich mit solcher
Wucht auf Hadubrand, daß dieser zu Boden ffel. Ingrimmig rief der
Jüngling aus: „Ewige Schande ist's mir, von dir altem Graubart besiegt
zu werden." Hildebrand aber setzte ihm vom Rosse springend die Schwert-
spitze auf die Brust und sprach: „Willst du dein Leben behalten, so sage
mir, ob du wirklich Hadubrand bist, Hildebrands Sohn. Ich bin Hilde-
brand." „Bist du Hildebrand, mein Vater, so bin ich Hadubrand, dein
62
Sohn," versetzte der Jüngling. Da sprang Hildebrand schnell auf, hob
den Besiegten in die Höhe und küßte ihn. Mit freudigem Stolze be-
trachtete Hildebrand seinen stattlichen Sohn, Hadubrand seinen schwert-
gewaltigen Vater. Dann bestiegen sie ihre Rosse, und indem ihre gewaff-
neten Scharen in heller Freude sich zu einander gesellten, führte Hadubrand
froh den wiedergekehrten Vater zu Ute, seiner Mutter. Sie kam ihnen
entgegen; als sie Hadubrands Rüstung von Blut rot sah, rief sie aus:
„Mein Sohn, wer schlug dir solche Wunde?" „Gern will ich diese Wunde
ertragen," rief Hadubrand, „obwohl sie gar tief ist. Hildebrand schlug sie
mir, mein Vater; hier steht er vor dir!" Freudenthränen entquollen Utes
Augen, als sie das hörte; froh eilte sie auf Hildebrand zu und schlang
glückselig beide Arme um den Hals des Gatten, den sie schon längst als
tot beweint hatte. Dann verband sie mit kundiger Hand sorgsam des
Sohnes vom Vater geschlagene Wunde. Nach Adolf Lange.
16. Gudrun.
a) Wie Gudrun sich mit Herwig verlobte.
In uralten heidnischen Zeiten herrschte über die Friesen, die den
langen Festlandssaum und die Inseln der Nordsee bewohnten, der reiche
und mächtige König Hettel. Seine Gemahlin war die schöne Hilde, die
Tochter des starken Königs Hagen von Irland. Viele Helden waren ihm
Unterthan, aber unter allen ragte hervor der riesige Wate, der bei den
Dietmaren und den Stormarn im Namen Hettels gebot; nächst ihm
waren die mächtigsten der Mannen der sangeskundige König Horand von
Dänemark und dessen Vetter, der listige Frute. Auch Morung von Nif-
land und Jrolt von Ortland leisteten dem Friesenkönige Heeresfolge. Wenn
Hettel seine Boten sandte und zum Streite rief, dann sammelten sich von
fern und nah seine Helden, und es wimmelte am Strande der Nordsee
von buntbemalten Barken, und stolz prangten die Banner der kühnen
Seefahrer. Aber Hettel war auch ein milder König, und gern bewirtete
er von seinem Reichtum die treuen Mannen; oft berief er sie zu fröhlichen
Festen, und dann erklang in der hohen Burg die Harfe des Dänenkönigs
Horand, und die schöne Hilde lauschte gern seinem wundervollen Sange,
oder sie lachte heiter ob der Späße des alten Wate, der ebenso launig
im Verkehr mit den Mannen wie grimmig im Kampfe mit den Feinden war.
Zwei herrliche Kinder waren dem Königspaare erwachsen. Das ältere
war Gudrun, die mit ihren edeln Zügen und ihrer hohen Gestalt das Eben-
bild ihrer Mutter war. Wie ein taufrischer Frühlingsmorgen lag die
Anmut der Jugend auf den Wangen und Lippen des lieblichen Kindes,
das goldgelbe Haar und die blauen Augen waren ihr Erbteil vom Vater.
63
Wenn sie mit feuchtem Blicke und halbgeöffnetem Munde vornübergebeugt
dem Sange ihres Oheims Horand horchte, dann mochte man ahnen, welch
ein Gemüt in den Tiefen ihrer Seele lag; wenn sie aber mit dem wunder-
lichen greifen Wate scherzte und Kurzweil trieb, dann blitzte ihr Kraft und
schalkhafter Übermut aus dem Auge, und jeder erkannte sogleich, daß sie
die Schwester Ortwins sei. Denn dieser, ihr jüngerer Bruder, strahlte
von Gesundheit und Stärke, und wer ihn fechten und schirmen sah, konnte
leicht merken, daß in ihm die unverwüstliche Art seines Großvaters, des
wilden Hagen von Irland, nicht verloren sei. Dem alten Wate lachte das
Herz, wenn Ortwin in jeder Art von Sprung und Stoß den Meister zu
erreichen suchte; denn er selbst hatte nach dem Wunsche der Eltern den
Knaben im Stürmeland erzogen. „Der junge Bär," pflegte er mit behag-
lichem Brummen zu sagen, „fängt an das Mark in den Knochen zu fühlen."
Gudrun selber wußte von ihrer Schönheit nichts, denn niemand hatte
ihr davon ein Wort gesagt, aber weit und breit erscholl der Ruf von ihrer
Lieblichkeit und ihren Tugenden. Auch dem König Siegfried von Moor-
land ward kund, daß sie die schönste und herrlichste aller Jungfrauen sei,
und weil er sich selbst für so mächtig hielt, daß keiner sich seiner Kraft
vergleichen durfte, warb er um ihre Hand. Aber die stolzen Eltern ver-
sagten ihm die Tochter; sie scheine ihnen zu hehr, ließen sie dem König
Siegfried durch seine Abgesandten sagen, als daß sie in Sumpf und Moor
Unkenkönigin werden solle. Da schwur der beleidigte Werber sich zu rächen.
Auch im fernen Lande der Normannen ward bekannt, kein Weib auf
Erden sei so schön wie Gudrun, König Heitels Tochter. Der Normannen-
könig Ludwig und seine Gemahlin, die stolze Gerlinde, hatten schon längere
Zeit bedacht, daß es Zeit sei, ihren Sohn Hartmut zu vermählen; nun
kam der ehrgeizigen Mutier der Gedanke, ihrem Hause noch höheren Glanz
zu erwerben durch die Verbindung Hartmuts mit der weitgepriesenen Tochter
des mächtigsten und reichsten Königs. Der alte Ludwig schüttelte den
Kopf zu dem Vorschlage: ihm deuchte es gefährlich, in so weite Ferne
Boten zu senden, denn Hettel und Hilde seien stolz und sie würden ihr
Kind nicht auf Nimmerwiedersehen von sich lassen. Aber dem Drängen
der ehrgeizigen Gerlinde und dem Verlangen Hartmuts gab endlich Ludwig
nach, und er sandte sechzig auserlesene Helden mit kostbaren Geschenken ins
Land der Friesen. Als diese um die Hand der Königstochter warben, da
erwiderte die stolze Hilde: „Mein Vater Hagen gab dem König Ludwig
hundert Burgen zu Lehen; wie mag er sich denn unterfangen, meine
Tochter für seinen Sohn zu begehren? Der ist ihr nicht ebenbürtig, sie
wird nie sein Weib. Braucht er eine Königin, so mag ihm sonstwo die
Werbung glücken." Da zogen die Boten in Scham und Sorge ab, und
Hartmut biß sich in die Lippe, als er die üble Antwort vernahm; weil er
64
aber von den Boten hörte, daß Gudrun noch schöner und lieblicher sei,
als der Ruf künde, gelobte er sich, was seiner Bitte versagt sei, mit Gewalt
zu ertrutzen. Die stolze Gerlinde aber warf einen ingrimmigen Haß auf
die Jungfrau, die sie nie gesehen hatte.
Inzwischen hatte auch der starke und edle König Herwig im nieder-
ländischen Seeland von Gudruns Schönheit und Tugend gehört, und da
er in die Jahre kam, daß er einer Königin bedurfte, so beschloß er um
sie zu werben. Wohl wäre er Hettel und Hilden als Eidam willkommen
gewesen, denn er war reich und mächtig, und sein Land grenzte an das
ihrige, sodaß sie öfter ihre Tochter hätten wiedersehen können; aber Hettels
Mannen erzählten, daß Herwigs Ahnen nicht lauter Könige gewesen seien.
Das hörten die Eltern ungern, denn was sie sonst von dem Freier ver-
nahmen, lautete nur zu seinem Lobe; aber weil es ihnen unmöglich deuchte,
ihre Tochter einem Manne von geringeren Ahnen hinzugeben, so ward
auch Herwigen ein abschlägiger Bescheid. Das kränkte den feurigen jungen
Mann, und rasch zum Zorne entbot er Hetteln, er werde nicht ablassen
mit der Werbung, durch den Tod manches Friesen gedenke er den Wert
seiner Ahnen zu erweisen, durch blutige Fehde wolle er Gudrun gewinnen.
Und schnell, ehe noch zu Wate und Horand der Waffenruf gelangen konnte,
brach er mit dreitausend Mannen in das Nachbarland ein und begann das
wilde Spiel des Krieges.
Hettels Helden schliefen noch in der hohen Königshalle; da rief in
der kühlen Morgenffühe ein Wächter von den Zinnen herab: „Auf, auf,
ihr Helden, zu den Waffen! Wir haben fremde Gäste, ich seh' den Glanz
von manchem Helme leuchten." Da sprangen die Recken von ihrem Lager
und stürmten vor die Burg, um im offnen Felde den schlimmen Gästen zu
begegnen; aber ihrer waren zu wenige, und immer weiter wurden sie
zurückgedrängt. Allen voran stürmte Herwig, der auf die Helme der Feinde
schlug, daß die Funken stoben; mit Bangen sahen von der Burgmauer
Hilde und Gudrun dem Kampfe zu, aber die Jungftau konnte sich doch
einer süßen Lust nicht erwehren, wie sie den feindlichen Helden in seiner
Jugendkraft und Schönheit vor allen herrlich sah. Jetzt mußten die Friesen in
das Burgthor sich zurückziehen, aber es war zu spät, die Pforte zu schließen,
mit ihnen zugleich drangen Herwig und seine Mannen ein. Da sprang
König Hettel seinem Widersacher entgegen; vor ihren Scharen kämpften die
beiden Könige, und die Mannen ließen den Streit ruhen, um das herr-
liche Schauspiel zu bewundern.
Da sausten die Schwerter wie der Wind so schnell, aber im Schlage
wußte sich jeder zu schirmen; dicht wie Hagelschauer fielen die Schläge,
doch Helm und Schild fingen sie auf, und die Funken sprühten, wie wenn
glühendes Eisen auf dem Amboß gehämmert wird. Solchen Gegner hatte
65
König Hettel nicht vermutet; der Schweiß troff ihm hernieder, und hier
und da quoll ihm aus einer leichten Schramme das Blut. Da trat er
einen Augenblick zurück und rief bewundernd aus: „Wahrlich, wer mir
diefen Recken nicht zum Eidam gönnte, der kannte ihn noch wenig; an
feinen Hieben merk ich, er ist ein echter Königssohn." Diefen Augen-
blick erspähte Gudrun, die vom hohen Söller*) herab dem wunderbaren
Kampfe zugeschaut hatte, und angstvoll rief sie: „Hettel, lieber Vater, dir
rinnt das Blut zu Boden; o denket mir zuliebe beiderseits auf Frieden;
gönnt euern Gliedern eine kurze Waffenruhe; inzwischen mag König
Herwig uns von feinen Ahnen künden." Als das der Held von Seeland
hörte, ließ er fein wuchtiges Schwert sinken; indem er aber zu der schönen
Jungfrau emporsah, rief er: „Friede kann zwischen uns nicht fein, es fei
denn, daß Ihr mich ungewaffnet in die Burg einlasset; soll dieser Friede
gellen, so mögt Ihr mich fragen, was Ihr immer wollt." Freudig sagte
Hettel zu; der Kampf ward geschieden, und die Helden wuschen sich am
Brunnen des Hofes unter der alten Linde die entwaffneten Glieder vom
Schweiß und Staub des heißen Straußes. Dann trat Herwig, von König
Hettel geleitet, in die Burg, und er ward vor Hilde und Gudrun geführt.
Mit edler und feiner Sitte verneigte er sich vor den Frauen, dann
sprach er zu Hilden gewandt: „Man hat mir gesagt, hohe Königin, daß du
mich um geringerer Ahnen willen verschmäht hast; verlangst du bessere
Probe, als daß ich deinen Gemahl im Kampfe bestanden habe?" Ihm
erwiderte die stolze Hilde: „Wer dich, o König Herwig, verschmähte, wäre
thöricht gesinnt; du hast dich als echten Helden gezeigt." Da erbat der
Recke sich die Gunst, um Gudrun werben zu dürfen, und willig gewährten
ihm die Eltern die Bitte. Er trat vor Gudrun und sprach: „Willst du
mich lieben, schöne Magd**), und mir eigen sein, so will ich mit allen
Sinnen dir dienen, und über mein Land und meine Leute sollst du als
Königin gebieten." Und leise, aber fest erwiderte sie: „Ich will es gern
gestehen, ich bin dir hold. Du hast so um mich geworben, daß ich den
Haß zwischen dir und meinem Geschlechte versöhnen will. Nimm mich hin,
ich will dir Freude bereiten." Da verlobten Hettel und Hilde ihr schönes
Kind dem starken Helden von Seeland.
Als aber Siegfried von Moorland von der Verlobung Gudruns hörte,
fiel er sengend und brennend in Herwigs Land ein, und Hettel, an dessen
Hofe eben die aus heißem Kampfe entsprungene Verschwägerung durch ein
glänzendes Fest gefeiert worden war, zog samt seinen Güsten dem Eidam
zu Hilfe.
*) Söller = Vorbau im obern Stockwerke, Balkon.
**) D. t. Jungfrau.
Lesebuch für höhere Lehranstalten. (Preuß, Ansg.) III
6
66
t>) Die Schlacht auf dem Wülpensande.
Während so das Land der Hegelingen von Helden entblößt war, kamen
voll heißen Rachedurstes Hartmut und König Ludwig von Normannenland
mit Schiffsmacht angefahren, brachen die Friesenburg und führten Gudrun
mit hundertsechzig Jungfrauen hinweg, darunter auch die Königstochter
Hildeburg aus Irland, ihre liebste Freundin. Als Hildes Boten an Hettel
und Herwig diese trübe Mär meldeten, schlossen diese auf Wates Rat
sogleich Frieden mit Siegfried, und dieser selbst erklärte sich bereit, mit
ihnen die Räuber zur See zu verfolgen.
Noch ehe die Sonne im Mittag stand, hatten Siegfrieds Schiffe die
Friesen wie die Helden von Moorland aufgenommen. Frute kannte genau
die Wasserstraße, welche die Normannen gefahren sein mußten; er ließ die
Segel ansetzen, und in fliegender Eile brausten die Barken durch die
schäumenden Wogen. Auch nachts ließ er keine Ruhe; er kannte zu gut
die Pfade des Meeres, und er selber stand am Steuer der ersten Barke,
die sicher wie ein Pfeil durch die bewölkte Sommernacht dahinschoß. Da
gewahrte er am Rande des Horizonts vereinzelte Lichter; Sterne konnten
es nicht sein, er spannte alle Kraft des Auges an, die hellen Punkte zu
prüfen. Plötzlich wandte er sich zu Hettel und Herwig und rief: „Es
sind die normannischen Räuber; sie sind am Wülpensande vor Anker ge-
gangen; ihre Lagerfeuer verraten sie. Sie haben zu lange der Ruhe ge-
pflogen; nun sollen sie zu harter Arbeit erwachen."
Als der Morgen dämmerte, sah ein normannischer Schiffsgesell Barken
mit vollen Segeln heranführen. „Wohlauf," sprach da Hartmut, „da kommen
meine grimmen Widersacher." Ludwig aber rief laut seine Mannen an: „Ein
Kinderspiel war, was bisher gethan. Nun erst gilt es, mit guten Helden
zu streiten. Wer fest zu meiner Fahne steht, den mache ich reich für immer."
Die Schiffe legten so nah an, daß man mit dem Speerschaft vom
Bord an den Strand langte. Lange dauerte es, bis im Handgemenge alle
Friesen und die von Moorland festen Fuß gefaßt hatten; von der Sterbenden
Blut sah man das Meer in roter Farbe fließen, so weit hinaus, daß es
niemand mit einem Speer überschießen konnte. Dann aber drangen die
Helden auf dem Werder vor, um die geraubten Frauen zu erreichen; vor
allen wüteten Ortwin, Gudruns Bruder, und Morung auf dem Schlacht-
felde, indem sie mit dem Schwerte breite Furchen pflügten. Die Speere
waren von beiden Seiten verschossen, aber noch wurden von den guten
Schwertern der Helme viel verhauen. Je weiter aber die Normannen zurück-
getrieben wurden, destd mehr wuchs ihre verzweifelte Kraft; sie wußten
nicht, wohin entrinnen, darum tobten sie wie Bären, denen der Rückzug
versperrt ist. Über den Mittag hinaus, bis gegen Sonnenuntergang, wogte
67
der Kampf hin und her, auf beiden Seiten trat Ermüdung ein, aber an
Flucht war auf keiner Seite zu denken.
Da stießen die beiden Könige Ludwig und Hettel aufeinander. Von Zorn
erglühend rief Hettel: „Du feiger Räuber, gieb mir meine Tochter zurück!
Wenn nicht, dann zeige, daß du Helden zu stehen vermagst!" Höhnend
sprach Ludwig dagegen: „Du hast einstmals Hägens Tochter durch deine
Helden rauben lassen, aber bei dem Wagnis bliebst du selber klug daheim;
wie hast du jetzt dich auf den Wülpenfand gewagt, wo der Wind von
scharfen Schwertern geht?" „Der wilde Hagen," rief Hettel, „hat meine
Waffe erprobt und an mir einen ebenbürtigen Gegner gefunden; du trägst
Lehen von König Hagen, deinen feigen und knechtischen Sinn hast du im
heimlichen Überfall meiner Burg bewährt." Da schrie der alte Ludwig
ergrimmt: „Knabe, dein lästerndes Maul verschließ' ich heut für immer.
Erprobe, was ein Heldenfchwert vermag!" Und mit furchtbarer Wucht fuhr
feine Waffe auf König Hettel nieder; aber der wußte sich zu, schirmen,
und wie ein Blitz fauste sein gutes Schwert auf die Helmfpangen Ludwigs.
Lange kämpften die erbitterten Gegner ohne Entscheidung; die Funken
sprühten von den Schlägen, und ihr Raffeln klang, als wenn ein Hagel-
schauer auf Felsenplatten niedergeht. Um die Helden herum ruhte der
Kampf; alle genossen erwartungsvoll und gespannt der Augenweide, welche
die beiden Könige boten. Wohl bangte mancher der Friesen, ob Heitels
Kraft dem furchtbaren Arm feines Gegners standhalten würde, aber keiner
wagte den Kampf zu scheiden; der allein es gedurft hätte, der alte Wate,
er mähte den Feind an einer weit entlegenen Stelle. Endlich ermüdete
Heitels Arm; das erspähte Ludwig, und nachdem er ihm lange von oben
dröhnende Schlüge geschlagen, schwang er plötzlich seitwärts fein breites
Schwert, und es fuhr Hetteln durch die Brünne*) tief in den Hals hinein.
Ein roter Blutstrahl sprang hervor, und Hettel stürzte taumelnd nieder in
den Sand. Die Friesen aber erhoben gellende Wehklage um ihren Herrn.
Als der alte Wate des Königs Tod vernahm, brüllte er grimmig auf,
und wie ein Eber begann er zu Haufen. Auch der kühne Ortwin wollte
feinen Vater rächen; wie wenn er plötzlich Königsmark in den Gliedern
fühlte, so drang er mit mächtigen Sprüngen und wuchtigen Schlägen auf
die Normannen ein. Und Herwig und Horand und Mornng und Jrolt,
sie fühlten alle die Ermattung nicht mehr, der heiße Zorn gab ihren Armen
wieder Schnellkraft, und der Kampf entbrannte mit größerer Wut als je
am ganzen Tage.
Selbst da es zu nachten begann, tobte die Schlacht noch in unentwirr-
baren Knäueln. Da rief Herwig endlich laut über das Feld: „Hier wird
') Panzer.
5*
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die Schlacht zum Mord. Seit das Tageslicht geschwunden ist, erschlagen
wir Freund und Feind. Währt es so bis zum Morgen, wird nicht der
dritte Mann lebendig gefunden." Den Augenblick nützte der kluge Frute,
um die Streitenden zu scheiden; bis es wieder tage, sollten die Waffen
ruhen, dann aber die letzte Entscheidung folgen.
Ungern gehorchten ihm die grimmigen Helden; mit müden Händen
trennten sie sich. Doch blieben beide Haufen einander fo nahe gelagert,
daß die einen im Scheine der Feuer Schilde und Helme der andern
glänzen sahen.
Da berieten sich Ludwig und Hartmnt heimlich zu entfliehen, und ihr
Rat gefiel den Normannen, denn sie fühlten sich zu schwach, noch länger
den Friesen zu widerstehen. Während sie zum Scheine ihre Lagerfeuer
unterhielten und etliche ein großes Getöse machten, als ob das ganze Heer
sich zur Nachtruhe anschickte, schifften die meisten sich heimlich ein, und leise
wurden die entführten Jungfrauen auf die Barken gebracht. So kamen
die normannischen Recken, ohne daß die Friesen es ahnten, mit großer
List auf das Meer; leise tauchten sie die Ruder ein, solange sie in der
Nähe des Wülpensandes waren, dann aber wurden bei der frischen Brise
die Segel gehißt, und rasch flogen die schlanken Barken der Normandie zu.
Als am andern Morgen die Friesen sich zu neuem Streite erhoben, ge-
wahrten sie den feigen Treubruch; nur ausgebrannte Lagerfeuer fanden sie,
wo sie die Feinde mit der Königstochter und dem geraubten Schatze zu
finden hofften.
Der alte Wate stampfte mit dem Fuß und wollte in großem Zorn
die Wasserbahn der Feinde verfolgen. Doch der kluge Frute riet zur Heim-
kehr. Zuvor aber lasen sie alle Toten auf von der Walstatt, Friesen wie
Moorländer und Normannen, und begruben sie mit gebührenden Ehren.
c) Wie Gudrun dienen mußte.
Als die Normannen im heimatlichen Hafen landeten, kamen ihnen
Gerlinde und ihre liebliche Tochter Ortrun mit großem Gefolge entgegen.
Hartmut ergriff Gudruns Hand und führte sie fteudig seiner Mutter zu,
Gudrun widerstrebte nicht, aber zögernd folgte ihr Fuß. Da eilte Ortrun
voraus, umfing die heimatlose Waise, küßte sie mit weinenden Augen und
faßte freundlich ihre weiße Hand. Das war der erste Freudenstrahl, der
in Gudruns Kummer fiel; dankbar blickte sie der schönen Ortrun ins Auge
und erwiderte ihren Kuß. Als aber auch die lauernde Gerlinde jetzt heran-
trat, um Gudrun zu küssen, da trat mit Unmut die stolze Jungfrau zurück
und sprach: „Nach dir habe ich nicht verlangt; du hast nicht so an mir
gehandelt, daß du mich küssen dürftest." Bebend vor Zorn wandte die alte
Königin ihr den Rücken; ein wilder Haß funkelte in ihrem Auge.
69
So trat Gudrun als eine Fremde und Heimatlose in die Normannen-
burg ein, mit der Seele suchte sie immer die Lieben daheim. Für keinen
der Normannen hatte sie einen freundlichen Blick, nur auf Ortrun schaute
sie oft mit zärtlicher Dankbarkeit. Denn die war ihr gegenüber alles
Arges frei, und mit holder Freundlichkeit wollte sie ihr helfen, daß sie die
neue Heimat liebgewänne. Der Sommer verging, die Stürme wehten das
Laub von den Bäumen, aber die arme Jungfrau blieb ihren Entführern
fremd. Sie hielt fest an Herwig und wendete sich ab von dem, dessen
Vater den ihrigen erschlagen hatte. Gerlinde war es gewesen, die zu der
Werbung um Gudrun geraten hatte; im Zorn darüber, daß ihr schöner
Sohn verschmäht worden, hatte sie eifrig den Raubzug ins Friesenland
gefördert; jetzt versprach sie Hartmut, der Jungfrau hoffürtigen Sinn zu
brechen, während er auf neue Heerfahrten auszog. Und kaum war Hartmut
fort, da führte die böse Gerlinde ihre Drohung aus.
Gudrun ward von ihren Freundinnen getrennt, daß sie nur selten
ihre liebe Hildeburg von ferne sah. In einsamer Kammer schlief sie auf
dürftigem Lager; sie selbst wie ihre Freundinnen mußten die niedrigsten
Mägdedienste verrichten, sie mußten Garn winden, Wasser tragen, auf dem
Herde die Brände schüren. Dazu war ihre Speise kärglich, und nie hörten
sie ein freundliches Wort, aber an harten Scheltreden und Drohungen ließ
Gerlinde es nicht fehlen. Die liebliche Ortrun durfte ihnen niemals nahen;
nur aus weiter Ferne traf zuweilen ihr mitleidsvoller Blick die arme
Gudrun. Gerlinde verstand eine strenge Zucht zu üben.
So vergingen den Heimatlosen drei Jahre in gleichmäßiger Knecht-
schaft; Gudrun ertrug alles, was man ihr auferlegte, ohne Widerrede,
aber nie kam ihr der Gedanke, durch Verleugnung der Freunde ihr Los
zu bessern. Da kehrte Hartmut von seinen Heerfahrten zurück, voll von
Hoffnung, daß die geliebte Jungfrau ihn jetzt willig annehmen würde.
Als er sie fand, sprach er freundlich: „Gudrun, schöne Königin, wie erging
es dir, seit ich und meine Degen von dem Lande schieden?" Sie sagte:
„Schau diese Kleider an, die ich trage; ich habe dienen müssen, daß ihr,
du und deine Sippe*), davon Sünde und Schande habt." Da wandte sich
Hartmut unwillig an Gerlinde und sprach: „Wie habt Ihr so gethan, Frau
Mutter? Ich befahl sie doch Eurer Huld und Gnade, daß ihr großer
Kummer im fremden Lande gemindert würde." Aber mit wölfischem Sinne
erwiderte die Königin: „Wie könnte ich Hettels Tochter besser ziehen?
Weder mein Befehl noch mein Verbot hinderte, daß sie dich und deinen
Vater und deine Freunde immer schmähte." Voll Milde entgegnete Hart-
mut: „Wir erschlugen so viele ihrer Freunde, durch uns ward sie zur
') Sippe = Verwandtschaft.
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Waise; darum mag ein leichtes Wort sie schon verletzen." So redete er
seiner Mutter zu, der armen Gudrun besser zu pflegen; endlich versprach
sie gleisnerisch: „Sie soll in meiner Hut fortan es besser haben." Hartmut
glaubte ihr, und da er sah, daß Gudruns Sinn ihm noch immer nicht
zugewandt sei, ging er abermals auf längere Heerfahrten. Er wußte nicht,
daß die Arme es nun an allen Enden noch schlimmer bekam als zuvor.
Sie mußte jetzt Gerlindens Kammer kehren und den Staub von
Schemeln und Bänken streichen. Dadurch kam sie täglich mehrmals mit
ihrer Quülerin zusammen, und manches harte Wort mußte sie hören,
wenn sie auch noch so gewissenhaft gearbeitet hatte. Aber ohne Murren
that sie alles, was man sie thun hieß; ungerechten Tadel ertrug sie ohne
Widerrede. Der alte König Ludwig ging, wenn er sie traf, in grollendem
Schweigen an ihr vorüber, aber auch sie hielt sich seinen Wegen fern.
Ihr einziger Trost war es, wenn Ortrun sie einmal von weitem freundlich
grüßte, oder wenn sie mit der treuen Hildeburg ein trauliches Wort
tauschen konnte.
So waren abermals drei Jahre den Heimatlosen in stiller Trauer
und Sehnsucht vergangen; da kehrte Hartmut wiederum von seinen Heer-
fahrten zurück und sah, daß der harte Dienst Gudruns noch immer fort-
dauerte. Nun erkannte er, daß seine Mutter auf die Maid, die er liebte,
einen Haß geworfen hatte und beriet sich mit seinen Freunden, was er
beginnen solle.
Auf deren Rat ging er zu Gudrun selbst, um sie durch Bitte oder
Drohung zu gewinnen. Sie bei der Hand fassend sprach er: „Edle
Magd, werde mein Weib, dann sollen dir als Königin meine Helden
dienen." Ihm erwiderte Gudrun, indem sie zurücktrat: „Wie könnt' ich
solches denken? Deine Mutter, die schlimme Gerlinde, hat mich so ge-
peinigt, daß ich ihr fremd bin wie dem ganzen Hause." Drauf sagte
Hartmut: „Was dir meine Mutter zu leid gethan, ich bin nicht schuld
daran; wie's dir und mir geziemet, will ich dir versüßen und vergüten
alles Leid." Da sprach die edle Magd: „Wie könnt' ich dem vertrauen,
der mit kühner List mich Arme in meiner Heimat fing und mich entführte?
Und noch ein andres weißt du: Ludwig, dein Vater, erschlug den meinen —
wahrlich, wär' ich ein Mann, er dürfte nimmer ohne Waffen vor meine
Angen kommen — und du fragst, ob ich dir Ehegemahlin heißen will?"
Erregt sagte Hartmut, und sein Auge blitzte: „Du weißt es, Gudrun, wenn
ich mich vermähle, sind mein die Burgen hier und alles Land; wer wollte
mich drum schelten, wenn ich gleich dich mit Gewalt zu meinem Weibe
machte?" Da aber flammte Gudrun auf und schien zu wachsen, als sie mit
hoheitsvotter Miene sprach: „Die Sorge, wahrlich, focht mich nimmer an,
daß man die Enkelin des Königs Hagen die Geliebte Hartmuts nennte!
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Eine Frau darf keiner nehmen als mit ihrem Willen; so hat bisher die
Sitte stets gegolten."
Da wich Hartmut beschämt von ihr und wagte lange nicht ihr wieder
ins Auge zu sehen. Aber bei seiner Mutter drang er darauf, daß Gudrun
königlich gehalten und daß es seiner Schwester Ortrun gestattet würde, ihr
wieder zu nahen. Seine Schwester aber bat er, mit Güte den festen Willen
Gudruns zu überwinden. Als indes Ortrun einst wieder in sie drang,
daß sie sich ihrem Bruder vermählen möchte, wich Gudrun zurück und
sprach: „Daß du mich gern als Königin gekrönt hier sähest an der Seite
deines Bruders, das dank' ich dir in Treuen; ich versteh' die holde Güte
deines Herzens wohl. Doch allzu groß ist meines Leides Schwere, mein
Herz gewöhnt sich in die Fremde nicht. Und wisse wohl: zum ehelichen
Weib bin ich mit festen Eiden einem Könige verlobt; solang er atmet, bin
ich sein."
So vergingen viele Tage bis in den Winter hinein; aber so wenig
früher Gerlindens grausame Strenge etwas über Gudruns feste Treue ver-
mocht hatte, so wenig ward sie jetzt durch die Güte der lieblichen Ortrun
wankend gemacht. Das verdroß Hartmut, und mehr und mehr gewann
seine böse Mutter wieder Einfluß auf ihn; sie stellte ihm täglich vor, daß
Gudruns Starrsinn nur durch Kummer und Entbehrung gebrochen werden
könne, und endlich gab er sie wieder ganz in ihre Hand. Sie trennte
Gudrun wieder von allem, was ihr lieb war, und legte ihr harte Magd-
arbeit auf. Aber mit eifrigem Fleiße that die Arme alles, was man ihr
auftrug. Da sprach die üble Gerlinde einst: „Du sollst mein Gewand
täglich hinunter auf den Sand tragen. Da sollst du fleißig waschen für
mich und mein Gesinde, und hüte dich, daß man dich niemals müßig
treffe." Gudrun antwortete: „So schaffet, Königin, daß man mich lehre, wie
eine Königstochter Kleider wäscht. Soll mir keine Freude werden — nun
so wollt' ich, Ihr thätet mir noch immer größeres Leid." So mußte
Gudrun mit einer Magd an den Strand hinunter, in Eis und Schnee zu
waschen. Die schmähliche Arbeit ging allen, die es sahen, tief zu Herzen,
und die treue Hildeburg wagte vor Gerlinde zu treten und ihr zu sagen:
„O laßt sie nicht allein in dieser Schmach, sie ist ein Königskind. Ich
selber bin aus dem königlichen Hause von Irland, dennoch wollt' ich gern
mit ihr die Arbeit teilen, ob es uns nun übel oder wohl gelingen möge."
Da lächelte die alte Königin arglistig und dachte, daß Gudruns Pein noch
größer würde, wenn sie sich vor einer ihrer Frauen so erniedrigt sähe; darum
sprach sie: „Wohlan, du magst die Not deiner Herrin teilen, doch bringt's
dir vieles Weh. Wie hart der Winter auch werden mag, immer mußt du
in Schnee und Eis am Strande die Kleider waschen, umbraust von Stürmen,
während du dich gern im warmen Zimmer an dem Herde fändest."
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Aber die treue Hildeburg konnte es kaum erwarten, daß die Nacht
begann, von der die arme Gudrun Trost gewinnen sollte. Sie ging in ihre
Kammer, ihr zu künden, daß sie die Arbeit mit ihr teilen dürfe. Da
klagten sie von Herzen ihre Schmach einander und weinten, bis der Schlaf
sich auf die müden Augenlider senkte.
d) Wie Gudrun die Befreiung naht.
In der That mußten Gudrun und Hildeburg die harten Wintermonde
hindurch täglich an den Strand hinabgehen, um zu waschen. Solange der
strenge Frost die Erde in Banden hielt, durften sie Schuhe tragen; als
aber laue Frühlingswinde das Eis auftauten, erlaubte die böse Gerlinde
ihnen auch diese Bequemlichkeit nicht mehr. Dennoch war es ihnen in
allen Leiden ein Trost, daß sie miteinander arbeiten und klagen durften.
Eines Tages endlich um Mittag, da die See ganz still und glatt
dalag, kam ein Schwan herangeschwommen zu den waschenden Königs-
töchtern, wie wenn er ihnen Botschaft zu bringen habe. Die Jungfrauen
betrachteten mit Staunen den schöllen Vogel, der nahe bis zu ihnen heran-
schwamm, dann aber anhielt und die edle Rundung des Halses erhob, als
ob er sprechen wollte.
Ängstlich schmiegte sich Hildeburg an Gudrun und flüsterte ihr leise zu:
„Das ist nicht ein Schwan, Gudrun; es ist eine von Wodans Walküren*),
welche diese Vogelgestalt angenommen hat. Frage sie, Gudrun, nach den
Lieben daheim, und ob wir Erlösung zu hoffen haben!" Die Königstochter
blickte scheu nach dem Vogel, dann aber faßte sie Mut und sprach laut,
wenn auch mit Beklemmung: „Sage mir, du schöner Vogel, lebt meine
Mutter Hilde noch, und rüstet sie noch nicht ein Heer zu unserer Be-
freiung?" Der Schwan erhob seine weißen Flügel ein wenig und senkte
dreimal mit nickendem Gruße den Kopf bis an die Wasserfläche. Mit
leuchtendem Blicke sahen die Maide einander an; Hildeburg flüsterte:
„Frage mehr!" Und Gudrun sprach mit entschlossenem Mute: „Lebt noch
König Ortwin, mein Bruder, und mein Verlobter, der König Herwig?"
Wiederum bejahte der Schwan, dreimal den Kopf neigend. „Und lebt noch
der edle Horand von Dänemark und sein Gefährte Frute und der kühne
Wate von Sturmland?" Zum dritten Male senkte der Schwan den schönen
Hals; dann aber schwamm er still wieder hinaus in die unendliche See.
Die Jungfrauen schauten ihm nach, bis er ihren Blicken entschwand.
Weinend schlossen sie einander in die Arme; es war ihnen so froh zu
*) Die Walküren sind halbgöttliche Schlachtjungfrauen, die nach dem Glauben
der alten Teutschen der Gott Wodan entsendet, um die im Kampfe gefallenen Helden
aufzunehmen und nach Walhalla zu geleiten.
1
73
Mute, und doch wieder so schwer, wenn sie der Lieben und der Heimat
gedachten.
Viel sprachen sie heute von Hilden und ihren Helden. Als es zu
dämmern begann, kehrten sie in die Burg zurück, aber die Tagesarbeit
war nur halb gethan. Da begann die böse Gerlinde zu schelten: „Wer
gab's euch denn ein, so träge meine Kleider zu waschen? Seid nicht zu
säumig, daß ihr nicht noch weinen müßt." Gudrun schwieg, aber Hilde-
burg erwiderte demütig: „Wir thun, was wir vermögen." Dann gingen
beide in ihr Gemach und streckten sich auf die harten Bretter zur Ruhe;
aber vor Freuden konnten sie nicht schlafen, sie mußten immer wieder der
Weissagung des schönen Schwans gedenken, und wann wohl die ersehnten
Retter kämen.
Frühmorgens, da der Tag graute, trat Hildeburg aus der Kammer,
um nach dem Wetter zu schauen; da war ein tiefer Schnee gefallen. Seufzend
gingen sie, wie sie's gewohnt waren, an den Strand und standen, weil es
die böse Gerlinde nicht anders erlaubt hatte, barfuß im Schnee und wuschen.
Oft warfen sie sehnliche Blicke hinaus auf die Flut, ob nicht der schöne
Schwan wieder erschiene oder von Hilden ein Bote käme. Aber nichts
zeigte sich. Schon war die Sonne über den Mittag hinaus, der Schnee
fing an zu schmelzen, immer mehr zerrann die Hoffnung der Jungstauen.
Ta sahen sie auf einmal um einen Vorsprung des Ufers herum eine Barke
gleiten, drin saßen zwei Männer und sonst niemand. Hildeburg flüsterte
Gudrun zu: „Da kommen zwei gefahren, sollten es Hildens Boten sein?"
Aber angstvoll rief Gudrun: „Ach ich Arme! ich weiß nicht, was ich thue.
Soll ich von hinnen weichen oder mich hier in dieser Erniedrigung finden
lassen? Nein! eher wollte ich immer Ingesinde heißen."
Da wandten sie sich um und gingen von dannen. Doch waren die
Männer schon so nah, daß sie die Wäscherinnen und ihre Flucht sahen.
Rasch sprangen sie aus der Barke und riefen ihnen nach: „Ihr schönen
Wäscherinnen, was flieht ihr vor uns? Wir kommen aus weiter Fremde
und tragen euch keine Feindschaft. Aber wenn ihr flieht, so nehmen wir
euch das reiche Gewand, das hier liegt." Da kehrten die Jungfrauen
langsam zurück, sie schämten sich, im durchnäßten Gewände und mit dem
vom Winde zerwühlten Haar vor die Fremden zu treten.
Der ältere von den beiden Männern — es war König Herwig — bot
freundlich den heimatlosen Mädchen einen guten Morgen. Die heimische
Sprache und der trauliche Gruß that ihnen wohl, denn in der Burg hörten
sie nur selten „guten Morgen" oder „guten Abend".
„Laßt uns hören," sprach Ortwin, „wem ihr diese reichen Kleider
waschet. Ihr beide seid so schön — wie mag man euch so hart behandeln?"
In großer Trauer sprach die Königstochter: „O weh unserer Schönheit!
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harter Dienst zerreibt sie. Doch eilt mit dem, was ihr zu fragen habt;
weh uns, wenn die Herrin uns erspäht, wie wir mit Fremden plaudern,
statt zu waschen." „Nehmt diese guten goldnen Spangen hin," sprach
Ortwin, „sie seien euer Sold, wenn ihr verweilt und uns bescheiden mögt."
„Wir nehmen nichts zu Lohne," sagte Gudrun. „Fragt, was ihr wollt;
bald müssen wir euch verlassen." Und Ortwin begann: „Wes sind die
Burgen und dieses reiche Land? Wie nennt er sich, der euch so schlimme
Dienste verrichten heißt?" Sie sprach: „Der eine der Fürsten heißt Hart-
mut, dem dienen weite Lande, gute Burgen. Der andere, sein Vater,
nennt sich Ludwig den Normannen." „Wir sähen sie gern," sagte Ortwin.
„Bescheide uns, wo wir die Fürsten finden. Wir sind von einem Könige
an sie gesandt." „Ich ließ sie in der Burg, da es kaum tagte; sie schliefen
noch mit vierzig hundert Mannen. Doch weiß ich nicht, ob sie unterdessen
mit ihren Helden ausgeritten sind," so sprach die Königstochter. Während
dessen schaute Herwig sie prüfend an; sie schien so Wohlgestalt, daß er sie
gern der vielgeliebten Gudrun vergleichen mochte.
Und wieder sagte Ortwin: „Habt ihr von fremden Mägden eine Mär
vernommen, die man mit starkem Heereszuge vor Jahren aus weiten Fernen
in dieses Land gebracht?" „Ich hab' sie wohl gesehen," sagte Gudrun.
„In großem Leide leben, die ihr sucht." Dem König Herwig klang die
reine Stimme so wohlbekannt; heftig wogte seine Brust, und hochgerötet
sprach er: „Ortwin, wenn deine Schwester noch am Leben ist, und wenn
sie irgend auf der Erde weilt, die ist es; nimmer glich ihr eine so."
Aufblickte Gudrun und sagte scheu: „Ich kannte einen, dem Ihr einzig
gleicht. Er war vom Niederland, und Herwig hieß er. Ach, wenn er
lebte, würd' er uns erlösen." Da sprach der König froh: „O schaue her!
Kennst du an meiner Hand den goldnen Reif, dann bist du Gudrun, und
ich heiße dein." Ein Freudenschein erglänzte auf dem Antlitz der schönen
Maid; sie reichte ihre Hand und sprach: „Ich kenne wohl den goldnen
Ring, denn früher war er mein. Nun schaue du, was mein verlobter
Ehgemahl mir gab, als ich daheim in süßen Freuden lebte!"
Er sah nach ihrem Finger, erkannte das rote Gold, das er einst
ihr geschenkt, und rief: „Du bist es, Gudrun! Jetzt nach manchem Leide
schau' ich meine Freude, meine Wonne wieder." Und in die Arme schloß
er seine Braut und küßte ihren roten Mund; eine Thräne quoll ihr aus
dem Auge vor lauter Wonne. Auch Ortwin begrüßte seine Schwester mit
warmem Kuß, und lange sprachen sie von Leid und Freude und der süßen
Heimat. Doch endlich sagte ernst der König Herwig: „Nie konnte besser
eine Fahrt gelingen. Nun aber gilt's zu eilen, daß wir euch von der Burg
hinweg in unsres Heeres sichre Hut geleiten." Da rief voll edlen Stolzes der
König Ortwin: „Das thu' ich nie. Und hätt' ich hundert Schwestern, sie
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möchten sterben, eh' ich wie ein Dieb die mir im harten Kampfe geraubten
Jungfrauen den grimmen Feinden listiglich entführte." Und wieder sagte
Herwig: „Doch bedenke: wird unfern Feinden unsre Fährte kund, so führen
sie vielleicht die Mägde in weite Ferne, daß wir sie nie Wiedersehn. Drum
rat' ich Vorsicht an und Heimlichkeit." Da sprach der König Ortwin:
„Und sollte das edle Jngesind in jener Burg vergeblich harren? Gudruns
Mägde sind verloren, wenn die Fürstin uns begleitet. Sie alle sollen,
denk' ich, des genießen, daß ihre Herrin meine Schwester ist." Dem Worte
fügte sich der König Herwig. Die beiden Helden küßten noch die Jung-
frauen, dann schieden sie. Aber Gudrun streckte weinend die Arme aus
und rief in großem Schmerze: „O Herwig, o mein Bruder, wessen soll ich
nun mich trösten? Ihr verlasset mich in diesem Elend? o erbarmet euch!"
Doch König Herwig rief der Weinenden zu: „Getrost, Geliebte; morgen
vor der Sonne gewahrst du uns mit unserm ganzen Heere vor jener Burg.
Mit vielem Feindesblute sollt ihr aus der Knechtschaft erlöst werden."
e) Wie Herwig die Burg der Normannen erstürmt und Gudrun erlöst.
Am andern Morgen trat eine der Jungfrauen Gudruns an das Fenster,
da sah sie rings viele glänzende Helme und lichte Schilde. Geschwind trat
sie an Gudruns Lager und rief: „Wach auf, edle Maid! Die Burg ist
von zahllosen Helden umschlossen, die Freunde in der Heimat haben unseres
Elendes gedacht."
Der Held von Stürmeland aber, der alte Wate, begann in sein Horn
zu blasen, daß es über Land und Meer viele Meilen weit ertönte. Da
scharten sich die Friesenhelden um Frau Hildens Banner und neben ihnen
auch die Scharen König Siegfrieds von Moorland, der ihnen abermals zu
Hilfe geeilt war. Und Wate blies zum andern Mal, daß es schmetterte,
wie wenn der feurige Strahl aus der Wolke zur Erde loht; da stellten
sich die Helden in Heerhaufen und warteten auf das Zeichen zum Vorrücken.
Und zum dritten Mal blies der alte Kämpe; da wallten die Meeres-
wogen auf, und das Ufer erbebte, als sollten die Ecksteine aus den Mauern
springen. Nun ließ Horand Hildens Banner im Winde wehen, und rings
ward alles still, eines Rosses Wiehern hätte man über die ganze Ebene
vernehmen können. Gudrun aber stand oben am Fenster ihres Gemachs
und sah mit klopfendem Herzen, wie die Scharen ihrer Freunde heran-
wogten.
Aber auch Hartmut zog mit seinen Mannen zum Burgthore hinaus,
er sehnte sich, in offnem Kampfe seinen Feinden entgegenzutreten. Zuerst
erkor er sich den Helden Ortwin zum Kampfe. Er kannte ihn nicht, aber
ihn lockte seine Jugendkraft und seine stolze Haltung. Mit dem Speer
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rannten die Helden einander an, daß die Funken von der Brünne stoben,
aber keiner wich dem andern. Da griffen sie zu den Schwertern, und
scharfer Klang erhob sich. Ihre Mannen umdrängten sie, es mengte sich
der Streit; auf beiden Seiten neigte manches Haupt sich unter den Hieben,
der Tod raubte vielen die liebsten Freunde. Da traf ein Schlag Hartmuts
Ortwin; der starke Helm widerstand nicht dem Schwünge des Eisens, und
rotes Blut überrieselte seine Brünne. Seine Getreuen führten ihn aus dem
Getümmel. Als das der Däne Horand, Hildens Bannerträger, sah, gab
er sein Banner in eines andern Hand, und schlug sich durch die Haufen,
bis er dem Normannenkönig gegenüberstand. Da gab es wieder einen
schweren Zweikampf. Von den Panzerringen beider Helden flogen feurige
Funken, und ihre Schwertspitzen bogen sich von der Gewalt der Hiebe,
die auf die Helmspangen fielen. Aber auch Horanden schlug Hartmut eine
tiefe Wunde, daß ein roter Bach herniederfloß und seine Freunde ihn hin-
weg führten.
Während so Hartmut gewaltig stritt, zog auch sein Vater, König Ludwig,
mit seinem Schwerte durch das Schlachtfeld breite Furchen. Ihm und
seiner grimmigen Schar kam König Herwig entgegen, und da er den greisen
Recken so wild hausen sah, rief er laut: „Wer ist jener Alte? Der hat
mit seiner Hand so viel tiefe Wunden schon gehauen, daß manche Mutter
darob weinen wird." Der Normannenkönig hörte das und schrie: „Wer
ist, der dort im Streite mein begehrt? Ich heiße Ludwig von der Nor-
mandie; nicht viele Feinde mögen sich rühmen, mich bestanden zu haben."
Da fuhr ein Zorn durch König Herwigs Glieder, und bebend rief er laut:
„Ich bin geheißen Herwig. Du raubtest mir mein Weib. Gieb sie zurück,
du Räuber, oder einer von uns beiden muß das Leben lassen!"
Nach diesen Worten liefen die Helden einander an; ihre Schwerter
sausten, als ob aus dunkeln Wolken Blitze zuckten. Aber Ludwigs furcht-
bare Kraft war übermächtig. Plötzlich fuhr sein breites Schwert wie ein
Donnerkeil auf Herwigs Haupt. Wohl hielten die Helmspangen aus, daß
sie nicht zersprangen, aber der Schlag dröhnte so schwer, daß es Herwig
schwarz vor den Augen ward und er zurücktaumelte. Da wäre er ver-
loren gewesen, wenn nicht seine Mannen herzuspringend ihn von Ludwig
geschieden hätten. Bald aber erholte er sich, und da er wieder bei sich
war, schaute er schamerfüllt nach der Burg empor, ob seine geliebte Gudrun
seinen Fall gesehen hätte. „Weh," sprach er bei sich, „wie ist mir ge-
schehen? Wenn Gudrun das gesehen hat, wird sie mich spottend von sich
weisen, wenn ich sie umsahen will." Und von Wut und Grimm erfüllt, drang
er mit seiner Schar dem König Ludwig nach. Als der Alte das Tosen
hinter sich hörte, wandte er sich zornig um und schrie: „Bist du wieder
aufgelebt, Knabe? Nun soll dein Leib den Wölfen und den Raben nicht
entgehen." Und er erhob sein breites Schwert und holte zum mächtigen
Schlage aus; aber Herwig war schnell zur Hand und schlug ihm zwischen
Brünne und Halsberge*) eine so tiefe Wunde, daß des Königs Haupt
vom Rumpfe sprang. Einen Augenblick stand noch des Recken riesig breiter
Rumpf mit erhobener Rechten; dann stürzte er dumpf zu Boden wie eine
gefällte Eiche.
Hartmut ahnte inzwischen noch nichts vom Falle seines Vaters, wollte
aber endlich mit seinen arg zusammengeschmolzenen Mannen den Kampf
abbrechen und sich in die Burg zurückziehen. Doch schon hatten der alte
Wate und die Helden von Sturmland diese umringt und begannen grade
den Sturm. Hartmut konnte sie nicht mehr hemmen, hätte vielmehr von
Wate selbst beinah den Tod erlitten. Während des Kampfes mit ihm
vernahm er nämlich, wie oben im Schloß die tückische Gerlind lauten
Befehl gab, Gudrun samt ihren Jungfrauen zu ermorden, und wie diese
um Hilfe schrieen. Edelmütig rief er seinen königlichen Gegenbefehl hinauf
und bedrohte jeden Mordversuch mit dem Tode. Dabei vergaß er einen
Augenblick der Gegenwehr und würde von Wate erschlagen sein, hätte nicht
Herwig rasch hinzuspringend ihn gefangen genommen und bergen lassen.
Nun erstürmte Wate mit seinen Helden die Burg, und sein Rache-
schwert hauste fürchterlich unter den Feinden. Immer weiter drang er ins
Innere, wo sich alle Frauen schreiend und hilfesuchend um Gudrun geschart
hatten. Gern versprach die edle Maid der schönen Ortrun und ihren
Dienerinnen Schutz und erlangte ihn auch wirklich von dem grimmen Wate,
als dieser über und über blutbedeckt hereindrang und vor allem die arge
Gerlinde suchte. Auch diese hatte sich zuletzt schutzflehend Gudrun zu Füßen
geworfen, und, da diese voll Verachtung sich abwandte, sich unter die Schar
der Frauen versteckt. Gudrun selbst, in ihrer Großmut, hätte auch die
Feindin nicht verraten. Doch eine Dienerin zwinkerte Wate mit den Augen
zu und deutete auf Gerlinde, und nun ereilte die Schändliche endlich der
Lohn für ihre Übelthaten. Wütend sprang der Riese auf sie zu. Gern
hätte noch jetzt Gudrun sie geschützt, aber sie selbst war gelähmt von
Schrecken, und ihre Mägde drängten sich voll Entsetzen um sie her. Der
alten Königin aber schrie Wate zu: „Nun sagt mir, Frau Gerlinde, braucht
Ihr mehr der schönen Wäscherinnen?" Und er ergriff sie mit gewaltiger
Faust und schleppte sie vor die Thür. „Frau Königin," sprach er zornig,
„ich will meine Herrin behüten, daß sie Euch je wieder Kleider wasche!"
Gerlindens Gesicht war vor Angst verzerrt, sie vermochte keinen Laut hervor-
zubringen; der Fürchterliche aber faßte sie beim Haar und schlug ihr mit
sausendem Schwerthieb das Haupt herunter.
*) Das den Hals bergende, schützende Panzerhemd.
— 78 —
So hielt der alte Wate strenges Gericht. Er würde wohl in seinem
rasenden Zorne noch länger gehaust haben, aber nun kamen auch Horand
und Ortwin und Herwig mit den andern Helden, und Horand pflanzte
Hildens Banner auf der höchsten Zinne der Burg auf und gebot Frieden.
Da band Herwig sein Schwert von der Seite und schüttelte seine Panzer-
ringe*) in die Schildeshöhlung. Noch geschwärzt von Eisen und Staub,
trat er an die geliebte Gudrun heran und umfing sie mit Inbrunst. Sie
weinte laut vor Freude, aber er sah sie mit leuchtendem Auge an und
sprach: „Nun will ich deine Treue dir lohnen, solang ich lebe; Friede
und Glück müssen alles Leid vergüten, das du um mich getragen hast."
Dann begrüßte sie auch den verwundeten Bruder. „Gelt," sprach Ortwin
scherzend, „gestern hätten wir mit listigem Diebstahl nur zwei Wäsche-
rinnen entführt, heute haben wir in ehrlicher Fehde eine Königin mit
allen ihren Frauen gewonnen. Das ist doch der Blutstropfen wert, die
der tapfere Hartmut als Lösegeld gefordert hat?" Auch der Sänger Horand,
dessen schönes Antlitz bleicher als sonst war, trat zu Gudrun und küßte sie
auf den blühenden Mund.
f) Heimkehr und Versöhnung.
Nach diesem herrlichen Siege berieten die Helden, was aus der
eroberten Burg und dem Lande werden solle. Wate in seinem Haß
drängte, alles in Brand zu stecken und auszutilgen. Aber die anderen
waren gegen solche Grausanlkeit und ließen zunächst das Schloß von allen
Spuren des Kriegsgreuels reinigen, um vorläufig die Frauen und die
Gefangenen unter Horands Obhut darin zu belassen. Auch all die Toten
wurden mit Ehren bestattet und ihnen große Hügel als Hünengräber auf-
geschüttet. An Königin Hilde gingen Boten ab mit der frohen Sieges-
mär; dann zogen die Helden zur Unterwerfung des ganzen Normannen-
landes aus.
Auch diese gelang vollständig, und reiche Beute an rotem Gold und
edlem Gestein, an köstlichen Gewänden und Waffen, desgleichen von Speise
und Trank die Fülle brachten die Sieger mit. So konnte denn endlich
die Heimfahrt angetreten werden. Grade im schönen Maimond kamen die
lang Ersehnten im Friesenlande an und wurden festlich und herrlich em-
pfangen. Als Hilde endlich die geliebte Tochter wieder in die Arme schloß,
da war all das lange und schwere Leid vergessen.
Aber noch höhere Freude sollte daraus erblühen. Die edle Gudrun
*) Der Panzer bestand aus Ringen oder Schuppen von Metall, welche auf eiu
Ledergewand geheftet waren.
79
ruhte und rastete nicht eher, bis sie desselben Glücks, das sie als Herwigs
Braut nun genoß, auch andere teilhaftig gemacht und eine allgemeine Ver-
söhnung herbeigeführt hatte. Die verwaiste Ortrun führte sie ihrem Bruder
Ortwin zu. Für den gefangenen Hartmut legte sie bei ihrer Mutter Für-
bitte ein. Und nicht vergeblich. Der König versprach Frieden zu halten
und erhielt dafür die Freiheit. Ja, Gudrun bewog ihn, da er doch auf
ihren Besitz verzichten mußte, um die treue Hildeburg, die Königstochter
von Irland, zu werben, und schuf so ein drittes glückliches Paar. Und
endlich erreichte sie noch, daß Herwig dem Moorlandskönig Siegfried, der
ihm so treu geholfen, die eigene Schwester verlobte, so daß sich auch dieser
über seine einstige Ablehnung durch Gudrun zu trösten vermochte. So
hielten denn alle vier Könige zusammen im wonnigen Lenz fröhliche Hoch-
zeit, und all der Streit und das Leid klangen in eitel Lust und Liebe aus.
Nach Heinrich Keck zum Teil verändert.
17. Lohengrin.
I.
Der Herzog Gottfried von Brabant und Limburg hinterließ bei
seinem Tode sein Land und alles, was er hatte, seiner einzigen Tochter,
Elsa genannt. Damit diese aber nicht ohne Beschützer sei, hatte er
vor seinem Tode denjenigen seiner Mannen, den er für den mäch-
tigsten und getreuesten hielt, Friedrich von Telramund, zu sich kommen
lassen und zu ihm gesprochen: „Lieber Friedrich, ich habe nie eine
Untreue an dir befunden; nun bitte ich dich, daß du solche Treue
auch nach meinem Tode beweisest und ein treuer Verwalter meines
Landes, ein treuer Beschützer meiner Tochter seiest.“
Friedrich von Telramund versprach es seinem Herrn, und ruhig
schied dieser aus der Welt. Friedrich bewies aber später nicht die
Treue, die er versprochen, vielmehr ward er übermütig, erhob sein
Auge zu seiner Fürstin und drang in sie, daß sie ihn zum Gemahl
nehmen solle. Als sie aber erwiderte, daß er ihres Vaters Dienst-
mann gewesen sei und darum nicht die Hand einer Fürstin besitzen
könne, ließ er sich trotzdem nicht abhalten, sondern drang nur um so
ungestümer in sie und verklagte sie sogar bei dem Kaiser Heinrich I.,
dem er vorlog, daß sie ihm die Ehe versprochen habe, nun aber ihr
Wort nicht halten wolle.
Da sprach der Kaiser zu Recht, die Fürstin solle Friedrich von
Telramund zum Manne nehmen oder einen Kämpfer stellen, der im
Zweikampfe mit jenem beweise, daß sie ihm die Ehe nicht versprochen
habe. Die Fürstin bat alle ihre Mannen, für ihre Ehre zum Kampfe
80
mit dem Ritter bereit zu sein, aber keiner wollte es wagen, weil
sie alle Friedrichs große Kraft fürchteten. Da weinte die Fürstin in
ihrer großen Not. Sie warf sich betend am Altare nieder, und zum
Zeichen ihrer Bedrängnis läutete sie ein goldenes Glöckchen, das sie
einst einem verwundeten Falken abgenommen hatte. Der Klang drang
fernhin durch die Wolken; wie Donner war er anzuhören. Er drang
bis nach Montsalvatsch, der Burg im fernen Spanien, wo fromme Ritter
dem heiligen Gral*) dienten. An dem Klange merkten die Ritter, daß
jemand in großer Bedrängnis war. Sie gingen alle vor den Gral, um
zu erfahren, was es sei. Da fanden sie an ihm geschrieben von der
Not der Herzogin Elsa von Brabant.
Alsbald entstand ein Wettstreit unter den Rittern, wer der Be-
freier der Herzogin sein solle. Jeder hätte gern in ihrem Dienste
sein Schwert gezogen. Noch stritten sie. Da erschien an dem Gral
eine neue Schrift; der Name Lohengrins stand daran geschrieben, der
der Sohn des Gralskönigs Parzival selber war, und die Helden erkannten
daran, daß er zu Elsas Retter erkoren war.
Sie beneideten ihn zwar um das Abenteuer, das seiner wartete,
aber sie halfen ihm willig, als er sich wappnete und zum Zuge rüstete.
Ein Knappe führte ihm auch ein Roß vor; das war so schnell, daß
es mit den Füßen kaum die Erde zu berühren, vielmehr in den Lüften
zu fliegen schien. Lohengrin nahm Abschied von seinem Vater, dem
Könige, und seiner Mutter und von den Freunden. Schon griff er nach
dem Zaume des Rosses, schon wollte er seinen Fuß in den Steigbügel
setzen — da erschien an dem Gestade ein schneeweißer Schwan, der
ein Schifflein hinter sich zog. Sein Erscheinen hielt Lohengrin für
eine Weisung des Himmels. Darum sprach er: „Nun führet das Roß
wieder in den Stall, ich will mit diesem Vogel fahren, wohin er mich
führt." Damit stieg er in das Schiff. Man wollte ihm Speise in das-
selbe tragen; er aber lehnte es ab und sprach: „Der mich von hinnen
ruft, wird mich nicht ungepflegt lassen." Da schwamm der Schwan
von dannen mit dem Schiff lein.
*) Der Gral war der Sage nach eine herrliche Schüssel aus Jaspis, aus
der Christus heim Abendmahle mit seinen Jüngern gespeist und worin auch
Joseph von Arimathia das Blut aus Christi Wunden aufgefangen haben sollte.
Sie sollte Wunderkräfte besitzen, Jugend und Anmut verleihen und ihren Dienern
alles im Überfluß gewähren. Aufbewahrt werde sie in der Tempelburg Mont-
salvatsch (mons salutis, Heilsberg?) und behütet vom Gralskönige und seinen
Rittern, den Tempieisen, die zu aller frommen Rittertugend und namentlich auch
zu Schutz und Beistand der Schwachen und Hilflosen verpflichtet waren, doch
auch das Geheimnis des Grals und seiner Wunder hüten mußten.
81
Fünf Tage schon war Lohengrin auf dem Meere und noch hatte
er nichts gegessen. Da fing der Schwan mit seinem Schnabel ein
Fischlein und verschlang es. Lohengrin sah dies und sprach: „Du
issest allein, und doch bin ich dein Gefährte. Du solltest wohl die
Speise mit mir teilen." Da tauchte der Schwan noch einmal den Kopf
unter, und als er wieder hervorkam, hielt er eine Oblate (Abendmahls-
hostie) im Schnabel, die er dem Fürsten reichte. Danach entschlief
Lohengrin auf seinem Schilde, während das Schiff lein gefahrlos auf
den Wellen dahinglitt.
Unterdessen lebte Elsa von Brabant in großer Sorge. Ihr Kaplan
aber tröstete sie und sprach: „Seid wohlgemut, teure Fürstin! So wahr
Gott lebt, er wird Euch nicht in den Händen der Ungerechten lassen,
sondern Euch einen Kämpfer senden, der Eure Ehre rette." Die der
Fürstin gesetzte Frist aber, binnen welcher sie einen Kämpfer gegen
Friedrich von Telramund stellen sollte, war fast schon verstrichen. Da
entbot sie alle ihre Mannen aus Brabant und Limburg zu einer Beratung
nach Antwerpen. Sie kamen, und die Fürstin erzählte ihnen ihre Not.
Noch standen sie alle stumm und unbeweglich, keiner hatte Lust, den
Kampf mit dem starken Friedrich zu wagen — da sah man auf den
Wellen des Flusses einen Schwan daherschwimmen, der ein Schiff lein
nach sich zog, in welchem ein herrlicher Ritter schlafend lag. Als der
Kaplan das sah, sprach er zu seiner Herrin: „Nun merket, teure Herrin,
ob Euch Gott nicht einen Retter schicken will.“
Der Schwan war unterdessen an das Ufer herangekommen, und
als das Volk den herrlichen Ritter erblickte, rief es laut: „Ein Wunder,
ein Wunder!" Davon erwachte Lohengrin, denn er war der schlafende
Ritter. Er richtete sich auf und stieg ans Land, den Schwan aber
entließ er mit dem Wort: „Flieg deinen Weg wohl, lieber Schwan!
Bedarf ich je wieder deiner, so will ich dich schon rufen!"
Lohengrin ward herrlich empfangen. Und als ihm die Fürstin
ihre Bedrängnis erzählte, erbot er sich ihr Kämpfer gegen Friedrich
von Telramund zu sein. Auch gefiel sie ihm so sehr, daß er wohl
wünschte, sie möchte sein Weib werden; Elsa aber konnte den herr-
lichen Ritter gar nicht genug anschauen und ward von herzlicher Liebe
zu ihm entzündet.
Dem Grafen Friedrich ward angesagt, daß sich ein Kämpfer für
die Herzogin Elsa gefunden habe. Er wunderte sich wohl darüber
und zumal über dessen sonderbare Ankunft, aber er fürchtete sich nicht,
sondern verließ sich auf seinen starken Arm. Da der Kampf in Kaiser
Heinrichs Beisein stattfinden sollte, so ward den Freunden und Unter-
thanen der Herzogin angesagt, daß sie sich zu einem Zuge an des
Lesebuch für Höhere Lehranstalten. (Preuß. Ausg.) III. 6
82 —
Kaisers Hoflager rüsten sollten. Bereitwillig kamen sie alle herbei.
Der Zug machte sich auf den Weg, aber auch unterwegs kamen immer
noch neue Scharen hinzu. In Saarbrücken endlich waren alle bei-
sammen, und von da zogen sie auf einen Anger zwischen Oppenheim
und Mainz.
Der Kaiser hielt sich zu dieser Zeit grade in Frankfurt auf. Da
ward ihm angesagt, daß die Fürstin mit ihren Mannen gekommen sei
und einen Kämpfer mitbringe, der ihre Ehre im Kampfe erweisen
wolle. Da versprach der Kaiser nach Mainz zu kommen; dort sollte
der Kampf stattfinden.
Unterdessen war auch Friedrich von Telramund angekommen, und
als der Kaiser erschien, ward der Tag des Kampfes festgesetzt, auch
nach dem Willen der Kämpfer bestimmt, daß der Zweikampf zu Roß
und mit dem Speere stattfinden sollte.
Als der bestimmte Tag erschien, hörten die beiden Helden am
Morgen eine Messe; dann zogen sie von vielem Volke begleitet zum
Kampfplatze. Sie ritten in die Schranken, die Zuschauer aber nahmen
auf den Sitzen Platz, welche ringsum hergerichtet waren. Der Kampf
begann. Mit neuen, starken Speeren rannten die Ritter gegeneinander
an, und so kräftig waren ihre Stöße, daß die Rosse davon hoch empor
bäumten und die Speere zerbrachen. Da warfen sie die Trümmer der
Speere weg und griffen nach den Schwertern. Kräftige Schläge führten
sie gegeneinander. Es schien, als wären beide Kämpfer gleich stark;
lange konnte keiner dem andern einen Vorteil abgewinnen, und ängst-
lich harrten die Zuschauer des Ausgangs. Endlich schlug Lohengrin
mit solcher Gewalt durch Friedrichs Helm, daß seinem Gegner die
Sinne vergingen. Da bat Friedrich um Frieden, und Lohengrin ge-
währte ihm denselben, indem er sprach: „Es wäre mir keine Ehre,
wenn ich Euch jetzt, da Ihr betäubt seid, erschlagen wollte." Bald
aber begann der Kampf von neuem. Friedrich kam darin durch den
starken Lohengrin so sehr in Not, daß er sich ihm ergab und gestand,
daß Fürstin Elsa ihm nie die Ehe versprochen hätte.
Als darauf Gericht gehalten ward über den Lügner, war mancher
edle Herr, der für ihn bat. „Er ist ein edler Held," sprachen viele,
„und hätte er diese Lüge nicht gesagt, so wäre kein Makel an ihm."
Der Kaiser aber wollte nichts von Gnade hören; er verurteilte den
Grafen, der auch sofort enthauptet wurde. Mancher, dem sein jugend-
liches, rosiges Antlitz Mitleid eingeflößt hatte, beklagte ihn tief.
Elsa wählte nun mit der Zustimmung ihrer Fürsten den Helden
Lohengrin, den sie vom ersten Anblick an lieb gewonnen hatte, zu
ihrem Gemahle. Sie traten beide miteinander in den Ring, und der
83
Kaiser gab sie vor allen Anwesenden zusammen. Doch hatte Lohengnn
vorher noch eine Bedingung gestellt, wie sie der Gral seinen Rittern
vorschrieb: Elsa sollte nie fragen, woher er gekommen sei. Werde sie
das halten, so werde er immerdar hei ihr bleiben dürfen; thue sie
aber die verbotene Frage, so müsse er von ihr scheiden. Elsa ver-
sprach, was er verlangte, und so wurden die beiden ein glückliches
Paar und kehrten voll Freuden heim.
II.
Lohengrin nahm seine Lande von dem Kaiser zu Lehn und herrschte
gewaltig und weise in denselben. Auch that er dem Kaiser gute Dienste
in dem Kriege, den dieser gegen die Hunnen zu führen hatte. Mit
seinem Weibe aber lebte er in ungestörtem Glücke.
Einst waren Lohengrin und sein Weib mit vielen andern Fürsten
und Herren an den Hof des Kaisers geladen, um die Vermählung der
kaiserlichen Tochter mit dem Herzog von Lothringen mitzufeiern.
Große Pracht war da zu schauen, und kein Tag verging, ohne daß die
Ritter in Kampfspielen sich übten. Bei einem solchen Kampfspiele
geschah es, daß Lohengrin in kurzer Frist vier seiner Gegner in den
Sand streckte. Der Kaiser lobte ihn dafür, und die Kaiserin, die mit
den übrigen Frauen den Kämpfen zuschaute, pries ihn gegen die Frauen
und erinnerte an die Heldenthaten, die er in dem Kriege gegen die
Hunnen vollfühlt hatte.
Dieses Lob verdroß aber die Herzogin von Cleve, und neidisch
sprach sie: „Lohengrin mag ein kühner Held sein und der Christenheit
zur Zierde gereichen. Nur schade, daß man nicht weiß, von wannen
er gekommen ist. Fast möchte man glauben, er sei nicht von adligem
Geschlechte, und das sei die Ursache der Verheimlichung seiner Ab-
kunft.“ Solches sagte sie aber, weil sie es Lohengrin nicht vergessen
konnte, daß er einst im Turnier ihren Gemahl vom Rosse gestochen
hatte, so daß dieser zur Erde fiel und den rechten Arm brach.
Diese Rede ging der Herzogin von Brabant durchs Herz, und eine
lichte Röte schoß ihr darüber ins Angesicht. Die Kaiserin aber ver-
wies der Herzogin von Cleve ihr ungeziemendes Reden und tröstete
Lohengrins Weib. Elsa konnte aber den ganzen Tag die Rede der
Herzogin nicht aus dem Gedächtnis bringen. Sie war traurig, und als
am Abend Lohengrin in ihr Zimmer kam, fand er sie weinend. Er
fragte sie: „Liebes Weib, was fehlt dir?“ Sie aber schwieg und weinte
nur um so mehr, denn sie wußte wohl, daß ihr der Held verboten
hatte nach seiner Herkunft zu fragen. So ging es drei Tage. Länger
vermochte die Herzogin ihren geheimen Kummer nicht zu tragen, und
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auf Lohengrins erneute Bitte, ihm zu sagen, was ihr fehle, erzählte
sie ihm, wie die Herzogin von Cleve ihr weh gethan habe, und dann
that sie die verhängnisvolle Frage. Lohengrin erschrak, denn er wußte,
daß er sich nun von seinem Weibe trennen mußte. Er vertröstete sie
aber bis auf ihre Heimkehr, da wolle er ihr sagen, woher er sei.
Damit war Elsa zufrieden. Darauf bat der Held die anwesenden Herren
ihn nach Antwerpen zu begleiten. Sie erklärten sich dazu bereit, und
selbst der Kaiser zog mit.
Als man in Antwerpen angekommen war, versammelte er alle seine
Gäste um sich und sprach zu ihnen: „Ihr wißt, daß ich mir aus-
bedungen hatte, mein Weib solle mich nie nach meiner Herkunft
fragen; denn wenn sie eine solche Frage thäte, müßte ich von ihr
scheiden. Nun hat sie leider doch die Frage gethan, und so will ich
denn vor euch allen antworten. Ich bin wohl aus edlem Geschlechte.
Parzival, der Gralskönig, ist mein Vater, und von dem heiligen Gral
selbst bin ich ausgesandt der bedrängten Herzogin von Brabant zu Hilfe."
Darauf bat er die Herren, sich in Treuen seines Weibes anzu-
nehmen, das er jetzt verlassen müsse, und auch für seine beiden
Söhnlein zu sorgen. Er ließ sich die Kinder bringen, herzte und
küßte sie und gab den Umstehenden sein Schwert und sein Horn,
damit sie beides sorgsam bewahrten, bis seine Söhne herangewachsen
seien. Seinem Weibe aber, das in sprachlosem Schmerze und fast ohne
Bewußtsein alles gehört und mit angesehen hatte, gab er ein Ringelein,
das er einst von seiner Mutter zum Andenken erhalten hatte.
Und siehe, da kam schon der Schwan wieder herbeigeschwommen,
der vor Jahren den Helden gebracht hatte, und hinter sich zog er
wieder das Schilf lein. Als die Fürstin ihn sah, schien ihr die Besinnung
erst wiederzukommen. Sie hing sich an den Hals des Helden und rief
laut weinend: „Bleibt hier, viel lieber Herr! Macht mich nicht so elend,
daß ich mein Leben lang um Euch weinen müßte."
Lohengrin aber machte sich sanft von ihr los und stieg in das
Schift. Sofort schwamm der Schwan von dannen. Einen Gruß noch
rief der Held der Geliebten zu; diese aber sank ohnmächtig den Frauen
in die Arme. Der Kaiser und die übrigen Herren nahmen sich der
verwaisten Söhne an. Johann und Lohengrin hießen sie und wurden
Helden, die ihres Vaters würdig waren. Die Herzogin aber klagte und
weinte ihr übriges Leben lang um den geliebten Gemahl, der nimmer
wiederkehrte. Nach A. Richter mit einigen Änderungen.
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18. Der Sängerkrieg auf der Wartburg.
Im Jahre 1206 lebten auf der Wartburg am Hofe Hermanns, des
Landgrafen zu Thüringen und Hessen, sechs edle und berühmte Sänger:
Herr Heinrich, genannt der tugendhafte Schreiber, Herr Walther von der
Vogelweide, Herr Reinmar, Herr Wolfram von Eschenbach, alle ritter-
lichen Standes; der fünfte war Biterolf, einer von des Landgrafen Hof-
gesinde, der sechste Heinrich von Ofterdingen, ein Bürger aus der Stadt
Eisenach, der aus einem frommen Geschlechte stammte. Diese sechs Meister
gerieten einst voreinander in Streit über die Tugenden und Vorzüge etlicher
Fürsten, besonders aber des Herzogs Leopold von Österreich und des Land-
grafen Hermann von Thüringen. Sie kämpften nicht mit den Schwertern,
sondern mit ihren Liedern gegeneinander, flochten auch artige Rätsel in
ihren Gesang, die sie meist der heiligen Schrift entlehnten. Die Lieder
aber, die sie damals sangen, sind bis auf unsere Tage gekommen und
heißen „der Krieg von Wartburg".
In diesem Kampfe trat Heinrich von Ofterdingen allein gegen die
andern alle auf. Denn während die andern den Landgrafen Hermann
besangen und ihn mit dem hellen Tage verglichen, pries Heinrich von Ofter-
dingen in seinen Liedern den Herzog Leopold von Österreich und verglich
ihn vor andern Fürsten mit der leuchtenden Sonne.
Solches mißfiel den übrigen Sängern so sehr, daß sie großen Haß
gegen Heinrich von Ofterdingen faßten. Darum dachten sie darauf, wie
sie ihn um das Leben brächten; sie verpflichteten sich gegenseitig, auf Leben
und Tod mit ihren Liedern gegeneinander zu kämpfen, und nachdem auch
Heinrich von Ofterdingen solcher Verpflichtung beigetreten war, ward so-
gleich nach dem Henker gesandt, damit dieser den, welcher als besiegt er-
funden würde, alsbald an einen Baum aufknüpfe. Stempfel — so hieß
zur Zeit der Henker — kam und erwartete, den Strang in der Hand hal-
tend, den Ausgang des Kampfes. Er that es aber nur nach dem Willen
der Sänger, und weil das Hofgesinde es gestattete; denn des Fürsten
Jawort hatte man nicht, da dieser alles für einen Scherz hielt und sich
der Sache nicht sehr annahm.
Aber aus dem Scherze ward bitterer Ernst, denn gar zu gerne wären
die übrigen Sänger ihres Feindes Heinrich von Ofterdingen entledigt ge-
wesen. Dieser sang nun zwar klug und geschickt, allein zuletzt wurden die
andern ihm überlegen und fingen ihn in seiner Rede mit listigen Worten.
Da klagte er, daß man ihm falsche Würfel vorgelegt, mit denen er habe
verspielen müssen. Als aber die fünf den Henker herbeiriefen, auch selbst
Hand an den Besiegten legen wollten, um ihn dem Tode zu überant-
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Worten, da entfloh er vor ihnen und rettete sich unter den Mantel der
Landgräfin, auf deren Schutz er sich verließ.
Da mußten sie ihn in Frieden lassen, denn die Landgräfin bat für
ihn und verlangte, daß sie mit ihm unterhandelten. So kam er mit ihnen
überein, daß sie ihm ein Jahr Frist gäben. Binnen dieser Zeit wollte er sich
aufmachen und aus Ungarland den berühmten Meister Klingsor nach der
Wartburg holen. Was der über ihren Streit urteile, das sollte gelten,
und wen er für besiegt erklären würde, der sollte durch Henkershand sterben.
Könnte aber Heinrich von Ofterdingen jenen Klingsor nicht in der be-
sagten Frist herbeischaffen, so sollte er hängen.
Klingsor war ein großer, wohlgelehrter Mann und Weiser, ein Meister
in den sieben freien Künsten, ein Beobachter der Sterne, aus denen er
zukünftige Dinge vorhersagte. Auch war er ein Meister in der schwarzen
Kunst, die Geister mußten ihm gehorsam sein, und Schütze, die in der
Erde verborgen lagen, wußte er wohl zu finden. Darum hielt ihn der
König von Ungarn sehr lieb und wert, ließ ihn nicht von seinem Hoflager
und gab ihm alle Jahre dreitausend Mark Silber zum Lohne, sodaß
Klingsor, der auch ein schöner Mann war, seinen eigenen Hof, wie ein
großer Bischof, halten konnte.
Kein Mensch auf der ganzen Erde war also wohl mehr imstande, den
Streit der Sänger auf der Wartburg zu entscheiden, als Meister Klingsor,
und auf ihn hatte sich Heinrich von Ofterdingen berufen, zur Zufrieden-
heit der übrigen Sänger, die da glaubten auf diesem Wege ihres Gegners
sicher ledig zu werden.
Aber Heinrich von Ofterdingen meinte, er allein sei einer solchen Bot-
schaft an den weit und breit berühmten Klingsor nicht gewachsen, und
wußte auch nicht, wie er ihn aus Ungarn nach der Wartburg bringen sollte.
Darum machte er sich auf zu dem Herzog von Österreich, offenbarte ihni,
wie es auf der Wartburg ergangen, wie er ihn der Sonne verglichen habe,
wie aber der Landgraf Hermann von Thüringen von den andern Sängern
dem Tage verglichen worden sei, womit sie ihn hätten überlisten wollen, und
wie er sich endlich auf Meister Klingsor zu Ungarn berufen, der in allen
Landen wegen seiner Gelahrtheit und Klugheit gar berühmt sei. Dann
bat er den Herzog um Briefe an Meister Klingsor, damit er desto bereit-
williger wäre, ihm nach der Wartburg zu folgen.
Solches gewährte auch der Herzog dem von Ofterdingen, dazu noch
reichliches Reisegeld, und also ausgestattet eilte Heinrich zu Meister Klingsor.
Nachdem dieser die Ursache seiner Reise vernommen, auch die Briefe des
Herzogs von Österreich gelesen hatte, hieß er Heinrich von Ofterdingen
willkommen, tröstete ihn in seiner Bekümmernis und versprach ihn sicherlich
nach Thüringen zu begleiten. Zugleich verlangte er die Lieder seines
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Gastes zu hören, damit er sich danach richten könne. So mußte ihm
Heinrich alle seine Gesänge vortragen, die dem Meister über die Maßen
wohlgefielen, denn sie waren voll guten Sinnes.
Nun aber schien es, als wollte Meister Klingsor gar keine Anstalt
zu seiner Reise machen, und als hielte er seinen Gast nur durch Worte
hin, sodaß endlich nicht mehr als ein Tag von der dem Heinrich von Ofter-
dingen zugestandenen Zeit übrig war. Da geriet dieser in große Angst
und Betrübnis und klagte: „Meister, ich fürchte, Ihr laßt mich im Stich,
und ich muß allein und traurig meine Straße ziehen. Dann bin ich
ehrlos und darf zeitlebens nimmermehr nach Thüringen." Da Meister
Klingsor solche Reden hörte, sprach er ihm gütlich zu, gelobte ihm auch,
sicherlich mit nach der Wartburg zu fahren. „Ich habe starke Pferde," sprach er,
„und einen leichten Wagen, wir wollen den Weg in kurzer Zeit zurücklegen."
Aber Heinrich von Ofterdingen fand wenig Trost in dieser Rede, beklagte
vielmehr, daß er jemals nach Ungarn gekommen, und konnte vor Sorge nicht
schlafen. Darum gab ihm der Meister abends einen Trank ein, durch den er
sogleich in tiefen Schlaf versenkt wurde. Dann legte er ihn auf ein Bett
und sich dazu und befahl seinen Geistern, daß sie ihn schnell nach Eisenach
im Thüringerlande schaffen und in das beste Wirtshaus niedersetzen sollten.
Das geschah; sanft und wohlbehalten kamen sie noch vor Tagesanbruch
in Hellgrafens Hofe an, der am St. Georgenthor lag, linker Hand, wenn
man aus der Stadt ging. Im Morgenschlummer hörte Heinrich bekannte
Glocken läuten und sprach: „Mir ist's, als hätte ich diese Glocken schon
gehört, und es deucht mich, ich wäre in Eisenach." — „Der träumt wohl,"
sprach da Meister Klingsor. Heinrich aber stand auf und sah sich um, da
nierkte er, daß er in Thüringen war. „Gott sei Lob, daß wir hier sind!"
sprach er. „Das ist Hellgrafens Haus, und hier sehe ich das Thor von
St. Georg und die Leute, die davor stehen und über Feld gehen wollen."
Sogleich verbreitete sich die Nachricht von der Ankunft der beiden in
ganz Eisenach, und auch auf der Wartburg vernahm man, daß Heinrich
von Ofterdingen wieder angekommen sei und den Meister Klingsor mit-
gebracht habe; und die Sänger gingen von dem Schlosse, den Meister mit
Ehrenbezeigungen und Geschenken zu bewillkommnen, wie es der Landgraf
ihnen geheißen hatte. Als man Ofterdingen fragte, wie es ihm ergangen,
und wo er gewesen, antwortete er: „Gestern abend ging ich in Ungarn
schlafen, und heute zur Zeit der Frühmette war ich hier. Wie das aber
zugegangen ist, das weiß ich nicht." So vergingen etliche Tage, bevor die
Meister vor Klingsor sangen.
Nun geschah es, daß Meister Klingsor eines Abends in seines Wirtes
Garten saß und die Gestirne betrachtete, lange auf eine Stelle des Himmels
hinschauend. Und es waren viele ehrbare Leute von des Fürsten Hofe
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und ein Teil der Bürger aus der Stadt gegenwärtig, die den Abendtrunk
zu sich nahmen. Diese baten den Meister, ihnen etwas Neues zu sagen,
wie er oft zu thun pflegte, und weshalb man immer gern bei ihm war.
„Ich will euch," sprach er da, „neue fröhliche Mär sagen: In dieser Nacht
wird meinem Herrn, dem Könige von Ungarn, eine Tochter geboren, die
wird Ludwig, dem Sohne eures Fürsten, zur Ehe gegeben werden, und
von ihrer Tugend und Heiligkeit wird dieses Land und die gesamte Christen-
heit großen Segen haben."
Das hörten die Herren von Hessen und Thüringen, die in Meister
Klingsors Herberge gekommen waren, mit großer Freude, eilten zur Wart-
burg zurück, und als Landgraf Hermann des Morgens die Messe angehört
hatte, verkündeten sie ihm die Worte, die sie von dem Meister vernommen
hatten. Der Fürst verwunderte sich gar sehr über dieselben und ritt so-
gleich hinab, Meister Klingsor zu empfangen und auf sein Schloß zu
führen, damit er ihm und der Landgräfin noch einmal die frohe Nachricht
sagen möchte. Da war ein großer Zulauf und ein Gerede unter dem
Hofgesinde von den fröhlichen neuen Mären. Dem Meister Klingsor zu
Ehren aber wurde ein festliches Mahl bereitet.
Als Klingsor sich genug mit dem Landgrafen unterhalten hatte, begab
er sich nach dem Rittersaale zu den Sängern. Bevor er aber über ihren
Streit sein Urteil abgeben konnte, trat gegen ihn auf Wolfram von Eschenbach,
der ihm gram war. Sie sangen mit ihren Liedern gegeneinander, aber
Wolfram that so viel Sinn und Geschick in seinen Liedern kund, daß ihn
der Meister nicht überwinden konnte. Nachdem sie eine Weile gegeneinander
gesungen hatten, ging Klingsor aus dem Rittersaale, beschwor einen Geist,
ließ diesen die Gestalt eines Jünglings annehmen, und indem er ihn zu
Wolfram von Eschenbach brachte, sagte er zu diesem in Gegenwart des
Fürsten und vor dessen Mannen: „Wolfram, ich bin etwas müde, mit dir
zu reden; mein Knecht soll eine Weile mit dir sprechen." Und nun fing
der Teufel an zu reden; er fing an von dem Anbeginn der Welt und kam
bis zu der Zeit, wo Christus geboren ward, da schwieg er. Wolfram
aber sang weiter von der Gnade Gottes, die er durch Jesum der Welt
erwiesen, und als er sang von der heiligen Wandlung des Brotes und
des Weines, da mußte der Teufel von dannen weichen. Klingsor hatte
alles mit angehört, wie Wolfram mit gelehrten Worten das göttliche Ge-
heimnis besungen hatte, und glaubte, daß derselbe wohl auch ein Gelehrter
sein möge. Doch wollte Klingsor genauer wissen, ob Herr Wolfram wirklich
gelehrt oder nur ein Laie wäre, und darum beschwor er noch einmal den
Teufel, der sollte es ihm erforschen.
Nun hatte Herr Wolfram seine Herberge bei einem Bürger in Eisenach,
Tietzel Gottschalk mit Namen, dem Brotmarkte gegenüber, mitten in der
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Stadt. Dahin kam der Teufel des Nachts in ein steinernes Gemach,
welches die düstere Kammer hieß, denn sie hatte keine Fenster, war aber
zur Zeit Herrn Wolframs Schlafkammer. Und der Teufel begann zu
sprechen von den Sternen, von des Himmels Lauf und Natur, und wie
es um die Bilder des Himmels beschaffen wäre. Er legte Wolfram auch
Fragen vor. Weil dieser aber nur gelehrt war in Gottes Wort, in andern
Dingen aber unerfahren, so konnte er ihm nicht antworten.
Da lachte der Teufel und schrieb mit feinem Finger in die Stein-
wand, als ob sie ein weicher Teig gewesen wäre: „Wolfram, du bist ein
Laie!" Darauf entwich der Teufel, die Schrift aber blieb an der Wand
stehen. Weil jedoch viele Leute kamen, die das Wunder sehen wollten,
verdroß es den Hauswirt; er ließ den Stein aus der Mauer brechen und
ins Wasser werfen.
Klingfor aber gelang es endlich, den Streit der Sänger gütlich bei-
zulegen, und da er nicht länger bleiben wollte, verabschiedete er sich von
dem Landgrafen, von dem er noch kostbare Kleider und Kleinode zum
Geschenk erhielt, und schied mit großem Danke von der Wartburg. Wie
er aber hinweggekommen, das wußte niemand. A. Richter.
19. Aus dem Volksküche vom Dr. Faust,
a) Kurzer Lebenslauf.
Johannes Faust, der weitberühmte Schwarzkünstler, angeblich aus Knitt-
lingen in Schwaben oder, wie andere meinen, aus dem Flecken Sondwedel in
der Grafschaft Anhalt gebürtig, war nach der Sage der Sohn armer, frommer
Bauersleute. Er hatte aber einen reichen Onkel zu Wittenberg, von welchem
er wegen seiner guten Anlage, und weil jener keine Leibeserben besaß,
an Kindes Statt angenommen und, nachdem er steißig in allem unter-
richtet worden war, mit zunehmendem Alter auf die hohe Schule zu Ingol-
stadt geschickt wurde. Daselbst studierte er Theologie, Medizin, Astrologie*)
und Magie**) und that sich in allen Künsten und Wissenschaften so sehr
hervor, daß er in der Prüfung elf andern Meistern der freien Künste
vorgezogen und selbst mit dem Magisterkäppchen geschmückt wurde. Weil
er aber mehr wissen wollte als alle andern Gelehrten seiner Zeit, verfiel
er auf allerlei abergläubisches Thun, wie Geisterbeschwören,'Teufelsbannen,
erforschte den Sternenlauf, verkündigte den Leuten, was für Glück und
Unglück sie erleben würden, und wußte mit Kalender-Rechnung wohl um-
zugehen. Dabei geriet er aber in schlechte Gesellschaft, welche ernste Studien
*) Sterndeuterkunst.
**) Zauberkunst, Traumdeuterei u. dgl.
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beiseite setzte, brachte das Vermögen, welches er von seinem Oheim geerbt
hatte, durch und schloß, um neue Schätze zu erlangen und auch weiter sein
Leben in täglicher Lust und Freude zu verbringen, mit dem Teufel auf
vierundzwanzig Jahre ein Bündnis. Hiernach mußte er mit seinem eigenen
Blute einen Vertrag unterschreiben, wonach er sich verpflichtete Gott und
allen himmlischen Heerscharen zu fluchen und aller Menschen Feind zu
sein, ganz besonders derjenigen, welche ihn seines wüsten Lebens wegen
verachten würden. Auch mußte er versprechen den Pfaffen und geistlichen
Personen nicht zu gehorchen, in keine Kirche zu gehen und besonders die
heiligen Sakramente nicht zu gebrauchen. Der Teufel aber gelobte dafür
ihm in allem fleißig und willig nachzukommen, was er ihm zumuten oder
von ihm begehren würde.
So hatte nun Doktor Faustus flotte Tage und tägliches Wohlleben,
weil es ihm an nichts mangelte, wonach sein Herz gelüstete. Tag und Nacht
brachte er in Saus und Braus hin, spielte und trank mit seinen Zech-
brüdern, und trieb allerlei wunderliche Geschichten, fodaß nach einiger Zeit
jedermann in der Stadt merkte, daß solches nicht mit rechten Dingen zu-
gehen könne. Gar bald kam er in den Ruf der Zauberei, und weil ihm
dies gefiel und zusagte, zog er in der Welt umher und vollführte mit
Hilfe seines Geistes Mephistopheles allerlei lustige Stücke und Teufeleien
bis er endlich in der Nacht, als die bestimmten vierundzwanzig Jahre ab-
gelaufen waren, vom Teufel heimgeholt wurde.
Nun laßt euch von den lustigen Streichen und Zauberstückchen, welche
dieser Erzschwarzkünstler an verschiedenen Orten zu allgemeiner Verwunde-
rung ausgeführt haben sollte, einige erzählen.
d) Dr. Faust und die Wittenberger Studenten.
Einst wurde zu Wittenberg bei einer fröhlichen Gesellschaft von einem
Studenten des Dichters Homer Erwähnung gethan, der eben zur selbigen Zeit
auf der hohen Schule gelesen wurde und, wie ihr wißt, von vielen berühmten
griechischen und troischen Helden wie Menelaus, Achilles, Hektor, Priamus,
Paris, Odysseus, Agamemnon, Ajax handelt und deren rühmliche Thaten
erzählt. Einer lobte des Poeten zierliche Redeweise, der andere, daß er
in seinem Werke jene Personen so schön und trefflich beschrieben hätte, als
wenn sie zugegen wären; und so rühmte der eine dies, der andere jenes.
Alsbald erbot sich Doktor Faust, die eben genannten Helden des andern
Tags im Hörsaale in ihrer eigenen Person ihnen vorzuführen, was denn
mit großer Freude von allen angenommen wurde. Als sie nun deswegen
den Doktor am folgenden Tage mit sich in den Hörsaal führten, fing
dieser also an zu reden: „Ihr lieben Herren und guten Freunde, weil ihr
ein großes Verlangen tragt, die troischen Kriegshelden und etwa noch
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andere, deren der Dichter Homer gedenkt, in der Person, wie sie damals
gelebt haben und einhergegangen sind, anzuschauen, so soll euch solches
jetzt gewährt werden, nur daß keiner ein Wort rede oder jemand zu fragen
begehre!" Nachdem sie ihm letzteres zu halten versprochen hatten, klopfte
Doktor Faust mit dem Finger an die Wand. Alsobald traten jene grie-
chischen Helden in ihrer Rüstung einer nach dem andern in den Hörsaal
herein, sahen sich zur Rechten und Linken mit halb zornigen, halb strah-
lenden Augen um, schüttelten die Köpfe und gingen wieder nacheinander
zur Thüre hinaus.
Doktor Faust wollte es aber dabei nicht bewenden lassen, sondern
noch einen kleinen Schrecken hinzufügen; er klopfte deshalb noch einmal.
Da that sich die Thüre weit auf, und halb gebückt trat der ungeheure,
greuliche Riese Polyphem, welcher an der Stirn nur ein Auge hatte,
herein mit einem langen, zottigen, feuerroten Barte. Dem hing ein kleines
Kind, das er gefressen, noch mit dem Schenkel zum Maule heraus, und
er war so grausam und schrecklich anzusehen, daß ihnen allen miteinander
die Haare zu Berge standen, worüber denn Doktor Faust herzlich lachte.
Um nun seine Zuschauer noch mehr zu ängstigen, bewirkte er, daß Poly-
phem, als er wieder zur Thür hinausgehen wollte, sich zuvor noch
einmal mit feinem erschrecklichen Gesichte umsah und sich nicht anders ge-
bärdete, als wollte er nach etlichen greifen; er stieß zugleich mit seinem
ungeheuren Spieße auf den Erdboden, daß das ganze Gemach zusammen-
zubrechen drohte. Faust aber winkte ihm mit dem Finger; da ging auch
er hinaus, und so hatte denn Doktor Faustus seine Zusage erfüllt. Die
Studenten waren alle wohl zufrieden; doch hatten sie genug und begehrten
hinfort keine solche Vorstellung mehr von ihm.
c) Dr. Faust in Auerbachs Keller.
Zu derselben Zeit studierten in Wittenberg einige polnische Herren
von Adel, welche mit Doktor Faust viel verkehrten und gute Freund-
schaft hielten. Nun war gerade die Leipziger Messe, und sie verlangten
sehr, dieselbe einmal zu besuchen, teils weil sie von ihr so viel gehört
hatten, teils weil etliche gedachten, allda von ihren Landsleuten Geld zu
erheben. Sie baten daher den Doktor, er möge sie durch seine Kunst,
mit der er schon so manches zuwege gebracht habe, so schnell wie möglich
dahin führen. Doktor Faust wollte sie keine Fehlbitte thun lassen und
bewirkte, daß des andern Tags vor der Stadt ein mit vier Pferden be-
spannter Reisewagen stand, in welchen sie sich getrost setzten, worauf sie
in schnellem Laufe davonfuhren. Kaum aber hatten sie eine Viertelstunde
^Legs hinter sich, da bemerkten sie zu ihrer großen Verwunderung die
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Türme Leipzigs, und während sie sich noch erstaunt darüber unterhielten,
fuhren sie schon in die Thore der Stadt ein.
Folgenden Tages besahen sie die Stadt, verwunderten sich über die
Kostbarkeiten der Kaufmannschaft, besorgten ihre Geschäfte, und als sie
wieder nach ihrem Wirtshause gingen, sahen sie, wie nahe am Markte
mehrere Wein- und Bierschröter ein Faß Wein, sieben oder acht Eimer
enthaltend, aus einem Weinkeller, der noch heutzutage als Auerbachs Keller
allbekannt ist, herausbringen wollten. Die vermochten es aber nicht zu heben,
wie sehr sie sich auch bemühten, und eine große Menge Volks hatte sich
versammelt, um der Sache zuzusehen. Auch Doktor Faust und seine Ge-
sellen standen still. Da rief Faust, der auch hier durch seine Kunst be-
kannt werden wollte, fast höhnisch den Schrötern zu: „Wie stellt ihr euch
doch so ungeschickt an! Ihr seid euer so viel und könnt ein solches Faß
nicht zwingen? Ich meine, daß es einer allein verrichten könnte, wenn er
sich recht dazu schicken wollte." Die Schröter waren über solche Rede sehr
ungehalten, warfen, weil sie ihn nicht kannten, mit herben Worten um sich
und riefen unter anderem, wenn er es besser verstünde als sie, ein solches
Faß zu heben und aus dem Keller zu bringen, so solle er es in des
Teufels Namen thun. Während sie aber so miteinander streiten, kommt
der Herr des Weinkellers herbei, vernimmt die Sache, und daß der eine
gesagt, es könne das Faß wohl einer allein aus dem Keller bringen.
Da geriet dieser in hellen Zorn und sprach zu Faust und seinen Begleitern:
„Wohlan, weil ihr denn so starke Riesen seid, so verspreche ich hiermit, daß
der von euch, welcher das Faß allein herauf und aus dem Keller schafft,
es mitsamt dem Inhalte behalten soll." Doktor Faust aber war nicht faul,
und weil eben noch etliche Studenten dazu gekommen waren, rief er diese
zu Zeugen dessen an, was der Weinherr versprochen hatte, ging dann hinab
in den Keller, setzte sich recht breit auf das Faß, wie auf einen Bock, und
ritt, so zu sagen, dasselbe zu jedermanns Verwundern herauf. Am meisten
aber erschrak der Weinherr darüber, und obgleich er vorgab, daß dies nicht
natürlich zuginge, mußte er doch sein Versprechen halten. Also überließ
er das Faß mit dem Weine dem Doktor Faust, der es nunmehr seinen
Gesellen sowie den Studenten, die ihm als Zeugen gedient hatten, zum
besten gab. Diese ließen es in das Wirtshaus schaffen, luden noch mehr
gute Freunde dazu und machten sich etliche Tage davon lustig, so lange
bis kein Tropfen Wein mehr darinnen war.
d) Dr. Faust und Kaiser Maximilian.
Einst war Kaiser Maximilian mit seiner ganzen Hofhaltung nach
Innsbruck gekommen, um einige Zeit dort zu verweilen und sich von den
Regierungsgeschäften auszuruhen. Doktor Faust aber war auch zugegen
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und stand wegen seiner Kunst und der Proben, die er früher davon hatte
sehen lassen, bei Seiner Kaiserlichen Majestät in großer Gunst und hohem
Ansehen. Eines Abends, als der Kaiser das Nachtessen eingenommen hatte
und in seinem Zimmer auf und ab spazierte, ließ er den Doktor allein zu
sich kommen und sprach zu ihm: „Ich saß neulich in Gedanken und dachte
darüber nach, wie meine Vorfahren so hoch in ihrer kaiserlichen Würde
und Hoheit gestiegen und zu einem solchen Ansehen bei der Nachwelt
gelangt sind, daß ich billig Sorge trage, ob die nachfolgenden Kaiser gleicher
Ehre teilhaftig werden möchten; aber was ist dieses alles gegen die Hoheit
und das Glück Alexanders des Großen gewesen, der fast die ganze Welt
in so kurzer Zeit erobert hat? Wie gern möchte ich den Geist dieses
unüberwindlichen Helden, wie auch seiner schönen Gemahlin, wie sie im
Leben gewesen, einmal mit eigenen Augen schauen!" Doktor Faust wollte
diesen Wunsch seinem kaiserlichen Herrn nicht abschlagen und antwortete
daher nach kurzem Bedenken, er wolle dies alles ohne Betrug bewerkstelligen,
nur bäte er Seine Kaiserliche Majestät, ja während der Zeit dieser Vor-
stellung nichts zu reden, was der Kaiser auch versprach.
Alsbald begiebt sich Faust vor das Gemach, erteilt seinem Diener
Mephistopheles Befehl, jene Personen vorzustellen, und kommt wieder herein.
Darauf klopft er an die Thüre. Da thut sich diese von selbst auf, und
herein schreitet der große Alexander, wiewohl nicht groß von Person, doch
strengen Ansehens; dazu hatte er einen blonden Bart. Angethan mit einem
kostbaren Panzer, machte er dem Kaiser eine Verbeugung. Dieser aber
wollte sofort dem Herrn Bruder die Hand bieten und sprang deswegen von
seinem Stuhle auf. Allein Faust trat eilig dazwischen und verhinderte es.
Als nun Alexanders Geist wieder von dannen gegangen war, kam alsbald
der Geist der Königin, seiner Gemahlin, herein. Diese machte ebenfalls
vor dem Kaiser eine tiefe Verbeugung und war gekleidet in ein Gewand
von himmelblauem Samt, welches über und über mit orientalischen Perlen
besetzt war; sie war dabei eine über alle Maßen schöne Frau, lieblichen
Ansehens und holdseliger Gebärden, sodaß sich der Kaiser über diesen
Anblick herzlich freute und dem Doktor, nachdem auch diese wieder ver-
schwunden war, für den hohen Genuß, den er ihm bereitet hatte, gar
sehr dankte und den Schwarzkünstler mit einem ansehnlichen kaiserlichen
Geschenke bedachte.
Weil dieses aber über alle Maßen reichlich war, wollte Faust sich
dankbar erzeigen und seinem gütigen Herrn noch eine besondere Ergötzlichkeit
verschaffen. Nachdem nämlich der Kaiser zur Ruhe gegangen war und sich
in sein gewöhnliches Schlafgemach verfügt hatte, konnte er sich am frühen
borgen, als er erwachte, nicht besinnen, wo er war; denn das Schlaf-
gemach war durch Doktor Fausts Kunst in einen schönen Saal verwandelt
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worden, wo gar viele herrlich grünende Bäume standen, unter andern auch
solche, welche mit allerlei Obst behängen waren. Der Boden des Saales
war eine grüne Wiese, mit tausenderlei bunten Blümlein geschmückt. Um
das Lager des Kaisers aber standen noch edlere Bäume, wie Pomeranzen,
Granaten und Feigen, auf dem Gesims waren die allerwohlriechendsten
Blumen zu schauen, und an den Wänden hingen köstliche Weintrauben.
Durch solch eine unverhoffte Veränderung seines Schlafzimmers geriet der
Kaiser, wie leicht zu glauben, in große Verwunderung, und weil es ihm
außerordentlich gefiel, verblieb er etwas länger als sonst im Bette. Da
vernahm er plötzlich den lieblichen Gesang der Nachtigall und anderer
Singvögel, welche immer von einem Baume auf den andern hüpften; auch
sah er von ferne am Ende des Saals schneeweiße Kaninchen und junge
Hasen laufen; und bald darauf überzog das obere Taselwerk ein Gewölk.
Während nun der Kaiser diesem allem begierig zusah, gedachten die Kammer-
diener seiner und ftagten sich, wie es doch kommen möge, daß ihr aller-
gnädigster Herr so lange in seinem Gemache verweile, und fürchteten, es
möchte ihm etwas Böses zugestoßen sein. Sie erkühnten sich deshalb, die
Thüre leise zu öffnen. Da trafen sie denn aber nicht allein ihren Herrn
bei gutem Befinden an, sondern nahmen auch selbst all die Herrlichkeiten,
wie sie der Schwarzkünstler mit seinem Diener hergerichtet hatte, wahr.
Der Kaiser ließ nun die Vornehmsten am Hofe zu sich berufen, welche
sich ebenfalls ob der Zierlichkeit und Lustbarkeit des Saales nicht genug
verwundern konnten. Allein nach etwa einer Stunde, und ehe sie sich dessen
versahen, fingen die Blätter an den Bäumen, sowie auch die Früchte und
Blumen an welk zu werden und zu verdorren; bald aber kam ein Wind
zum Gemache herein, der alles mit einem Male hinwegwehte, sodaß der
ganze Zauber in einem Augenblicke vor ihren Augen verschwand und es
ihnen nicht anders war, als hätten sie geträumt. Faust aber wurde auch
für diese Kurzweil, woran der Kaiser sowie alle übrigen großes Wohl-
gefallen gehabt hatten, reichlich belohnt. Nach Gustav Schwab.
20. Erkühlungen des Herrn Äarsn von Münchhausen.
Wir belagerten ich weiß nicht mehr welche türkische Stadt, und dem
russischen Feldmarschall war ganz erstaunlich viel an genauer Kundschaft
gelegen, wie die Sachen in der Festung stünden. Es schien äußerst schwer,
ja fast unmöglich, durch alle Vorposten, Wachen und Festungswerke hinein-
zugelangen; auch war eben kein tüchtiger Mann vorhanden, mit dem man
so etwas glücklich auszurichten hätte hoffen können. Vor Mut und Dienst-
eifer fast ein wenig allzu rasch, stellte ich mich neben eine der größten
Kanonen, die soeben nach der Festung abgefeuert ward, und sprang im Hui
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auf die Kugel, in der Absicht, mich in die Festung hineintragen zu lassen.
Als ich aber halbwegs durch die Luft geritten war, stiegen mir allerlei
nicht unerhebliche Bedenklichkeiten zu Kopfe. Hm! dachte ich, hinein kommst
du nun wohl, allein wie hernach wieder heraus? Und wie kann's dir in
der Festung ergehen? Man wird dich sogleich als einen Spion erkennen
und an den nächsten Galgen hängen. Ein solches Bette der Ehre wollte
ich mir denn doch wohl verbitten.
Nach diesen und ähnlichen Betrachtungen entschloß ich mich kurz, nahm
die glückliche Gelegenheit wahr, als eine Kanonenkugel aus der Festung
einige Schritte weit vor mir vorüber nach unserm Lager flog, sprang von
der meinigen auf diese herüber und kam, zwar unverrichteter Sache, jedoch
wohlbehalten bei den lieben Unsrigen wieder an.
So leicht und fertig ich im Springen war, so war es auch mein
Pferd. Weder Gräben noch Zäune hielten mich jemals ab, überall den
geradesten Weg zu reiten. Einst setzte ich hinter einem Hasen her, der
querfeldein über die Heerstraße lief. Eine Kutsche mit zwei schönen Damen
fuhr diesen Weg gerade zwischen mir und dem Hasen vorbei. Mein Gaul
setzte so schnell und ohne Anstoß mitten durch die Kutsche hindurch, von
der die Fenster aufgezogen waren, daß ich kaum Zeit hatte, meinen Hut
abzuziehen und die Damen wegen dieser Freiheit unterthänigst um Ver-
zeihung zu bitten.
Ein anderes Mal wollte ich über einen Morast setzen, der mir anfäng-
lich nicht so breit vorkam, als ich ihn fand, da ich mitten im Sprunge
war. Schwebend in der Luft wendete ich daher wieder um, wo ich her-
gekommen war, um einen größeren Anlauf zu nehmen. Gleichwohl sprang
ich auch zum zweiten Male noch zu kurz und fiel nicht weit vom andern
Ufer bis an den Hals in den Morast. Hier hätte ich unfehlbar umkommen
müssen, wenn nicht die Stärke meines eigenen Armes mich an meinem
eigenen Haarzopfe, samt dem Pferde, welches ich fest zwischen meine Knie
schloß, wieder herausgezogen hätte.
Trotz aller meiner Tapferkeit und Klugheit, trotz meiner und meines
Pferdes Schnelligkeit, Gewandtheit und Stärke ging's mir in dem Türken-
kriege doch nicht immer nach Wunsche. Ich hatte sogar das Unglück, durch
die Menge übermannt und zum Kriegsgefangenen gemacht zu werden. Ja,
was noch schlimmer war, aber doch immer unter den Türken gewöhnlich
ist, ich wurde als Sklave verkauft.
In diesem Stande der Demütigung war mein Tagewerk nicht sowohl
hart und sauer, als vielmehr seltsam und verdrießlich. Ich mußte nämlich
des Sultans Bienen alle Morgen auf die Weide treiben, sie daselbst den
ganzen Tag lang hüten und dann gegen Abend wieder zurück in ihre
Stöcke treiben. Eines Abends vermißte ich eine Biene, wurde aber sogleich
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gewahr, daß zwei Bären sie angefallen hatten und ihres Honigs wegen
zerreißen wollten. Da ich nun nichts anderes Waffenähnliches in Händen
hatte als die silberne Axt, welche das Kennzeichen der Gärtner und Land-
arbeiter des Sultans ist, so warf ich diese nach den beiden Räubern, bloß
in der Absicht, sie damit wegzuscheuchen. Die arme Biene setzte ich auch
wirklich dadurch in Freiheit; allein durch einen unglücklichen, allzu starken
Schwung meines Armes flog die Axt in die Höhe und hörte nicht auf zu
steigen, bis sie im Monde niederfiel. Wie sollte ich sie nun wiederkriegend
mit welcher Leiter auf Erden sie herunterholend
Da fiel mir ein, daß die türkischen Bohnen sehr geschwind und zu
einer ganz erstaunlichen Höhe emporwüchsen. Augenblicklich pflanzte ich
also eine solche Bohne, welche wirklich emporwuchs und sich an eins von
des Mondes Hörnern von selbst anrankte. Nun kletterte ich getrost nach
dem Monde empor, wo ich auch glücklich anlangte. Es war ein ziemlich
mühseliges Stückchen Arbeit, meine silberne Axt an einem Orte wieder-
zufinden, wo alle andern Dinge gleichfalls wie Silber glänzten. Endlich
aber fand ich sie doch auf einem Haufen Spreu und Häckerling.
Nun wollte ich wieder zurückkehren, aber ach! die Sonnenhitze hatte
indessen meine Bohne aufgetrocknet, sodaß daran schlechterdings nicht wieder
hinabzusteigen war. Was war nun zu thun? — Ich flocht mir einen
Strick aus dem Häckerling, so lang ich ihn nur immer machen konnte.
Diesen befestigte ich an einem von des Mondes Hörnern und ließ mich
daran herunter. Mit der rechten Hand hielt ich mich fest, und in der
linken Hand führte ich meine Axt. Sowie ich nun eine Strecke hinunter-
geglitten war, so hieb ich immer das überflüssige Stück über mir ab und
knüpfte dasselbe unten wieder an, wodurch ich denn ziemlich weit herunter-
gelangte. Dieses wiederholte Abhauen und Anknüpfen machte nun freilich
den Strick ebensowenig besser, als es mich völlig hinab auf des Sultans
Landgut bringen konnte.
Ich mochte wohl noch ein paar Meilen weit droben in den Wolken
sein, als mein Strick auf einmal zerriß und ich mit solcher Heftigkeit herab
zu Gottes Erdboden fiel, daß ich ganz betäubt davon wurde. Durch die
Schwere meines von einer solchen Höhe herabfallenden Körpers fiel ich ein
Loch, wenigstens neun Klafter tief in die Erde hinein. Ich erholte mich
zwar endlich wieder, wußte aber nun nicht, wie ich wieder herauskommen
sollte. Allein was thut nicht die Not! Ich grub mir mit meinen Nägeln,
deren Wuchs damals vierzigjährig war, eine Art von Treppe und förderte
mich dadurch glücklich zu Tage.
Durch die mühselige Erfahrung klüger gemacht, fing ich's nachher
besser an, die Bären, die so gern nach meinen Bienen und den Honig-
stöcken stiegen, los zu werden. Ich bestrich die Deichsel eines Ackerwagens
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mit Honig und legte mich nicht weit davon des Nachts in einen Hinterhalt.
Was ich vermutete, das geschah. Ein ungeheurer Bär, herbeigelockt durch
den Duft des Honigs, kam an und fing vorn an der Spitze der Stange
so begierig an zu lecken, daß er sich die ganze Stange durch Schlund,
Magen und Bauch bis hinten wieder hinausleckte. Als er sich nun so
artig auf die Stange hinaufgeleckt hatte, lief ich hinzu, steckte vorn durch
das Loch der Deichsel einen langen Pflock, verwehrte dadurch dem Näscher
den Rückzug und ließ ihn fitzen bis an den andern Morgen. Über dies
Stückchen wollte sich der Großsultan, der von ungefähr vorbeispazierte,
fast tot lachen.
Nicht lange hierauf machten die Russen mit den Türken Frieden, und
ich wurde nebst anderen Kriegsgefangenen wieder nach St. Petersburg
ausgeliefert. Ich nahm aber nun meinen Abschied und verließ Rußland
um die Zeit der großen Revolution, vor etwa vierzig Jahren, da der
Kaiser in der Wiege nebst seiner Mutter und ihrem Vater, dem Herzoge
von Braunschweig, dem Feldmarschall von Münnich und vielen andern
nach Sibirien geschickt wurde. Es herrschte damals über ganz Europa ein
so außerordentlich strenger Winter, daß die Sonne eine Art vou Frost-
schaden erlitten haben muß, woran sie seit der ganzen Zeit her bis auf
den heutigen Tag gesiecht hat. Ich empfand daher auf der Rückkehr in
mein Vaterland weit größeres Ungemach, als ich auf meiner Hinreise nach
Rußland erfahren hatte.
Ich mußte, weil mein Litauer in der Türkei geblieben war, mit der
Post reisen. Als sich's nun fügte, daß wir an einen engen hohlen Weg
zwischen hohen Dornhecken kamen, so erinnerte ich den Postillon, mit seinem
Hörne ein Zeichen zu geben, damit wir uns in diesem engen Passe nicht
etwa gegen ein anderes entgegenkommendes Fuhrwerk festfahren möchten.
Mein Kerl setzte an und blies aus Leibeskräften in das Horn, aber alle
seine Bemühungen waren umsonst. Nicht ein einziger Ton kam heraus,
was uns ganz unerklärlich, ja in der That für ein rechtes Unglück zu
achten war, indem bald eine andere uns entgegenkommende Kutsche auf
uns stieß, vor welcher nun schlechterdings nicht vorbeizukommen war.
Nichtsdestoweniger sprang ich aus meinem Wagen und spannte zu-
vörderst die Pferde aus. Hierauf nahm ich den Wagen samt den vier
Rädern und allen Packereien auf meine Schultern und sprang damit über
Erdwand und Hecke, ungefähr neun Fuß hoch, was in Rücksicht auf die
Schwere der Kutsche eben keine Kleinigkeit war, auf das Feld hinüber.
Durch einen andern Rücksprung gelangte ich, nachdem die fremde Kutsche
vorüber war, wieder in den Weg. Darauf eilte ich zurück zu unsern
Pferden, nahm unter jeden Arm eins und holte sie auf die vorige Art,
nämlich durch einen zweimaligen Sprung hinüber und herüber, gleichfalls
Lesebuch sür höhere Lehranstalten. (Preuß AuSg.) III. 7
— 98 —
herbei, ließ wieder anspannen und gelangte glücklich am Ende der Station
zur Herberge.
Noch hätte ich anführen sollen, daß eins von den Pferden, welches
sehr mutig und nicht über vier Jahre alt war, ziemlichen Unfug machen
wollte; denn als ich meinen zweiten Sprung über die Hecke that, so verriet
es durch sein Schnauben und Ausschlagen ein großes Mißbehagen an dieser
heftigen Bewegung. Dies verwehrte ich ihm aber gar bald, indem ich seine
Hinterbeine in meine Rocktasche steckte. In der Herberge erholten wir uns
wieder von unserm Abenteuer. Der Postillon hängte sein Horn an einen
Nagel beim Küchenfeuer, und ich setzte mich ihm gegenüber.
Nun hört, ihr Herren, was geschah! Auf einmal ging's: Tereng!
tereng! teng! teng! Wir machten große Augen und fanden nun auf einmal
die Ursache, warum der Postillon sein Horn nicht hatte blasen können. Die
Töne waren in dem Hörne festgefroren und kamen nun, so wie sie nach
und nach auftauten, hell und klar zu nicht geringer Ehre des Fuhrmannes
heraus; denn die ehrliche Haut unterhielt uns nun eine ziemliche Zeit
lang mit den herrlichsten Modulationen, ohne den Mund an das Horn zu
bringen. Da hörten wir den preußischen Marsch — Ohne Lieb' und ohne
Wein — Als ich auf meiner Bleiche — Gestern abend war Vetter Michel
da — nebst noch vielen andern Stückchen, auch sogar das Abendlied: Nun
ruhen alle Wälder. — Mit diesem letzten endigte sich denn dieser Tauspaß,
sowie ich hiermit meine russische Reisegeschichte. Bürger.
IV. Geschichtliches.
a. Griechenland.*)
21 (1). Kolon als Gesetzgeber und die Erziehung der Athener.
I.
1. Nach dem Opfertode des Königs Kodrus**) schafften die Athener
unter dem Vorwände, keiner sei würdig ihm nachzufolgen, das Königtum
überhaupt ab und richteten einen Freistaat, eine Republik ein. An deren
Spitze stellten sie zuerst einen einzigen sogen. Archonten auf Lebenszeit
und zwar aus Kodrus' Familie. Dann aber dauerte dem ehrgeizigen Adel
dieses Vorrecht eines einzigen Mannes und Geschlechts zu lange, und sie
*) Zur Ergänzung siehe Teil II für Quinta S. 145—158.
**) Vgl. ebenda S. 151.
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wählten zuerst alle zehn Jahre einen neuen Archonten, sodann, damit
möglichst viele an die Reihe kämen, alle Jahre neun Archonten aus
den vornehmsten Familien und stellten so eine Aristokratie oder Adels-
herrschaft her.*)
Statt des einen Königs herrschten also jetzt in Attika die vornehmen
und reichen Großgrundbesitzer oder Handelsherren, welche auf die übrigen
Bürger, die Kleinbauern vom Gebirge und die Küstenbewohner, die Fischer,
Handwerker oder Kleinhändler, stolz herabsahen.**) Letztere hatten weder
an der Staatsleitung noch an der Rechtspflege Anteil; denn auch alle
Richterstellen, zumal die des höchsten Gerichtshofes, des Areopägs,***)
lagen ganz in den Händen des Adels. Der mißbrauchte nun seine Macht
dazu, das ärmere und geringere Volk immer mehr zu unterdrücken.
Dieses befand sich schon sowieso in schwerer Notlage. Früher hatten
die Bauern und Gewerbetreibenden ihre Anschaffungen, ihre Steuern, Mieten
oder Pachten in Korn, Vieh oder in Waren und Erzeugnissen ihrer Arbeit
bezahlen können, wie denn überhaupt der Handel noch Tauschhandel ge-
wesen war. Jetzt kam das Geld auf, und darin sollte nun alles bar be-
zahlt werden. Das aber fehlte grade den Ärmeren; sie mußten also not-
gedrungen von den Reichen borgen und zwar zu hohem Zinsfüße. Konnten
sie nun ihre Zinsen oder Abgaben nicht bezahlen, was bei Mißernten oder
schlechten Geschäften oft genug vorkam, so durften nach dem damaligen sehr
harten Rechte die Gläubiger sie auspfänden, zu Tagelöhnerarbeiten zwingen,
ja schließlich sie als Leibeigene behandeln und gar als Sklaven verkaufen.
Obendrein gab es noch nicht einmal geschriebene Gesetze, sondern das Recht
wurde bloß mündlich überliefert und von den adligen Richtern nur allzu oft
mißbraucht. Kein Wunder also, daß das Volk immer erbitterter wurde.
Das sah schließlich auch der Adel selbst ein und hatte einen angesehenen
Mann aus seiner Mitte, den Drakon, beauftragt, die geltenden Gesetze
aufzuschreiben und Besserungen vorzunehmen. Dieser hatte denn auch den
unteren Volksklassen gewisse Rechte eingeräumt, z. B. die Teilnahme an
der allgemeinen Bürgerversammlung, die über das Staatswohl zu beraten
batte. Auch die Regierung hatte er einem Rate von Vierhundert über-
... " -rerbei im vergleich zur Masse des Bolks nur wenige die Herrschaft aus-
" U**\\)sn-CUnt msln Negierungsform auch Oligarchie, d. h. Herrschaft weniger.
. nannten sich die Adligen Eupatriden, d. h. Hochwohlgeborene,
Paräler Landherren; die Gebirgsbauern hießen Diäkrier, die Küstenleute
J ^Cr "Areopag", d. h. Areshügel, war ein Felsenhügel in Athen, der dem Kriegs-
geweiht war (lateinisch Mars, vgl. Teil II für Quinta S. 101. 161); auf
? x ct,nstC^'' Dcr oberste Gerichtshof seine Sitzungen ab und hieß daher „der Rat
°uf dem Areshügel" oder kurzweg selber „der Areopag".
1
— 100 —
tragen, der aus jener Versammlung ausgelost werden sollte, in den also
auch geringere Bürger gelangen konnten. Doch die Schuldennot hatte er
nicht beseitigt, vielmehr grade in dieser Hinsicht so harte Gesetze aufgestellt,
daß es später hieß: sie seien „mit Blut geschrieben", und daß der Ausdruck
„drakonische Gesetze" für schroffe und grausame Maßregeln sprichwörtlich
wurde.
Da wandte man sich endlich an den Mann, der beim ganzen Volke
das höchste Ansehen und Vertrauen genoß, an jenen Solon, den wir
schon als Gast des Krösus und als einen Weisen kennen gelernt haben.*)
2. Solon stammte noch aus dem Königsgeschlecht des Kodrus, zählte
also selber zum höchsten Adel. Aber seine Familie war verarmt und sein
Vater hatte das mäßige Vermögen noch durch Freigebigkeit geschmälert.
Deshalb widmete er sich dem Kaufmannsberufe und arbeitete sich aus
eigener Kraft so empor, daß er weite Handelsreisen unternehmen konnte,
auf denen er zugleich seine Wißbegier befriedigte und fremde Länder und
Völker in ihrer Lebensweise, ihren Sitten und Gesetzen kennen lernte. Wie
hoch er Wissen und Lebensweisheit schätzte, sprach er in einem Verse aus:
Schwächt mir das Alter den Leib, wächst mir an Einsicht der Geist.
Er hatte nämlich auch dichterische Begabung und wußte seine Gedanken
in schwungvollen Gedichten auszudrücken. Grade dadurch erzielte er bei
seinen Mitbürgern die größten Wirkungen. Im übrigen war er gegen
jedermann, auch den Geringsten, gerecht und wohlwollend. Kannte er doch
aus eigener Erfahrung die Armut und den harten Kampf ums tägliche
Brot. Dabei war er von Herzen fromm, von hohem sittlichem Ernste und
für sein Volk und Vaterland von glühender Liebe erfüllt. Diese hatte er
namentlich bei folgendem Anlaß bewährt.
Die Athener hatten die Insel Salamis, die dicht vor ihrem Hafen
Piräus lag, an die Nachbarstadt Megara verloren und nach langem
vergeblichem Kampfe mutlos aufgegeben. Ja es war bei Todesstrafe ver-
boten, öffentlich davon auch nur zu reden. Alle Patrioten waren erbittert,
doch keiner wagte dagegen aufzutreten. Da griff endlich Solon ein, ge-
brauchte indes, um das Verbot zu umgehen, eine List. Er stellte sich wahn-
sinnig, rannte eines Tages auf den Markt in die Volksversammlung,
bestieg rasch die Rednerbühne, und als alle ihn neugierig umringten, trug
er ein Gedicht vor, worin er mit flammenden Worten zur Wiedereroberung
von Salamis aufforderte. Das schlug so mächtig durch, daß man ein-
mütig jenes Verbot aufhob, die Fortsetzung des Krieges beschloß und ihn
selber zum Anführer wählte. Und in der That gelang es ihm, die Megareer
zu schlagen und die Insel wiederzugewinnen.
*) Teil II für Quinta S. 152.
101
Diesem Manne also übertrug man nun die große Aufgabe einer um-
fassenden Gesetzgebung zur Besserung der bürgerlichen Notstände und wählte
ihn einstimmig zum Archonten (594 v. Chr.). Leicht hätte er da seine
Stellung benutzen können, um sich zum Alleinherrscher zu machen, was im
übrigen Griechenland unter ähnlichen Umständen viele ehrgeizige Männer
gethan hatten.*) Auch rieten dem Solon seine Freunde dazu; er aber
antwortete hochsinnig: nicht seine Ehre suche er, sondern seines Volkes
Größe und Glück.
So ist denn Solon der große Gesetzgeber Athens und damit einer
der größten Gesetzgeber und Staatsmänner überhaupt geworden! Denn
wenn er seine Ordnungen auch ganz genau den damaligen Verhältnissen
Attikas anpaßte, so ist er doch durch den Geist, den er ihnen einhauchte,
durch diesen Geist der Besonnenheit und Gerechtigkeit, der Vaterlandsliebe
und des steten Bürgersinnes, zugleich ein Lehrer und Vorbild für alle
Zeiten geworden und bis heute geblieben!
3. Zuerst befreite er das niedere Volk von der Schuldenlast und dem
Druck der Vornehmen. Alle auf Grundstücken lastenden Schulden wurden
aufgehoben und der Zinsfuß herabgesetzt.**) Denn nach den bisherigen
hohen Zinsen konnte er den Gläubigern dieses Opfer sehr wohl zumuten.
Die, welche darüber murrten, beschämte er dadurch, daß er selbst seinen
Schuldnern alles erließ. Zugleich setzte er zur Hebung von Handel und
Verkehr den Münzfuß herab und ließ das bisherige schwere Geld in
leichteres umprägen, z. B. je 75 alte Mark (griechisch Drachmen) in 100
neue, welche auch die Gläubiger fortan in Zahlung nehmen mußten.***)
Vor allem hob er die abscheuliche Schuldknechtschaft völlig auf: kein
Armer durfte mehr wegen Zahlungsunfähigkeit zum Leibeigenen gemacht,
geschweige denn als Sklave verkauft werden. Ja er verlieh dem Gesetze
die rückwirkende Kraft, daß alle bisher so Geknechteten die Freiheit er-
langten und viele Entflohene zur Heimat zurückkehren durften.
Hierauf erneute er die eigentliche Staatsverfassung, wobei er von
Drakons Gesetzen alles Gute beibehielt.
Das ganze Volk teilte er nach dem Vermögen in vier Klassen, wo-
nach sie auch den Kriegsdienst leisteten. Nur die Bürger der drei ersten
*) Solche hießen „Tyrannen" und ihre Herrschaft eine „Tyrannis , doch ur-
sprünglich nicht in dem Sinne, wie wir heute von Tyrannei reden.
**) Griechisch hieß dies Seifächtheia, d. h- Lasteuabschüttelung-
***) Man kann dies auch so veranschaulichen: Je 6000 Drachmen bildeten ein so-
genanntes Talent; dieses sank also von dem Nennwerte von etwa 6000 Mark im wirk-
lichen Werte auf etwa 4500 Mark herunter. Ähnliche Maßregeln haben später noch viele
Regierungen in der Not durchgeführt, z. B. Friedrich d. Gr. in der Not des Sieben-
jährigen Krieges.
102
Klassen hatten teil an den Staatsämtern und mußten für den Krieg eine
schwere Rüstung haben, weshalb sie die Hoplrten, d. h. Schwerbewaffneten
hießen. Von ihnen dienten die erste Klasse ganz und die zweite je nach
Besitz als Reiterei und hießen daher Hipp eis oder Ritter. Die vierte
Klasse hatte Zutritt zur.Volksversammlung, doch nicht zu den Staatsämtern;
sie enthielt die unbemittelten Bürger, die im Kriege als Leichtbewaffnete,
später auch, als Athen eine Seemacht geworden war, auf der Flotte dienten.
Der Volksversammlung erteilte Solon größere Rechte als bisher:
sie hatte über Krieg und Frieden zu beschließen, Bündnisse einzugehen und
Beamte zu wählen, sowie neue Gesetze zu geben und alte aufzuheben. Er
richtete also eine wirkliche Volksherrschaft (Demokratie) statt der früheren
„Aristokratie" des Adels ein. Um aber auch hierin nicht zu weit zu gehen,
sondern etwaiger Willkür und Leidenschaft der Volksmasfe einen Damm
zu setzen, beschränkte er ihre Macht durch jenen Rat der Vierhundert,
zu welchem aus jedem der vier alten Stämme (Phylen), in welche die
Bürgerschaft zerfiel, hundert Mitglieder gewählt wurden. Nur was in
diesem Rate genehmigt war, durfte der Volksversammlung vorgelegt und
von ihr entweder verworfen oder bestätigt werden.
Zu gleichem Zweck hob er das gesunkene Ansehn des Areopags.
Fortan sollten nur Archonten nach tadelloser Amtsführung darin auf-
genommen werden. Und diese Richter hatten in ihren feierlichen Sitzungen
im schweigenden Dunkel der Nacht nicht nur über Verbrechen aller Art zu
richten, sondern sollten auch den Lebenswandel der Bürger beaufsichtigen
und überall für gute Sitte, Ansland und Würde des öffentlichen wie des
häuslichen Lebens eintreten.
Überhaupt suchte Solon durch seine ganze Gesetzgebung das Volk zu
edler Menschlichkeit zu erziehen. So durfte, ja sollte jeder Bürger
gegen Willkür und Gewaltthat als Ankläger auftreten, einerlei, ob das
Unrecht ihm selbst oder andern geschähe. Denn alle sollten sich als
Glieder eines Leibes fühlen und keinerlei Unrecht unter einander dulden.
Selbst auf Verleumdung und üble Nachrede war Strafe gesetzt und von
Toten Böses zu reden streng verboten. Denn ein Ehrenmann, sagte Solon,
achtet auch die Abgeschiedenen heilig; und wenn es schon unrecht ist,
Abwesende zu verleumden, weil sie sich nicht verteidigen können, wie viel
gemeiner ist's dann, Tote zu verlästern! Wer andre betrog oder Wucher
trieb, mußte vierfach büßen, nämlich das Doppelte des Schadens ersetzen
und noch doppelte Strafe zahlen. Gegen offenbare Müßiggänger, Schlemmer
und Trunkenbolde mußte der Areopag einschreiten. Umgekehrt wurden
Leute, die sich durch Tüchtigkeit ausgezeichnet und ums Vaterland verdient
gemacht halten, öffentlich geehrt. So z. B. durch eine Einladung zu den
Mahlzeiten der Staatsbeamten auf dem sogen. Prytaneum, dem Stadt-
103
oder Rathause; oder auch — was die höchste Ehre war — durch Ver-
leihung des Bürgerkranzes, der damals noch ein einfacher Laubkranz, später
auch wohl von Gold war. Auf Staatskosten wurden auch die Kriegs-
veteranen, die Invaliden und die Hinterbliebenen der ruhmvoll im Kampfe
Gefallenen verpflegt. Kurz, überall suchte Solon Tüchtigkeit und Tugend,
Gemeinfinn und Vaterlandsliebe zu fördern; und dazu diente endlich auch
die athenische Jugenderziehung.
II.
4. Diese war nicht so hart wie die spartanische nach den Gesetzen
Lykurgs, die ja zum Teil geradezu grausam verfuhren.*) Denn Solon
wollte nicht bloß körperliche Abhärtung und kriegerische Tüchtigkeit erzielen,
sondern, wie gesagt, auch zu höherer und feinerer Geistesbildung und edler
gesitteter Menschlichkeit erziehen. Aber ernst und strenge war auch sie,
und von früh auf wurden insbesondere die Knaben an Ordnung und
Arbeit, an Selbstbeherrschung, Zucht und Bescheidenheit gewöhnt. Daheim
wie auf der Straße sollten sie sich still und anständig benehmen; bei
Tische hatten sie zu warten, bis die Erwachsenen sich genommen; dem
Alter sollten sie Ehrerbietung bezeigen und so lange schweigen, bis sie
gefragt würden; das Umhertreiben auf den Straßen und vollends auf
dem Markte bei der Bürgerversammlung war streng verboten.
Bis zum 7. Jahre der Mutter überlassen, mußten sie von da an bis zum
18. die öffentlichen Schulen besuchen, deren es zwei Arten gab: die Sing-
oder Musikschulen und die Ringschulen. Außerdem gab es noch wissenschaft-
liche Privatschulen für die, welche nach höherer Bildung strebten. Früh-
morgens, nach dem ersten einfachen Frühstück, ging's zunächst zur Sing-
schule, wo ihnen die religiösen Lieder, die Hymnen und Choräle und
auch die feierlichen Tänze der Gottesdienste mit Musikbegleitung ein-
geübt wurden. Denn die ganze Erziehung sollte auf der Religion, der
frommen Ehrfurcht und Scheu vor den Göttern beruhen, und Solon sprach
es offen aus: die natürlichen Triebe der Jugend zu allerlei Lärm und
Thorheit müßten durch solche Übung geregelt und schon den zarten Kinder-
herzen edle und fromme Grundsätze gleichsam eingesungen werden. Auch
prägte man ihnen die Heldenthaten der Vorzeit und Denkspriiche weiser
Männer als Vorbilder ein und achtete streng auf Anstand und feines
Benehmen. Die Schüler mußten gerade sitzen, durften die Beine nicht
überschlagen und keine Thorheiten treiben. Übertretungen wurden mit
dem Stock gestraft, den selbst die Jünglinge noch zu fürchten hatten. Aus
der Musikschule ging's zum Ringplatz, der Palästra, wo Turnübungen
°) Vgl. im II. Teil für Quinta S. 145 ff.
104
und Spiele aller Art gepflegt wurden: Hüpfen, Laufen, Springen
und Ringen, Armklimmen und Beinklettern, Werfen, Ballschlagen, auch
Schwimmen. Dann folgten zu Hause das zweite Frühstück, eine Mittags-
pause und nachmittags bis zum Abendessen entweder nochmals Turn-
übungen oder der wissenschaftliche Unterricht für die Gebildeteren. Dieser
bestand in Lesen, Schreiben und Litteraturkunde, vor allem in gründlicher
Beschäftigung mit den Gesängen Homers*), die fast ganz auswendig
gelernt wurden.
Der Erfolg all dieses Unterrichts wurde an den Hermes- oder
an den Musenfesten in öffentlichen Prüfungen den Angehörigen und der
Gemeinde vorgeführt. **)
Mit dem 18. Jahre trat der junge Athener aus dem Knaben- ins
Jünglingsalter und besuchte nun die eigentlichen Gymnasien, die großen
Ubungshallen und Ring- oder Spielplätze der Männer. In Rotten oder
Riegen geteilt, übten sie hier Wett lauf, oft in Waffen oder mit Fackeln,
die nicht verlöschen durften; dann den Hoch- und Weitfprung, das Werfen
mit dem Wurfspieß oder der runden Wurfscheibe, dem sogenannten Diskus,
nach bestimmten Zielen; ferner den Ring kämpf, eigentlich die Haupt-
übung der Kraft und Gewandtheit; endlich den nicht ungefährlichen Faust-
kampf, bei dem die Hände mit Riemen umwunden waren.***)
So in allen körperlichen Fertigkeiten geübt, zu allen sittlichen Tugenden
erzogen, wurde der Jüngling endlich mit dem 20. Jahre durch Einschreibung
in die Liste unter die volljährigen Bürger aufgenommen und auch in die
waffenfähige Mannschaft eingereiht. Feierlich führte man die Neubewaff-
neten auf die Burg in den Tempel der Schutzgöttin Athene und ließ sie
folgenden Waffeneid schwören: „Ich schwöre die heiligen Waffen nicht zu
schänden und im Kampfe meinen Nebenmann, wer es auch sei, nicht zu
verlassen. Ich will kämpfen für die Heiligtümer und das Gemeinwohl,
sowohl allein wie in Gemeinschaft mit andern. Das Vaterland will ich
nicht kleiner, sondern größer und besser zu hinterlassen streben, als wie
ich's überkommen habe. Willig werde ich der Obrigkeit gehorchen und
den Gesetzen Folge leisten; Gesetzesübertretung will ich nicht dulden, sondern
die Staatsordnung verteidigen und die vaterländischen Heiligtümer in
Ehren halten. Zeugen seien des die Götter Athene, Zeus, Ares und die
übrigen!"
*) Vgl. Teil II für Quinta S. 95 ff. aus Homers Ilias, S. 119 ff. aus der
Odyffee.
**) Der Götterbote Hermes (Teil II, S. 58. 71. 124) galt zugleich als Gott der
Ringkunst; die neun Musen waren die Begleiterinnen des Orakelgottes Apollo (TeilII,
S. 66. 77 u. ö.) und die Göttinnen der Künste und Wissenschaften.
***) Ähnliche Wettkämpfe schon bei Homer, vgl. Teil II, S. 115.
105
5. Das also war die Gesetzgebung Solons, die ihm mit Recht un-
sterblichen Ruhm verschafft hat. Ist doch schon das Eine ewiger Be-
wunderung wert, wie der eine Mann, ein schlichter Bürger, eine solche
Gesetzgebung geschaffen hat, die alle Verhältnisse des Staats- und Volks-
lebens umgestaltete, und wie er sie ohne Gewalt und Blutvergießen, ganz
auf ruhigem gesetzlichem Wege, bloß durch die Macht seiner Persönlichkeit
und seines sittlichen Einflusses durchgeführt hat. Mit Recht hat man
ihm daher unter den 7 weisesten Männern Griechenlands einen Ehren-
platz eingeräumt.
Diese sieben Weisen wurden verschieden gezählt, meistens aber
folgende je mit kurzen Kernsprüchen der Lebensweisheit:
1. Solon von Athen; Sprüche: Niemals zuviel! oder Alles mit
Maß! Vielen gefallen ist schwer. Bedenke das Ende!
2. Thales von Milet: Andre lehren ist leicht, sich selbst
kennen schwer. Thue nicht, was du an andern tadelst!
3. Chiton aus Sparta: Erkenne dich selbst! (auch Inschrift am
Apollotempel zu Delphi). Ehre das Alter! Halte die Zunge im
Zaum!
4. Pittakus von Mytilene auf Lesbos: Nütze die Zeit aus!
Verzeihung ist besser als Rache. Die Hälfte ist mehr als das
Ganze (unser: Ein Sperling in der Hand ist mehr als eine Taube auf
dem Dache).
5. Bias von Priene in Kurien: Viele Köche verderben den
Brei.
6. Kleobülus aus Lindus auf Rhodus: Hochmut kommt vor
dem Fall. Gehst du aus, besinne dich, was du sollst; kehrst du
heim, erinnere dich, was du gethan!
7. Periander von Korinth: Übung macht den Meister. Nicht
Waffen schützen den Herrscher, sondern Liebe der Bürger.
M. Evers.
22—24 (2). Aus den perferkriegen.
Einleitung. Die Perserkriege zählen deshalb zu den berühmtesten
Kriegen der alten und selbst der gesamten Weltgeschichte, weil in ihnen
das kleine Volk der Griechen vor der ungeheuern Übermacht des persischen
Weltreiches heldenmütig seine Freiheit errettet und durch glorreiche Sieges-
thaten unsterblichen Ruhm errungen hat. Und das hat auch für uns noch
große Bedeutung. Denn dadurch allein ist die ganze griechische Bildung
106
und Gesittung erhalten worden, aus welcher später die römische und dann
unsere gesamte europäische Kultur erwachsen ist.
Veranlaßt wurde dieser weltgeschichtliche Kampf, bei dem sich gleich-
sam Asien und Europa gegenüber traten, durch den Aufstand der Ionier
an der Westküste Kleinasiens (500 v. Chr.), welche, früher von den Persern
unterworfen,*) als freiheitliebende Griechen deren Joch nur widerwillig er-
trugen. Bei günstiger Gelegenheit fielen sie deshalb ab und erbaten auch
Hülfe von den europäischen Griechen, erhielten solche freilich nur von
Athen und dem kleinen Eretrla auf der Insel Euböa. Nachdem sie
dann, unter sich selbst uneinig, dazu saumselig, von den Persern besiegt
waren, faßte deren König Darlus den Plan, auch Hellas zu unterwerfen.
Und an den Athenern wollte er noch besonders Rache nehmen. Soll er
sich doch täglich durch einen Sklaven haben erinnern lassen: „Herr, gedenke
der Athener!"
So folgten denn die berühmten Perserkriege: zunächst drei große An-
griffszüge der Perser gegen das kleine Griechenland (492—480 v. Chr.);
dann, als diese sämtlich mißlungen waren, umgekehrt der etwa dreißig-
jährige Angriffskrieg der Hellenen gegen das riesige Weltreich, der aber-
mals mit dessen Niederlage und mit der Befreiung der kleinasiatischen
Stammesgenossen endete (479—449).
Unter den Ruhmesthaten der Hellenen bei diesem gewaltigen Freiheits-
kampfe ragen vor allem drei hervor: die Siege bei Marathon (490) und
bei Salämis (480), wo beidemal den höchsten Preis die Athener davon
trugen, und zwischen beiden die Schlacht bei Thermopylä (480), wo eine
kleine Heldenschar von Spartanern und Thespiern den Opfertod fürs
Vaterland erlitt.
22 (3). Miltiades und die Schlacht bei Marathon.
Den ersten Angriffszug gegen die Griechen hatte (492 v. Chr.) des
Großkönigs eigener Schwiegersohn Mardonius unternommen. Da aber
seine Flotte am Vorgebirge Athos scheiterte und sein Landheer in Thracien
schwere Verluste erlitt, hatte er unverrichteter Sache heimkehren müssen.
Trotzdem hatte Darms durch ganz Hellas Gesandte geschickt, um als Zeichen
der Unterwerfung „Erde und Wasser" zu fordern, und hatte es wirklich
von den meisten Staaten erhalten. Nur Sparta und Athen hatten sich
geweigert und in patriotischem Zorne sogar die Gesandten getötet. Dafür
rüstete nun Darius einen gewaltigen Rachezug aus. Auf 600 Schiffen
führten die Feldherren Datis und Artaphernes ein Heer von 100000
Mann Fußvolk und 10 000 Reitern quer durchs ägäische Meer. Sie ver-
*) Vgl. Teil II für Quinta S. 152 ff.
107
Wüsteten unterwegs die Cykladen-Jnseln, zerstörten Eretria und landeten
an der Ostküste Attikas, um in der Ebene von Marathon, wo sie am
besten ihre Reiterei entfalten konnten, die Gegner zu erwarten.
Die Kunde hiervon erregte natürlich in Athen eine ungeheuere Span-
nung. Man rüstete mit aller Macht und brachte das bisher stärkste Auf-
gebot zusammen: 10000 schwerbewaffnete Vollbürger und einige Tausend
leichtbewaffnete Knechte — freilich gegen die persische Übermacht eine
einzige Zahl. Dem Kriegs-Archonten (Polemarchen) des Jahrs, mit
Namen Kallimachus, gab man noch 10 Feldherren (Strategen) bei, dar-
unter Aristides und Themistökles, die nachmals so berühmt werden
sollten, und vor allem den kriegserfahrenen Miltiädes. Dann schickte
man um Hülfe nach Sparta. Der Eilbote Pheidippides legte die
30 Meilen je in 2 Tagen zurück, brachte aber die wenig tröstliche Ant-
wort: die Spartaner dürften nach altem Brauch nicht vor Vollmond aus-
rücken, könnten also erst in 10 Tagen zu Hülfe kommen. Jetzt stritten
die Feldherren, ob man sich so lange hinter der Stadtmauer verteidigen
oder — wie Miltiädes riet — den Feind sofort in offener Feldschlacht an-
greifen solle. Da die Stimmen 5 gegen 5 standen und der Polemarch
entscheiden mußte, nahm Miltiädes diesen beiseite und sprach: „Bei dir,
Kallimachus, steht's jetzt, Athen in Knechtschaft zu bringen oder frei zu
erhalten und dir selbst ein ewiges Denkmal zu setzen. Niemals hat der
Staat in größerer Gefahr geschwebt. Schlagen wir jetzt nicht gleich, so
wird Zwiespalt und Entmutigung unter den Bürgern entstehen, und viele,
fürchte ich, werden den Persern zuneigen; dann ist unser Verhängnis be-
siegelt. Kämpfen wir dagegen sofort, so hoffe ich, daß wir mit Hülfe der
Götter noch siegen; dann ist Athen frei und kann leicht die erste Stadt in
Hellas werden. Alles das hängt von dir ab." — Nun stimmte Kalli-
machus zu, und der Auszug nach Marathon wurde beschlossen.
Das Heer überstieg die zur Ebene führenden Bergpüsse und lagerte
sich am jenseitigen Abhange des Gebirges, von wo man das persische Lager
überblicken konnte. Ursprünglich sollte unter den 10 Feldherren der Ober-
befehl täglich wechseln; doch auf Aristides' Vorschlag übertrugen alle die
alleinige Führung dem Miltiädes. Dieser wartete klüglich, bis sein ur-
sprünglicher Tag an die Reihe kam, und ließ inzwischen das Heer wieder-
holt in Schlachtordnung antreten, teils um es zu üben, teils um die
Perser gleichfalls hervorznlocken, damit er ihre Aufstellung genau kennen
lerne. Und grade am Vorabende des erwählten Schlachttages stieß noch
eine unerwartete Hülfsschar zu ihm, die niemand erbeten hatte: die gesamte
Mannschaft der kleinen Nachbarstadt Platää, 1000 Hopliten, sodaß das
Heer nun 11000 Mann Kerntruppen zählte und Miltiädes in seiner
Siegeshoffnung außerordentlich bestärkt wurde.
108
Da er aus dem Verhalten der Perser ersehen hatte, daß sie nicht
bergauf angreifen, fondern die Griechen in der Ebene erwarten wollten,
beschloß er seinerseits den Angriff. Um nun von ihrer langen Schlacht-
linie und Reiterei nicht überflügelt zu werden, rückte er in eine Stellung,
wo seine Flanken durch Höhen und Baumpflanzungen vor einer Um-
gehung gedeckt waren. Immerhin mußte er feine Front so ausdehnen^
daß er die Reihen nicht -überall gleich tief ordnen konnte. Da er nun bei
den Persern die Mitte am stärksten, die Flügel schwächer aufgestellt gesehen
hatte, so machte er es grade umgekehrt. Die Mitte stellte er nur 2 bis
3 Schilde hoch auf und ordnete dahinter nur noch den Troß der Leicht-
bewaffneten. Dagegen verstärkte er die Flügel aufs Doppelte oder Drei-
fache und gab Befehl, sobald sie die schwächeren Gegner geworfen hätten,
diese nicht zu verfolgen, sondern nach der Mitte zu einzuschwenken und von
beiden Seiten her dem feindlichen Zentrum in den Rücken zu fallen. Wie
klug diese Anordnung war, sollte sich bald genug zeigen.
Die ganze schwere Heeresmafse wollte Miltiades nun kühnlichst in
vollem Laufe gegen den Feind führen, um mit stärkster Wucht auf ihn
loszuprallen. Er konnte das nur mit Kriegern wagen, die wie die attischen
ihre gymnastischen Turnkurse durchgemacht hatten und von Jugend auf im
Laufen geübt waren. Doch auch so war die Entfernung noch groß, fast
eine halbe Stunde. Deshalb ließ er sie anfangs nur im Geschwindfchritt
vorgehen, dann aber mit gefällten Lanzen, Schild an Schild, diesen all-
mählich unter Schlachtgeschrei zum vollen Sturmlauf steigern.
Ganz bestürzt glaubten die Perser Wahnsinnige vor sich zu haben,
hielten indes den Stoß aus. Das Gefecht kam zum Stehen; heiß und
lange ward gerungen. Dann wurde das schwächere Mitteltreffen der
Griechen von der Übermacht der persischen Kerntruppen durchbrochen, zog
sich indes unter Aristides' und Themistokles' Führung nur langsam unter
stetiger Gegenwehr zurück. Inzwischen aber hatten die athenischen Flügel
bereits gesiegt und fielen nun von rechts und links dem persischen Zentrum
in den Rücken. Sofort erneuerten hier auch die Ihrigen den Angriff von
vorn, und so geriet die Hauptmasse des Feindes in ein schreckliches Ge-
dränge, wobei ihre Überzahl sie an der Verteidigung eher hinderte als
förderte. Furchtbar räumten die attischen Schwerter unter ihnen auf, und
bald stürzte auch hier alles in wildester Flucht zum Gestade.
Hitzig folgten die Athener und eroberten im Fluge das Lager. Die
Flüchtigen trieben sie teils nordwärts in die Sümpfe, wo sie massenweis
niedergemacht wurden oder ertranken; teils folgten sie ihnen bis an die
Schiffe, wo sich ein neues furchtbares Kampfgewühl erhob. Unterm An-
dränge der Sieger mußten die Schiffe vom Strande gezogen, mußte die
Einschiffung bewerkstelligt werden. Schon riefen die Athener nach Feuer,
109
um die Flotte in Brand zu stecken; überall wurde bereits um die Schiffe
selbst gerungen, welche die Perser herabzogen, während die Griechen sie
auf dem Strande festzuhalten suchten. Ein Athener soll ein Schiff erst
mit der Rechten, dann, als diese abgehauen war, mit der Linken und, als
er auch diese verloren, mit den Zähnen festgehalten haben, bis ihm ein
Beilhieb das Haupt vom Rumpfe trennte. Wirklich erbeuteten die Sieger
7 Schiffe, dazu das ganze Lager mit allen Pferden, Vorräten und allem
Gepäck. 6400 Feinde bedeckten das Schlachtfeld, während die Hellenen
kaum 200 verloren hatten, darunter freilich Kallimachus und andere nam-
hafte Männer.
Die Kunde von dem herrlichen Siege eilte dem Heere voraus. Der-
selbe Schnellläufer Pheidippides soll stracks vom Schlachtfelde in voller
Rüstung nach Athen gelaufen sein und dort auf dem Markte ausgerufen
haben: „Freut euch, wir haben gesiegt!" Dann sei er vor Erschöpfung
tot niedergestürzt.
Die persische Flotte suchte noch in rascher Fahrt das wehrlose Athen
zu überrumpeln. Aber Miltiades merkte die Absicht, zog im Eilmarsch
heim, und als jene in der attischen Bucht erschien, stand er am Ufer zur
Abwehr bereit. So überall schmählich zurückgewiesen, mußten die Perser
rühmlos heimziehen.
Zwei Tage darauf kamen endlich auch 2000 Spartaner an, besahen
neugierig und beschämt das Schlachtfeld, konnten nicht umhin, die Athener
zu bewundern, und kehrten mit geheimem Neide zurück. Für die Athener
aber bildete fortan der Tag von Marathon einen Gedenktag unvergeßlichen
Ruhmes; und jährliche Feste, Spenden und Weihegüsse an den Gräbern
der gefallenen Helden erhielten die Erinnerung an die große That lebendig.
Noch in späten Zeiten gab es für das Selbstgefühl des athenischen Mannes
nichts Höheres, als wenn man ihn einen Abkömmling der Marathonkümpfer
nannte. M. Evers.
23 (4). Leonidas und die Schlacht bei Thermopylä.
1. So sehr auch König Darms über die schmähliche Niederlage bei
Marathon zürnte und so eifrig er einen dritten noch viel gewaltigeren
Feldzug gegen die Griechen betrieb, so kam dieser doch erst zehn Jahre
später zur Ausführung (480). Darius selbst nämlich starb mitten unter
seinen Rüstungen (485); sein Sohn und Nachfolger Xerxes aber hatte
erst einen Aufstand der Ägypter zu dämpfen*) und brauchte dann noch
einige Jahre zu den Rüstungen. Der eitle Mann wollte ein Heer und
*) Diese waren vom Sohne des Cyrus, Kambyses, unterworfen und dem persischen
Weltreiche einverleibt worden (vgl. Teil II für Quinta S. 155).
110
eine Flotte aufbringen, wie sie die Welt noch nicht gesehen, und das
gelang ihm in der That. Auch wenn man die übertriebenen Angaben der
alten Geschichtschreiber auf die Hälfte herabsetzt, bleibt doch ein Heereszug
übrig, der einzig dasteht und wie eine wahre Völkerwanderung, wie eine
ungeheuere Menschenflut sich gegen das kleine Hellas heranwälzte.
^Gradezu unglaubliche Zahlen nennt der griechische Geschichtschreiber
Herodöt. Das Landheer habe 1 700 000 Mann Fußvolk und 80 000 Reiter
gezählt, davon 20 000 auf Kamelen und Streitwagen; die Flotte, 1200 Kriegs-
und 3000 Lastschiffe, habe 517 000 Mann getragen; auf dem Marsche seien
noch von unterworfenen Völkern an 300 000 Mann hinzugekommen; im ganzen
seien es also 2% Millionen Streiter gewesen. Dazu nun noch der Riesentroß
der Heeresbeamten, Diener, Marketender, Fuhrleute, Träger, der Weiber und
des ungeheuern königlichen Hofstaats: also alles in allem an 3 Millionen
Menschen! Und nun dies kunterbunte Volkergemisch aus allen Teilen des weiten
Reichs! Nicht weniger als 60 Völker zählt Herodot auf und schildert ihre
verschiedenen Trachten, Waffen und Kampfesweisen. So z. B. die Inder vom
fernsten Osten mit weißen baumwollenen Gewändern; vom Süden die Araber
auf Pferden und Dromedaren, die dunkelfarbigen Äthiopen und Libyer in
Pardel- und Löwenfellen mit Spießen, deren Spitzen Gazellenhörner waren.
Vom Norden die Berg- und Steppenvölker: Kaspier, Parther und Scythen,
zum Teil mit hölzernen Helmen und Schilden von Rindshaut. Dann die zahl-
reichen Stämme des völkerwimmelnden Kleinasiens: Paphlagoner, Kappa-
dozier und Phrygier, in Halbstiefeln, mit geflochtenen Helmen, Rundschilden
und Wurfspeeren, die Lyder mit fast griechischer Bewaffnung, Bithyner, Myser
und viele andre. Den Kern aber bildeten die Völker der Mitte um Euphrat
und Tigris: Assyrer und Babylonier mit ehernen Helmen, eisenbeschlagenen
Keulen und Streitäxten; dann die Perser selbst mit den Medern, in farbigen
Ärmelröcken, bauschigen Pumphosen und hohen Spitzmützen von Ziegensell, mit
kurzen Spießen, riesigen Bogen und Dolchschwertern im Gürtel. Dazu noch
Baktrier und Saken, Sogdianer und Kissier, und endlich aus Europa
selbst thracische Stämme mit bunten Röcken, Hirschlederstiefeln und Fuchs-
pelzen auf dem Kopf. — Ebenso mannigfaltig war auch die Reiterei. Hier
tummelten sich schwergeharnischte Perser und Meder auf feurigem Schlachtroß;
dort sprengte das flüchtige Wandervolk der Sagartier übers Feld, als einzige
Waffe die Schlinge aus Riemen, den Lasso, schwingend; hinter den mit Pferden
oder Waldeseln bespannten Kriegswagen ritt der halbnackte Araber auf hohem
Dromedar. Zahllose Packwagen und Lasttiere mit Vorräten, Zelten und Ge-
schirren aller Art, auch mit Weibern und Kindern schlossen sich dem Zuge anZ
Zum Übergange von Asien nach Europa ließ Xerxes für die Flotte,
um das gefährliche Vorgebirge Athos zu vermeiden, die ganze östliche
Landzunge der Halbinsel Chalcidice durchstechen und einen 25 Meter-
breiten Kanal graben. Fürs Landheer ließ er über den Hellespont
zwei Schiffbrücken schlagen, wozu je 700 Schiffe unter sich verbunden, mit
Balken überdeckt und mit Geländern versehen werden mußten. Als das
kaum vollendete Werk ein Sturm zerstörte, ließ der ergrimmte Despot
die Baumeister töten und in kindischem Trotz dem widerspenstigen Meere
111
300 Peitschenhiebe geben und Ketten hinein versenken. Dann wurde der
Bau erneuert, und das Heer konnte in 7 Tagen und Nachten ununter-
brochenen Zuges hinübergehen. Unterwegs fand noch eine große Heer-
und Flottenschau statt, und voll Stolz sah Xerxes das Meer von Schiffen
bedeckt und die weiten Ebenen von Menschen wimmeln. Gezählt wurden
diese so, daß man 10000 Mann mit einem möglichst engen Zaun umgab
und diese Umfriedung mit immer neuen Zehntausend füllte. Langsam
wälzte sich dann die ungeheuere Masse durch Thracien und Macédonien
gegen die nordgriechische Landschaft Thessalien heran.
2. Leider waren trotz dieser ungeheuern Gefahr die Griechen selbst
uneinig und saumselig. Manche Staaten rührten sich überhaupt nicht,
andere waren unzuverlässig. Bloß Athen entwickelte Thatkraft, Umsicht
und hochherzige Vaterlandsliebe. Freiwillig überließ es den gesamten
Oberbefehl an Sparta und drang auf einmütiges rasches Handeln. Aber
Sparta selbst verhielt sich wieder schwerfällig und engherzig; am liebsten
hätte sich's, um bloß den Peloponnes zu schützen, auf der Landenge (dem
Isthmus) von Korinth verschanzt und Mittelgriechenland preisgegeben.
Nur auf des Atheners Themistokles Drängen und Drohen bequemte
sich's endlich, wenigstens den Paß am Ötagebirge zu decken, der als
einzige Straße von Thessalien nach Lokris in Mittelgriechenland führte,
den Engpaß von Thermopylä.*)
In der That eignete sich diese Schlucht trefflich zur Verteidigung.
Zwischen dem steilen Waldgebirge und dem Meere ging's so enge hin-
durch, daß oft nur ein schmaler Fahrweg übrig blieb. Auch war sie durch
eine alte Mauer gesperrt, die jetzt erneuert und verstärkt wurde.
Hierhin sandte nun Sparta eine Verteidigungsmannschaft, aber eine
so geringe, daß es den persischen Massen gegenüber geradezu lächerlich
war. Es behielt nämlich, abermals unterm Vorwände eines alten Brauchs,
seine Hauptmacht zu Hause und schickte nur 300 Mann, denen sich noch
andre Peloponnesier und die zumeist bedrohten Lokrer und Phoker an-
schlossen, im ganzen nur 7000 Mann! Der Führer allerdings, der spar-
tanische König Leo nid as, wog allein ein ganzes Heer auf und sühnte
durch seine Vaterlandsliebe und seinen Heldenmut die unverzeihliche Ver-
säumnis der spartanischen Regierung.**)
*) Deutsch: die Warmbrunnenpforte, so genannt von den heißen Schwefel-
quellen, die dort entspringen und dem Herkules geheiligt waren (vgl. Teil II für Quinta
S. 73: Herkules' Tod auf dem Öta).
**) Die spartanischen Könige nämlich, je zwei an der Zahl, führten nicht selbst die
Regierung, sondern nur den Oberbefehl über das Heer; die Staatsleitung lag in der
Hand von 5 Ephoren, d. h. Oberaufsichtsbeamten, und einem Beirat von 28 Geronten,
Greisen von mindestens 60 Jahren.
112
3. In den Thermopylen angelangt, beschloß Leonidas den Feind, auch
mit dem Opfer des eigenen Lebens, möglichst lange aufzuhalten. Einen
Fußpfad über das Gebirge, den nur die Einwohner kannten, deckte er
durch eine Wache von 1000 Phokern und rüstete sich nun zum Helden-
kampfe gegen die bereits herannahenden Massen der Gegner.
Laut lachte Terxes, als er hiervon hörte, und wartete einige Tage,
ob sie nicht beim Anblick seiner Scharen fliehen würden. Aber auf seine
Forderung, die Waffen auszuliefern, erhielt er die echt lakonisch stolze
Antwort: „Komm und hole sie!" Und als jemand den Griechen sagte:
die Wolken der persischen Pfeile verfinsterten die Sonne, erwiderte ein
Spartaner: „Um so besser, dann kämpfen wir im Schatten!"*)
Endlich erfolgte der Angriff: wild drangen die Barbarenhorden vor,
aber vergeblich suchten sie die Heldenschar zu durchbrechen oder mit ihrer
Masse zu erdrücken. Durch ihre hohen Schilde wurden die Griechen vor dem
Regen der Pfeile und Wurfspieße geschützt, und mit ihren langen Lanzen
warfen sie die Gegner reihenweise nieder. Diesen geriet grade auch ihre
Menge zum Unheil: sie drängten, verwirrten, zerquetschten und zertraten sich
untereinander. Berge von Leichen türmten sich auf. Neue Haufen lösten die
Stürmenden ab, doch ohne bessern Erfolg. Denn auch Leonidas ließ im
Vordertreffen seine Krieger wechseln und die Ermüdeten durch frische
Hintermänner ersetzen. Auch durch plötzliche Ausfälle oder scheinbare Rück-
züge und unerwartete Wiederangriffe brachte er den Feinden ungeheure
Verluste bei, während er selbst verhältnismäßig wenige erlitt.
Außer sich vor Wut sah Xerxes, von hohem Thron dem Kampfe
zuschauend, seine Scharen dahinsinken; dreimal soll er vor Entsetzen auf-
gesprungen sein und mit den Füßen gestampft haben. Dann ließ er den
Kern seines Heeres, darunter 10000 Perser, die sogenannten „Unsterb-
lichen", anstürmen — abermals vergeblich: vor den Spartanern sanken auch
sie massenweise in den Tod. Auch nächsten Tags ging es nicht besser,
trotzdem die persischen Führer ihre Scharen mit Geißelhieben in den
Kampf trieben; und Xerxes mußte erkennen, daß er „zwar viele Menschen
habe, aber wenig Männer". Schon faßte ihn wirkliche Sorge um sein
Heer. Da plötzlich brachte Verrat fertig, was keine Gewalt vermocht
hatte. Ein einheimischer Schuft namens Ephialtes verriet für hohen
Lohn jenen Fußpfad übers Gebirge und führte selbst nachts die persischen
Kerntruppen hinüber.**) Die oben aufgestellten Phoker flohen nach kurzer
Gegenwehr bergaufwärts; die Perser aber stiegen, ohne sie weiter zu be-
achten, hinab, um den Griechen in den Rücken zu fallen.
*) Vgl. Teil II für Quinta S. 148 über die lakonische Redekürze.
**) Vgl. als grades Gegenstück dazu oben S. 23 ff. die Geschichte: Treue Vater-
landsliebe.
— 113
Sobald Leonidas von ihrer Annäherung vernahm, entließ er die
meisten Bundesgenossen, um allein mit seinen Spartanern und 700 braven
Thespiern, die ihn nicht verlassen wollten, bis in den Tod standzu-
halten.
So begann denn am dritten Tage der letzte furchtbare Entscheidungs-
kampf. Des sichern Todes gewärtig drang die Heldenschar zum Angriff
mitten in die Feinde und richtete noch einmal ein fürchterliches Blut-
bad unter ihnen an. Auch als ihre Speere schon zerbrochen waren,
machten sie mit den Schwertern noch Unzählige nieder, darunter zwei
Brüder des Lerxes selbst. Dann fiel unter den Vordersten der König,
und um seinen Leichnam entbrannte der wildeste Kampf: viermal schlugen
die Griechen noch die Feinde zurück und retteten ihn hinter die Schanzen.
Doch mehr und mehr lichteten sich die Reihen der Ermüdeten. Als sie
nun vollends von den durch Ephialtes Geführten im Rücken angegriffen
wurden, sammelten sie sich auf einem Hügel und wehrten sich, von allen
Seiten umringt, mit dem letzten Reste ihrer Kraft, bis auch der letzte
Mann gefallen war.
Das also war die Schlacht von Thermopylä, das der Heldentod
des Leonidas und seiner Schar, der fortan in Lied und Sage bei den
Griechen gefeiert wurde und im Gedächtnis der Menschheit fortlebt bis
heute. Ein marmorner Löwe als Grabmal bezeichnete noch lange die
Stelle, und eine Denksäule trug als Inschrift die schlichten und doch so
vielsagenden Verse, die man dem Dichter Simonides zuschreibt und die
unser Schiller so übersetzt hat:
Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest
Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.
M. Evers.
24 (5). Themistokles und die Schlacht bei Salamis.
1. Nach dem Siege bei Thermopylä ergoß sich das Perserheer ver-
wüstend über das östliche Mittelgriechenland, zerstörte viele Städte und
rückte endlich auch vor das verhaßte Athen. Dies fanden sie jedoch fast
ganz menschenleer und konnten ihren Grimm nur an der Stadt selbst,
ihren Tempeln und der Burg auslassen, die sie denn auch vollständig ein-
äscherten.
Die Athener hatten nämlich ihre Weiber und Kinder samt der beweg-
lichen Habe auf die Nachbarinseln gerettet, sich selbst aber sämtlich wohl-
gerüstet auf ihre Flotte begeben, um den ganzen Kampf auf die See zu
verlegen. Der Urheber dieses Planes war der schon mehrfach erwähnte
Lesebuch für höhere Lehranstalten. (Preuß. Ausg.) III. 8
114
Themistokles*), der durch seine Klugheit und Thatkraft damals gradezu
der Retter Griechenlands geworden ist.
Während nämlich nach dem Siege von Marathon das Volk den Krieg
beendet glaubte, sah er schon damals voraus, daß das nur der Anfang
neuer Kämpfe sein werde, und suchte mit aller Macht seine Vaterstadt
darauf vorzubereiten. Namentlich nach dem Tode des Miltiades, dessen
Ruhm — wie er selbst gestand — seinen Ehrgeiz nicht schlafen ließ, ge-
wann er durch seinen Eifer, seine Einsicht und seine feurige Beredsamkeit
immer größern Einfluß. Vor allem sah er ein, daß Athen in dem kleinen
gebirgigen Attika niemals eine Landmacht werden könne wie Sparta, sondern
nur eine Seemacht, und bewog deshalb seine Mitbürger zum Bau einer
großen Flotte von 300 Schiffen. So wurde er der Gründer der atti-
schen Seemacht.
Allerdings war das für die Athener gegen früher etwas so Neues
und Ungewohntes, dabei so Kostspieliges und Mühevolles, daß Themistokles
erst lange und harte Kämpfe zu bestehen hatte, ehe er durchdrang. Im
Wege stand ihm dabei vor allem jener gleichfalls schon erwähnte Ari-
stides**), der mehr am Alten hing und wegen seiner strengen Gewissen-
haftigkeit in höchstem Ansehen stand; nannte man ihn doch allgemein nur
„den Gerechten". Beide Männer waren auch sonst grundverschieden: Themi-
stokles ehrgeizig und feurig, rücksichtslos, klug und schlau und leider oft
wenig wählerisch in seinen Mitteln, sodaß er auch vor List und Bestechung
nicht zurückscheute; Aristides dagegen uneigennützig und streng rechtlich,
freilich auch überaus bedächtig und selbst da allzu rücksichtsvoll, wo es ein
rasches, kräftiges Durchgreifen galt. Schließlich spitzte sich der Gegensatz
so zu, daß einer von beiden weichen mußte. Nun bestand in Athen die
sonderbare Einrichtung, daß man mißliebige Bürger auch ohne besondere
Vergehen lediglich durch Volksabstimmung auf längere Zeit aus der Stadt
verbannen konnte. Da man hierbei die Namen der Betreffenden auf Thon-
scherben schrieb und diese statt der Stimmzettel abgab, so nannte man es
das Scherbengericht (Ostracismus). Jetzt drängte also Themistokles das
Volk zur Entscheidung, wer von ihnen beiden gehen oder bleiben solle.
Da stimmte die Mehrheit für die Verbannung des Aristides, wobei sich
folgende komische Szene ereignet haben soll. Aristides selbst war in der
Volksversammlung zugegen und wurde von einem Bauern, der des Schreibens
unkundig war und auch ihn nicht kannte, gebeten seinen eigenen Namen
auf dessen Scherbe zu schreiben. Auf die Frage: was ihm denn der
Aristides zuleide gethan habe, erwiderte der Landmann: „Nichts, ich kenne
ihn nicht einmal; aber mich ärgert's, daß ihn alle Welt den Gerechten
*) Vgl. S. 107, 108 u. 111. — **) Vgl. S. 107, 108.
- 115 —
nennt". Darauf habe Aristides nur gelächelt und ihm wirklich den Gefallen
gethan.
2. Jetzt hatte also Themistokles freie Hand und betrieb auch die Er-
weiterung des Hafens von Athen, des Piräus. Vor allem aber, wie er-
wähnt*), drang er auf die Kunde vom Heerzuge des Xerxes bei den
Beratungen der Griechen darauf, daß sie sich einmütig und thatkräftig
nicht nur zu Lande, sondern anch zur See verteidigten.
Auf sein Betreiben sammelte sich denn auch eine ansehnliche Flotte
der verbündeten Staaten unter dem Oberbefehl des Spartaners Eurybiades
und lieferte beim Vorgebirge Artemisium an der Nordostfpitze Euböas
der persischen Übermacht ein erstes dreitägiges Seegefecht, das zwar unent-
schieden blieb, den Feinden aber schwere Verluste zufügte. Nach dem
Kampfe bei Thermopylä zogen sich dann die griechischen Schiffe südwärts
in die Bucht von Salamis bei Athen zurück, wo weitere Maßnahmen
beraten wurden. Themistokles aber hatte, wie schon erzählt, seine Mit-
bürger bewogen, die Stadt zu verlassen und alles Heil auf die Flotte zu
setzen. Auch ein delphisches Orakel des Wortlauts, Athen werde durch
„hölzerne Mauern" gerettet werden, hatte er sehr scharfsinnig auf die Schiffe
gedeutet.
Als nun aber die Perser Athen selbst verbrannten und zugleich mit
ihrer Flotte herankamen, befiel die Schiffsführer der andern Griechen große
Angst: sie wollten sich in die Meeresbucht am Isthmus zurückziehen, um
erst dort die entscheidende Schlacht zu schlagen. Dem widersetzte sich Themi-
stokles aufs schärfste, und im Kriegsrat geriet man heftig aneinander.
Schon ehe Eurybiades die Sitzung eröffnet und ihm das Wort erteilt
hatte, redete er so eifrig drauf los, daß sein Hauptgegner, der Korinthische
Admiral Adimantus, ihn höhnisch anfuhr: „Du, Themistokles, beim Wett-
kampf kriegen die Schläge, die voreilig aufstehn!" „Ja," erwiderte er,
„aber wer feige zurückbleibt, kriegt auch keinen Kranz!" Und als jener er-
bittert zum Schlage ausholte, sagte er ruhig: „Schlag nur zu, aber dann
höre auch!" Darauf legte er in klarer Rede dar: grade hier in der Bucht,
wo die persischen Schiffe durch ihre eigene Menge gehindert würden, hätten
sie viel mehr Hoffnung auf Sieg als auf offener See, wo jene sich ent-
falten könnten. Nun rief abermals Adimantus hämisch dazwischen: Nach-
dem Athen verbrannt sei, habe er ja gar kein Vaterland mehr und dürfe über-
haupt nicht mitsprechen. Da aber fuhr Themistokles in flammendem Zorne
auf und sprach: „Wir Athener haben unsere Häuser verlassen, weil wir um
toter Güter willen keine Sklaven werden wollten. Aber wir haben unser
Vaterland auf unsern 300 Schiffen; da ist es noch immer das stärkste in
') Vgl. S. in. ii4.
8»
116
Hellas, und leicht können wir damit überall hin fahren und eine neue
Vaterstadt gründen, die der verlorenen nicht nachsteht. Ihr dagegen richtet,
wenn ihr von hier wegfahrt, euch felbst und ganz Hellas zu Grunde. Thut
ihr das, fo nehmen wir unsere Weiber und Kinder und suchen uns in
Italien eine neue Heimat; dann sehet zu, wie ihr ohne uns fertig werdet!"
Diese Drohung schlug durch, sodaß die Mehrheit und Eurybiades selbst
ihm beitraten. Dennoch gerieten alle wieder ins Wanken, als die Flotte der
Feinde selbst in Sicht kam und weithin das Meer mit Schiffen bedeckt erschien.
Ein neuer Kriegsrat beschloß, trotz aller Einwände des Themistokles, sofort
noch diese Nacht abzufahren. Da griff der kühne Mann zum letzten Mittel,
der List. Rasch verließ er die Sitzung und sandte in der Dämmerung
heimlich einen Boten an Xerxes: die Griechen ständen im Begriff zu ent-
fliehen; wolle er die günstige Gelegenheit nicht verpaffen, so solle er sie
schleunigst umzingeln und alle Ausgänge der Bucht sperren. Erfreut be-
folgte der König diesen Rat; noch vor Mitternacht sahen sich die Hellenen
eingeschlossen und mußten nun wohl oder übel kämpfen. Themistokles aber
hatte die Genugthuung, daß plötzlich sein alter Gegner, der verbannte
Aristides, von der nahen Insel Ägina herüberkam und ihm zur gemein-
samen Verteidigung des Vaterlandes seinen Beistand zusagte.
3. So begann denn folgenden Tags, am 20. September 480 v. Chr.,
die denkwürdige Schlacht bei Salamis, wo sich etwa 1000 persische Schiffe
und nur 380 griechische gegenüber standen. So unentschlossen aber die
Griechen bisher gewesen, so tapfer rüsteten sie jetzt zum Angriff. Schon
frühmorgens lichteten sie die Anker; und als die Perser ihrer ansichtig
wurden, erblickten sie wider Erwarten ein schlagfertiges Schiffsheer und
hörten von Trompetenschall und Kriegsgesängen die Felsen der Insel
wiederhallen. Von Schiff zu Schiff pflanzte sich das Kampfeslied fort,
wie es später der athenische Dichter Äschhlus nachgesungen hat:
Hellenensöhne, vorwärts! mutig drauf und dran!
Befreit das Land der Väter, kämpft für Weib und Kind,
Für eurer Heimatgötter Ehr' und Heiligtum,
Für eurer Ahnen Gräber! Auf, um alles gilt's!
Erst zögerten die Griechen noch mit dem Angriff, bis der Westwind,
wie alle Morgen zu bestimmter Stunde, durch die Meerenge strich und die
Wellen ostwärts gegen die feindlichen Schiffe trieb. Kaum hatte nun die
Brise zu wehen begonnen, da sandte Themistokles rasch ein athenisches Schiff
gegen das nächste phönizische vor. Jenes bohrte seinen scharfen Schnabel so
fest in dessen Seite, daß beide nicht mehr auseinander konnten. Nun
kamen beiderseits andere Schiffe zu Hülfe, und so wurde die Schlacht
bald allgemein.
117
Immer mehr zeigte sich, wie viel gewandter die Griechen waren als
die Perser. Ihr Mut wuchs mit jedem Stoße, der ein feindliches Schiff
sinken machte, und mit jeder glücklichen Streiffahrt an den Seiten der
Perserschiffe hin, welche deren Ruder zerbrach. Anfangs hielten diese noch
stand, und namentlich die seekundigen Phönizier machten den Griechen viel
zu schaffen. Doch konnte, wie Themistokles vorausgesehen hatte, die ganze
Masse sich gar nicht genügend entfalten; sie drängten sich vielmehr in dem
engen Sunde, hemmten, stießen und beschädigten sich gegenseitig. Die
Griechenschiffe dagegen, kleiner, schlanker und gewandter gebaut, tummelten
sich überall herum, schossen hierin und dorthin, griffen bald vorne, bald
hinten an, und benutzten dabei stets die Gunst des Windes und des Wellen-
schlags. Schon bald nach Beginn des Kampfes wurde der persische Ober-
admiral, Xerxes' eigener Bruder, getötet, und sein Schiff, im Rumpfe
angebohrt, versank ins Meer. Das steigerte natürlich die Verwirrung und
Mutlosigkeit auf persischer, den Mut und die Siegeshoffnung auf griechischer
Seite. Immer mehr Fahrzeuge wurden zertrümmert oder erobert; schon
bedeckte sich das Meer mit Schiffstrümmern und Erschlagenen, an den
Gestaden häuften sich die angeschwemmten Leichen; Wehgeschrei, Ächzen und
Stöhnen tönte aus den Fluten empor und mischte sich grausig mit dem
Kampfeslärm und dem Gekrache der zusammenprallenden Fahrzeuge.
Auch hier schaute Terxes von einem hohen Throne am Ufer dem
Kampfe zu und mußte abermals mit Schmerz und Zorn die furchtbarste
Niederlage seiner stolzen Übermacht erleben. Er raufte sich das Haar, zer-
riß seine Kleider und gab noch am Abend den Befehl, die zuerst geflohenen
Kapitäne hinzurichten. Noch vor Einbruch der Nacht war der Sieg der
Griechen entschieden: mit einem Verluste von mehr als 200 Schiffen ergriffen
die Barbaren die Flucht, während die Sieger nur 40 eingebüßt hatten.
Der Eindruck war so niederschmetternd für Xerxes, daß er trotz der
immer noch großen Überzahl seiner Flotte keinen weitern Angriff wagte,
sondern nur noch auf seine und seines Heeres Sicherheit bedacht war. Und
da auch hier Themistokles schlauerweise eingriff und ihn durch eine zweite
heimliche Botschaft darauf hinwies, die Griechen könnten vielleicht die
Brücken über den Hellespont zerstören, so trat er mit dem größten Teile
seines Heeres schleunigst den Rückzug an. Nur ließ er seinen Schwager
Mardonius*) mit 300 000 Mann Kerntruppen in Böotien zurück, um
von hier aus nochmals die Unterwerfung Griechenlands zu versuchen.
Freilich mißlang im nächsten Jahre auch diese völlig, und Mardonius
selber fiel in der Schlacht. Übrigens fand Xerxes, als er an den Helles-
pont kam, die Brücken abermals vom Sturm zerstört und mußte in einem
') Vgl. S. 106.
118
elenden Fischernachen mit wenigen Begleitern nach Asien zurückkehren, von
wo er mit so vielen Hunderttausenden ausgezogen war.*)
Von den Griechen aber ward der Tag von Salamis fortan als herr-
licher Ruhmestag gefeiert und trat bei den Athenern ebenbürtig neben den
von Marathon. Man errichtete Denkmäler und setzte Preise für die höchsten
Leistungen im Kampfe aus. Sicher hatten den ersten die Athener ver-
dient, doch erteilte man ihn aus Rücksicht auf Sparta der kleineren Stadt
Ägina. Als sich's aber um die höchste Ehrung der Feldherren handelte
und diese selbst darüber geheim abstimmen sollten, da fand sich's, daß den
ersten Preis jeder sich, den zweiten aber alle einmütig dem Themistokles
zugesprochen hatten. Und der ward denn auch von der Volksstimme wie
von der Nachwelt als der eigentliche Held des Tages anerkannt und ge-
priesen. M. Evers.
25 (6). Perikies und seine Zeit.
1. Seine höchste Macht und Blüte hat Athen unter Perikies
erlangt, der ohne Widerrede als Griechenlands größter Staatsmann gilt.
Schon yon Jugend auf war sein Geist ernsten und hohen Dingen
zugewandt und strebte vor allem nach gründlicher Bildung. Darum
ward er ein Schüler und Freund des berühmten Philosophen Anaxa-
goras, des ersten, der den griechischen Volksglauben an viele Götter
als irrig erkannte und die Welt als die Schöpfung eines einzigen Gottes
ansah, welchen er „den Geist“ oder „die Vernunft“ nannte.**) So erhob
sich auch Perikies über den Aberglauben seiner Zeit und erwarb sich
eine tiefere Einsicht in die Natur und ihre Kräfte. Als bei einer
Sonnenfinsternis alles zitterte und zagte, hielt er einem solchen Furcht-
samen den Mantel vors Gesicht und fragte: „Hältst du dies auch für
ein Schreckgespenst?“ „Bewahre!“ antwortete der. — „Nun,“ sagte
Perikies, „zwischen diesem und dem Vorgänge da oben ist nur der
Unterschied, daß dort etwas Größeres als mein Mantel die Verfinsterung
bewirkt!“
Nachdem er als Krieger und Feldherr oftmals Tapferkeit, Umsicht
und Thatkraft bewiesen hatte, widmete er sich ganz den Staatsgeschäften,
*) Vgl. im I. Teil für Sexta S. 156 die Flucht Napoleons aus Rußland 1812.
**) Von Anaxagoras wird noch dies erzählt. Zuletzt lebte er hochgeehrt
in Lampsäkus am Hellespont. Als er nun zum Tode erkrankte, fragten ihn die
Stadtoberen, wie er im Andenken geehrt zu werden wünsche, etwa durch ein
Denkmal oder dergleichen. Da erwiderte er: Alles andere verbitte er sich und
wünsche nur Eines: sie möchten jährlich an seinem Todestage der Schuljugend
einen freien Spieltag geben. Und in der That hatten von da ab die Schüler
in Lampsakus jährlich zu Ehren des großen Philosophen an dem Tage frei.
119
der inneren wie der äußeren Politik. Und so völlig ging er darin auf,
daß er fortan nur noch auf dem Markte zur Volksversammlung oder
auf dem Rathause zu den Sitzungen erschien. Alle Einladungen zu
Gastmählern und fröhlichen Gesellschaften lehnte er ab; während der
ganzen 40 Jahre seines Staatsdienstes war er bei niemand zu Gast,
außer einmal hei der Hochzeit eines Vetters und auch da nur ganz
kurze Zeit. Auch dem Volke gegenüber hielt er sich sehr zurück,
um seiner ernsten Würde nichts zu vergeben.
Von seiner Selbstbeherrschung wird erzählt: er habe einst einem
Schmähredner, der ihn den Tag über beschimpft und noch abends bis
ans Haus verfolgt hatte, durch seinen Diener mit der Fackel heim-
leuchten lassen. Auch trat er nur selten und nur bei den wichtigsten
Angelegenheiten öffentlich als Redner auf und ließ sich sonst durch
seine Anhänger vertreten.
Nach außen förderte er Athens Macht durch Befestigung und
Erweiterung des attischen Seehundes, der, bald nach dem Siege
von Salamis begründet, unter der Leitung (Hegemonie) Athens fast
alle griechischen Küstenstaaten und Inseln umfaßte und gegen das
eifersüchtige Sparta ein Gegengewicht bildete. Die Bundeskasse, an-
fangs auf der dem Apollo geweihten Insel Delos aufbewahrt, verlegte
Perikies gradeswegs nach Athen und verwandte ihre reichen Über-
schüsse zur Ausschmückung seiner Vaterstadt mit herrlichen Bau- und
Bildwerken.
Im Innern führte er die schon von Solon vorbereitete Volksherr-
schaft (Demokratie) vollständig durch.*) Auch die letzten Staats-
ämter, die noch in den Händen der Vornehmen waren, wurden allen,
selbst den ärmsten Bürgern zugänglich, und für jeden Staatsdienst gab’s
Entschädigungen durch Tagegelder. Besoldet wurden auch alle Beamten,
die Land- und Seesoldaten und sogar die öffentlichen Redner, wenn
sie im Aufträge des Staates sprachen. Ja, um Bildung und Kunst-
sinn zu heben, zahlte der Staat gar die Eintrittsgelder zu den Theatern.
Die früher üblichen Spenden reicher Privatleute ans Volk, die oft nur
ein Köder zu ehrgeizigen Zwecken gewesen waren, schaffte Perikies ab
und behielt öffentliche Speisungen, Verteilung von Lebensrnitteln u. dgl.
dem Staate vor.
In allem dem erstrebte er das edelste Muster eines freien und
hochsinnigen Volkstums und führte wirklich Athen zur höchsten Blüte.
Dennoch lag eine große Gefahr darin. Für das Volk im Durchschnitt,
vollends für die große Masse war das Ganze zu hoch, zu gut, und
G
fe) Vgl. 8. 102.
120
viele Einrichtungen gradezu verführerisch. Nur zu leicht gewöhnten
die Bürger sich an ein Lehen auf Staatskosten; die Genußsucht wuchs;
die Feste, Opferschmäuse, Aufzüge wurden zahlreicher und verschwen-
derischer. Das Volk kam von Arbeit und Erwerb mehr und mehr ab
und überließ dies den Sklaven und Weibern. Alle Welt legte sich
— wie man zu sagen pflegt — aufs Politisieren und Kannegießern,
trieb sich in den Schenken, den Barbierstuben, auf den Straßen umher
und fühlte sich bei solchem Müßiggänge wunder wie weise und wichtig.
So lange allerdings Perikies selber lebte, traten diese Nachteile
kaum hervor. Er besaß Einsicht, Kraft und Ansehn genug, um sol-
cher Erschlaffung zu steuern. Unablässig trieb er zu gemeinnützigen
Unternehmungen, sandte ganze Scharen zur Gründung neuer Kolonieen
aus, verwendete andere auf der Kriegs-, der Handelsflotte, oder be-
schäftigte sie bei den großen Staatsbauten. Auch scheute er sich in
seinen Reden nicht, Unsitten scharf zu rügen, und mahnte zu jeder
Bürgertugend. Vor allem gab er, wie gesagt, selber das beste Vor-
bild eines streng enthaltsamen Lebens und unablässiger Arbeit fürs
Vaterland.
Überhaupt lenkte er während der etwa 30 Jahre seines Wirkens
(459—429 v. Chr.) den Staat, wie einst Solon, nur durch die Macht
seiner Persönlichkeit. Er war niemals Archont, nur zeitweise Feldherr,
Verwalter der Staatsgelder oder Vorsteher der öffentlichen Bauten.
Dennoch waltete er als unbestritten „erster Bürger" wie ein Allein-
herrscher. Und das nur mit den gesetzlich zulässigen Mitteln, ohne
Zwang und Gewalt, auch ohne daß er durch Schmeichelei, List, Be-
stechung die Volksgunst gesucht hätte. Unwillkürlich beugte sich
eben alles vor der Überlegenheit seiner Bildung, seines Geistes, seiner
allseitigen Tüchtigkeit und Größe. Schon die Hoheit seiner könig-
lichen Erscheinung, seiner einsten Männerschönheit flößte Ehrfurcht
ein; ebenso die ruhige Würde und Kraft seines Auftretens und "V er-
haltens, vollends die strenge Rechtlichkeit und Uneigennützigkeit, der
sittliche Adel seines Charakters.
Und dazu kam noch der Zauber einer hinreißenden Redegewalt.
Zwar sprach er ganz ruhig und einfach, ohne lebhafte Gebärden und
Gesten, ohne hochtrabende Worte und Redensarten. Aber die Größe
und Erhabenheit seiner Gedanken, die Wahrheit seiner Empfindungen,
die Klarheit seiner Ausführungen, die eben überwältigten alles. Schon
seine Zeitgenossen nannten ihn „den Olympier", verglichen ihn also
mit Zeus selber. Redete er, so war’s ihnen, als trüge er Blitz und
Donner auf der Zunge, als thronte die Göttin der Redekunst auf seinen
Lippen. Einst hielt er den im Kriege Gefallenen eine Leichenrede.
121
Dabei wich er von der üblichen Sitte rührseligen Klagens und über-
mäßigen Rühmens ganz ab, sprach weniger von den Toten als von des
Vaterlandes Größe und Herrlichkeit und mahnte, dessen mustergültige
Einrichtungen und Sitten auch in Zukunft hochzuhalten. Aber grade
hierdurch wirkte er so mächtig, daß, als er von der Rednerbühne herab-
stieg, alles Volk ihm zujauchzte und selbst die Frauen ihn umringten
und mit einem goldenen Kranze schmückten.
2. Den größten Ruhm erwarb sich Perikies durch die Aufführung
all jener herrlichen Bau- und Bildwerke, durch die er Athen zu
einer Wunderstätte der Kunst für Mit- und Nachwelt, zum Sammel-
platz der ausgezeichnetsten Künstler, ja — wie er selbst sagte — zur
Bildungsschule und geistigen Hauptstadt von ganz Griechenland machte.
Der größte Meister, durch den er alles leiten ließ, war der berühmte
Baumeister und Bildhauer Phidias, dem sich als Schüler und Helfer
Mnesikles, Kallikrätes, Iktinus, und später die Maler Polygnöt,
Zeuxis, Parrhasius u. a. anschlossen.
Vor allem wurde die Akropolis, die Burg Athens, zum Mittel-
und Höhepunkte alles Herrlichen umgestaltet. Auf ragender Felshöhe
erhob sich der weithin leuchtende Marmortempel der Athene, der be-
rühmte Parthenon, ein längliches Viereck mit gewaltigen Säulen-
hallen ringsumher und wundervollen Bildwerken der Giebelfelder und
Seitenfriese. Im Innern thronte die 40 Fuß hohe Bildsäule der Göttin
aus Elfenbein mit goldener Gewandung. Draußen aber überragte das
Ganze ein fast doppelt so hohes ehernes Kolossalbild derselben Schutz-
göttin in aufrechter Stellung, in blinkender Waffenrüstung, mit ge-
hobenem Schild und aufgerichteter Lanze, auf dem Brustpanzer die
Agis, das Sinnbild des siegreichen Kampfes.*) Helmbusch und Lanze
leuchteten den Seefahrern schon meilenweit entgegen. Hinauf zur Burg
führten die nicht minder berühmten Vorhallen (Propyläen): prächtige
Marmortreppen stiegen zu einer glänzenden Säulenhalle mit fünf hohen
Durchgängen empor.**) Rechts auf einem Vorsprung winkte ein Tempel
der Siegesgöttin (Nike); links Öffnete sich eine große Halle mit Ge-
mälden der berühmtesten Meister.***)
*) Vgl. Teil II für Quinta 8. 108.
**) Nach diesem Muster ist u. a. das Brandenburger Thor in Berlin erbaut.
***) Von diesen sollen einst Zeuxis und Parrhasius gewettet haben, wer
am besten und naturgetreusten male. Zeuxis malte Weintrauben so natürlich,
daß die Vögel herzuflogen und daran pickten. Nun brachte auch Parrhasius sein
Stück, anscheinend mit einem Tuche verhängt. „Nun, so zieh doch den Vorhang
weg!“ sprach Zeuxis. Aber Parrhasius lachte, denn der Vorhang selbst war das
Gemälde. So galt er als Sieger; denn Zeuxis habe nur Tiere, er aber Menschen
und gar einen Künstler getäuscht
122
Erhob sich so über ganz Athen die Burg mit ihren Tempeln,
Hallen und Bildwerken wie eine schimmernde Krone, wie ein einziges
großes Weihgeschenk an die Götter, so war auch die Unterstadt mit
Bauwerken aller Art, mit Tempeln, Altären, Theatern und Gymnasien
geschmückt. Als Denkmal der Freiheitskämpfe erhob sich, nahe der
Akropolis, das Odeon, ein großes Rundgebäude für musikalische Auf-
führungen und Wettkämpfe. Unmittelbar am Fuße der Burg, in den-
selben Fels gehauen, lag das halbkreisförmige Theater mit seinen
treppenartig aufsteigenden Sitzreihen, wo zur Zeit der Dionysusfeste
täglich unter freiem Himmel gespielt wurde.*)
Auch die Dichtkunst nämlich blühte zu dieser Zeit herrlich auf,
vor allem die dramatische oder Schauspiel-Poesie. Drei große Meister
zählte Athen, die sich als Dichter ernster gewaltiger Schauspiele (griechisch
Tragödien genannt) unsterblichen Ruhm erworben haben: Aschylus;
Sophokles und Euripides. Der Überlieferung nach stand ihre Lebens-
zeit in besonderer Beziehung zu dem Siegestage von Salamis: Äschylus
hatte als Mann dort mitgekämpft, Sophokles als Jüngling den Sieges-
reigen unausgeführt, und Euripides war grade an dem Tage geboren.
Diese und viele andere Dichter rangen mit ihren Stücken oft wetteifernd
um die Palme. Die Athener konnten dann ganze Tage im Theater
zubringen und eine längere Reihe von Stücken hintereinander anhören.
Öffentlich ward zuletzt entschieden, wer am schönsten gedichtet und
auch wer von den Schauspielern am besten gespielt habe. Die Sieger
wurden bekränzt und ihre Namen auf einer Säule eingegraben.
Auch für die Wissenschaft war Athen damals der Hauptmittel-
punkt. Hier lebten Sokrates u. a. Weltweise (vgl. S. 128), hier die
berühmten Geschichtschreiber Herodöt (S. 110) und Thucydides
(S. 123); auch der berühmte Arzt Hippökrates soll sich hier zeit-
weise aufgehalten haben.
So waltete auf allen Gebieten des Staates, des Lebens, der Wissen-
schaft und Kunst der eine Mann, Perikies, mit unvergleichlichem
Einfluß und Erfolge. Das ganze Zeitalter heißt noch heute nach ihm
das periklei'sche Zeitalter und gilt als die goldene Blütezeit
der griechischen Kunst und Litteratur. Als er nach einem so
reichen Leben im Jahre 429, noch im rüstigen Alter, durch eine schreck-
liche Pest (S. 123) mit hinweggerafft ward, verlor Athen seinen größten
Sohn. Er selbst aber konnte auf dem Sterbebett den Freunden, die
um ihn klagten und seine Verdienste rühmten, sagen: „Ihr erwähnt ja
*) Dionysus oder Bacchus, der Gott des Weins, war auch der Schutzherr
des Theaters und der Schauspielkunst. Vgl. Teil II für Quinta S. 62. 143.
123
nur das, woran das Glück gleichen Anteil hat wie ich und was auch
andern gelungen ist; das Schönste aber vergeßt ihr: daß kein Athener
meinetwegen das Trauergewand hat anzulegen brauchen.“ M. Evers.
26 (7), Alcibiades und der peloponnesische Krieg.
1. Schon vor Perikles' Tode hatte infolge der beständigen Eifer-
süchteleien zwischen Athen und Sparta der peloponnesische Krieg be-
gonnen, der 27 Jahre (431—404) gedauert und über Griechenland ähn-
liches Unheil gebracht hat, wie über Deutschland der 30 jährige Krieg. Er
endete schließlich mit der Niederlage Athens. Denn so heldenmütig sich
diese Stadt auch lange Zeit wehrte, so entbehrte sie doch, eben nach
Perikles' Tode, der einheitlichen Leitung und litt unter Parteihader,
Wankelmut der Menge und all jenen schon (S. 120) erwähnten Nach-
teilen des Müßiggangs und der Verweichlichung. Jetzt kamen all die ehr-
geizigen Streber und Wühler, sogenannte Demagogen auf, die um die
Volksgunst buhlten, um ihre eigene Herrschgier zu befriedigen; die das
große Wort führten und die Volksmeinung gleich einer Wetterfahne bald
hierhin, bald dorthin lenkten.
Zu diesem politischen Unheil war dann gleich zu Anfang des Kriegs
das furchtbare Unglück jener verheerenden Pest gekommen, der auch Perikles
erlag (S. 122). Durch Schiffe vom Auslande eingeschleppt, wurde sie
durch die Sonnenhitze und die Übervölkerung der Stadt grauenvoll ge-
steigert. Sobald nämlich der Krieg begonnen und ein großes pelopon-
nesisches Heer eingerückt war, hatte sich alles Landvolk mit Sack und Pack
nach Athen geflüchtet. Hier hauste es nun, in kleinen dumpfigen Hütten
zusammengepfercht, und fiel der furchtbar ansteckenden Krankheit scharen-
weise zum Opfer.
Mit grausiger Klarheit hat uns der athenische Geschichtschreiber
Thucydides die Seuche und ihre gräßlichen Wirkungen bis ins ein-
zelne geschildert. Den Kranken wurden Augen, Zunge und Schlund
feuerrot entzündet; Kopfschmerz, Fieberhitze, Schlaflosigkeit und brennender
Durst quälten sie aufs äußerste. Bald kamen Husten und schmerzhaftes
Schlucken, endlich Geschwüre in den Eingeweiden und Magenkrümpfe mit
Erbrechen und Durchfall hinzu. Die Haut bedeckte sich mit Blattern und
Beulen, und der ganze Körper wurde so verseucht, daß vor den umher-
liegenden Leichnamen selbst die Raubvögel sich scheuten oder, wenn sie
davon fraßen, gleichfalls starben.
Noch furchtbarer jedoch als diese körperlichen Verheerungen war der
entsittlichende Einfluß der Pest auf die Gemüter der Menschen. Sie
wurden mutlos, verzweifelt und zuletzt gegen alles Menschliche und Gött-
124
liche völlig gleichgültig. Keiner kümmerte sich mehr um andere. Hülflos
lagen Kranke auf Straßen und Plätzen umher oder wälzten sich an die
Brunnen, um ihren Durst zu löschen. Dazwischen häuften sich, selbst in
den Tempeln, die Leichen, die niemand bestatten wollte. Stumpfsinnig
erwarteten die noch Verschonten ihr Los. Viele aber suchten den Rest
des Lebens mit Sinnenlust auszukaufen und ergaben sich Lastern aller
Art. Der Glaube an die Götter, sittliche Zucht und Ehrbarkeit schwanden;
Frevler und Verbrecher verloren jede Scheu vor Gesetz und Strafe. Und
solche Sittenverderbnis dauerte auch noch fort, als die Pest endlich erlosch.
Grade sie hat viel dazu beigetragen, Athens Größe und Kraft zu untergraben!
Das Bild dieser ganzen Zeit mit ihren schweren Schäden und jähen
Wechselfällen hat sich kaum irgendwo deutlicher wiedergespiegelt, als in
dem Charakter und Lebensgange des Alcibiades, eines vornehmen und
reichen Atheners, der zwar ein Verwandter und Mündel des Perikles
war, der aber sonst zu ihm den schärfsten Gegensatz bildete.
2. Hochbegabt freilich war auch Alcibiades. Die Natur hatte ihn an
Leib und Seele überreich ausgestattet. Schön von Gestalt und Antlitz,
hatte er ein gewandtes liebenswürdiges Wesen, eine angenehme ein-
schmeichelnde Stimme, deren leichtes Lispeln ihr noch mehr Reiz verlieh,
und eine ebenso treffliche Rede- und Unterhaltungsgabe. Er war einer
der besten Ringer, der tapfersten Kämpfer; dabei hochgebildet, geistreich,
von unerschöpflichem Witz. Aber mit solchen Vorzügen verband er einen
trotzigen Übermut, der keine Schranken kannte, sondern stolz auf den Glanz
und Reichtum seiner Familie pochte; dazu einen grenzenlosen Leichtsinn,
der sich tolldreist in jedes Wagnis stürzte. So wuchs er zum Jüngling
heran, wohlunterrichtet in allen Zweigen feinster attischer Bildung, aber
ungebändigt, wild und launenhaft, niemals an Gehorsam und strenge
Zucht gewöhnt, unfähig sich selbst zu überwinden und zu beherrschen.
Dazu beseelte ihn ein verzehrender Thatendurst, die Sucht auf alle Fälle
eine Rolle zu spielen und von sich reden zu machen.
Schon als Knabe und Jüngling zog er durch seinen ausgelassenen
Mutwillen, seine kecke Geistesgegenwart, seinen schlagfertigen Witz aller
Aufmerksamkeit auf sich, und die ganze Stadt war voll von seinen losen
Streichen. Er ward der verzogene Liebling des Volkes, das ihm alle
seine Tollheiten verzieh, ja sie mit lautem Beifall von Mund zu Munde
trug. Was Alcibiades that und sprach, wie er sich kleidete, sich aus-
drückte und benahm, das galt als feinste Sitte in Athen und wurde als
neueste Mode nachgeahmt. Alle Welt, Vornehm und Gering, drängte sich
mit Schmeicheleien um den eitlen Jüngling und huldigte dem Zauber
seiner Persönlichkeit. Zahllose Geschichtchen — sogenannte Anekdoten —
liefen von ihm um, von denen einige der bezeichnendsten erwähnt seien.
125
Als Knabe biß er einst beim Ringen einen stärkern Gegner, um
nicht zu unterliegen, in den Arm. „Pfui!" rief der, „du beißt ja wie
ein Weib!" „Nein," erwiderte Alcibiades, „wie ein Löwe!" — Als er
ein andermal auf der Straße mit andern Kameraden würfelte, kam ein
Wagen gefahren. Er war grade beim Wurf und bat den Fuhrmann zu
warten; als dieser nicht wollte, warf er sich quer vor die Pferde und
rief: „Nun fahr zu, wenn du's wagst!" Und wirklich, der Fuhrmann
wartete, bis er feinen Wurf gethan. — So lerneifrig Alcibiades sonst war,
wollte er doch aus Eitelkeit nie lernen die Flöte zu blasen, um nicht sein
Gesicht zu entstellen, half sich aber mit einem Witz und sagte: „Laßt die
Thebanerjungen Flöte blasen, denn die verstehen sowieso nicht zu reden!"*)
— Als Jüngling hatte er einen so schönen und kostbaren Hund gekauft,
daß der für längere Zeit das Stadtgespräch bildete. Kaum hatte das etwas
nachgelassen, flugs ließ er dem Tier den Schwanz abhacken, nur, damit
sich hierüber alle Welt erst recht aufrege. — Selbst mit der Volksversamm-
lung trieb er seine Possen. Eines Tages kam er dorthin und erregte
die Aufmerksamkeit aller so, daß man ihn gar mit Zurufen empfing. Da
ließ er plötzlich eine Wachtel fliegen, die er im Mantel verborgen hatte,
und lachte sich halbtot, wie alles dem Vogel nachstürzte, um ihn wieder
zu erlangen. — Den Gegensatz zu Perikles drückt nichts deutlicher aus
als der Witz, den er sich sogar über diesen erlaubte. Als er ihn einst
besuchen wollte, wurde er abgewiesen, weil sein Vormund grade über die
dem Volk abzulegende Rechenschaft nachdenke. „Na," sagte Alcibiades leicht-
fertig, „da würde ich doch lieber nachdenken, wie man keine Rechenschaft
abzulegen braucht."
Eigentliche Scheu hatte er nur vor einem Menschen, vor dem weisen
Sokrates, der ihm durch die Reinheit seines Charakters, durch seine
überlegene Ruhe, durch die Folgerichtigkeit seines Denkens und die
Schärfe seines Witzes solchen Eindruck machte, daß er längere Zeit sein
Schüler wurde und von ihm sogar scharfen Tadel hinnahm. „Nur bei
dem," gestand er selbst, „habe ich mich zuweilen vor mir selber geschämt."
Übrigens hatte ihn auch Sokrates einst in einer Schlacht, wo er ver-
wundet gefallen war, mit seinem Schilde gedeckt und so gerettet. Um-
gekehrt hieb er ein andermal den Sokrates wieder heraus, als dieser
öon Feinden umringt war. Leider schlug er dessen Lehren nur allzubald
wieder in den Wind, zumal seitdem er eine politische Rolle zu spielen
begann.
3. Dies geschah, als der peloponnesische Krieg nach zehnjähriger Dauer
(431—421) durch einen Frieden unterbrochen wurde, den bei der all-
*) Die Schwerfälligkeit der Bööter im Reden war sprichwörtlich.
126
gemeinen Kriegsmüdigkeit das Haupt der athenischen Friedenspartei, Niclas,
glücklich zustande gebracht hatte. Da war's nun Alcibiades, der in seinem
Ehrgeiz umgekehrt das Kriegsfeuer schürte und die Athener zu neuen Unter-
nehmungen aufstachelte, um selber darin die Hauptrolle zu spielen.
Als deshalb im fernen Sicilien griechische Städte um Hülfe gegen
das übermächtige Syrakus baten, trieb er das Volk zu einer großen
Eroberungsfahrt dorthin. Trotz aller Warnungen des Nicias, trotz der
Abenteuerlichkeit des Zugs und der bei jedem Mißerfolg drohenden Gefahr,
setzte er seinen Willen bei der leichtsinnigen Bürgerschaft durch und wurde
selbst mit Nicias zum Leiter des Unternehmens ernannt (415). Vielleicht
wäre ihm selbst auch die Sache geglückt. Aber es sollte, nicht ohne seine
Schuld, ganz anders kommen!
Kurz vorher nämlich, ehe die gewaltige Flotte mit ihren 40000 Streitern
auslief, ereignete sich ein verhängnisvoller Unfug. In einer Nacht wurden
zu aller Entsetzen sämtliche Hermensäulen in Athen umgestürzt*) — man
weiß nicht, ob von einer Schar betrunkener Mutwilliger, oder von Ver-
schworenen der Gegenpartei, um die allgemeine Aufregung darüber gegen
die Heerfahrt und Alcibiades selbst auszunutzen. Jedenfalls fiel der Ver-
dacht sofort auf diesen. Man kannte ja seine tollen Streiche und erzählte,
zu Hause verspotte er überhaupt die Religion und äffe gar die frommen
Gebräuche nach. Umsonst verlangte er, diesmal unschuldig, strengste Unter-
suchung und Bestrafung des Frevels. Grade seine Gegner hintertrieben
dies, damit er sich nicht persönlich verteidigen könne; sie wollten ihn erst
in seiner Abwesenheit anklagen. Da nun die Abfahrt drängte, so brach
er mit der Flotte auf, im guten Glauben, daß er gereinigt dastehe. Kaum
jedoch waren sie in Sicilien gelandet, da kam ein Staatsschiff an, um
ihn nach Athen vor Gericht zu holen. Jetzt erkannte er die Tücke seiner
Feinde und mißtraute auch dem Volke so, daß er unterwegs bei einer
Landung in Italien entfloh. Nun verurteilte man ihn in Athen zum
Tode, zog seine Güter ein und sprach über den vermeintlichen Gottes-
lästerer den Staatsfluch aus.
Als Alcibiades das erfuhr, ertrug er nicht mit Seelengröße, wie
andre edle Vorgänger, das Unrecht, vertraute auch nicht der Zeit, um sich
später zu rechtfertigen; nein, racheschnaubend rief er aus: „Ich will ihnen
zeigen, daß ich noch lebe!" und floh gradeswegs zu den Erbfeinden Athens,
nach Sparta, um ihnen gegen sein Vaterland zu raten und zu helfen.
Und in der That eröffneten nach seinem Rat diese jetzt mit größtem
Geschick und Erfolg von neuem den Krieg sowohl in Sicilien wie
*) Bildsäulen mit dem Kopf des Gottes Hermes, die als Grenzscheiden auf allen
Straßen standen.
127
in Griechenland. Dort wurde die ganze gewaltige Heeresmacht der
Athener unter Nicias aufgerieben (413); und hier geriet Athen selbst
durch ein in Attika sich festsetzendes peloponnesisches Heer in höchste Be-
drängnis.
4. Aber trotz dieser Verräterdienste konnte Alcibiades nicht lange in
Sparta bleiben. Anfangs zwar hatte man ihn freundlich aufgenommen,
und er, der verwöhnte Athener, hatte sich erstaunlich rasch an die rauhe
spartanische Sitte und Lebensweise gewöhnt — abermals ein Beweis seiner
vielseitigen Gewandtheit. Doch nur zu bald mißtraute man dem aalglatten
Fremdling; man besorgte, er werde doch bald wieder auf Athens Seite
treten. Dazu überwarf er sich mit dem einen Könige, Agis, und nun
drohte ihm bereits Meuchelmord. Da entfloh er noch rechtzeitig und ging
nach Asien zu den Persern. Auch diese wußte er bald so für sich zu ge-
winnen, daß er sie zur Unterstützung Athens gegen Sparta überredete.
Denn längst trieben ihn ebenso die Klugheit wie Gewissensregungen dazu,
sich mit seiner Vaterstadt wieder auszusöhnen und ihr zu helfen.
Deshalb trat er zunächst mit der athenischen Flotte bei der Insel
Samos in Verbindung. Gern nahm das Heer den kriegserprobten Führer
wieder auf, und bald ward er auch durch Volksbeschluß nach Athen zurück-
berufen. Doch nur als sieggekrönter Feldherr wollte er heimkehren. So schlug
er denn die Peloponnesier bei Cyzikus (am heutigen Marmarameer) zu
Wasser und zu Lande und kehrte nun erst mit reicher Beute und ruhm-
vollen Siegeszeichen (Trophäen) nach Athen zurück (408). Im Triumphe
empfing das Volk seinen alten Liebling. Bei seiner Einfahrt stand die
Menge am Ufer, Kopf an Kopf gedrängt, und allgemeiner Jubelruf be-
grüßte den nahenden Helden. Jeder wollte ihn sehen, jeder seinen Gruß
empfangen, sein Gewand berühren, ihm Blumenkränze zuwerfen. In
der Volksversammlung verteidigte er seine Unschuld am Hermenfrevel so
glänzend, daß man unter allseitigem Beifall den Fluch widerrief, ihm
seine Güter zurückgab und ihn mit dem unumschränkten Oberbefehl zu
Wasser und zu Lande betraute.
So stand Alcibiades wieder auf der Höhe des Glücks und der Volks-
gunst. Doch schon im Jahre darauf folgte ein neuer jäher Umschlag. Sein
Unterfeldherr ließ sich in seiner Abwesenheit, trotz ausdrücklichen Verbotes,
von dem schlauen Spartanerfeldherrn Ly sän der zu einer Schlacht ver-
locken und wurde besiegt (407). Und so unschuldig er selbst hieran war:
das wankelmütige Volk geriet in Wut, entsetzte ihn abermals aller seiner
Würden und beraubte sich selber so des einzigen Mannes, der den Staat
hätte retten können.
Wohl versuchte er, durchs Unglück geläutert und nun von wirklicher
Vaterlandsliebe erfüllt, nochmals den Athenern mit Rat und That zu
128
helfen. Als deren Flotte im Hellespont am Ziegenflusse (Ägospotämoi)
lag, eilte er von seiner Burg, die er sich in Thracien erbaut, herbei und
erbot sich sie zum Siege zu führen. Aber schnöde ward er abgewiesen
und sah alsbald zu seinem höchsten Schmerze, wie Lysander sie zum
zweitenmale überrumpelte und schlug, den Rest ihrer Flotte vernichtete
und so das Geschick des ganzen furchtbaren Krieges entschied (405). Denn
nun rückte er vor Athen selbst, schloß die Stadt ein und zwang sie durch
Hunger zur Übergabe unter den härtesten Bedingungen, die ihre ganze
Vormachtstellung vernichteten. (404).
Nicht lange überlebte Alcibiades den Sturz seiner Vaterstadt. Vor
den Nachstellungen der Spartaner floh er wiederum zu den Persern. Doch
diese waren treulos genug, ihn preiszugeben. Eine Bande Bewaffneter
sollte ihn lebendig fangen. Sie wagten nicht ihn offen anzugreifen, um-
stellten deshalb das Haus, wo er weilte, und warfen Feuer hinein. Mit
einem Dolche bewaffnet drang er durch die Flammen ins Freie. Da er-
legten ihn die feigen Mörder durch Pfeilschüsse aus der Ferne und brachten
sein Haupt dem persischen Statthalter, während eine treue Dienerin seinen
Leichnam in dem Feuer des Hauses verbrannte.
So jammervoll endete dieser hochbegabte Mann. Mit seinen letzten
Thaten und seinem Tode sühnte er einigermaßen seine früheren Fehler
und Vergehen. Aber sein und seiner Stadt Geschick lehren doch mit
furchtbarer Deutlichkeit, wie Glanz und Macht, Geistesgaben und äußere
Vorzüge nur dann wahren Wert und Bestand haben, wenn sittliche Zucht,
Tüchtigkeit und Charakterstärke sich damit verbindend— M. Evers.
27 (8). Sokrates.
1. Den Athener Sokrates lernten wir schon als trefflichen Lehrer
des Alcibiades und als tapferen Kriegsmann kennen (S. 125). Ihn hatte
das delphische Orakel für den weisesten Mann der Zeit erklärt. Und in
der That, er gehört zu den größten Denkern und Weltweisen (Philo-
sophen) des Altertums und zu den edelsten Menschen, die je gelebt haben.
Schriftwerke freilich hat er nicht verfaßt, sondern sich auf mündliches Lehren
beschränkt. Aber über ihn haben seine Schüler begeisterte Berichte hinter-
lassen, vor allem der große Philosoph Plato und der Kriegsmann Xenophon,
deren Schriften noch auf vielen unserer höheren Schulen gelesen werden.
Als Jüngling betrieb er die Kunst seines Vaters, die Bildhauerei.
Als Mann aber folgte er dem Drange nach Erforschung der Wahrheit
und ergab sich der Philosophie. Er las die Schriften der Weisen und
hörte die besten Lehrer, wobei ihn, da er arm war, sein reicher Freund
Kriton unterstützte. Überall, auch auf Markt und Straßen, suchte er
129
Belehrung, knüpfte gern Gespräche an, nicht über den Stadtklatsch und die
Tagesneuigkeiten, sondern über die ernstesten Lebensfragen und die höchsten
menschlichen und göttlichen Dinge. Nichts ließ er ungeprüft, allem ging
er auf den Grund und suchte den sichersten Weg zu wahrer Tugend und
Glückseligkeit.
Dieser Wahrheitsdrang war in ihm so stark, daß er selbst ihn als
etwas Übermächtiges, Göttliches empfand. Soll er doch einst, in Nach-
denken über etwas versunken, 24 Stunden lang, ohne sich zu rühren, ohne
Nahrung, auf einem Flecke stehen geblieben sein! Was er dann als wahr
erprobt hatte, was ihm zu innerster Gewißheit und heiliger Überzeugung
geworden war, das faßte er als eine Gotteserleuchtung auf und nannte es
geradezu „den Gott in seinem Innern". Und daran hielt er fest,
darin machte ihn nichts irre, kein Widerspruch, kein Hohn, keine Anfeindung.
Als Vorsitzender des Geschworenengerichts widersetzte er sich einst ganz
allein einem ungerechten Urteil aller übrigen, ja dem Toben des Volks,
den Drohungen der Mächtigen. So unerschrocken, so unbedingt folgte er
seinem Gewissen! Und wir werden sehen, wie er schließlich als Märtyrer
dafür in den Tod ging.
Allmählich war er nun aus einem Lernenden und Schüler selbst ein
Meister und Lehrer geworden. Er machte es schließlich zu seinem Lebens-
berufe, seine Mitbürger und vor allem edle, wißbegierige Jünglinge an
sich zu ziehen und zu belehren. Täglich ging er aus, um „Menschen zu
fangen", d. h. um Anhänger des Wahren und Guten zu gewinnen, und
bildete aus solchen einen engeren Freundeskreis mit zwanglos freiem Ver-
kehr. Geld nahm er nicht für seinen Unterricht; höchstens durfte man ihm
so weit helfen, daß er mit seiner Familie nicht grade zu darben brauchte.
Als daher ein armer Jüngling, Äschln es, sich scheute zu ihm zu kommen,
weil er nicht bezahlen konnte, und Sokrates dies merkte, sagte er zu ihm:
„Warum scheust du dich denn? Giebst du mir denn nichts, wenn du dich
selber mir giebst?"
Von dem tiefen Eindruck seiner Rede und vollends seiner Persönlich-
keit hörten wir schon bei Alcibiades. Seine Macht über die Gemüter war
um so merkwürdiger, da er eigentlich durch seine Häßlichkeit die Menschen
eher hätte abstoßen als anziehen können. Denn weit entfernt, von der
berühmten griechischen Schönheit etwas zu besitzen, hatte er eine plumpe
Gestalt, einen dicken Kopf, vorquellende Augen, eine Stülpnase und wulstige
Lippen. Es war also nur sein hoher Geist und edler Charakter, dazu die
Klarheit seines Denkens und seine wunderbare Lehrkunst, was seine Schüler
fesselte, ja bezauberte. Machte doch ein Antisthönes aus dem Piräus
täglich die halbe Meile hin und zurück, um ihn zu hören. Und Euklrdes
von Megära that noch mehr: als die Athener einst im Kriege den mega-
Lesebuch für höhere Lehranstalten. (Preuß. AuSg) III. 9
130
rischen Männern bei Todesstrafe den Besuch ihrer Stadt verboten hatten,
wagte er's, die 4 Meilen von da in Frauenkleidern zurückzulegen, nur um
einen Tag des Sokrates Unterhaltung zu genießen.
2. Dieser hatte aber auch eine ganz eigenartige Lehrweise. Wohl
konnte er, wenn's die höchsten Dinge galt, auch zusammenhängend reden
und sprach dann wahrhaft hinreißend und ergreifend. Für gewöhnlich
aber liebte er das ungezwungene Gespräch in munterer Unterhaltung.
Meistens knüpfte er an die unscheinbarsten Dinge des täglichen Lebens an
und suchte durch Fragen den Trieb zu selbständigem Nachdenken zu wecken.
So begegnete er einst dem Xenöphon, den er längst gern zum Schüler
gehabt hätte. Er hielt ihn an und fragte: „Sage mir doch, wo kauft man
Mehl?" „Auf dem Markte," antwortete verwundert der Jüngling. „Und
Öl?" „Ebenda." „Aber wohin geht man, um gut und weise zu werden?"
Xenophon stutzte. „Folge mir, ich will dir's zeigen!" sprach Sokrates und
gewann ihn bald zum treusten Anhänger. — Ein andrer scheute sich in
der Volksversammlung zu reden. Sokrates fragte: „Scheust du dich auch
vor einem Schuster zu sprechen?" „O nein." „Oder vor einem Schmied?"
„Nicht im mindesten." „Aber vor einem Krämer?" „Ebensowenig." „Nun
sieh," schloß Sokrates, „aus solchen Leuten besteht ja die Volksversammlung.
Scheust du also die Einzelnen nicht, warum dann die Versammelten?" —
Schon hieraus sieht man, wie seine Fragen stets folgerichtig eine aus der
andern oder aus den Antworten herauswuchsen und sämtlich auf ein be-
stimmtes Ziel lossteuerten, das er selbst allemal von vornherein im Auge
hatte. Das wußte er aber dem Hörer zu verdecken und ihn ganz un-
merklich Schritt für Schritt weiter zu leiten, bis er ihm seine eigene
Meinung so geschickt beigebracht hatte, daß jener sie selbst gefunden zu
haben schien und nun darüber doppelte Freude empfand.
Gern gebrauchte er auch, besonders gegen dünkelhafte Leute, das Mittel
des sogenannten Schein-Ernstes (griechisch Ironie), d. h. der Verstellung,
als sei er selbst unwissend und bedürfe von jenen der Belehrung. Damit
lockte er dann ihre Prahlerei heraus, trieb sie aber bald durch seine Fragen
so in die Enge, daß sie sich schließlich in Widersprüche verwickelten und
lächerlich machten. So namentlich die damaligen Sophisten. Dies waren
redegewandte Wanderlehrer, die überall umherzogen, für schweres Geld
Vorträge hielten und sich rühmten, den Leuten Wissenschaft und Redekunst
im Handumdrehen eintrichtern zu können. Ein solcher prahlte einst auch
vor Sokrates, er könne unvorbereitet auf alles antworten, über alles sofort
längere Vorträge halten und auch seine Schüler das Gleiche lehren. So-
krates stellte sich erst als gläubiger Bewunderer, setzte ihm dann aber durch
Kreuz- und Querfragen derart zu, daß jener ganz kleinlaut wurde. Er
bewies ihm nämlich Schritt für Schritt: das sei gar keine wirkliche Rede-
r
131
kunst, sondern bloße Schlagfertigkeit in Redensarten und völlig wertlos;
ja, über Dinge zu reden, die man selber nicht gründlich verstehe, das sei
die reine Spiegelfechterei, womit man nur Gimpel fangen, aber keinen ernst
denkenden Menschen belehren könne; im Grunde sei das also schnöder Be-
trug und Verführung.
3. So drang Sokrates überall mit heiligem Emst auf das Wahre,
Gute und Schöne, und nicht nur auf dessen Erkenntnis, sondern auch
auf dessen Bethätigung im Leben. Alle Unwahrhaftigkeit und Eitelkeit
geißelte er mit scharfem Spott. Sein oberster Grundsatz war das bekannte
Wort: Erkenne dich selbst! (vgl. S. 105). Daher war er auch bescheiden
und demütig; und als man ihm jenes ehrende Orakel über seine Weisheit
mitteilte, sagte er: „Meine Weisheit ist die, zu wissen, daß ich nichts
weiß." In Kleidung, Nahrung und Lebensweise war er ein Muster von
Einfachheit und Mäßigung. „Wer am wenigsten bedarf," pflegte er zu
sagen, „der kommt der Gottheit am nächsten." Auch äußerte er wohl:
viele wollten nur leben, um essen und trinken zu können; er esse und
trinke, um zu leben und zu lernen. Und als jemand prahlte: er könne
viel trinken, ohne betrunken zu werden, antwortete er kurz: „Das kann
jeder Schwamm auch." — Doch wollte er anderseits keine übertriebene
Kasteiung oder gar Vernachlässigung des Äußeren. Als Antisthenes, um
das schlichte Gewand des Meisters noch zu übertreffen, sogar mit zer-
rissenem Mantel ging, rief Sokrates ihm zu: „Freundchen, durch deine
Mantellöcher guckt ja die Eitelkeit heraus!"*)
Von Natur heftig, hatte er durch strenge Selbstbeherrschung sich jeden
Jähzorn abgewöhnt und einen edlen, heitern Gleichmut gewonnen, der sich
durch nichts erschüttern ließ. Als ihn einst ein Hitzkopf ohrfeigte, sagte er
ruhig: „Wie schade, daß man's nicht voraussehen kann, wann man einen
Helm braucht!" Ebenso ruhig sagte er von einem Verleumder: „Wenn ich
nicht dabei bin, mag er mich gern prügeln!" Auch seiner Frau Xanthippe
gegenüber bewies er die größte Gelassenheit. An sich war diese eine brave
Hausfrau, freilich in ihrer Beschränktheit ohne Verständnis für ihres Mannes
Eigenart und Beruf. So ereiferte sie sich denn wohl über dessen ihr un-
begreifliche Beschäftigung, die ja nicht einmal Geld einbrachte, und soll
klnst nach einer heftigen Szene, durch seine gelassenen Antworten nur noch
*) Als Schüler des Antisthenes übertrieb später Diogenes von Korinth die Be-
dürfnislosigkeit ins Lächerliche. Er ging ungeschoren und ungekämmt, in schmutzigen
zerrissenen Kleidern, barfuß, mit dem Bettelsack auf dem Rücken und wohnte in einer
großen Tonne. Selbst seinen Trinkbecher warf er weg, als er einen Hund das Wasser
secken sah, und machte es fortan wie dieser. Wegen solchen „Hundelebens" nannte man
ihn und seine Anhänger die Cyniker, d. h. Hundephilosophen. Berühmt ist seine Ant-
wort an Alexander den Großen, vgl. unten S. 14:;.
9»
132
mehr gereizt, ihm, als er wegging, einen Kübel Wasser nachgeschüttet haben.
„Dacht' ich's doch," sagte da Sokrates, „daß aufs Donnerwetter Regen
folgen müßte!"*)
4. Bis in sein 70. Lebensjahr hatte Sokrates in dieser Weise ge-
wirkt und sich viele treue Anhänger, aber auch durch seine Gradheit und
Strenge viele Gegner, ja erbitterte Feinde erworben. Leider grollten ihm
auch wohlmeinende Leute, weil sie ihn irrigerweise zu den Sophisten zählten
und für einen Neuerer und Gottesleugner hielten. Wohl dachte Sokrates
über die Gottheit ähnlich wie Anaxagoras (S. 118), hatte aber den Volks-
glauben niemals angegriffen, geschweige denn verspottet. Immerhin schadete
es ihm, daß z. B. ein Spötter wie Alcibiades einmal sein Schüler ge-
wesen war. Als man nun nach dem Falle Athens überall nach Ursachen
und Sündenböcken für das nationale Unglück suchte, da wurde auch Sokrates
von seinen Widersachern der Mitschuld daran bezichtigt und schließlich gradezu
angeklagt, daß er die Staatsgötter leugne und die Jugend verführe.
Nun hätte er leicht seine Freisprechung bewirken können, wenn er
den Richtern, wie üblich, geschmeichelt und unter Flehen und Thränen
ihr Mitleid angerufen hätte. Statt dessen sprach er mit dem hohen Be-
wußtsein eines rechtschaffenen Mannes, der stets Wahrheit und Tugend
gelehrt und sich gradezu Verdienste ums Vaterland erworben habe. Solcher
Stolz erbitterte die meisten; stand er doch nicht wie ein Angeklagter vor
ihnen, sondern wie ein Herr und Gebieter. Als er nun vollends auf
die Frage, ob er eine mildere Strafe beantrage, erwiderte: Strafe habe
er überhaupt nicht verdient, sondern eher eine öffentliche Anerkennung, da
verurteilte ihn die Mehrheit zum Tode, den er nach der Sitte im Ge-
fängnis durch Leerung eines Giftbechers erleiden sollte.
Gelassen hörte der Weise das Urteil an. Hielt er doch den Tod
nicht für ein Übel, sondern für den Eingang zu einem bessern Leben. Ja,
er scheint es gradezu so gewollt zu haben, um die erhabenen Lehren,
die er seinen Schülern so oft bezeugt hatte, schließlich mit dem höchsten
Opfer zu besiegeln, dem freien Märtyrertode. Letzterer verzögerte sich
nun wegen einer Staatsfeier noch einen Monat, während dessen alle Freunde
und Anhänger ihn täglich im Gefängnis besuchten und von seiner Ruhe
und Festigkeit, seinem unerschütterlichen Glauben, seiner wunderbaren Seelen-
größe die letzten erhebendsten Eindrücke empsingen. Anfangs gab es
natürlich bei ihnen nur Jammer und Schluchzen. Als dabei einer ausrief:
„Ach, daß du so unschuldig sterben mußt!" antwortete Sokrates lächelnd:
*) Im übrigen hat Xanthippe es nicht verdient, daß ihr Name sprichwörtlich sür
eine zänkische Keiferin geworden ist! Sokrates selbst hat sie als gute Frau und wackere
Mutter anerkannt; auch sie hat ihm aufrichtig nachgetrauert und noch später seine Geduld
mit ihr gerühmt.
133
„Möchtest du denn lieber, daß ich schuldig stürbe?" Überhaupt that er
alles, um ihnen Trost, Ergebung und Mut einzuflößen. Leicht hätte er
noch fliehen können; jener reiche Kriton hatte den Wächter bestochen und
alles vorbereitet. Aber Sokrates lehnte es ab und sagte: man müsse
auch bei einer ungerechten Obrigkeit die Staatsgesetze befolgen.
Die letzten Tage füllte er noch mit herrlichen Gesprächen über Tod
und Unsterblichkeit aus. Am Morgen des Sterbetages nahm er Abschied
von Weib und Kind und sprach dann abermals mit den Freunden über
die Unsterblichkeit der Seele. So verging der Tag, und gegen Abend kam
weinend der Diener, um zu melden, der Gifttrank sei fertig. Die Freunde
baten noch bis Sonnenuntergang zu warten; doch Sokrates verschmähte
es, mit Augenblicken zu geizen, ließ sich den Schierlingsbecher reichen und
leerte ihn nach kurzem Gebet mit heiterer Miene in einem Zuge. Bei
diesem Anblick brachen alle von neuem in Thränen aus; sie schluchzten
und rangen die Hände. Doch er hieß sie ruhig sein und sich wie Männer
fassen. Dann ging er auf und ab, bis er Mattigkeit in den Gliedern
fühlte; da legte er sich nieder und verhüllte sein Haupt. Schon begann
der Körper von unten auf kalt und starr zu werden; doch noch einmal
richtete sich der Sterbende auf und sagte: „Vergeßt nicht, dem Äskulap
ein Dankopfer für meine Genesung zu bringen."*)
Mit so verklärter Hoffnung verschied der Mann, den seine Jünger
fortan als den besten, weisesten und gerechtesten aller Hellenen ehrten.
Aber auch in der Christenheit wird er von jeher wegen der auffallenden
Übereinstimmung in so manchen Zügen seines Charakters, seines Lebens
und Sterbens mit der Geschichte Jesu Christi als eines der merkwürdig-
sten Beispiele anerkannt, wie auch in der griechischen Welt das Heil schon
früh vorbereitet und gewissermaßen vorgebildet worden sei. M. Evers.
28 (9). Epaminondas und Pelopidas.
1. Nur zwei große Staatsmänner hat die Stadt Theben in Böotien
gehabt und nur eine kurze Blüte durch sie erlebt.**) Aber die Namen
dieser beiden, des Freundespaares Epaminondas und Pelopidas, werden
ewig leben, weil sie ihr Vaterland gerettet und in einer Zeit, wo ganz
Hellas sich der stolzen Übermacht Spartas beugte, diese besiegt und ge-
brochen haben.
*) Äskulap war der Gott der Heilkunst und Arzeneiwissenschaft. Sokrates faßte
also seinen Tod nicht als Ende und Vernichtung auf, sondern umgekehrt als Genesung
vom „Siechtum" des unvollkommenen Erdenlebens zu einer höheren Vollkommenheit.
**) Über Theben vgl. Theil II für Quinta S. 76 ff.
134
Nach dem peloponnesischen Kriege nämlich und dem Falle Athens
hatte das siegreiche Sparta lange Jahre hindurch eine unerhört drückende
Gewaltherrschaft über Griechenland ausgeübt. Wie es in vielen Städten
Besatzungen hielt, so hatte es auch in Theben, allerdings auf Anstiften des
lacedämonisch gesinnten Adels dort, durch einen Handstreich die Burg Kadmea
besetzt*) und alle freiheitliebenden Bürger vertrieben. Von denen waren
die meisten nach Athen geflüchtet und hatten hier, wo man sich allmählich
vom Unglück wieder aufraffte, Aufnahme und Unterstützung gefunden.
Unter ihnen befand sich der junge Pelopidas aus vornehmer und
reicher Familie, ein feuriger Kriegsmann, in allen Leibesübungen geübt,
doch auch in Staatsgeschäften gewandt, dabei hochherzig, freigebig, für alles
Edle begeistert. Unablässig betrieb er die Befreiung des Vaterlandes und
stand heimlich in Verbindung mit der Heimat. Denn auch hier wirkten
Gesinnungsgenossen im stillen zu gleichem Ziele, darunter sein Freund
Epaminondas. Auch dieser stammte aus edlem, jedoch armem Geschlechte
und war gleichfalls ein herrlicher Charakter: so wahrhaftig, daß er selbst im
Scherze nie log; dabei uneigennützig, hochsinnig, an Geistesgaben und
Bildung, an Staatskunst und Feldherrngenie dem Pelopidas noch überlegen.
Er war nicht mit verbannt worden, weil er bei seiner Armut, seiner be-
scheidenen Zurückhaltung und der eifrigen Beschäftigung mit Kunst und
Wissenschaft ungefährlich erschien. Wohl sammelte er die wehrfähige Jugend
unablässig zu Turn- und Waffenübungen; doch auch das erregte kaum
Verdacht, da es ja allgemeine griechische Sitte war und er sich von Politik
noch fern hielt. Aber eben dadurch legte er den Grund zur Erhebung
Thebens; aus dieser Jugend erwuchsen die Männer, die den Übermut
Spartas brechen sollten.**)
Endlich kam der Tag der Befreiung. In Theben selbst leitete die
Verschwörung ein gewisser Phyllidas, der bei den Häuptern des Adels,
Archlas, Philippus, Leontiades, solches Vertrauen genoß, daß sie ihn
gar zum Geheimschreiber ernannt hatten. Nach genauer Verabredung kamen
von Athen aus Pelopidas und seine Mitverschworenen an bestimmten Abenden,
unauffällig, als Bauern oder Jäger verkleidet, zu verschiedenen Stadtthoren
herein und verbargen sich im Nachtdunkel im Hause eines Charon. Da
Winterkälte mit Schneegestöber alles in den Häusern hielt, gelang der
Plan vollkommen: an 50 Verschworene trafen so zusammen.
Am anderen Abend gab Phyllidas den Gewalthabern ein schwelgerisches
Gastmahl. Schon waren die Gäste — unter denen allerdings Leontiades
fehlte — halb trunken, da ging dem Archias eine Warnung vor Charon zu.
*) So genannt nach dem angeblichen Gründer Thebens, Kadmus.
**) Erinnerung an die stille Vorbereitung zur Erhebung Preußens 1813 durch die
Scharnhorst, Jahn u. a.!
135
Sofort ließ er diesen rufen; der aber wußte durch seine Ruhe den
Verdacht zu zerstreuen. Kaum war er indes fort, da kam ein Eilbrief
aus Athen, worin alles enthüllt war. Allein inzwischen hatte Archias sich
noch mehr berauscht und Phyllidas außerdem das Auftreten von Tänze-
rinnen angekündigt; so legte der Trunkene mit dem Wort: „Wichtiges bis
morgen!" den verhängnisvollen Brief beiseite. Und schon kamen auch die
Tänzerinnen herein. Es waren die Verschworenen, mit Weiberkleidern
über den Panzern und mit Kränzen auf dem Haupte. Sobald sie jeden
erkannt, stürzten sie sich auf die Berauschten und machten sie mühelos
nieder. Schwerere Arbeit hatte Pelopidas selbst, der den Leontiades auf-
suchte und den starken und mutigen Mann erst nach heftiger Gegenwehr
überwand. Nun befreiten sie aus den Gefängnissen die eingekerkerten Ge-
sinnungsgenossen; und als andern Morgens Epaminondas, der sich von
der eigentlichen Verschwörung fern gehalten hatte, mit seinen Bewaffneten
dazustieß, war die Stadt befreit und in ihrer Hand (379 v. Chr.). Auch
die spartanische Besatzung auf der Burg wurde schließlich ausgehungert
und ergab sich unter der Bedingung freien Abzugs. Die Volksherrschast
wurde wieder eingeführt, über ganz Böotien die Hegemonie hergestellt und
mit der Hauptleitung des Staats das Freundespaar betraut.
2. Doch nun galt's erst die Hauptsache: die Abwehr des von Sparta
drohenden Kriegs. Mit aller Macht wurde dazu gerüstet. Aus der von
Epaminondas eingeübten Jugend bildeten 300 der trefflichsten, durch Freund-
schaft verbundenen Jünglinge als „heilige Schar" den Heereskern, der in
der Schlacht als Leibwache den Feldherrn, daheim die Burg schützte. Mit
Athen schloß man ein Bündnis und erhielt Hülfstruppen. Theben selbst
verschanzte sich so stark, daß, als endlich ein peloponnesisches Heer unter
König Agesilaus einrückte, es keinen entscheidenden Schlag thun konnte.
Übrigens vermieden auch die Freunde eine offene Feldschlacht und
gewöhnten die Ihrigen erst in kleineren Scharmützeln an die gefürchteten
Gegner. Dabei errangen sie verschiedene Erfolge, welche Mut und
Hoffnung belebten.
So zog sich der Krieg mehrere Jahre unentschieden hin, bis endlich
Sparta mit Athen Frieden schloß und sich nun mit ganzer Macht auf das
alleinstehende Theben warf. Aber mutig rückte Epaminondas mit nur
7000 Mann der mehr als doppelten Übermacht des Königs Kleombrötus
entgegen. Bei Leuktra unweit Platää traf man aufeinander (371). Mit
einer ganz neuen Erfindung, der seitdem berühmt gewordenen schrägen,
schiefen oder Keil-Schlachtordnung, ging Epaminondas vor. Den
starken Kern des Heeres nämlich führte er selbst auf dem linken Flügel,
der, 40 Reihen tief, mit der „heiligen Schar" unter Pelopidas an der
Spitze, den gewaltigen Angrisfskeil (Phalanx) bildete. Rechts davon
136
sollten Mitte und rechter Flügel, länger aber weniger tief hingezogen, den
Feind durch Scheinangriffe hinhalten und zugleich einen Rückhalt (Reserve)
bilden. Die Schlacht begann mit einem Reitergefecht, worin die Pelopon-
nefier auf ihr Fußvolk zurückgeworfen wurden. Rasch benutzte Epaminondas
deren Verwirrung und brach im Sturmschritt in den rechten Flügel der
Spartaner ein, wo Kleombrotus befehligte. Eine drohende Umgehung
durch die Übermacht vereitelte Pelopidas mit den 300 durch eine kühne
Seitenschwenkung in die Flanke der Gegner.
Ein furchtbarer Kampf entspann sich; trotz der Wucht ihres Anpralls
konnten die Thebaner gegen die Übermacht der kriegserprobten Spartaner
noch keinen Raum gewinnen. Da fiel der König, viele der Tapfersten mit
ihm, und nun wichen jene, erst langsam, dann in immer schnellerer Flucht
und rissen das ganze Heer mit sich. Über 1000 von ihnen deckten das
Schlachtfeld, darunter 4OO Vollbürger. Niemals hatte Sparta derartiges
erlebt: in offener Feldschlacht solche Niederlage, solche Verluste! Die Menge
der Fliehenden war so groß, daß man in Verlegenheit geriet, wie das Ge-
setz aufrecht zu erhalten sei, das jeden Feldflüchtigen mit Ehrlosigkeit be-
drohte. Endlich entschied König Agesilaus: „Laßt das Gesetz heute schlafen,
damit es morgen in alter Kraft erwache!" Die Thebaner aber freuten sich
ihres herrlichen Sieges, und der Ruhm des Epaminondas stog durch ganz
Hellas.
3. Ungeheuer war in der That der Eindruck des Tages von Leuktra.
Spartas Ruhm und Macht hatte den härtesten Stoß erlitten. Überall,
auch im Peloponnes, regten sich die Unterdrückten, selbst die Arkadier
schüttelten das jahrhundertelange Joch ab. Und als Sparta sich dagegen
aufraffte, da erschien plötzlich der kühne Thebaner im Peloponnes und
rückte vor Sparta selbst, das seit 500 Jahren keinen Feind mehr gesehen.
Zwar unternahm er, da Agesilaus die Stadt sofort in Verteidigungs-
zustand gesetzt hatte, keinen Angriff, um sich nicht aufzuhalten, trug aber
bis an ihre Thore die Flamme der Verwüstung und wiegelte ganz Messenien
gegen die alten Unterdrücker auf.*) Auf Jthöme baute er die neue Festung
Messene, wo sich die zersprengten Reste des unglücklichen Volks aus aller
Welt wieder zusammenfanden. Dann kehrte er ruhmbedeckt heim.
In Theben freilich erwartete ihn eine Anklage, weil er den Ober-
befehl über die gesetzliche Zeit hinaus geführt hatte, worauf der Tod stand.
„Wohlan," sagte er ruhig, „ich sehe ein, daß ich das Gesetz verletzt und
mein Leben verwirkt habe. Dann aber schreibt auch ins Urteil: Epami-
nondas ist von den Thebanern hingerichtet worden, weil er sie zwang bei
Leuktra die Spartaner zu besiegen, die vor ihm kein Böoter im Kampfe
*) Vgl. Teil II für Quinta S. 149 ff.
137
auch nur anzuschauen wagte, und weil er durch den Sieg nicht nur Theben,
sondern ganz Griechenland vom Untergang errettet und nicht eher vom
Kriege abgelassen hat, als bis er Lakonien verwüstet und Messenien wieder
hergestellt hatte." Beschämt sprach man ihn frei, ohne auch nur abzu-
stimmen; das Volk aber jubelte seinem Helden zu, der aus dem Prozeß
der Undankbarkeit mit solchem Ruhm hervorgegangen war.
4. In den wechselvollen Kämpfen der nächsten Jahre erstrebte Theben
die Hegemonie über ganz Hellas, wobei Pelopidas die Macht nordwärts
nach Thessalien zu erweiterte, während Epaminondas den Kampf süd-
wärts gegen Sparta fortsetzte und sich auch gegen das nunmehr eifersüchtige
Athen durch den Bau einer Flotte zu sichern suchte. Aber trotz aller
heldenmütigen Anstrengung gelang es keinem von beiden, etwas Dauerndes
zu schaffen.
Pelopidas errang zwar anfangs Erfolge und unternahm sogar einen
Siegeszug bis Macédonien, von wo er als Geisel den Prinzen Philippus
mitbrachte, den nachmaligen König und Vater Alexanders des Großen
(vgl. S. 138). Doch später fiel er in Gefangenschaft, und wenn ihn auch
hieraus Epaminondas, rasch herbeieilend, befreite, so fand er doch alsbald
in neuem Kampfe den Heldentod (364).
Auch seinen größeren Freund ereilte allzufrühe das gleiche Geschick.
Noch dreimal drang Epaminondas zum Schrecken Spartas in den Pelo-
ponnes ein. Beim letztenmale kam es den verbündeten Spartanern und
Athenern gegenüber zur entscheidenden Schlacht in Arkadien, bei Mantinea
(362). Auch hier siegte er durch seine treffliche Kriegskunst und hatte schon
die Schlachtlinie der Feinde durchbrochen, als ihn ein Wurfspieß mit
solcher Kraft in die Brust traf, daß der Schaft abbrach und das Eisen in
der Wunde stecken blieb. Noch lebend ward er aus dem Getümmel ge-
tragen. Die Ärzte erklärten, er müsse sterben, sobald man das Eisen heraus-
ziehe. Matt fragte er nach seinem Schilde; man brachte ihn, und er küßte
den treuen Gefährten seines Ruhmes. Da erscholl lauter Siegesruf. „Nun
ist's Zeit, zu sterben," sagte er und zog das Eisen aus der Brust. In
Strömen stürzte das Blut nach. Alles jammerte mld einer rief: „Ach,
daß du uns keine Söhne hinterlässest!" Sterbend antwortete er: „Ich
hinterlasse euch doch zwei unsterbliche Töchter, Leuktra und Mantinea!"
und hauchte seine Heldenseele aus.
Nach seinem Tode sank Theben bald von der Höhe zur früheren Ohn-
macht herab. Er aber galt und gilt als einer oer bedeutendsten und zu-
gleich edelsten Staats- und Kriegsmänner aller Zeiten; unter den griechischen
Feldherren ist er wohl der größte gewesen. M. Evers.
138
29 (10). Philipp von Macédonien. Demosthenes. Phocion.
1. Nicht lange nach Epaminondas' Tode sollte das ewig uneinige und
durch Bürgerkriege geschwächte Griechenland seine Selbständigkeit verlieren
und die Beute eines Stärkeren werden. Dieser war jener macedonische Prinz
Philippus, der einst als Geisel nach Theben gebracht war (S. 137),
drei Jahre im Hause des Epaminondas gelebt und dort Kriegs- und Staats-
kunst gelernt, aber auch einen tiefen Einblick in die griechischen Wirren und
Schwächen gewonnen hatte. Als König mischte er sich fortan mit allen
Mitteln der Gewalt, List und Bestechung in die Händel der Griechen
ein*), eroberte an der Küste seines Landes die griechischen Handelskolonieen
— darunter das reiche Olynth trotz der Beihülfe Athens — und hatte
bis zum Jahre 339 v. Chr. bereits in Mittelgriechenland an der Grenze
Böotiens festen Fuß gefaßt, bereit, bei der ersten Gelegenheit über Theben
und Athen herzufallen. Eine furchtbare Waffe hatte er sich in seinem
Heere und dessen Schlachtordnung geschaffen, der Phalanx, die er dem
Epaminondas abgelernt hatte. Je 3000 schwerbewaffnete Lanzenträger
waren in schmalem Rechteck 16 Reihen hoch aufgestellt; von diesen streckten die
vordersten 5 ihre fast 6 Meter langen Speere wie einen undurchdringlichen
Stachelwall vor, dessen bloßer Anblick schon erschreckte und dessen Wucht
beim raschen Vorstoß unwiderstehlich war. So schuf er das Heer, mit
dem nachmals sein großer Sohn das Perserreich erobern sollte und das
noch lange als unbesieglich galt, bis es später den beweglicheren römischen
Legionen erlag. —
Diese ungeheuere Gefahr, die Griechenland von Philipp drohte, er-
kannte rechtzeitig nur ein Mann, der Athener Demosthenes, der größte
Redner seiner Zeit, ja des ganzen Altertums.
2. Demosthenes war der Sohn eines begüterten Waffenhändlers, hatte
aber früh seinen Vater und dann durch gewissenlose Vormünder sein Erbe
verloren und mußte sich hart durchs Leben schlagen. Noch dazu war er
als Knabe schwächlich, konnte nicht an den Leibesübungen der andern teil-
nehmen und hatte dafür manchen Spott auszustehen. Den künftigen Redner
hätte niemand in ihm geahnt, denn er war engbrüstig, stotterte und konnte
kein R aussprechen. Trotzdem wählte er, durch eine öffentliche Rede, die
er gehört, hingerissen, die Redekunst (Rhetorik) zum Studium. Er las
eifrig die besten Schriftsteller, um sich ihre Darstellungs- und Ausdrucks-
weise anzueignen, und soll das große Werk des Thucydides, die Ge-
schichte des peloponnesischen Krieges, achtmal abgeschrieben haben. Auch
hörte er den berühmten Weisen Platon und den Redner Jsäus.
*) Über die Bestechlichkeit der Griechen pflegte er selbst zu spotten: Keine Mauer
sei so hoch, daß nicht ein goldbeladener Esel hinüber käme.
139
Zuerst verfaßte er als Sachwalter geschriebene Verteidigungsreden für
andere und trat auch als Ankläger mit Erfolg gegen seine Vormünder auf,
erhielt aber nur einen kleinen Teil feines Vermögens zurück. Dann wagte
er es öffentlich vor dem Volke aufzutreten, ward aber ausgepfiffen und
verlacht. Auch ein zweiter Versuch mißlang. Voll Verdruß und Mißmut
lief er nach Haufe und beklagte sich bei einem befreundeten Schauspieler
bitter über die Menge, die alle möglichen Stümper gern höre, ihn aber,
der sich um die Beredsamkeit so abgemüht habe, so schmählich behandele.
„Du hast recht," sagte jener, „doch sag' mir 'mal eine Stelle aus dem
Euripides oder Sophökles her, dann will ich sehen, ob dir zu helfen ist."
Demosthenes that es, und nun wiederholte der Schauspieler dieselbe Stelle
mit so lebendigem Vortrage und ausdrucksvollem Mienenspiel, daß er ganz
andere Worte zu hören glaubte. Da sah er ein, was ihm noch fehlte, und
mit neuem Eifer arbeitete er an seiner ferneren Ausbildung.
Um seine Stimme zu stärken, ging er an die Meeresküste und suchte
das Tosen der Brandung zu überschreien. Auch nahm er Kieselsteinchen
in den Mund und versuchte dennoch deutlich zu reden; er ging steile Berge
hinan und sagte dabei Reden her, um seinen Atem zu stärken. Dann schor er
sich das Haupt auf der einen Seite, um sich Monate lang jeden Ausgang
unter das Volk unmöglich zu machen. Währenddem übte er sich in einem
unterirdischen Gemache vor dem Spiegel in der Haltung des Körpers und
im Mienenspiel. Nach solchen Vorübungen trat er von neuem vor dem
Volke auf, und von da an mit glänzendem Erfolg. Er wurde, wie gesagt,
der größte und berühmteste aller griechischen Redner.
Mit weitsichtigem Scharfblick hatte er nun schon früh die Gefahr er-
kannt, die von Philipp der griechischen Freiheit drohte. So trat er denn vor
allem mit unermüdlichem Eifer gegen diesen auf, erinnerte in seinen von
feuriger Vaterlandsliebe erfüllten Reden das Volk an die Heldenthaten der
Vorfahren unter Miltiades und Themistokles, ermahnte die Bürger, selbst in
den Kampf gegen den mächtigen Unterdrücker zu ziehen und die Verteidigung
ihrer Freiheit nicht mehr gemieteten Söldnern zu überlassen. Die Reichen
forderte er auf, zum Kriege beizusteuern und der trägen Ruhe und Genußsucht
zu entsagen. Wirklich sandten die Athener dem hülfesuchenden Olynth auf
seine Reden hin — die man eben deshalb die olynthischen nannte —
Beistand, freilich so ungenügend, daß die Stadt doch in Philipps Hände fiel.
Das Schlimmste für Demosthenes war, daß es selbst unter den edleren
Athenern viele gab, die es für das beste hielten, mit Philipp Frieden zu
halten, ja, die bereits an einen großen Feldzug Gesamtgriechenlands gegen
Persien dachten und den mächtigen Macedonierkönig als Führer wünschten.
So z. B. der berühmte RednerJsökrates; so auch der merkwürdige Phocion,
der deshalb einer der Gegner des Demosthenes wurde.
140
3. Dieser Phocion war der Sohn eines Handwerkers. Lebenslang
lebte er in großer Armut und zeigte in seinem ganzen Wesen einen tiefen
Ernst; niemand hatte ihn je lachen sehen. Nie besuchte er ein öffentliches Bad
und hielt stets die Hände unter dem Mantel, was als Zeichen des Anstandes
galt. Er war ein tüchtiger Feldherr, ging dabei im Kriege stets unbeschuht
und leichtbekleidet, sodaß die Soldaten es für ein Zeichen strengen Winters
hielten, wenn er davon eine Ausnahme machte. Sein Äußeres war finster
und mürrisch, weshalb er auch wenig beliebt war. Als man einst über seine
finstere Miene spottete und alles lachte, sagte er: „Meine Miene hat noch
niemandem Leid zugefügt, aber das Gelächter dieser Leute hat dem Staate
schon viele Thränen gebracht." Trotz seiner Armut nahm er nie Geschenke
an. Als einst makedonische Boten ihm 100 Talente (450 000 Mark)
überbringen wollten, sahen sie, wie seine Frau den Teig knetete und er
selbst das Wasser zutrug. In seinem Hause herrschte die größte Einfach-
heit.*) Die Athener gaben ihm den Ehrennamen des „Rechtschaffenen".
Während nun also Demosthenes das Volk zum Kriege gegen Philipp
anfeuerte, ermahnte Phocion stets in kurzen und scharfen Ausdrücken zum
Frieden, und Demosthenes fürchtete ihn mehr als alle andern Redner.
Sobald sich Phocion erhob, pflegte er leise seinen Freunden zu sagen: „Das
Beil meiner Reden ist da." Als sie einst einander heftig entgegentraten,
rief Demosthenes unwillig aus: „Die Athener werden dich töten, Phocion,
wenn sie rasend werden!" — „Und dich," antwortete Phocion, „wenn sie bei
Verstände bleiben." Da indes Phocion dem Volke seine Fehler, nament-
lich seinen Leichtsinn mit bitterem Tadel vorwarf, so mußte er gewöhnlich
erfahren, daß es seine Vorschläge verwarf. Als es daher ihm einst zu-
stimmte, verwunderte er sich selbst und rief: „Habe ich denn etwas Thö-
richtes geraten?"
4. Als nun Philipp, wie gesagt, die Grenzen Böotiens besetzt hatte,
konnte Athen sich nicht mehr länger darüber täuschen, daß ihm der
Entscheidungskampf um die Freiheit bevorstand. Mit wachsendem Feuer-
eifer ermahnte Demosthenes in gewaltigen Reden, die als Philip pis che
weltberühmt geworden sind, die Athener und Thebaner zur Eintracht und
Abwehr gegen den gemeinsamen Feind, und brachte wirklich ein Bündnis
zwischen beiden bisher so feindlichen Staaten zustande. Im Jahre 338
v. Chr. kam es in der Ebene von Chäronea in Böotien zur Schlacht, an
der Demosthenes selbst als Hoplit teilnahm. Philipp stand den Athenern,
sein junger Sohn Alexander den Thebanern gegenüber. Der warf sich
mit Ungestüm auf diese, zersprengte ihre „heilige Schar" (S. 135) und ent-
schied so - den Sieg, da in die wilde Flucht auch die Athener mit fort-
*) Vgl. im n. (Quinta-)Teil S. 180f.: Fabricius, Curius Dentatus.
141
gerissen wurden. Damit war der Untergang der hellenischen Freiheit
besiegelt. Doch zeigte Philipp gegen Athen eine seltene Großmut: er gewährte
den Frieden unter milden Bedingungen und gab die Gefangenen ohne
Lösegeld zurück, während die Thebaner die ihrigen loskaufen mußten; auch
legte er nicht, wie nach Theben, eine Besatzung in die Stadt. Als man
ihm riet Athen zu zerstören, rief er aus: „Wie, ich habe so viel für den
Ruhm gethan, und sollte den Schauplatz des Ruhmes zerstören?"
Trotz der Niederlage ehrten die Athener den Demosthenes, der doch
am meisten zum Kriege geraten hatte, sehr hoch und zeichneten ihn be-
sonders dadurch aus, daß sie ihm für die bei Chäronea Gefallenen die
Grabrede übertrugen.
Philipp wurde nach seinem Siege auf einer allgemeinen Versammlung
der griechischen Staaten zu Korinth zum Oberfeldherrn des geplanten Feld-
zugs gegen Persien ernannt. Doch war dieser seinem Sohne vorbehalten,
denn er selbst ward bald darauf, 47 Jahre alt, ermordet (336).
5. Die Kunde von seinem Tode ward in Athen mit Jubel auf-
genommen. Demosthenes erschien im Festgewand in der Volksversammlung,
aber seine Bemühung, einen neuen Bund gegen Macédonien zustande zu
bringen, hatte keinen Erfolg. Seine Feinde klagten ihn gar, gewiß mit
Unrecht, der Bestechlichkeit an; er mußte ins Gefängnis wandern, aus dem
er jedoch nach Ägina entfloh. Nach dem Tode Alexanders des Großen
(vgl. S. 148) ward er ehrenvoll zurückgerufen; dann aber forderte dessen
Nachfolger Antipater seine Auslieferung, der er sich nur durch Flucht
entziehen konnte. Er entkam nach Kalauna, einer kleinen Insel an der
Küste von Argölis. Die macedonischen Häscher fanden ihn im Poseidon-
Tempel am Altare sitzend. Vergebens war ihr listiges Zureden, ihnen
gutwillig zu folgen. Zuletzt wollten sie Hand anlegen; da bat er um
einige Augenblicke Frist, trat etwas zurück, sog das Gift, das er in einer
Feder bei sich führte, ein und starb wenige Augenblicke nachher mit den
Worten: „Diesen Leib bringt dem Antipater, den Demosthenes werdet ihr
nicht hinbringen."
Nur um vier Jahre überlebte ihn sein alter Gegner Phocion. Dieser
war als Haupt der macedonisch gesinnten Friedenspartei zu hohen Ehren
gelangt und hatte lange sogar das Staatswesen geleitet. Aber in den Wirren
und Parteikämpfen nach Antipaters Tode stürzten ihn seine Gegner; er
wurde des Verrats angeklagt und mußte, 80 Jahre alt, den Giftbecher
trinken. Als ein Freund klagte: „Welch unwürdiges Schicksal trifft dich,
Phocion!" antwortete er: „Aber kein unerwartetes, denn es hat noch alle
großen Athener getroffen." M. Evers.
142
30 (11). Alexander der Große.
1. Alexander, der Sohn König Philipps von Macédonien, wurde
(356 v. Chr.) in derselben Nacht geboren, in welcher den berühmten
Artemistempel zu Ephesus, eines der 7 Wunderwerke alter Baukunst*),
ein Unsinniger, namens Heröstratus, in Brand steckte, nur um sich be-
rühmt zu machen. Die ephesischen Priester hielten dies für das Vorzeichen
eines großen Unheils, welches Asien heimsuchen werde. Gleichzeitig er-
hielt Philipp noch zwei Glücksbotschaften: sein Feldherr Parmenion hatte
die Illyrier besiegt und sein Viergespann bei den Wettspielen zu Olympia
den Preis davongetragen. Da rief er aus: „Götter, sendet mir bei so
viel Glück doch auch ein Unglück!"
Zum Lehrer seines Sohnes wählte er den größten Gelehrten seiner
Zeit, den Philosophen Aristöteles. „Ich freue mich," schrieb er dem,
„daß der Knabe geboren ist, während du noch lebst, damit du ihn unter-
richten und zu einem guten Könige ausbilden kannst." Alexander war
aber auch ein trefflicher Schüler, voll feurigen Eifers, Scharfsinns und
hohen Strebens. Nichts fesselte ihn mehr als die Gesänge Homers; er
wußte sie fast auswendig und hatte stets eine Abschrift unter seinem
Kopfkissen liegen. Sein höchstes Vorbild war Achilles; den pries er auch
deshalb glücklich, weil er im Leben einen Freund wie Patroklus und
im Tode einen Sänger seines Ruhmes wie Homer gefunden habe. Einen
Freund fand er auch in Hephästion, aber keinen Homer.
Seine glühende Ruhmbegierde verriet er, als man ihn einst fragte,
ob er nicht in den Wettspielen von Olympia auftreten möchte. „O ja,"
sagte er, „wenn Könige mit mir um die Wette liefen!" So oft er von
einem neuen Siege seines Vaters hörte, rief er schmerzlich aus: „Ach,
mein Vater wird mir nichts Großes mehr zu thun übrig lassen!"
Einst wurde dem Philipp ein herrliches, aber wildes Streitroß, Buce-
phalus genannt, zum Kauf angeboten. Vergebens versuchten die besten
Reiter ihre Kunst daran, es ließ keinen aufsitzen; schon lehnte Philipp
den Kauf ab, da bat Alexander um die Erlaubnis zu einem letzten
Versuch. Er ergriff es beim Zügel, und weil er bemerkt hatte, daß
es sich vor dem Schatten des Reiters fürchtete, führte er es gegen
die Sonne, streichelte es eine Zeit lang, ließ dann plötzlich seinen Mantel
fallen und schwang sich hinauf. Blitzschnell flog das Pferd davon, und
*) Als solche galten: 1) die „Hängenden Gärten" der Königin Semirämis von
Babylon, 2) die ägyptischen Pyramiden, 3) der Leuchtturm aus der Insel Pharus
an der Nilmündung, 4) der Koloß zu Rhodus über der Haseneinsahrt, 5) das Mauso-
leum (Grabmal des Mausölus) zu Halikarnaß, 6) der Artemistempel zu Ephesus,
7) das Zeus-Bild des Phidias (S. 121) zu Olympia in Elis.
143
alle zitterten für den Reiter. Als er aber wieder umlenkte und das Roß
nach Gefallen tummelte, da erstaunten alle, und Philipp rief, indem er
ihn umarmte, unter Freudenthränen: „Mein Sohn, suche dir ein anderes
Königreich, Macédonien ist für dich zu klein!"
So wuchs Alexander zum herrlichen Jüngling heran. Sein lebhafter
Gang, der leuchtende Blick, das zurückfliegende Haar, die Gewalt feiner
Stimme bekundeten den Helden; aber bezaubernd war die Milde feiner
Miene, das sanfte Rot feiner Wangen, sein feuchtverklärtes Auge, das ein
wenig links geneigte Haupt. Wahrhaftig und offen, vertrauensvoll und
treu, war er ein Mensch von hinreißender Liebenswürdigkeit, aber auch
ein König voll hoher Gedanken und Pläne.
2. Nach dem Tode seines Vaters ward er, 20 Jahre alt, König von
Macédonien (336). Er nahm alsbald dessen Plan, das große Perserreich
zu erobern, in Angriff und ließ sich auf einer neuen Bundesversammlung in
Korinth (vgl. S. 141) zum Oberfeldherrn der Griechen gegen die Perser
ernennen. Hier umdrängte alles den jungen Helden, Staatsmänner, Künstler
und Gelehrte. Nur einer blieb zurück, jener schon (S. 131 Anm.) erwähnte
Diogenes. So suchte denn Alexander selbst ihn auf. Der Weise lag grade
vor seiner Tonne und sonnte sich. Alexander redete mit ihm und fand seine
Antworten so treffend und geistreich, daß er freundlich fragte: „Kann ich
dir eine Gunst erweisen?" „O ja," antwortete Diogenes, „tritt mir ein
wenig aus der Sonne." Die Umstehenden lachten, aber der König sagte
im Fortgehen: „Wahrhaftig, wenn ich nicht Alexander wäre, möcht' ich
wohl Diogenes fein!"
Auch die Künstler besuchte er fleißig, da er durch sie verewigt
zu werden wünschte, zeigte sich indes in seinen Urteilen zuweilen etwas
voreilig. So tadelte er einst an einem Gemälde die unrichtige Zeichnung
seines Pferdes und befahl das Pferd selbst zur Vergleichung herbeizuführen.
Es kam und wieherte sogleich dem gemalten entgegen. „Siehst du!" sagte
der Maler, „dein Pferd versteht die Kunst besser als du." Als er ein
andermal ziemlich unverständig über Gemälde sprach, stieß ihn der Maler
Apelles leise an und sagte: „Hör doch auf, Alexander! Sieh nur, wie
die Jungen dort lachen, die mir die Farben reiben."
Ehe er nach Asien aufbrach, wollte er noch in Delphi das Orakel
befragen, doch an einem Tage, wo solches verboten war. Er indes zog
die Priesterin (Pythia genannt) mit Gewalt ins Heiligtum; da rief sie:
„Du bist unwiderstehlich!" Das deutete er als erwünschten Götterspruch
und begnügte sich damit.
3. Dann brach er, erst 22 Jahre alt (334), mit einem Heere von
30 000 Fußgängern und 5000 Reitern auf. Beim Übergang über den
Hellespont sprang er zuerst an Asiens Küste, opferte bei Troja allen grie-
144
chischen Helden, die einst dort gekämpft, und bekränzte das Grab des
Achilles, wie Hephästion das des Patroklus.
Am Flusse Granlkus traf er zuerst auf die Perser, die jenseits
standen. Seine Obersten widerrieten den Durchgang. Doch stolz rief er:
„Der Hellespont müßte sich ja schämen, wenn wir uns vor diesem Flüßchen
fürchteten!" sprengte hinein, riß das begeisterte Heer mit sich, griff die
Feinde an, schlug sie und eroberte ihr mit vielen Kostbarkeiten angefülltes
Lager. Doch war er selbst in Lebensgefahr gewesen. Während er sich
hitzig ins Schlachtgewühl stürzte, eilten zwei persische Obersten, die ihn an
der glänzenden Rüstung erkannten, auf ihn zu. Ein Schwerthieb sprengte
seinen Helm, und schon holte der zweite Gegner zum Todesstreiche aus.
Da traf diesen noch rechtzeitig der Macedonier Klitus und schlug ihm
mit wuchtigem Hiebe den Arm ab, indes Alexander den andern erlegte.
Rasch ward nun ganz Kleinasien erobert. Zu Gordium in Phrygien
wurde der Wagen des alten Königs Midas aufbewahrt, dessen Deichsel
durch einen sehr künstlichen Knoten von Baumbast befestigt war. Die
Sage ging, wer diesen gordischen Knoten löse, sei zum Herrn über ganz
Asien bestimmt. Schnell zog Alexander sein Schwert und zerhieb den
Knoten, um zu zeigen, daß ihm die Herrschaft über Asien beschieden sei.
Zu Tarsus in Cilicien wurde er schwerkrank. Er hatte schweiß-
bedeckt in dem kalten Flusse Cydnus gebadet und sich ein heftiges Fieber
zugezogen. Die Ärzte waren ratlos; eine Schlacht mit dem Perserkönig
Darius Kodomannus stand bevor und seine Ungeduld stieg aufs höchste.
Da entschloß sich sein Leibarzt Philippus ein gefährliches, aber ent-
scheidendes Mittel zu wagen. Während er es draußen zubereitete, kam
ein Eilbote von Parmenion mit folgendem Schreiben: „Traue dem Phi-
lippus nicht! Der Perserkönig hat ihn mit vielem Golde bestochen dich
zu vergiften." Philipp trat herein mit ruhiger, freier Miene; mit fester
Hand reichte er dem Könige den Becher; dieser nahm ihn, gab ihm Par-
menions Brief und trank, während der Arzt las. Sein edles Vertrauen
rechtfertigte der Ausgang. Schon nach drei Tagen zog er, wieder gesund,
an der Spitze seines jubelnden Heeres gegen den Perserkönig.
Dieser war mit einem Heere von 600000 Streitern schon bis Jssus
im nördlichen Syrien vorgerückt, und Alexander mußte zur Entscheidungsschlacht
wieder kehrt machen. Abermals durchbrach er selbst mit der Phalanx das
ungeordnete Perserheer und schlug es völlig. Der König selbst floh, viele
Tausende wurden gefangen, das ganze kostbare persische Lager ward er-
beutet. Auch des Königs Mutter, Gemahlin und Töchter waren unter
den Gefangenen, die Alexander jedoch mit großmütiger Milde behandelte.
Als Darius das hörte, rief er tiefbewegt: „Götter, erhaltet mir mein Reich,
damit ich mich dankbar bezeigen kann; habt ihr aber meinen Untergang
145
beschlossen, so gebt es keinem andern als dem Alexander." Dann bot er
dem Sieger als Friedensbedingung Asien bis zum Euphrat an. „Ich
würde es annehmen," sagte Parmenion, „wenn ich Alexander wäre." „Ich
auch, wenn ich Parmenion wäre," erwiderte Alexander und lehnte den
Vorschlag ab. Sein hochfliegender Sinn stand bereits aufs ganze Perser-
reich und noch darüber hinaus.
So setzte er den Krieg fort und zog zunächst die Küste entlang süd-
wärts, eroberte Phönizien und belagerte die Stadt Tyrus. Auf einer
Insel gelegen, hatte diese die Unterwerfung verweigert. Da ließ er vom
Festlande einen breiten Damm durchs Meer hinführen und die Insel-
stadt bestürmen. Doch erst nach acht Monaten gelang ihm die Er-
oberung; und so erbittert war er über den langen Widerstand, daß er
30000 Tyrier als Sklaven verkaufen ließ.
Durch Palästina zog er nun nach Ägypten (332), wo man ihn als
Befreier vom Perserjoch freudig aufnahm, zumal er Sitten und Religions-
gebräuche des Landes schonte. An einer der Nilmündungen legte er die
Stadt Alexandria an, welche später ein Mittelpunkt des Welthandels
wurde und es noch heute ist. Auch unternahm er einen Zug in die
libysche Wüste zum Orakel des Jupiter Ammon, wo ihn die Priester
als einen Sohn des Zeus begrüßten. Das erhöhte seinen Ruf bei den
Asiaten außerordentlich; doch soll leider in seinem eignen bisher so edlen
Herzen damals zuerst der Hochmut aufgekeimt sein, der ihm später so ver-
hängnisvoll wurde.
4. Dann zog Alexander wieder nach Asien zurück und ging über den
Euphrat und Tigris, wo inzwischen Darius ein neues, zwanzigfach über-
legenes Heer gesammelt hatte. Zwischen Gaugamela und Arbela, nahe
den Trümmern des alten Ninive, traf man aufeinander (331). Parmenion
riet zu einem nächtlichen Überfall. „Ich will den Sieg nicht stehlen!"
antwortete Alexander und legte sich ruhig schlafen. Noch am Morgen der
Schlacht schlief er so fest, daß Hephästion ihn mit dem Rufe weckte: „Du
schläfst ja, als hätten wir schon gesiegt." „Haben wir's denn nicht," ent-
gegnete er, „da wir den König vor uns haben?" In der Schlacht leisteten
die Perser tapferen Widerstand; der linke Flügel der Macedonier, den
Parmenion befehligte, geriet ins Gedränge, auf dem rechten aber drang aber-
mals Alexander selbst unwiderstehlich vor und entschied so den Sieg.
Wie ein gehetztes Wild floh der unglückliche Darius, aber rastlos folgte
ihm der Sieger. Die Hauptstädte Babylon, Susa, Persepolis und
Ekbätana öffneten ihm ihre Thore. Hier fand er ungeheure Schätze, mit
denen er seine Freunde, seine Offiziere und Soldaten verschwenderisch be-
reicherte. So sah er einst einen Soldaten einen Esel mit königlichem Gelde
vor sich hertreiben. Da das Tier, ermüdet, kaum mehr fortkonnte, nahm ihm
Lesebuch für höhere Lehranstalten. (Preuß. Ausg.) III. 10
146
der Soldat die Last ab und trug sie keuchend weiter. „Werde nicht
müde," rief ihm Alexander zu „sondern trag's in dein Zelt und behalt' es!"
Inzwischen war Darius nach dem Norden seines Reiches geflohen, und
Alexander machte sich von neuem auf, ihn zu verfolgen. Doch fand er den
Unglücklichen nicht mehr am Leben. Ein Satrap Bessus hatte sich em-
pört, den König gefangen genommen und in Ketten mit geschleppt. Als
die Verfolger immer näher kamen, ließ der Verräter, um schneller zu ent-
kommen, den König, nachdem er ihm mehrere tödliche Wunden beigebracht
hatte, hülflos auf seinem Wagen liegen. Alexanders Reiter fanden ihn
in seinem Blute. Er bat sie um einen Trunk Wasser. Ein Macedonier
brachte ihm etwas in seinem Helme. Erquickt sprach der Unglückliche:
„Freund, das schmerzt mich am meisten, daß ich diese Wohlthat nicht
einmal vergelten kann. Doch Alexander wird's statt meiner thun. Mögen
ihm die Götter die Großmut lohnen, die er den Meinigen erwiesen hat!"
Dann starb er. Gleich darauf kam Alexander selbst. Tief erschüttert breitete er
seinen Purpurmantel über den Leichnam; dann ließ er ihn in der Königs-
gruft zu Persepolis mit großer Pracht beisetzen. Den Mörder Bessus ver-
folgte er später noch weithin nordwärts über die Schneeberge Baktriens,
bis er ihn endlich in seine Gewalt bekam und hinrichten ließ.
5. Erst 26 Jahre zählte Alexander, als er die Eroberung des un-
geheuern Reichs vollendet hatte — in der That ein Siegeslauf, ein Riesen-
erfolg ohne Beispiel. Leider berauschte er sich selbst an seinem Ruhme so,
daß er die Schmeicheleien der Asiaten gern hörte und sich ihre abgöttische
Verehrung gefallen ließ. In dem an sich löblichen Streben Griechen und
Perser einander zu nähern und zu verschmelzen, neigte er mehr und mehr
zu letzteren hin, heiratete selbst eine Perserin und veranlaßte viele der
Seinigen ein Gleiches zu thun, ließ Perserkuaben griechisch erziehen und
nahm persische Tracht und Sitte samt dem ganzen Prunk morgenländischen
Hofdienstes an. Schon darüber murrten viele seiner alten Macedonier.
Als er diesen nun gar zumutete, gleich den Persern bei Audienzen vor
ihm niederzuknieen, brach allgemeiner Unwille aus. Der wuchs noch, da
Alexander oft in unbezähmbaren Jähzorn verfiel und selbst bei kleinen
Anlässen grausam verfuhr.
Wirklich führte das zu Verschwörungen. Selbst Parmenions Sohn
Philötas wurde einer solchen beschuldigt und hingerichtet; und um
einer etwaigen Rache des Vaters vorzubeugen, ließ Alexander auch diesen
alten Waffengefährten ermorden. Einen andern Getreuen, seinen Lebens-
retter Klitus, stieß er selbst im Zorn nieder. Als nämlich einst
beim Weingelage Schmeichler seine Thaten über alles Frühere erhoben,
widersprach allein der unerschrockene Haudegen und reizte dadurch den
König. Im Rausch erhitzten sich beide immer mehr; endlich brachte man
147
den trunkenen Klitus weg, doch bald kam er durch eine andere Thür
wieder herein und setzte den Streit fort. Da geriet Alexander in Wut,
riß einem Trabanten die Lanze weg und stieß den nieder, dem er sein
Leben dankte. Aber in demselben Augenblicke waren Zorn und Rausch
verschwunden; verzweifelt starrte der König auf die Leiche. Drei Tage
wollte er weder Speise noch Trank zu sich nehmen, weinte und seufzte
auf seinem Lager und rief unaufhörlich den Namen Klitus. Endlich gelang
es seinen Freunden, ihn soweit zu besänftigen, daß er sich dem Heere
wieder zeigte.
6. Bald unternahm er dann einen neuen gewaltigen Zug, nämlich nach
dem Wunderlande Indien (327). Kühn drang er über den Indus immer weiter
ostwärts und kam in das Land der fünf Ströme (das heutige Pendjab).
Hier verteidigte sich Porus, ein mächtiger König, mit großer Tapferkeit.
Es kam zur sogenannten Elefantenschlacht, da Porus ZOO Kriegselefanten
vorschickte, die den Griechen viel zu schaffen machten. Ihre Phalanx siegte
erst, als die ungeheuren Tiere, scheu geworden, ihre Lenker abwarfen
und sich gegen die eigenen Reihen wandten. Tapfer kämpfend ward zuletzt
auch Porus gefangen. „Wie willst du behandelt sein?" fragte Alexander.
„Königlich," lautete die stolze Antwort, die ihm so gefiel, daß er jenem
unter der Bedingung der Heeresfolge sein Gebiet wiedergab und noch
Landstriche hinzufügte.
Von da drang er bis an den östlichsten Nebenfluß des Indus, den
Hyphasis (heute Sedletsch) vor und dachte auch das Gangesland zu erobern.
Aber schon lange war das Heer nur mit schweigendem Unwillen gefolgt und
verlangte nun unverhohlen die Umkehr. Vergebens suchte er sie umzu-
stimmen und schloß sich voll Zorn drei Tage in seinem Zelte ein. Sie
trauerten zwar und huldigten ihm, beharrten aber doch auf ihrem Sinn.
So entschloß er sich endlich zur Rückkehr, und nachdem er noch als Denk-
mäler 12 turmhohe Altäre hatte errichten und weihen lassen, trat er den
Rückzug an.
Zunächst ging's den Indus hinunter bis zur Mündung. Hier sperrten
die kriegerischen Maller ihm den Weg. Beim Sturm auf ihre Burg
war Alexander selbst einer der ersten, der über die Mauer hineindrang,
wurde aber mit nur drei Gefährten abgeschnitten und bei der verzweifelten
Gegenwehr so schwer verwundet, daß er ohnmächtig hinsank. Erst im
letzten Augenblick retteten ihn die nachdringenden Seinigen, die nun alles
mit Feuer und Schwert verwüsteten. Doch dauerte es Wochen, bis er
wieder hergestellt war. Von der Jndusmündung führte der Feldherr
Neärch einen Teil des Heeres auf der Flotte die Küste entlang nach dem
Persischen Meerbusen und bis zum Euphrat, den andern er selbst zu Lande
durch die brennenden Sandwüsten von Gedrosien (heute Belud sch ist an).
10*
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Hier hatten sie furchtbare Beschwerden auszustehen. Sonnenglut, Hunger,
Durst und Krankheiten rafften Tausende dahin, ganze Truppenteile wurden
unter Sandstürmen begraben; Elend, Verzweiflung herrschten überall.
Alexander litt nicht weniger als seine Krieger, da er unverdrossen an der
Spitze des halbverschmachteten Zuges dahin zog; doch richtete er durch
sein Heldenbeispiel den sinkenden Mut immer von neuem auf. Als einst
ein Soldat dem durstenden Könige aus einer Pfütze einen letzten Wasser-
trunk im Helme brachte, nahm er ihn zuerst an; da er aber die Durstes-
qual der übrigen sah, sprach er: „Wo meine Krieger dürsten, will auch
ich nicht trinken," und goß das Wasser aus. Da riefen alle voll Be-
wunderung: „Wir ertragen alles, so lange wir einen solchen König haben,"
und zogen wie neugestärkt weiter. Endlich gelangte er wieder nach Susa
und entschädigte durch schwelgerische Freudenfeste und reiche Geschenke sein
Heer für die ausgestandenen Drangsale.
7. Hier setzte er nun sein Werk der Verschmelzung fort, zeigte aber
seine Vorliebe für orientalisches Wesen abermals so deutlich, daß unter seinen
Landsleuten neue Unzufriedenheit entstand. Als er nun gar 30 000 Asiaten
als Leibwache und Gefolge aufnahm und dafür eine Masse macedonischer
Veteranen nach Hause schicken wollte, brach offener Aufruhr los. Das
ganze Heer forderte trotzig seinen Abschied. Zornig ließ er die Haupt-
schreier fassen und hinrichten und hielt eine flammende Strafrede. Darauf
ließ er sich zwei Tage lang nicht sehen und verteilte schon die Befehls-
haberstellen an vornehme Perser, als die Macedonier am dritten Tage
Verzeihung erbaten und auch erhielten. Den Kern des Heeres behielt er
nunmehr da, entließ aber die Invaliden reich beschenkt in die Heimat.
Den schwersten Schmerz bereitete ihm dann der jähe Tod seines
Freundes Hephästion, der an einem hitzigen Fieber starb. Drei Tage
lang wies er verzweifelt Speise und Trank von sich und verschmähte allen
Trost. Seitdem war sein Frohsinn dahin, und als wolle er seinen Schmerz
betäuben, stürzte er sich in sinnlose Ausschweifungen. Den Toten ließ er
zu Babylon auf kostbarem Scheiterhaufen verbrennen und durch Toten-
feiern von unglaublicher Pracht ehren.
Und schon brütete der Unersättliche über neuen Ruhmesthaten; schon
verkündete er bei einem Gelage den Plan, Arabien und Afrika zu er-
obern, da raffle bereits zwei Tage später den Dreiunddreißigjährigen ein
hitziges Fieber hinweg, das er sich durch die beständigen Anstrengungen
und Aufregungen seines Körpers und Geistes, zuletzt auch durch die Maß-
losigkeit seiner Genüsse zugezogen hatte (323 v. Chr.). An seinem Todes-
tage wurde das verwaiste Heer zu ihm gelassen, und fast Mann für Mann
reichte dem sterbenden König die Hand.
Alexander hinterließ keinen Nachfolger. Als man ihn zuletzt fragte,
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wem er das Reich vererbe, sott er geantwortet haben: „Dem Würdigsten."
Aber ein solcher fehlte unter seinen Feldherren. Sie führten lange und
blutige Kriege gegen einander, die sogenannten Diadöchenkriege, die mit
einer Teilung des weitläufigen Reiches endigten. Die daraus hervor-
gegangenen Königreiche bestanden etwa zwei Jahrhunderte, bis sie unter
dem ehernen Tritte der römischen Welteroberer zusammenbrachen.
M. Evers.
b. Aom.*)
31—33. Aus den punischen Kriegen.
31 (1). Aus dem ersten Kriege. Regulus.
Nachdem die Römer, wie früher erzählt**), den Pyrrhus besiegt und
ganz Italien unterworfen hatten, gerieten sie bald mit der größten da-
maligen Seemacht, der reichen Handelsstadt Karthago an der Nordküste
Afrikas, in einen gewaltigen Kampf um die Weltherrschaft, der sich in
drei furchtbaren Kriegen schließlich zu ihren Gunsten entschied. Da die
Karthager von den Phöniziern abstammten, die auch Punier hießen, so
nennt man diese Kriege die punischen. Sie zogen sich, mit großen Unter-
brechungen, durch mehr als ein Jahrhundert hin (264—146 v. Chr.).
Im ersten punischen Kriege (264—241) waren die beiden tüchtigsten
Feldherren der Römer C. D ui lins und M. Atilius Regulus. Jener
erfocht den ersten großen Seesieg bei Mylä, dieser setzte sogar nach Afrika
über, eroberte eine Stadt nach der anderen und stand bald nahe bei der
Hauptstadt Karthago. Hier aber wandte sich das Kriegsglück von ihm: er
erlitt ein entscheidende Niederlage und geriet selbst mit einem Teile seines
Heeres in Gefangenschaft. Jetzt hofften die Karthager unter billigen
Bedingungen Frieden zu erhalten, jedenfalls aber die Auswechselung der
Gefangenen zu bewirken. Um ihren Zweck desto sicherer zu erreichen, ge-
sellten sie Regulus der Gesandtschaft bei, nachdem sie ihn einen feierlichen
Eid hatten schwören lassen, daß er, falls er nichts ausrichte, wieder in
die Gefangenschaft zurückkehren werde.
Regulus wurde bei seiner Ankunft in Rom von seinen Freunden und
Verwandten mit herzlicher Freude enipfangen; doch ohne ihre Freude zu
teilen, eilte er mit den Gesandten vor den versammelten Senat. Hier
widerriet er zum Erstaunen aller Anwesenden den Austausch der Gefangenen.
„Die Römer," sagte er, „die zu Karthago im Kerker schmachten, sind keine
Römer mehr. Ihnen hat die Ehre weniger gegolten als das Leben; ihr
könnt sie also entbehren. Aber schmerzlich vermißt der Feind seine zahl-
*) Zur Ergänzung siehe Teil II für Quinta S. 158—187. — **) Ebenda S. 187.
150
reichen Söldnerscharen, die in eure Gefangenschaft geraten sind. Gebt sie
nicht los, wenn euch des Vaterlandes Wohl am Herzen liegt!" Schließlich
bat er den Senat, auf ihn, den kraftlosen Greis, keine Rücksicht zu
nehmen. Umsonst flehten seine Freunde, seine Gattin, seine Kinder; er
kehrte mit den Gesandten zurück, nachdem der Senat, seinem Rate
folgend, sowohl den Frieden als die Auswechselung der Gefangenen ver-
weigert hatte.
Grenzenlos war die Erbitterung, mit der ihn die Karthager empfingen.
Sie ersannen, wie einige Schriftsteller berichten, unerhörte Martern zu
seiner Hinrichtung; gewiß ist, daß er in Karthago die härteste Behandlung
erfuhr und nie von dort zurückkehrte. Aber furchtbar wurde er gerächt.
Die Karthager wurden im weiteren Kriegsverlaufe so geschlagen, daß sie um
Frieden bitten und ganz Sicilien an Rom abtreten mußten. Nach Dielitz.
32 (2). Aus dem zweiten Kriege. Hannibal.
1. Im zweiten punischen Kriege (218 — 201) wurde Rom an den
Rand des Verderbens gebracht durch den großen karthagischen Feldherrn
Hannibal, der zu den berühmtesten Feldherren aller Zeiten gehört und
für die Römer, nach ihrem eigenen Eingeständnis, der gewaltigste Gegner
war, den sie je gehabt.
Er war der Sohn und Nachfolger des Hamilkar Barkas, der sich
schon im ersten Kriege ausgezeichnet und in der Zwischenzeit den Karthagern
fast ganz Spanien unterworfen hatte. Schon als 9jährigen Knaben hatte
ihn der Vater dorthin mitgenommen und vorher am Altare den Römern
ewige Feindschaft schwören lassen. Und nie ist ein Schwur treuer gehalten
worden! Dann war er so recht mitten im Kriegslager erzogen worden
und hatte die Kriegskunst unter des eigenen Vaters Leitung gelernt. Nach
Hamilkars Tode zum Feldherrn erwählt, entwarf er große Pläne für die
Erhebung seines Vaterlandes. Nie hätte die Wahl auf einen trefflicheren
Führer fallen können. Keine Gefahr konnte ihn erschüttern, keine Arbeit
ermüden. Er war unempfindlich gegen Frost und Hitze, gleichgültig gegen
sinnliche Genüsse. Für Schlaf, Erholung, Mahlzeiten hatte er keine be-
stimmten Stunden: alles richtete sich nach den Forderungen des Dienstes,
der Arbeit. Dabei wollte er nichts vor den gemeinen Soldaten voraus
haben. Oft genug schlief er mitten unter ihnen, nur in seinen Kriegsmantel
gehüllt, auf bloßer Erde. Nur seine Waffen und seine Streitrosse mußten
ausgezeichnet sein; denn er war immer der erste, wenn es in die Schlacht
ging, und der letzte, der das Gefecht verließ. So war er der Abgott der
Soldaten geworden, die ihm begeistert überallhin folgten.
Den Römern zum Trotz griff er die mit ihnen verbündete feste Stadt
Sagünt an und bestürmte sie mit aller Gewalt, bis die Einwohner nach
151
achtmonatlicher hartnäckiger Gegenwehr voll Verzweiflung sich selbst mit
all ihrer Habe verbrannten. Nun rückte der junge Held, nachdem er seinen
Bruder Hasdrubal in Spanien zur Sicherung der dortigen Eroberungen
zurückgelassen hatte, an der Spitze eines Heeres von 60 000 Mann und
40 Elefanten kühn über den Ebro (218). Er wollte die Römer jetzt
grade so in ihrem eigenen Lande aufsuchen, wie diese im letzten Kriege
sein Vaterland heimgesucht hatten. Überall drang er siegreich vorwärts,
zog über das Grenzgebirge Spaniens, die Pyrenäen, dann durchs südliche
Gallien (Frankreich) und gelangte, verstärkt durch die Bündnisse gallischer
Fürsten, im Spätherbst an den mächtigen und reißenden Rho dann s ström
(Rhone). Hier aber standen am jenseitigen Ufer große Scharen ein-
geborener Keltenvölker, welche, mit der Stadt Massilia an der Fluß-
mündung und dadurch auch mit Rom verbündet, ihm den Übergang wehren
wollten. Auch nahte von dort schon ein Römerheer unter P. Cornelius
Scipio. Es galt also in höchster Eile den Übergang zu erzwingen.
Hannibal kaufte weit und breit Kähne und Fahrzeuge auf, ließ
große Fähren und Flöße zimmern und sandte einen Heeresteil etwa
10 Stunden stromaufwärts, wo sich eine Furt befand; dort sollte er über-
setzen, rasch stromabwärts marschieren und den Feinden in den Rücken
fallen. Sobald er — nach 5 Tagen — durch Rauchsäulen, das ver-
abredete Zeichen, Kunde von dessen Anmarsch erhielt, begann er selbst
die Überfahrt. Anfangs suchten die Kelten diese zu hindern, und von
beiden Ufern erhob sich furchtbares Getöse: dort das wilde Kriegsgeheul
der Feinde, hier die lauten Rufe der Punier, die sich gegenseitig er-
munterten; dazu der Lärm der Fahrzeuge, das Stimmengewirr von Menschen
und Tieren, das Brausen des Flusses. Als aber die Gallier den Feind
im Rücken merkten, flohen sie bestürzt davon, und Hannibal konnte nun in
aller Ruhe die Überfahrt vollenden.
Auch die Elefanten — es waren ihrer noch 37 — wurden auf höchst
sinnreiche Weise hinübergeschafft. Man baute den Anfang einer breiten
Brücke in den Strom, hängte hieran die ebenso breiten Fähren und be-
deckte alles mit Erde und Rasen. Wie auf festem Lande wurden die
Tiere, zwei Weibchen voran, vorwärts getrieben. Sobald sie die Fähren,
an deren Vorderende Schleppschiffe harrten, betreten hatten, wurden die
Taue gelöst, und plötzlich sahen sie sich rings von Wasser umgeben. Die
meisten drängten sich in der Mitte dicht zusammen und blieben ruhig; nur
einige wurden wild, warfen ihre Lenker ab und stürzten ins Wasser,
arbeiteten sich indes glücklich zum Ufer durch. Die übrigen brachte man
ungefährdet hinüber.
Sofort begann nun der Weitermarsch zu den Alpen, und als Scipio
nach drei Tagen herankam, hatte er das leere Nachsehen und muhte nach
152
Massilia zurück, um sich eiligst nach Italien einzuschiffen und wenigstens
dort dem kühnen Eindringling entgegenzutreten.
2. Bei den Alpen aber schien nun die Natur selbst dem Hannibal
eine unübersteigliche Grenze zu setzen. In der Mitte zwischen Italien und
Gallien ragt in furchtbarer Höhe das Gebirge auf, gleichsam als eine feste,
unübersteigliche Mauer zwischen beiden Ländern aufgetürmt. Ringsumher
starrt alles von Schnee und Eis, zackige Felsenspitzen ragen bis in die
Wolken empor. Hier gab's nicht Stadt, nicht Dorf, nicht Feld noch Wiese;
kein gebahnter Weg führte über die entsetzlichen Abhänge. Nur wilde Tiere
schweiften umher und halb verwilderte Menschen, die erstarrt von Kälte
in elenden Hütten oder in Felsschluchten ihr trauriges Leben zubrachten.
Hierüber sollte nun zum erstenmal ein ganzes Heer setzen, Menschen, Pferde,
Elefanten, Wagen und Gepäck, und das grade in der kalten Herbstzeit,
wo alles um so schrecklicher war, zumal für die Karthager, die Söhne des
glühend heißen Afrikas.
Betroffen stand das Heer vor diesem Anblick und hielt es für un-
möglich hinüber zu kommen. Nur Hannibal selbst zagte nicht. Er ver-
sammelte die Truppen und führte die Gesandten der italischen Gallier vor,
die selber eben übers Gebirge gekommen waren und sich als Bundesgenossen
und Wegweiser anboten. Dann hielt er eine kräftig ermunternde Rede
und wies auf alle die Völkerzüge hin, die bereits mit Weib und Kind die
Alpen überstiegen hätten. Da würden sie, seine tapferen Krieger, die Über-
winder der Pyrenäen und des Rhodanus, doch nicht plötzlich mutlos still-
stehen, wo nur noch einige Tagemärsche sie vom Feindeslande, von reicher
Beute, von der ersehnten Rache an den Römern trennten? Sein Flammen-
wort zündete, und neu ermutigt begann alles den Aufstieg.
Doch nur allzu bald und schrecklich zeigten sich die Schwierigkeiten
und Drangsale des Wegs. Beim ersten Engpässe zwar verliefen sich die
Einwohner, die ihn besetzt hielten, nachts wieder, und in raschem Vordringen
ward er gewonnen. Aber tagsüber erneuerten sie von den Höhen herab
ihre Angriffe und richteten großen Schaden an. Und je höher man stieg,
um so mehr wuchs die eigentliche Not des Marschierens selbst.
Man konnte auf den glatten Eismassen keinen festen Fuß fassen; bald
glitt der eine, bald der andere aus und stürzte jählings den Berg hinunter.
Bald meinten sie auf festen Boden zu treten; aber siehe, es ist nur wenig
Schnee, oben über einer Felsenklippe zusammengefroren, unten der Abgrund,
in welchen die Unglücklichen stürzen. Dann fällt ein Elefant, dann rollt
ein Wagen zurück und reißt alles hinter sich mit fort ins Verderben. Dazu
stürzen immer neu die wilden Bewohner aus Schluchten und Höhlen her-
vor und überfallen die müden Kletternden. Verzweiflung sah man auf
allen Gesichtern. Hannibal sprach überall Mut ein: „Bald haben wir die
153
Spitze erreicht, bergunter wird's besser gehen!" Nach tausend Mühselig-
keiten hatten sie endlich in 9 Tagen diese erreicht und standen auf dem
Kleinen Bernhard.
Hier in diesen luftigen Schneegefilden ließ er seine ausgehungerten
und fast erstarrten Soldaten ausruhen. Von den eisigen Wolkenhöhen
hinab zeigte er ihnen in weiter Ferne die sonnenhellen Fluren des schönen
Italiens. Ta bekam das Heer frischen Mut und begann hinab zu steigen.
Aber die Schwierigkeiten hierbei waren fast noch größer. Auf schlüpfrigen,
steilen Pfaden, zum Teil zwischen Abgründen oder über frischen Schnee,
der alsbald unter den Tritten so vieler Menschen und Tiere zu schlüpfrigem
Matsch wurde, ging der Marsch abwärts. Noch manches Opfer kostete
dieser Teil des Weges, Menschen und Tiere sah man da und dort aus-
gleiten und unter vergeblichen Versuchen sich wieder zu erheben in die
Tiefe stürzen. An einer Stelle mußte der Weg erst durch dreitägige harte
Arbeit mit Felsensprengungen und Jochbauten für die Pferde und Elefanten
gangbar gemacht werden; halbverhungert kamen sie schließlich hinüber.
Endlich erreichte man bebautes und befreundetes Land. Wälder
und Matten, von den rasch und hell strömenden Gebirgswassern belebt,
erfreuten das Auge anstatt des bisherigen Anblicks kahler Felsen und ein-
förmiger Schneegefilde. Die Tiere wurden auf die reichen, kräftigen Weiden
geschickt; die Menschen ruhten nach 15 schweren Tagen — so lange hatte
der Übergang gedauert — in den fruchtbaren Niederungen aus, um sich für-
neue Arbeit, neuen Kampf zu stärken. Seit dem Aufbruch aus Spanien
waren 5 Monate vergangen. 36 000 Mann soll Hannibal unterwegs ver-
loren haben und mit nur 26 000 Mann in Italien angelangt sein (218).
Doch trug allein schon dieser Alpenübergang ihm ebenso viel Ruhm
ein wie seine Schlachten.
3. Dem Eintritt Hannibals in Italien folgten rasch feine berühmten
Siege am Ticrnus, an der Trebia (218) und am Trasimenifchen See
(217), für die Römer drei Niederlagen, die sie in die höchste Not brachten.
Da erstand ihnen ein Retter und dem Hannibal ein gefährlicher Gegner-
in dem Diktator Fab ins, der sich nie auf einen Kampf mit ihm einließ,
sondern durch beständiges Überwachen, durch besonnenes und zähes Zögern
und Zaudern ihn fortwährend hinzuhalten, zu ermüden, zu schwächen suchte
und dadurch wirklich den Staat rettete. Anfangs verstand man in Rom dieses
Verfahren nicht, und die Heißsporne höhnten ihn als den „Zauderer" (Cunc-
tator); später aber ward der Spottname zum unsterblichen Ehrennamen.
Immer hielt sich Fabius auf den Berghöhen und Hütte dabei einmal, bei
einem Engpässe in Samnium, den Hannibal beinahe wie in einer Mause-
falle gefangen. Rings hatte er alle Höhen besetzt, und nirgends schien ein
Ausweg zu sein. Da half sich der schlaue Punier durch eine List. Er
— 154 —
ließ Reisigbündel vorn an die Hörner von 2000 Ochsen binden, diese bei
Anbruch der Nacht anzünden und die entsetzten Tiere gegen die Römer treiben.
Deren Verwirrung benutzte er dann rasch und brach durch die Enge hinaus.
Allmählich aber erregte des Fabius Kriegführung in Rom wie beim Heere
immer größeren Unwillen, und sein hitziger Reiteroberst Minucius setzte
es durch, daß ihm ein Teil des Heeres anvertraut wurde. Darauf hatte
Hannibal, durch Überläufer von allem unterrichtet, nur gelauert und ver-
lockte alsbald den Unbesonnenen zur Schlacht und in einen Hinterhalt.
Schon war Minucius völlig besiegt und dem Untergange nahe, da rettete
ihn noch im letzten Augenblicke, vom Gebirge herabeilend, Fabius und trieb
die Sieger wieder zurück. Ärgerlich rief Hannibal aus: „So hat sich denn
diese ewige Wetterwolke da oben wirklich einmal mit Blitz und Donner
entladen!" Minucius aber und das Heer erkannten nun beschämt und
dankbar die Überlegenheit des „Zauderers" an und unterstellten sich gerne
wieder seiner Führung.
Im folgenden Jahre (216) errang Hannibal noch einmal einen großen,
freilich auch letzten Sieg in der berühmten Schlacht bei Cannä in Apulien,
wo er den Römern eine Niederlage beibrachte, wie sie seit dem Gallier-
sieg an der Allia nicht erlebt war.*) Schuld daran war, wie so oft, die
Zwiespältigkeit der befehligenden'Konsuln: dem besonnenen Ämilius Paullus
stand der leidenschaftlich ehrgeizige Terentius Varro gegenüber, auf dessen
Hitzköpfigkeit Hannibal sofort rechnete. Er lockte das römische Doppelheer
in die Ebene, wo er dessen Überlegenheit an Fußvolk durch seine treffliche
Reiterei ausgleichen konnte, und bezog eine wohlgewählte Stellung am Flusse
Aufldus. Da die Konsuln im Oberbefehl wechselten, so bot er Varro, als
dieser an die Reihe kam, die Schlacht an, und sofort ging der darauf ein.
Hannibals Schlachtlinie war nach Südwest, die römische nach Nordost
gewandt, von wo ein starker Wind ihr ins Gesicht wehte und ganze
Staubwolken entgegentrieb. Bei den Römern befehligte rechts die
römische Reiterei Paullus, links die bundesgenössische Varro, in der
Mitte das Fußvolk die Konsuln des Vorjahrs; bei den Puniern führte
rechts Maharbal die numidische, links Hasdrubal die gallisch-spanische
Reiterei, in der Mitte das Fußvolk Hannibal selbst. Er hatte dieses halb-
mondförmig so aufgestellt, daß die gallischen Hülfsvölker im Zentrum etwas
zurück, die afrikanischen Kerntruppen beiderseits weiter vorwärts standen.
Plänkler und Reiterei eröffneten den Kampf. Bald warf Hasdrubal die
römischen Ritter über den Haufen und rieb sie fast völlig auf. Der Konsul
Paullus selbst ward tödlich verwundet und sank an einem Steine nieder.
Ein Oberster bot ihm sein Pferd zur Flucht an; doch er lehnte ab und trug
*) Vgl. Teil II f. Quinta S. 175.
155
ihm als letztes die Mahnung an den Senat auf: sofort Rom zu ver-
schanzen und im Unglück standzuhalten. Auch auf dem andern Flügel
siegte die karthagische Reiterei. Im Zentrum dagegen drängten die römischen
Legionen den Feind zurück; doch unvorsichtigerweise ließen sie sich so weit
fortreißen, daß die seitwärts stehenden Afrikaner ihnen in die Flanken fielen.
Als nun auch die siegreichen Reiterflügel ihnen noch in den Rücken kamen,
entstand ein furchtbares Gemetzel, in welchem fast das ganze Heer aufgerieben
wurde. 45 000 Römer deckten die Walstatt, darunter 3 Feldherren, über
30 hohe Staatsbeamte, 80 Senatoren und so viele Ritter, daß von den
goldenen Ringen, die man ihnen abgezogen hatte, Hannibal einen Scheffel
voll nach Karthago schicken konnte.
Mit wenig Reitern entkam Varro nach Rom. Hier aber erhoben sich
Senat und Volk zur höchsten Seelengröße und Standhaftigkeit. Man zog
feierlich dem Besiegten entgegen und dankte ihm, daß er nicht am Vater-
lande verzweifle. Man rüstete mit aller Macht, ließ Hannibals Gesandte,
die um Auswechslung der Gefangenen kamen, überhaupt nicht vor, und
bald standen neue Heere, neue Feldherren bereit, um die Scharten auszu-
wetzen. Und in der That ging's von da mit Hannibal abwärts. Von
der eigenen Vaterstadt in Stich gelassen, geriet er mehr und mehr ins
Gedränge; und als auch sein aus Spanien über die Alpen zu Hülfe
eilender Bruder Hasdrubal unterwegs besiegt und gefallen war, erkannte
er selbst das Schicksal Karthagos als besiegelt. Schließlich mußte er Italien
räumen, um vor dem Sohne seines alten Gegners, dem jüngeren Scipio,
der inzwischen Spanien erobert hatte und nun in Afrika siegreich vordrang,
die eigene Vaterstadt zu retten, die er selbst seit seinem 9. Lebensjahre
nicht mehr gesehen hatte.
Hier kam es nun bei Zama (202) zunächst zu einer denkwürdigen
Unterredung der beiden größten Feldherren ihrer Zeit, die Hannibal
erbeten, Scipio gewährt hatte. Beide hatten sich noch nie gesehen, aber
das Größte je von einander vernommen. Beim ersten Anblick erstaunten sie
so, daß sie sich eine Zeitlang schweigend betrachteten. Sehr verschieden war
ihr Äußeres! Hannibal, 47 Jahre alt, blickte finster und schwermütig drein;
sein Antlitz trug die Spuren von all den Strapazen seiner langen und
beschwerlichen Feldzüge, in seiner Miene spiegelte sich die Not des Vater-
landes wieder. Scipio, erst 35 Jahre alt, strahlte von jugendlicher Mannes-
schöne und vom Glück der frisch errungenen Triumphe. Nach langem
Schweigen begann endlich Hannibal und suchte günstigere Friedensbedin-
gungen zu erzielen. Warnend wies er auf sich selbst als Beispiel der
jähesten Glückswechsel hin. Doch Scipio forderte unbedingte Unterwerfung
Karthagos, und die konnte Hannibal nicht zugestehen. So verlief das
Gespräch ohne den von diesem erwünschten Erfolg.
156
Folgenden Tags erfolgte die Schlacht, wo die Römer, dank ihrer weit
überlegenen Reiterei, die durch afrikanische Bundesgenossen verstärkt war,
einen glänzenden Sieg erfochten. Blutenden Herzens mußte Hannibal selbst
den harten Frieden anraten, der Karthagos Macht und Selbständigkeit
vernichtete. Trotzdem arbeitete er noch 4 Jahre lang unermüdlich für die
Wiedererhebung seines Vaterlandes und mit solchem Erfolg, daß das arg-
wöhnische Rom seine Auslieferung verlangte. Da floh er zum Könige An tiö ch us
von Syrien, den er in einem Kriege gegen Rom (192—189) mit Rat und
That unterstützte. Nach dessen Besiegung auch dort nicht mehr sicher, begab
er sich in den Schutz des Königs Prusias von Bithynien. Doch selbst
hierhin folgten die unermüdlichen römischen Häscher, denen Prusias sich
nicht zu widersetzen wagte. Schon sah Hannibal sein Haus von ihnen um-
stellt, da rief er aus: „Wenn die Römer noch vor einem heimatlosen Greise
solche Angst haben, so will ich sie davon befreien", und nahm Gift.
So starb, 64 Jahre alt (183), der gewaltige Held, der sein ganzes Leben
dem Kampfe für ein undankbares Vaterland geopfert hatte, der furchtbarste
Feind der Römer, die selber nicht umhin konnten, wenn auch mit Haß
und Grauen, seine Größe zu bewundern. M. Evers.
33 (3). Ter dritte Krieg. Karthagos Zerstörung.
Ein Menschenalter nach Hannibals Tode schlug auch für Karthago
die verhängnisvolle Stunde, die er schon so lange vorausgeahnt hatte.
Wie ihn, so verfolgte auch sein Volk der immerwache Haß und Argwohn
der Römer, unter denen namentlich der unerbittliche Cato nicht abließ,
zur Vernichtung der alten Nebenbuhlerin zu mahnen. War's doch bei
jeder Senatsrede sein stehender Schlußsatz: „Übrigens muß meiner Meinung
nach Karthago zerstört werden!" Schlauerweise hatte Rom sich in dem
Numidierkönig Masinissa ein Werkzeug geschaffen, um die kaum wieder
aufatmende Stadt unablässig zu beobachten, zu drangsalieren und zur
Übertretung jener Friedensbedingung zu reizen, durch die ihr jede selb-
ständige Kriegführung, auch jede gerechteste Notwehr streng verboten war.
Leider gab's in Karthago selbst eine numidische, ja eine bestochene
römische Partei. Durch deren Ränke wurde es endlich mit dem Könige in
einen Krieg verwickelt, dem als angeblichem Friedensbruch die Kriegserklärung
Roms auf dem Fuße folgte. Schon standen die Konsuln mit großer
Macht in Sicilien und rüsteten sich zur Überfahrt. Auf diese Schreckens-
nachricht hin gab das geüngstigte Karthago sofort klein bei, verbannte
die Patrioten, die zum Widerstände rieten, und erklärte sich zuletzt zum
Unterthan der übermächtigen Feindin. Der Senat nahm die Unterwerfung
scheinbar wohlgefällig an und versprach vom Kriege abzustehen, wenn
Karthago 300 seiner edelsten Söhne als Geiseln senden und weiter thun
157
würde, wie die Konsuln beföhlen. Die Geiseln kamen, und die Konsuln
gingen nach Afrika. Jetzt forderte man die Auslieferung der Schiffe, der
Waffen, des Kriegsgeräts. Die Karthager gehorchten. Da erging endlich
der letzte grausame Befehl, die Stadt niederzureißen und eine andere zu
erbauen, weit weg vom Meere und ohne Mauern.
Als dies die Karthager vernahmen, ergriff sie die äußerste Ver-
zweiflung. Einmütig beschlossen sie, ihre teure Stadt zu retten oder zu
sterben. Niemals sonst hat sich's glänzender und zugleich erschütternder
gezeigt, was ein aufs äußerste gebrachtes Volk vermag. Was man dem
Wunsche des Friedens geopfert, Schiffe, Kriegsgeräte und Waffen, alles
schuf die erfinderische Wut von neuem. Das Gebälk der Wohnungen wurde
zu Schiffen verarbeitet, alles Metall in Häusern und Palästen, Tempeln und
Gräbern zu Waffen. Weiber gaben ihr Geschmeide zu Pfeilen hin, ihr
Haupthaar zu Bogensehnen; Kinder, Sklaven, Verbrecher wurden bewaffnet,
die Verwiesenen zurückberufen, und statt einer wehrlosen Stadt fanden die
erstaunten Römer ein tobendes Kriegslager.
Die Belagerung begann. Heldenmütig hielt sich die arme Stadt
gegen die Übermacht bis ins dritte Jahr. Mehrere römische Heere wurden
geschlagen; täglich schien die Kraft der Belagerer zu wachsen; fast zagten
die Römer. Da ernannten sie Scipio Ämilianus zum Konsul, einen
der vortrefflichsten Römer, seinen Ahnen an Tugend und Tapferkeit gleich,
ihnen überlegen an Wissenschaft und feiner Sitte, einen menschenfreund-
lichen Helden, der früher gegen Cato laut zu Gunsten der Karthager ge-
sprochen. Jetzt freilich mußte er vollziehen, was der Senat und das Volk
beschlossen; und er that es, seines Namens würdig. Durch seinen Anblick
erhielten die Legionen neuen Mut, die Kriegszucht hob sich durch seine
Strenge, durch seinen Genius errang er den Sieg. Die Karthager ihrer-
seits leisteten Unglaubliches. Der Hafen war durch einen Damm gesperrt;
wunderbar schnell wurde eine neue Mündung gegraben und der Feind
durch eine neue Flotte geschreckt. Zwei Mauern waren gefallen; sie hielten
noch lange die dritte. Doch immer stärker wurden sie bestürmt, alle Zu-
fuhr ihnen gehemmt; sie trotzten dem Hunger wie den Schrecken des
Krieges. Endlich drang Scipio bei Nacht in den letzten Hafen; der untere
Teil der Stadt wurde genommen, die obere Stadt und die Burg (Byrsa)
ergaben sich nicht. Nun stürmte Scipio ununterbrochen sechs Tage und
sechs Nächte lang; in allen Straßen, Plätzen, Häusern floß Blut. Un-
ermüdet, furchtbar stritten die ausgehungerten Bürger gegen immer frische
Truppen, bis die letzten Kräfte schwanden.
Am siebenten Tage baten einige Abgeordnete um Gnade. Gern hätte
Scipio sie allen erteilt. Aber nur 50 000 Menschen aus einer Stadt,
welche 700000 zählte, nahmen sie an und zogen in jammervoller Gestalt
158
in Scipios Lager. Die übrigen stritten in wilder Verzweiflung fort,
zündeten die Stadt an und töteten sich selbst in ihren Häusern und
Tempeln, über den Gräbern der Väter. Schauerlich groß war die That
eines Weibes, der Gattin Hasdrubals. Ihr Gatte nahm Gnade an. Sie
strafte ihn durch Wort und Blick, und, ihre Kinder umarmend, stürzte sie
sich mit ihnen von der Burg herab in die Flammen. Siebzehn Tage
brannte die herrliche, übergroße, unglückliche Stadt; die Römer vollendeten
auf Befehl des Senats die Zerstörung. Aber mit erschüttertem Gemüt
sah Scipio sie in Asche sinken. Vergangenheit und Zukunft standen vor
seinem Geiste, und mit Beziehung aus Rom selbst gingen aus seinem Munde
die bedeutungsvollen Worte Homers:
„Einst wird kommen der Tag, da die heilige Jlios hinsinkt,
Priamus auch und das Volk des lanzenkundigen Königs."*)
So verschwand Karthago von der Erde, nachdem es 700 Jahre
gestanden und 120 mit Rom gewaltig gestritten. Zu Grunde ging
auch seine Macht wie einst die griechische (S. 138 ff.) schließlich infolge
inneren Bürgerzwists und äußeren Unglücks. Doch lange war die Stadt
Weltherrscherin zur See gewesen, groß in ihrer Blüte, groß in der Reihe
ihrer glänzenden Feldherren und Staatsmänner, am größten in ihrem Falle.
Nach Rotteck verändert.
34 (4). Marius und Iugurtha.
1. Nachdem Rom Karthago vernichtet und inzwischen auch Macédonien
und Griechenland unterworfen, ja dem Syrerkönige Kleinasien abgenommen
hatte, stand es nach außen als Weltherrscherin da. Aber im Innern er-
zeugte dieses Wachstum an Macht, Herrschaft und Reichtümern aller Art eine
immer zunehmende Entartung und Sittenverderbnis, besonders in den
leitenden Kreisen der Vornehmen und Reichen, der sogen. Optimal en.
Kaum irgendwo trat deren gewissenlose Habgier und niedrige Bestechlich-
keit greller hervor als in dem Kriege mit dem Numidierkönige Iugurtha.
Dieser schlaue, herrschsüchtige und ruchlose Mensch war ein Neffe
des Königs Micipsa und hatte neben dessen Söhnen Adherbal und
Hiempsal beim Tode seines Oheims ein Drittel des Reichs geerbt. Als-
bald ließ er seinen jüngern Vetter ermorden, vertrieb dann den Adherbal
aus seinem Reiche und bemächtigte sich so des Ganzen. Der Vertriebene
suchte Hülfe in Rom; doch durch schamlose Bestechung vieler Senatoren er-
reichte Iugurtha, daß man ihm, ohne jegliche Bestrafung, die Hälfte des
Reichs und gar die bessere zusprach. Hierdurch noch übermütiger geworden,
bekriegte er abermals den Adherbal, eroberte dessen Hauptstadt, nahm ihn
selbst gefangen und ließ ihn samt vielen Anhängern, darunter sogar ein-
*) Vgl. II. (Quinta-) Teil S. 101.
159
gewanderte Römer, schmählich niedermetzeln. Nun mußte natürlich Rom
Schimpfs halber Krieg führen (111—106).
Doch abermals gelang es ihm, den gegen ihn gesandten Konsul mit
dem ganzen Heere zu bestechen und einen Frieden zu erkaufen, der ihn im
Besitze ganz Numidiens ließ. Dieses schmachvollen Handels schämte man
sich endlich in Rom, forderte die Bestochenen vor Gericht und lud Jugurtha
selbst als Zeugen vor. Er kam in der That und — erreichte es abermals
durch neue Bestechungen, daß überhaupt kein Verhör zustande kam. Ja,
schließlich wagte er in Rom selbst sogar ein Verbrechen. Einen entfernteren
Vetter, der sich dort aufhielt und dessen Ansprüche auf den Thron er
fürchtete, ließ er durch gedungene Meuchelmörder töten. Alle Welt wußte um
seine Urheberschaft; dennoch begnügte man sich damit, ihn aus Italien zu
verweisen und ihm von neuem den Krieg zu erklären. Als er Rom verließ,
blickte er lange auf die Stadt zurück und brach endlich in den Ruf aus: „Du
feile Stadt, wie bald gingest du unter, wenn sich nur ein Käufer fände!"
Aber auch in dem neuen Kriege errangen die Römer zunächst keine
Erfolge, erlitten vielmehr die Schmach, unter dem Schandjoch wegziehen
zu müssen. Da endlich schickte der Senat den Konsul Metellus gegen
Jugurtha, und dieser unbestechliche Mann ging sofort mit allem Nachdruck
vor, trieb den Gegner in die Enge und eroberte eine Stadt nach der anderen.
Freilich den Ruhm des schließlichen Siegs wußte ihm sein ehrgeiziger
Unterfeldherr Marius zu entreißen.
2. Dieser Marius war der Sohn eines Landmannes aus Arprnum
im Volskerlande. Er wuchs ohne allen Unterricht auf und war von rohen,
derben Sitten. Frühzeitig entwickelte er Neigung und Begabung fürs
Kriegsleben, so daß er in der Folge einer der tüchtigsten Feldherren wurde.
War er auch ohne höhere Bildung, so besaß er doch einen von Natur
klaren Verstand, dazu einen glühenden Ehrgeiz. Dieser sollte noch dadurch
gesteigert worden sein, daß einst, da er als Jüngling unter einem Baume
schlief, ein Adlernest mit 7 Jungen auf ihn herabgefallen sei. Dies hätten
nämlich die Wahrsager darauf gedeutet, er werde 7 mal Konsul werden —
was sich denn auch bewahrheiten sollte.
Seine ersten Kriegsdienste that er unter Scipio dem Jüngeren und er-
regte schon damals durch sein Feldherrntalent dessen Aufmerksamkeit. Als man
einst den Scipio fragte: „Wer wird dich uns ersetzen, wenn wir dich ver-
lieren sollten?" antwortete er, indem er den Marius auf die Schulter klopfte:
„Dieser hier!" Nach Rom zurückgekehrt, ward Marius zum Volkstribunen
gewählt und verteidigte als solcher die Rechte seiner Standesgenossen gegen
die Optimalen, die er tödlich haßte, und die schon damals in ihm 'einen
furchtbaren Gegner erkannten. Die erste Gelegenheit nun, um selbständig
als Feldherr aufzutreten, gab ihm jetzt der jugurthinische Krieg.
160
Um sich in Rom für das Konsulat zu bewerben, suchte er beim Ober-
feldherrn um Urlaub nach. Der adelstolze Metellus, höchlichst darüber erstaunt,
riet ihm sich doch nicht über seinen Stand hinaus zu wagen. Als aber
Marius nicht nachließ, sagte er spöttisch: „Du kommst noch früh genug nach
Rom, wenn du dich zugleich mit meinem Sohne zum Konsulat meldest."
Der junge Metellus war aber erst 20 jährig, und da zum Konsulat 43 Jahre
erforderlich waren, hätte Marius noch 23 warten sollen. Durch solchen
Hohn gereizt, erzwang er den Urlaub und verleumdete von jetzt an den
Metellus bei jeder Gelegenheit. Er reiste nach Rom, wo er ihn beschul-
digte, er ziehe den Krieg absichtlich in die Länge; er meldete sich zum
Konsulat und wirklich — er erhielt es nnd damit zugleich den Oberbefehl
gegen Jugurtha (108 v. Chr.). Bis dahin war es noch keinem Manne
von niederer Herkunft gelungen, diese Würde zu erlangen.
Marius bildete nun aus den geringsten, vermögenslosen Bürgern,
die bis dahin noch nicht zum Kriegsdienst herangezogen worden waren,
ein Heer und zog gegen Jugurtha, der sich inzwischen mit dem König
Bocchus von Mauretanien verbunden hatte. In den fruchtbarsten Teilen
Numidiens eroberte Marius Burgen und Städte und machte große Beute.
Im folgenden Jahre geriet beinahe ganz Numidien in seine Hand,
denn noch in zwei Treffen besiegte er beide Könige. Bocchus bat endlich
um Frieden, und nun gelang es dem klugen römischen Unterhändler, dem
Quästor Sulla, ihn zur Auslieferung Jugurthas zu bewegen. Marius
freilich kränkte dieser Erfolg seines Untergebenen lies; und als sich Sulla
gar einen Siegelring machen ließ, auf dem Jugurthas Auslieferung dar-
gestellt war, weckte das seinen unversöhnlichen Groll. So entstand zwischen
beiden Männern eine Feindschaft, die nur zu bald den römischen Staat
in furchtbare innere Känipfe stürzen sollte.
Jugurtha ward zu Rom im Triumph des Marius aufgeführt und
erlitt nun endlich für seine zahllosen Verbrechen eine schreckliche Strafe.
Nackt wurde er in einen unterirdischen Kerker hinabgestoßen. „Hu, wie
kalt ist euer Bad!" rief der Unglückliche beim Hinabsteigen. Unten hatte
er noch 6 Tage mit dem grausen Hungertode zu kämpfen, bis man ihn
aus Gnaden erdrosselte. Nach Stacke umgearbeitet.
35 (5). Marius als Zieger über die Cimbern und Teutonen.
1. Nicht lange nach seinem Siege über Jugurtha wurde Marius
ungewöhnlicherweise fünfmal hintereinander zum Konsul gewählt. Anlaß
dazu war die furchtbare Gefahr, die zwei Völkerschaften durch ihre ver-
heerenden Einfälle über Rom heraufgeführt hatten. Es waren dies die
Cimbern und Teutonen, wilde Völker von germanischem Stamme, welche
mit Weib und Kind ihre heimatlichen Sitze im heutigen Schleswig-Holstein
161
und Jütland verlassen hatten, wahrscheinlich, um sich in südlicheren Gegenden
eine neue Heimat zu gründen. Ob Übervölkerung und Hungersnot, Über-
schwemmungen oder feindliche Einfälle sie aus dem Sitze ihrer Väter ver-
trieben, das läßt sich mit Gewißheit nicht entscheiden. Es waren Leute
von riesenhaftem Körperbau, mit blauen Augen und hellblondem Haupt-
haar, also offenbar germanischen Ursprungs.
Ihr Mut und ihre Kühnheit, ihre Stärke und ihre Tapferkeit hatten
ihnen in allen Schlachten den Sieg verliehen. Niemand hatte ihre An-
griffe auszuhalten vermocht. Auch die römischen Feldherren, die mit be-
deutenden Truppenmassen nach Gallien geschickt worden waren, um die
Grenzen des Reiches zu schützen, hatten ihre Überlegenheit fühlen müssen.
Vier konsularische Heere waren gänzlich geschlagen worden. Die Flücht-
linge hatten dazu noch eine so gräßliche Schilderung von den Barbaren
und ihrem Kriegsgeheul, ihren Waffen und ihrer Kampfesweise gemacht,
daß sich aus dem römischen Adel niemand mehr getraute, das Vaterland
von diesem „cimbrischen Schrecken", wie man ihn nannte, zu befreien.
Niemand bewarb sich um das Konsulat. Darum wühlte das Volk aber-
mals den Marius, den ruhmreichen Besieger Jugurthas, zum Konsul, und
dieser erfüllte in der That die auf ihn gesetzten Hoffnungen.
Sofort nach Antritt seines Amts begab er sich unverzüglich nach
Gallien und suchte vor allem seine Soldaten an Zucht und Ordnung,
an Übungen und Strapazen zu gewöhnen. In der Nähe der Rhone
bezog er ein befestigtes Lager und harrte der Feinde, welche noch Gallien
und das entfernte Spanien durchzogen. So ging auch sein zweites Kon-
sulat zu Ende; aber er bekam diese Würde zum dritten, vierten, fünften
Male hintereinander (104—100), da man nur in ihm den Retter Roms sah.
2. Jetzt endlich kehrten die Horden zurück und näherten sich dem
römischen Lager. Marius hielt sich lange ganz ruhig, um seine Krieger
erst an den Anblick der Fremden und an den Ton ihrer Stimmen zu ge-
wöhnen. Aber so oft er einen kleinen Haufen sich nähern sah, überfiel
er ihn mit Übermacht und lehrte so die Seinigen im kleinen siegen. Die
streitlustigen Barbaren kamen dann in größeren Haufen wieder und höhnten
die Römer, daß sie sich jetzt nicht zum Kampfe herauswagten. Doch
Marius ließ sich nicht irre machen und hielt die Seinen zurück.
Endlich hatten sich die Feinde in zwei Haufen geteilt: die Cimbern
waren längs der Rhone hingezogen, die Teutonen aber in der Nähe
des Marius geblieben. Als er aber immer noch nicht ihre Heraus-
forderungen zur Schlacht annahm, brachen alle auf, zogen an seinem Lager
vorbei nach Italien zu und riefen spöttisch, ob die Römer etwas an ihre
Weiber in Rom zu bestellen hätten. Ihre Masse soll so bedeutend ge-
wesen sein, daß sie sechs Tage lang ununterbrochen am römischen Lager-
Lesebuch für höhere Lehranstalten. (Preuß. Ausg.) m. 11
162
vorbeizogen. Marius folgte ihnen nach, hielt sich aber immer auf der
Höhe, damit sie ihn nicht unversehens angreifen könnten. Bei Aquä
Sextiä endlich, dem heutigen Aix in Südfrankreich, lagerte er sich ihnen
gegenüber. In seinem Lager herrschte Wassermangel; als aber seine Krieger
über Durst klagten, wies er mit der Hand auf einen Bach, der dicht am
feindlichen Lager vorüberfloß, und sprach: „Dort ist Wasser genug; aber
nur für Blut ist es zu haben." Um so größer ward ihre Ungeduld, den
Kampf zu beginnen.
Noch einmal hielt Marius sie zurück und ließ erst das Lager be-
festigen. Mittlerweile eilte eine Menge von Troßknechten an den Fluß,
um sich Wasser für das Vieh zu erkämpfen. Sie kamen mit den Feinden
ins Handgemenge, und da von beiden Seiten Soldaten zuliefen, so ward
der Kampf allgemein. An dieser Stelle hatten die Ambrönen, ein
helvetischer Stamm, der sich mit den Teutonen vereinigt hatte, ihr
Lager. Sie wurden zu ihren Wagen zurückgeschlagen; und hier entstand
ein neuer harter Kampf mit den Weibern, welche mit Beilen und
Schwertern auf die Römer und die fliehenden Ihrigen einhieben. Die
Nacht endigte das Gefecht. Am folgenden Morgen griff Marius die
Feinde an; er stürmte von der Höhe herab, die Feinde aber hinan, ihm
entgegen. Doch hatte Marius heimlich die Waldhöhen über dem Lager
der Barbaren mit 30000 Mann besetzt, um im günstigen Momente hervor-
zubrechen und ihnen in den Rücken zu fallen. Während er selbst nun die
durch das Berganstürmen atemlos gewordenen Feinde zurückschlug, brach
der Hinterhalt rechtzeitig hervor und bedrängte sie auch von dieser Seite,
so daß sie in Unordnung gerieten und ihr Heil in der Flucht suchten.
Die Römer setzten ihnen nach und richteten ein ungeheures Blutbad an;
über 100000 Mann wurden teils gefangen, teils erschlagen. Auf der
Flucht fiel auch der König Teutoboch den Römern in die Hände; er
zierte nachher den Siegeswagen des Marius bei seinem Einzuge in Rom.
3. Während dessen hatten sich die Cimbern auf einem ganz anderen
Wege nach Italien gewandt, nämlich durch Tirol über den Brennerpaß.
An der Etsch hatten sie den römischen Konsul Lutatius Catulus in
einem befestigten Lager mit starken Verschanzungen angetroffen. Im Gefühl
ihrer Übermacht wollten sie die Römer schrecken und ihre Stärke, Kühn-
heit und Abhärtung zeigen. Sie legten, wenn es regnete oder schneite,
ihre Gewänder ab, stiegen über Eis und Schnee auf die höchsten Berg-
spitzen und rutschten auf ihren Schilden wieder herunter. Sie suchten
auch den Fluß zu dämmen, trugen ganze Hügel ab, rissen Bäume um
und warfen sie nebst ungeheuren Felsblöcken hinein. Dadurch gerieten die
römischen Soldaten in solche Angst, daß Catulus das Lager verließ und
über den Po zurückging.
163
Im nächsten Jahre (101) aber vereinigte sich mit ihm der siegreiche
Marius und führte das Heer wieder über den Po gegen die Feinde.
Diese wichen indessen einem Treffen aus, da sie auf die Ankunft der Teu-
tonen warteten und sich über deren langes Ausbleiben wunderten. Als sie
dann Gesandte zu den Römern schickten, um für sich und ihre Brüder,
die Teutonen, Land zu erbitten, erhielten sie die höhnische Antwort: Für
letztere sei schon gesorgt, sie hätten Land bekommen, wo sie ewig bleiben
würden; und ebensoviel sollten auch sie, die Cimbern, selbst erhalten. Diese
wollten die Schreckenskunde nicht glauben, bis Marius ihnen die gefesselten
Könige und Führer vorführen ließ. Da forderten sie die Römer auf, Art
und Zeit des Entscheidungskampfes zu bestimmen, und es ward vereinbart,
am dritten Tage in der Ebene bei Vercellä sich zu treffen.
Die Cimbern zogen am festgesetzten Tage in guter Ordnung aus
ihrem Lager; das Fußvolk stellten sie in einem regelmäßigen Viereck auf;
die Reiterei, an 15000 Mann stark, wandte sich rechts und hoffte, die
Römer würden beim Angriffe zwischen das Fußvolk und die Pferde kommen.
Diese Reiter waren auf das prächtigste gerüstet. Sie trugen Helme,
die den Rachen fürchterlicher Bestien glichen und auch sonst ein schreck-
liches Aussehen hatten; darauf saßen noch hohe Federbüsche in der Form
von Flügeln, wodurch ihre riesigen Gestalten noch mehr vergrößert wurden.
Dazu hatten sie eiserne Harnische, glänzend weiße Schilde, doppelte Wurf-
spieße und für das Handgemenge große schwere Schwerter. Das Fuß-
volk ergoß sich über die Ebene daher wie ein unermeßliches, wogendes
Meer. Da gelobte Marius den Göttern ein großes Dankopfer, wenn sie
ihm zum Siege verhelfen würden. Und als ihm von den Priestern die
Eingeweide der Opfertiere gezeigt wurden, rief er mit lauter Stimme, daß
die Menge es hörte: „Mein ist der Sieg!"
Nun begann ein heftiger Kampf. Für die Römer kämpfte die Hitze
und die Sonne, welche den Cimbern in die Augen schien. Denn diese
konnten, da sie in kalten Gegenden und schattigen Wäldern aufgewachsen
waren, zwar sehr wohl die Külte, aber nicht die Hitze ertragen. Der Schweiß
entkräftete sie, und sie hielten die Schilde gegen die Sonne vor ihr
Gesicht. Es war gerade die heißeste Zeit des Sommers. Auch der Staub
flog ihnen ins Gesicht und umhüllte sie, so daß die Römer weder ihre
ungeheure Masse noch ihre fürchterlichen Gestalten schauen konnten,
sondern geradezu auf die feindlichen Reihen eindrangen. Es kam zu
dem furchtbarsten Handgemenge, wobei die Römer durch ihre kurzen, breiten
Schwerter großen Vorteil vor den Cimbern hatten. Auch waren sie an
das Klima und die Kriegsarbeit so gewöhnt, daß man in der erstickenden
Hitze doch nicht einen Römer Schweiß vergießen sah. Dazu hatte Marius
eine neue Waffe erfunden: lange Speere mit Widerhaken, welche die Römer
ii*
164
den Feinden in die Schilde warfen und durch welche sie diese herabzogen,
so daß der Mann gegen die Geschosse und Schwertstreiche bloß stand.
So wurde in der Schlacht bei Vercellä (101) der größte Teil der
Cimbern getötet. Die vorderste Reihe hatte sich, um nicht auseinander
gerissen zu werden, mit langen Ketten oder Stricken an den Gürteln zu-
sammengebunden; sie lag wie an einer Schnur hingestreckt. Die Römer
verfolgten auch die Flüchtigen bis in ihre Wagenburg. Hier standen die
Frauen, schwarz gekleidet, auf den Wagen, töteten sogar die Zurück-
fliehenden und erdrosselten ihre eigenen Kindlein, damit sie nur nicht den
Römern in die Hände fielen. Dann brachten sie sich selbst um. Auch
viele Männer töteten sich, und so ging der ganze Stamm zu Grunde.
An 60000 sollen gefangen genommen, aber im Handgemenge doppelt
so viele getötet worden sein.
Die Römer aber erwiesen dem Marius, dem Retter Italiens, die
höchste Ehre. Sie nannten ihn den dritten Gründer der Stadt, spendeten
ihm Trankopfer, wie einem Gotte, und erteilten ihm zum sechsten Mal
das Konsulat. Vor seinem Triumphwagen mußte der gefangene Teutoboch
einherschreiten, ein Mann von so riesigem Wuchs, daß er noch über die
Siegeszeichen hervorragte. Nach Cassian.
36 (6). Cäsar.
1. Von dem größten aller Römer, Gajus Julius Cäsar, berichten
uns die alten Geschichtschreiber eine Menge kleiner Erzählungen und ein-
zelner Züge, die alle von seiner außerordentlichen Begabung und Geistes-
größe glänzendes Zeugnis ablegen.
Er stammte aus einem der ältesten Adelsgeschlechter, dem Juli sch en,
das sich von Julus, dem Sohne des Äneas, herleitete*), gehörte aber,
als Neffe des Marius, zur demokratischen Partei. Als nun diese in den
Parteikämpfen dem Sulla (S. 160) unterlag, wollte der auch den jungen
Cäsar töten lassen und ließ sich nur durch die Fürsprache einflußreicher
Freunde davon abbringen. Doch warnte er sie vor diesem „Knaben, in
welchem mehr als ein Marius stecke".
Bevor er sich dem Staatsleben widmete, wollte er nach der Sitte
der vornehmen römischen Jugend in Griechenland seine Ausbildung vollenden
und segelte nach Rhodus, um hier die berühmte Nhetorenschule zu be-
suchen. Unterwegs fiel er Seeräubern in die Hände, von denen damals
das mittelländische Meer wimmelte. Als Lösegeld verlangten diese von
ihm 20 Talente; aber stolz bot er 50 dagegen, da 20 für einen Mann
wie er zu wenig seien**). Bis diese Summe von Freunden aufgebracht
*) Vgl. II. (Quinta-) Teil S. 158. — **) l Talent etwa 4000 Mark.
165
wurde, mußte er auf dem Schiffe der Korsaren bleiben. Aber nicht wie
ihr Gefangener benahm er sich die 40 Tage, die er unter ihnen weilen
mußte, sondern wie ihr König. Wenn er schlafen wollte, gebot er Ruhe;
er unterhielt sich mit ihnen, wann und wie es ihm beliebte, las ihnen
feine Reden und Verse vor, und wenn sie die nicht loben wollten, schalt
er sie rohe Barbaren und drohte, er wolle sie sämtlich ans Kreuz schlagen
lassen. Den Räubern gefiel das zuversichtliche Wesen ihres Gefangenen
und die Zeichen seiner munteren Laune, für die sie seine Drohungen
nahmen. Aber kaum war das bedungene Lösegeld eingelaufen und Cäsar
in Freiheit, so sammelte er rasch einige Schiffe, setzte den Räubern nach,
fing sie und that, wie er ihnen scheinbar im Scherze verheißen.
Nach Rom zurückgekehrt, durchlief er die Reihe der öffentlichen Ehren-
ämter, die jeder vornehme Römer anstrebte. Als Quästor sah er in
Spanien zu Gades ein Bild Alexanders des Großen und rief schmerzlich
aus: „Der hatte in meinem Alter schon die Welt erobert, und ich habe
noch nichts gethan!" Dann machte er als Ädil, um sich beim Volke
möglichst beliebt zu machen, bei Ausrüstung der öffentlichen Spiele un-
geheuren Aufwand. Dadurch lud er eine solche Schuldenlast auf sich,
daß ihn seine Gläubiger, als er sich nach Ablauf seiner Prätur in seine
Provinz Spanien begeben wollte, gar nicht aus Rom wollten ziehen lassen.
Crassus, der reichste Mann Roms, mußte ihm damals über 800 Talente vor-
strecken, damit er überhaupt loskam. Auf dieser Reise nach Spanien verriet
er seinen Begleitern schon, was als letztes Ziel seinem Ehrgeize vorschwebte.
Als sie an einem elenden Alpendorfe vorüberkamen, warf einer seiner Be-
gleiter die scherzhafte Frage auf, ob man sich wohl auch hier um Rang
und Ehren streite. „Gewiß," antwortete Cäsar, „und ich möchte hier lieber
der Erste, als in Rom der Zweite sein!"
In Spanien sammelte er sich treffliche Kriegserfahrungen und ordnete
zugleich seine Vermögensverhältnisse, so daß er, nach Rom zurückgekehrt,
alle Schulden bezahlen konnte. Bald schloß er mit Pompejus und
Crassus den sogen. Dreimännerbund (Triumvirat), der ihm zum Kon-
sulate verhaft und nach Ablauf seines Amtsjahres die Provinz Gallien,
das heutige Oberitalien und Süd-Frankreich, verschaffte. Von hier aus
unterwarf er in siebenjährigem Kriege (58 — 51) ganz Gallien bis an
den Rhein, bildete sich selbst zum größten Feldherrn Roms aus und schuf
sich ein ausgezeichnetes, ihm unbedingt ergebenes Heer. Damals mußte
er auch gegen einen germanischen Heerkönig, Ariovist, kämpfen, der schon
vor Cäsar begonnen hatte, seine Herrschaft über die zwietrüchtigen Gallier
auszudehnen. Wie einst im Cimbernkriege (S. 160) befiel auch hier das
römische Heer Furcht und Bangigkeit, als sie sich den Riesengestalten der
germanischen Krieger gegenüber sahen. Schon baten die Tribunen unter
166
allen möglichen Vorwänden um Urlaub; schon saßen die Soldaten nieder-
geschlagen in ihren Zelten beisammen und machten ihre Testamente, als
ob sie bereits rettungslos dem Untergange geweiht seien. Die Angst schien
sein ganzes Heer lähmen zu wollen. Da beschied Cäsar seine Soldaten
zu einer Versammlung, wies ihnen die Grundlosigkeit ihrer Furcht nach,
hielt ihnen ihr schmähliches Verhalten vor und erklärte zum Schlüsse,
wenn ihm niemand folgen wolle, so werde er mit der 10. Legion allein
den Feind aufsuchen und bestehen. Durch diese geschickte Berufung auf
das Ehrgefühl seiner Lieblingslegion zwang er diese gewissermaßen, sich
furchtlos zu zeigen, und ihre zuversichtliche Haltung erweckte auch in den
übrigen wieder den Mut, so daß sie nun selbst ihn baten, sie gegen den
Feind zu führen. Er benutzte die gehobene Stimmung der Soldaten und
errang über den Gegner einen vollständigen Sieg. Selbst den Rhein
wagte er als erster Römer zweimal zu überschreiten, ohne sich indes in
dem gefürchteten Germanien länger aufzuhalten. Ebenso hatten seine Ein-
fälle in Britannien nur vorübergehenden Erfolg.
2. Der Ruhm, mit dem Cäsar sich in Gallien bedeckte, zog ihm bald
den Neid des Pompejus zu, der unthätig in Rom geblieben war. Die
Abneigung der beiden Nebenbuhler war bald so hoch gestiegen, daß der
Krieg unvermeidlich war. Cäsar führte seine sieggewohnten Legionen gegen
die südliche Grenze seiner Provinz, an das Flüßchen Rubikon. Noch
im letzten Augenblicke schienen ihn schwere Bedenken vom letzten Schritt
zurückhalten zu wollen; doch rasch erkannte sein klarer Geist das Unver-
meidliche, und mit den berühmten Worten: „Der Würfel ist gefallen!"
führte er die Seinen gegen Rom. Pompejus floh mit seinem Anhang
nach Griechenland, wo er im nächsten Jahre dem Feldherrntalent Cäsars
bei Pharsälus unterlag; in Ägypten, wo er Zuflucht suchte, wurde er
ermordet. Aber Cäsar freute sich nicht über diesen blutigen Ausgang
seines Gegners und konnte sich der Thränen nicht enthalten, als man ihm
dessen abgeschlagenes Haupt und Siegelring überbrachte.
In Alexandria hatte Cäsar noch einen hartnäckigen Aufstand nieder-
zuwerfen, wobei er persönlich in Lebensgefahr geriet: sein Fahrzeug be-
gann bei einem Kampf im Hafen schon zu sinken, da sprang er ins Meer,
schwamm 200 Schritte weit bis zu einem andern Schiff und hielt noch
beim Schwimmen ein wichtiges Schriftstück mit der einen Hand beständig
über Wasser.
Von Ägypten aus zog er gegen den König von Pontus und be-
siegte ihn nach fünftägigem Feldzuge, dessen wunderbar raschen Verlauf
er mit den Worten: „Ich kam, sah und siegte!" nach Rom berichtete.
Noch hatte er jetzt die Partei des getöteten Pompejus zu über-
wältigen, die sich um dessen Söhne in Afrika wieder gesammelt hatte.
167
Als Cäsar gegen diese seine gedienten Soldaten abermals aufbieten wollte,
weigerten sie sich, von neuem in den Krieg zu ziehen, und riefen ihrem
Feldherrn, der, um die Meuterei zu beschwichtigen, unter sie getreten war,
auf die Frage nach ihrem Verlangen trotzig zu: „Den Abschied!" In
befremdender Kürze antwortete ihnen Cäsar: „Ihr seid entlassen, Quirlten!"
und redete sie damit schon als waffenlose Bürger an, statt wie gewöhnlich
mit dem vertraulichen Ehrennamen Kommilitonen oder Kameraden. Diese
kalte Gewährung ihrer ungestümen Bitte, wodurch Cäsar sie plötzlich wie
Fremde ansprach, sie, die ihn einstens wie ihren Vater verehrt, entwaff-
nete ihren Trotz vollständig; bestürzt und reumütig baten sie ihn nun
selbst, sie nicht zu entlassen, und folgten ihm willig nach Afrika.
Als er hier sein Schiff verließ, strauchelte er und fiel zu Boden. Da
er aber den Aberglauben seiner Soldaten kannte, die diesen Zufall als
schlimmes Vorzeichen gedeutet hätten, stellte er sich, als habe er sich frei-
willig niedergeworfen und rief aus: „Ich fasse dich, Afrika!" Auch hier
war ihm das Glück hold; er besiegte seine Gegner bei Thapsus.
Darauf kehrte er nach Rom zurück, wo er mit nie gesehener Pracht
einen vierfachen Triumph über Gallien, Ägypten, Pontus und Afrika hielt
und zum Oberhaupte des Staates erklärt wurde. An 22 000 Tischen ließ
er das Volk speisen, beschenkte freigebig alle seine Veteranen, verteilte
unter 50000 Arme Lebensmittel und Geld, und legte in den Staats-
schatz über 200 Millionen Mark in Gold und gegen 3000 goldene Kränze
im Werte von 15 Millionen nieder. — Überall waltete er mit größter
Milde und Menschlichkeit und verzieh auch früheren Gegnern mit einer
bis dahin unerhörten Großmut.
Aber noch einmal mußte er um die Herrschaft über den Erdkreis
kämpfen. In Spanien hatten sich die geschlagenen Pompejaner unter den
Söhnen des Pompejus wieder gesammelt. Cäsar traf sie im südlichen
Teil der Halbinsel bei Munda. Es war die heißeste Schlacht, die er
je geschlagen; schon wankten seine erprobten Soldaten, die Erfolge aller
seiner Mühen und Kampfe schienen verloren; da sprang er vom Pferde
und, sein eigenes Leben einsetzend, warf er sich barhaupt den feindlichen
Reihen entgegen. Von seinem Beispiel hingerissen, stürzten seine Legionen
dein geliebten Führer nach und erzwangen gegen Abend den herrlichsten
Sieg. Sein Schild war von mehr als hundert Geschossen durchbohrt; er
selbst hatte nach eigenem Geständnis nicht mehr um den Sieg, sondern
um sein Leben gestritten.
3. In Rom wurde Cäsar nach diesem letzten, entscheidenden Siege
mit Ehren überhäuft. Er wurde lebenslänglicher Imperator und Diktator
zugleich, d. h. Oberhaupt der gesamten Kriegsmacht wie der gesamten Staats-
verwaltung. Run war er thatsächlich der Gebieter des römischen Reiches,
168
das fast den ganzen damals bekannten Erdkreis umspannte. Nichts fehlte
seiner Alleinherrschaft als noch der Titel eines Monarchen, eines Königs.
Aber die unklugen Versuche seiner nächsten Freunde, ihm auch die Krone zu-
zuwenden, beschleunigten seinen Untergang. Gegen 60 ehrgeizige Männer,
die sich zurückgesetzt fühlten und ihm seine Erfolge mißgönnten, darunter
begnadigte Pompejaner, verbanden sich zur Ermordung des Mannes, der
die Freiheit Roms bedrohe. Sie gewannen sogar den edlen Marcus
Brutus, der, obwohl früher Pompejaner, von Cäsar ganz besonders ge-
liebt wurde; durch beständigen Hinweis auf den älteren Brutus, der die
Freiheit Roms gegründet*), beredeten sie den schwärmerischen Mann, der
ganz übersah, daß die milde und weise Herrschaft Cäsars eine Wohlthat
für Rom war, das vorher durch Bürgerkriege so schwer gelitten hatte.
Am 15. März des Jahres 44 v. Chr., als Cäsar trotz mancher War-
nungen vor diesem Tage (den „Iden" des März) in der Sitzung des
Senats erschienen war, fielen die Verschworenen plötzlich mit Dolchen über
ihn her. Er verteidigte sich anfangs; als er aber auch den geliebten
Brutus den Dolch gegen sich zücken sah, verhüllte er mit dem schmerzlichen
Rufe: „Auch du, mein Sohn!" sein Haupt und brach, aus 23 Wunden
blutend, am Fußgestell einer Säule seines einstigen Gegners Pompejus
sterbend zusammen.
Für Rom aber kam trotzdem die Freiheit nicht wieder, welche die Ver-
schworenen dem Volke zu bringen vorgegeben. Cäsars Tod war vielmehr
der Anlaß zu neuen, blutigen Kümpfen, die am besten zeigten, wie gut die
Römer, die sich damals nicht mehr selbst regieren konnten, daran gethan
hätten, sich unter die milde Herrschaft Cäsars zu beugen. Nach Stöckel.
37 (7). Der Kaiser Augustus.
1. Durch die Schlacht bei Aktium war Cäsar Octaviänus Allein-
herrscher Roms geworden, der Friede war endlich wieder hergestellt, und
es regte sich die Hoffnung auf ein neues glückliches Zeitalter. Denn
Octavian oder, wie er vom Jahre 27 v. Chr. an genannt wurde, Augustus
übte seine mit Gewalt begründete Herrschaft in der gerechtesten Form aus,
indem er immer darauf bedacht war, das Ansehn der Gesetze und den un-
gestörten Besitz des Eigentums wieder herzustellen. Er vereinigte alle
Ämter in seiner Person, so daß sie nichts weiter waren als leere Titel und
Namen und die Republik nur dem Scheine nach in ihren äußeren Formen
fortbestand. Wie dem aber auch sein mag, soviel steht fest, daß das römische
Volk unter Augustus sich glücklicher und sicherer Zustände erfreuen konnte.
*) Vgl. II. (Quinta-) Teil S. 165.
169
Auch Wissenschaft und Kunst fanden in ihm einen Beschützer und Förderer,
und dies war hauptsächlich das Verdienst des Mäcenas, seines vertrauten
Freundes und Ratgebers.
Bald nach der Rückkehr aus Ägypten hatte Augustus den Tempel
des Janus schließen lassen, ein Zeichen, daß kein auswärtiger Feind Rom
bedrohe. Doch dauerte es nicht lange, bis seine Pforten wieder geöffnet
wurden.
Vor allem galt es, die Germanen abzuwehren, die am Rheine die
Römer gänzlich geschlagen hatten (16 v. Chr.). Schon bald nachher (13)
zog Drusus, ein Stiefsohn des Kaisers, mit einem starken Heere über
den Rhein und drang siegreich bis zur Saale oder Elbe vor. Hier
aber trat ihm, wie erzählt wird, eine germanische Wole oder Seherin
entgegen und veranlaßte ihn durch ihre Todesweissagung zur Umkehr. In
der That starb er, noch ehe er den Rhein wieder erreichte, an einer plötz-
lichen Krankheit oder infolge eines Sturzes vom Pferde.*)
Sein Nachfolger im Oberbefehl war sein Bruder Tiberius, der
spätere Kaiser. Diesem gelang es, durch listige Entfesselung der leidigen
Zwietracht unter den deutschen Stämmen einen großen Teil Germaniens
zu unterwerfen. Schon lernten Germanenfürsten von den Römern, in bereu
Dienste sie traten, Kriegs- und Regierungskunst. Auch sonst fand römisches
Wesen Eingang: unter dem Schutze römischer Kastelle erhoben sich Märkte
und Ansiedlungen, und weithin durchzogen römische Kaufleute Germanien.
Aber als der rücksichtslose Statthalter Quinctilius Varus nach Deutsch-
land kam und das heimische Recht durch das römische verdrängte, da bildete
sich jene Verschwörung, an deren Spitze Arminius in der Schlacht im
Teutoburger Walde das Römerheer vernichtete (9 n. Chr.).**) Groß war
der Schmerz des Kaisers über diesen Verlust, und er schickte sofort wieder
seinen Stiefsohn Tiberius nach Deutschland, um weiteren Folgen der
Niederlage Einhalt zu thun.
Dies war die letzte Gefahr, die zur Zeit des Augustus den Römern
drohte. Im übrigen herrschte, dank der Weisheit des Kaisers, Friede und
Sicherheit im Reiche. Ein großes stehendes Heer, dessen Legionen in den
einzelnen Provinzen verteilt waren, sorgte dafür. Zur Bewachung der
Hauptstadt diente ein besonderes Heer (cohortes urbanae), und für die
Schlagfertigkeit der Flotte war wohl gesorgt. Der Sold der Truppen
war genau geregelt. Durchs ganze Reich war ein Eilbotendienst ein-
gerichtet, durch den die Nachrichten aus den entferntesten Gegenden rasch
und sicher in die Hauptstadt gelangten. Die meisten Provinzen standen
*) Vgl. Nr. 29 das Gedicht: Drusus' Tod.
**) Vgl. I. (Sexta-) Teil S. 117 ff.
170
unter kaiserlicher Obhut; nur die, wo ein jährlicher Wechsel der Beamten
unbedenklich erschien, ließ er für Prokonsnln auslosen. Streng hielt er
auf militärische Zucht. Nach dem Bürgerkriege redete er die Soldaten
nicht mehr mit der hergebrachten Bezeichnung: commilitones (Kameraden)
an, sondern einfach als milites (Soldaten). Sein Grundsatz in Kriegs-
sachen war: Festina lente — Eile mit Weile —, darum begann er
einen Krieg, eine Schlacht nur, wenn die Hoffnung auf Sieg wohl-
begründet war.
2. Seine Hauptstadt Rom schmückte Angnstns so ans, daß er mit
Recht von sich rühmen konnte, er lasse sie, die er ans Ziegelsteinen erbaut
übernommen habe, als eine Marmorstadt zurück. Er sorgte ferner für
eine gute Verwaltung der Stadt und suchte die sittlichen Zustände im
Volke zu bessern. Den Senat, der allmählich auf 1000 Mitglieder an-
geschwollen war und viele Unwürdige enthielt, brachte er auf die frühere
Zahl von 600 zurück.
Ein Hanptzng im Charakter des Kaisers war seine Freigebigkeit; sie
äußerte sich in den reichsten Getreide- und Geldspenden, ohne daß er
hierdurch die Gunst des Volkes hätte erkaufen wollen; denn im Gegenteil
trat er unverschämten Forderungen mit Entschiedenheit entgegen. An Pracht
und Mannigfaltigkeit der öffentlichen Spiele überbot er alles bisher Da-
gewesene. Dramatische Vorstellungen, Kämpfe von Athleten, Tierhetzen,
Seekümpfe u. a. wurden dem Volke in bunter Reihe vorgeführt, und die
Römer strömten in solcher Menge herzn, daß der Kaiser fürsorglich be-
sondere Wachen in der Stadt verteilte, damit nicht schlaue Diebe ungestört
in den Häusern ihr Werk treiben könnten.
War Angnstns früher wohl auch grausam gewesen, später zeichnete
er sich durch Milde ans. Zn Tiberins, der ihn gegen gewisse Schmäh-
redner aufreizen wollte, sagte er: „Ereifere dich nicht zu sehr, wenn jemand
schlecht von mir spricht. Es genügt, wenn niemand mehr schlecht an uns
handeln kann." Allen öffentlichen Pflichten kam er gewissenhaft nach; oft
erschien er als Zeuge vor Gericht oder diente andern als Rechtsbeistand.
Sein Leben zeichnete sich durch die größte Einfachheit ans; mehr als
40 Jahre hindurch bewohnte er Sommer und Winter dasselbe Zimmer,
und sein Hausgeräte war ganz prnnklos. Ebenso war seine Kleidung fast
immer nur eine gewöhnliche Hanskleidnng, von den Händen der Seinen
verfertigt. Auch seine Mahlzeiten waren gewöhnlich einfach. Dennoch
war er häufig krank nnd daher auf allerhand Mittel bedacht, seine Ge-
sundheit zu kräftigen. Dazu gehörten auch tägliche Leibesübungen.
3. Konnte Augustus als Regent mit Recht glücklich gepriesen werden,
da sowohl seine innere Verwaltung viele gute Früchte trug, als auch seine
Kriege, abgesehn von den Niederlagen in Deutschland, erfolgreich waren,
171
so war er um so unglücklicher in seinen häuslichen Verhältnissen. So
vor allem im Zusammenleben mit seiner dritten Gemahlin Livia, die
ihm zwei Söhne: Tiberius und Drusus ins Haus brachte. Einen eignen
Sohn hatte er nicht. Zwei geliebte Enkel starben fern von ihm, kurz
nacheinander. Ein dritter, Agrippa, machte sich ihm durch Trotz so
verhaßt, daß er ihn verbannte. Drusus, der eine Stiefsohn, war, wie
erzählt, schon im Jahre 9 v. Chr. gestorben, und so war nur noch Tiberius
übrig, welchem Livia, seine Mutter, alles zuzuwenden suchte. Auf ihr
Betreiben wurde er als rechter Sohn und Mitregent angenommen und
als solcher bei allen Heeren vorgestellt.
Inzwischen fing Augustus an immer mehr zu kränkeln. Schon un-
wohl reiste er nach Süditalien und blieb einige Tage in Capreä, heiterer
und freundlicher als sonst gegen seine Umgebung gestimmt. Auch in
den folgenden Tagen zeigte er sich sehr freigebig und ergötzte sich an
den Spielen der Jugend. Aber bald nahm seine Krankheit zu. Auf der
Rückkehr nach Neapel, wohin er sich hatte übersetzen lassen, mußte er in
Nola liegen bleiben. Dorthin berief er den Tiberius und hatte — sein
letztes Staatsgeschäft — mit ihm eine lange geheime Unterredung. Am
letzten Lebenstage erkundigte er sich wiederholt nach der Volksstimmung.
Dann fragte er seine umstehenden Freunde, ob er nicht seine Rolle im
Leben gut gespielt habe? und fügte hinzu: „Das Spiel ist aus! So
klatscht mir Beifall!" Nachdem er noch seiner Gattin ein letztes Lebe-
wohl zugerufen, hauchte er plötzlich sein Leben aus. So war ihm ein
leichter schmerzloser Tod, wie er ihn sich immer gewünscht hatte, zu teil
geworden.
In großen Prunkzügen wurde die Leiche nach der Hauptstadt gebracht,
in der Halle des Palastes ausgestellt und endlich unter ungeheuren Ehren
verbrannt. In der That hatte er ja auch Dank genug verdient, wie denn
sein Verlust bereits unter seinen nächsten Nachfolgern dem Volke recht
fühlbar werden sollte. Übrigens fehlte es, wie einst beim Tode des Romulus,
auch hier nicht an Leuten, die mit eigenen Augen seine Aufnahme unter
die Himmlischen gesehen haben wollten. Jedenfalls ward es Sitte, ihn
und später den Kaiser überhaupt als den „Göttlichen" (Divus) zu be-
zeichnen und gradezu als Gottheit zu verehren. Die Welt hatte ja noch
keine Ahnung davon, daß grade unter ihm, im 30. Jahre seiner Regierung,
in dem verachteten Winkel Palästina der geboren ward, der sich in Wahr-
heit als die reinste und höchste Offenbarung Gottes bewähren sollte:
Jesus Christus! Nach E. Bernhardt und A. Schaubach umgearbeitet.
38 (8)* Der Jusbruch des Vesuv im Jahre 79 n. Chr.
Unter der Regierung des Kaisers Titus fand jener merkwürdige
Ausbruch des Vesuv statt, bei dem der Naturforscher Plinius der ältere
als Opfer seiner Wißbegierde den Tod fand. Aus der Feder seines gleich-
namigen Neffen besitzen wir eine ausführliche Beschreibung jenes Ereignisses.
Am 24. August des Jahres 79 wurde Plinius, der sich als Befehls-
haber der Staatsflotte mit seinem Neffen zusammen in Misenum be-
fand, um die siebente Tagesstunde, also etwa ein Uhr nach unserer
Zeitrechnung, auf eine Rauchsäule von auffallender Gestalt aufmerksam
gemacht, die, einer Fichte ähnlich, erst einen hoch aufsteigenden dichten
Stamm bildend, dann sich in mehrere Zweige ausbreitend, vom Vesuv
aufstieg. Von seiner Amtspflicht, nicht minder aber von seiner glühenden,
nie rastenden Wißbegierde angetrieben, ließ er sofort ein Schiff aus-
rüsten, um den dortigen Küstenbewohnern womöglich Hülfe zu bringen
und zugleich das Naturereignis in größerer Nähe zu betrachten. Die
Fahrt war durch den immer dichter und heißer werdenden Regen von
Asche und kleinen Steinen und durch das stürmisch bewegte, bis in den
Grund erregte und erschütterte Meer aufs äußerste erschwert und ge-
fährdet; er setzte sie gleichwohl fort, immer die Vorgänge aufmerksam ver-
folgend und seine Beobachtungen dem Schreiber diktierend, bis nach Stäbiä,
wo er ausstieg und sich nach der Villa eines Freundes begab.
Hier brachte er den Rest des Tages und die folgende Nacht unter
den gewöhnlichen Beschäftigungen oder ruhig schlafend zu, bis der Aschen-
regen die Umgebungen des Hauses bis zu einer Höhe anfüllte, daß die
Bewohner fürchten mußten sich den Ausweg versperrt zu sehen. Nun
brach man auf, der Küste zu, um bei einer günstigen Wendung des
Windes durch das Schiff Rettung zu suchen. Es war jetzt der Zeit nach
Tag, in Wirklichkeit aber die finsterste Nacht, die nur zuweilen durch die
aus dem Krater aufleuchtenden Flammen und durch den glühenden Lava-
strom einigermaßen erhellt wurde. Der Boden bebte unter fortwährenden
Erdstößen; der Aschen- und Steinregen nahm so zu, daß die Wandernden
sich durch Kissen, die sie über den Kopf banden, schützen mußten. End-
lich verließ den Plinius die Kraft; er legte sich erst auf den Boden
nieder, suchte sich dann mit Hülfe zweier Sklaven, die bei ihm zurück-
geblieben waren, wieder aufzurichten, sank aber alsbald tot zusammen unb
ward am folgenden Tage (am 26. August) an derselben Stelle auf-
gefunden, ohne alle äußere Verletzung, woraus sich ergab, daß er den
Tod durch Erstickung gefunden hatte.
Als an diesem Tage der Hauptsturm ausgetobt hatte, als die Aus-
würfe nachließen, die Erderschütterungen nur noch in verminderter, milderer
173
Weise stattfanden, als die Sonne wenigstens wieder einen matten Schein
gab, ähnlich wie zur Zeit von Sonnenfinsternissen: da trat das Werk der
Zerstörung allmählich vor die Augen der unglücklichen Bewohner der
Gegend, so viele ihrer das Leben aus den von allen Seiten auf sie ein-
dringenden Gefahren gerettet hatten. Der Berg selbst hatte seine ganze
Gestalt verändert: von dem ehemaligen Kraterrande war nur der nördliche
Teil, die heutige höchste Spitze übrig, der übrige Teil war durch den
neuen Eruptionskegel zerstört und umgestaltet, so daß sich jetzt zwei Spitzen
einander gegenüber erhoben. Der Pflanzenwuchs der Abhänge war durch
die Lavaströme und die Aschen- und Bimssteinmassen völlig vernichtet;
aber auch im übrigen war oder schien doch alle Fruchtbarkeit und aller
Anbau rings um den Meerbusen zerstört. Die Städte Pompeji und
Herculaneum und das kleine Stabiä waren durch den Aschen- und
Steinregen begraben; durch einen Lavastrom, der über die Aschendecke hin-
ging, war Herculaneum ein noch tieferes Grab bereitet; das Meer selbst
war von seiner alten Stelle zurückgedrängt; die ganze frühere Schönheit
des Meerbusens von Neapel schien den Zeitgenossen für immer vernichtet.
Erst allmählich kehrte unter den Bewohnern, trotz mancher ferneren Be-
unruhigungen, wieder Zuversicht und Vertrauen und dann auch die Frucht-
barkeit und der hohe Reiz der herrlichen Gegend zurück. Sogar die Ober-
fläche von Pompeji und Herculaneum wurde wieder bepflanzt, die von
Herculaneum sogar mit einem neuen Orte bebaut; die Städte selbst ruhten,
Pompeji etwa sechs Meter, Herculaneum dreimal so tief, menschlicher
Kunde entschwunden oder doch unbeachtet unter der Erde, bis man sie
endlich nach beinahe siebzehn Jahrhunderten wieder entdeckte und nach und
nach, bis zum heutigen Tage, teilweise ans Licht fördert, um der stau-
nenden Welt ein Bruchstück des antiken Lebens, unangetastet von Menschen-
hand, vor Augen zu führen. Nach Peter.
39 (9). Die Erziehung der Römer.
1. Am 9. Tag nach seiner Geburt erhielt der römische Knabe
seinen Namen und seine Weihe. Es war das ein Familienfest, das
durch Opfer und Festmahl unter Segenssprüchen und Glückwünschen
gefeiert wurde. Auch allerlei Geschenke erhielt das Kind. Namentlich
hing man ihm eine goldene Bulla um den Hals, eine Art Medaillon,
das als Schutzmittel (Amulet) gegen Zauber dienen sollte. Desgleichen
allerlei metallene Zierraten, die von ihrem Klirren und Klappern Cre-
pundia hießen.
Die Erziehung lag im Hause vor allem der Mutter ob, deren hohe
und heilige Aufgabe in Rom viel mehr erkannt wurde als in Griechen-
174
land. Die körperliche Ausbildung war rauh und hielt alle Verweich-
lichung fern. Der Vater, der den aufwachsenden Sohn auch außerhalb
des Hauses, soviel er konnte, um sich hatte, ihn mitnahm zu den
Arbeiten des Feldes wie zu geselligen Zusammenkünften und zur Mahl-
zeit in fremden Häusern, lehrte selbst den Knaben reiten und schwimmen
und die Waffen handhaben. Vor allem galt es, den Knaben in die
derbe Tüchtigkeit altrömischer Sitte und Denkart einzuführen, ihn zu
einem tüchtigen Manne für das Haus und für den Staat heranzubilden.
Darum hielt man fremde Einflüsse möglichst fern und war sehr vor-
sichtig in der Wahl der Sklaven und Pflegerinnen, welche zur Wartung
und Bedienung nötig waren. Diese hatten an der eigentlichen Er-
ziehung keinen Teil; sie lag ganz in den Händen der Eltern. Früh
pflegten sie in dem jungen Gemüte die Keime der Gottesfurcht, der
Ehrfurcht vor dem Gesetze und der Liebe zum Vaterlande, erzogen
den Knaben zu strengem Gehorsam, zur Einfachheit und Mäßigkeit,
lehrten ihn bescheiden sein, anständig und züchtig in Rede und Betragen.
Auch den Unterricht in den wenigen Kenntnissen, welche der Sohn
dereinst nötig hatte, im Lesen, Schreiben und Rechnen und in der
Kenntnis der Gesetze, übernahm der Vater häufig selbst. Da jedoch
mancher dazu nicht fähig war, so gab es schon früh auch Hauslehrer
und Schulen, welche jedoch immer Privatanstalten waren; denn der
Staat kümmerte sich weder um die häusliche Erziehung noch um den
öffentlichen Unterricht.
Diese Schulen der ältern römischen Zeit waren niedere Elementar-
schulen, in welchen Lesen, Schreiben und Rechnen gelehrt, mancherlei
Sprüche und wohl auch Lieder sowie die Zwölftafelgesetze auswendig
gelernt wurden. Sie reichten hin zur Vorbildung für das praktische
Lehen. Als jedoch nach dem 2. punischen Kriege bei den vornehmen
Römern immer mehr die griechische Bildung Eingang fand, legte
man die Erziehungsart der Griechen zu Grunde und erweiterte den
Kreis der Unterrichtsgegenstände nach griechischem Muster. Zu den
Volksschulen kamen jetzt die höheren Schulen, in welchen die reiferen
Knaben in die griechische und römische Litteratur eingeführt wurden.
Die Lehrer waren meistens Griechen. Der Unterricht bestand im
Lesen und Erklären griechischer und römischer Dichter und Prosaiker,
in Geschichte, Geographie, Mythologie u. s. w. Gründliche grammatische
und stilistische Übungen in beiden Sprachen förderten die Fertigkeit
im mündlichen und schriftlichen Ausdruck.
Das Hauptschulbuch wurde jetzt wie bei den Griechen der Homer;
dazu kamen eine lateinische Übersetzung der Odyssee, sowie später
Vergil, Horäz, Cicero und andere römische Schriftsteller.
175
In vornehmeren Familien wurde außerdem meist noch wie in
Griechenland ein Hauslehrer gehalten, der sogenannte Pädagögus, ein
griechischer Sklave oder Freigelassener, der dem Knaben stets, auch in
der Schule, als Führer und Erzieher zur Seite blieb und ihn in jeder
Weise beaufsichtigte. Er lehrte ihn Anstand und gute Sitte und
sollte alle verderblichen Einflüsse von ihm abwehren. Auch mußte er
mit ihm stets griechisch sprechen und hatte hierbei besonders darauf
zu achten, daß richtig und fein gesprochen wurde.
Später kam zu den genannten Unterrichtszweigen noch die Rhetorik
hinzu, durch welche die jungen Leute schließlich auch in der Bered-
samkeit ausgebildet wurden. Demnach zerfiel der gesamte höhere Unter-
richt fortan in einen elementaren, grammatischen und rhetorischen Teil,
von denen der letzte etwa unserm Universitätsstudium entsprach.
2. Besuchen wir einmal eine Schule, in welcher die A-B-C-Schützen
etwa vom siebenten Jahre an sich ihre Weisheit holen. Sie lernen die
ersten Anfänge des Lesens und Schreibens, das A-B-C, die „Elementa“,
wonach die niederen Schulen Elementarschulen hießen. Wollen wir
mit den Kleinen zugleich in der Schule eintreffen, so müssen wir schon
früh aufstehen. Noch vor Tagesanbruch ziehen sie durch die Straßen
der Schule zu, begleitet von ihren Pädagogen, oft auch noch von Sklaven,
die ihnen ihre Rechentafel und Kästchen mit allerlei Schulgerätschaften
nachtragen. Übrigens trugen vielerwärts auch die Knaben selbst ihre
Kästchen und ihre Tafel am linken Arme zur Schule. Noch bei Lampen-
licht beginnt die Schule, und oft werden die Nachbarn zu ihrem Ärger
durch den Lärm und das Toben früh aus dem Schlafe aufgestört.
Mädchen und Knaben gingen gemeinsam in eine Schule. Das Schul-
lokal war in der Regel ein überdeckter, aber an den Seitenwänden
offener Vorbau eines Hauses unmittelbar an der Straße, oder auch ein
fast ganz offener Raum auf dem flachen Dache eines Hauses.
Beim Lese- und Schreibunterricht ließ man zuerst die Buchstaben
lernen und zwar in und außer der Reihe, wie sie in Pompeji kleine
Schreiber in die Wände eingekratzt haben. Beim Lesen unterstützten
die geübteren Schüler den Lehrer, indem sie die Silben und Wörter
einzeln und deutlich vorsprachen, damit sie der Chor nachspreche. Beim
Schreiben gebrauchte man zuerst Wachstafeln, auf welchen die Schüler
die vorgezeichneten Züge mit einem metallenen Griffel nachahmten,
wobei der Lehrer dann und wann selbst die Hand führte. Von der
Wachstafel und dem Griffel ging der Schüler zum Papier und dem
Schreibrohr über; man gab ihm aber gewöhnlich altes Papier zum
Gebrauch, das auf der einen Seite schon beschrieben war. Man be-
schrieb nämlich bei Büchern nur die eine Seite des Blattes, die andere
176
blieb leer. Vom Lebrer wurde viel diktiert zum Auswendiglernen und
zur Übung in der Orthographie. Als sehr wichtig galt das Rechnen.
Man rechnete teils mit den Fingern, teils auf Rechentafeln. Für den
höheren Unterricht gab es besondere Rechenlehrer, sowie man auch
für Schnellschreiben und Stenographie eigene Lehrer hatte.
In manchen höheren Schulen wurden die Zöglinge nach ihren
Leistungen in verschiedene Rangstufen geteilt und monatlich darnach
gesetzt. Die sich auszeichneten, erhielten Prämien ausgeteilt, namentlich
schöne und seltene Bücher. Die kleinen Anfänger suchte der Lehrer
wohl auch durch Süßbrot und sonstiges Naschwerk sich zu gewinnen
und zu Fleiß und Aufmerksamkeit anzuspornen. Im ganzen aber war
in allen Schulen die Zucht sehr streng, und die „traurige Rute, das
Scepter der Erzieher“, spielte eine Hauptrolle. Die Rute bestand ge-
wöhnlich aus dem Stengel des sogenannten Steckenkrauts, einer leichten
und markigen, zähen und mit Knoten versehenen Doldenpflanze, und
hatte ihr Arbeitsfeld hauptsächlich auf der flachen Hand der Kinder.
Schlimmer als die Rute war die Scutica, eine Peitsche, für den bloßen
Rücken der Schüler bestimmt; in den Schulen hieß sie „der Aal“. Auf
einem in Pompeji gefundenen Gemälde einer Schulstube erhält ein
Thunichtgut seine Strafe auf den Rücken, während ein Schüler ihm
die Füße zusammenhält und ein anderer ihn, an beiden Armen gefaßt,
auf seinen Schultern hegen hat. Drei andere Mitschuldige warten
beklommenen Herzens, ob auch sie dran kommen. Als schlimmer
Prügelant war der Lehrer des Horaz, Orbilius, berüchtigt. Als alter
Soldat hielt er in seiner Schule militärische Strenge, und da war das
Prügeln selbstverständlich; es mag ja auch bei manchem Jungen nötig
gewesen sein.
Ferien gab es mehrere Tage am Saturnalienfeste im Dezember
(also um unsere Weihnachtszeit) und am Quinquatrusfeote vom 19. bis
25. März (also um Ostern). Auch waren die andern höheren Festtage
schulfrei. Die Quinquatrien, der Minerva zu Ehren gefeiert, waren der
Schuljugend gar liebe Tage. Das Schuljahr war dann beendet, die
Schüler zahlten dem Lehrer das Honorar; die neu Eintretenden brachten
als Eintrittsgeld ein besonderes Geschenk. Auf dem Lande gab’s in
den Volksschulen noch viermonatliche Ernteferien.
3. Der Unterricht nahm in der Regel sein Ende mit der Anlegung
der männlichen Toga, früher nach zurückgelegtem 17. Jahre, später
nach dem 16. oder gar 15. Dieser Akt, durch welchen der junge
Mensch aus dem Knabenstande trat, war mit einer großen Familien-
feier verbunden und wurde gewöhnlich am Bacchus-Feste (Liberalia,
16. März) vorgenommen.
177
Die Feier begann im Hause mit einem Opfer am Altare der Daren
oder Hausgötter, vor denen der Jüngling die Zeichen der Knabenschaft,
die Bulla und die purpurverbrämte Toga, ablegte, um sich hierauf mit
der toga virilis, welche ohne Purpurstreif war, zu bekleiden. Die
Bulla wurde den Laren geweiht und über dem Herde aufgehängt.
Nach diesen Ceremonien führte der Vater oder Vormund den Jüngling
unter einer möglichst großen Begleitung von Verwandten und Freunden
auf das Forum, wo er dem Prätor vorgestellt ward. Dann begab
sich der Zug nach dem Kapitol, wo der Name des neuen Bürgers
in die Bürgerlisten eingetragen, dann im Tempel der Juventas eine
Münze gezahlt und ein Opfer dargebracht ward. Den Beschluß machte
ein Gastmahl. Diese Feier sowie auch das auf dieselbe folgende Jahr
hieß Tirocinium, weil der Knabe dadurch zum Tiro, zum Rekruten
ward; er erhielt Stimmrecht und konnte sich nun dem Kriegs- und
Staatsdienste widmen. Doch war er damit noch nicht volljährig ge-
worden, sondern blieb noch unter väterlicher Gewalt bis zum 25. Lebens-
jahre. Erst mit diesem wurde er mündig. Nach H. St oll verändert.
c. Kus der deutschen Heschichte,
40. Die Femgerichte.
Über die berühmten Femgerichte des Mittelalters sind noch bis in die
neueste Zeit manche Schauermären verbreitet. Sie hätten nur nachts, im
dichten Walde oder in unterirdischen Gewölben oder Höhlen, im Kreise
schwarzvermummter Richter und unter allerlei geheimnisvoll grausigen Formen
stattgefunden. In Wahrheit hatte es mit ihnen folgende Bewandtnis.
Schon bei den alten Deutschen*) bestanden freie Volksgerichte der
einzelnen Gaugemeinden. Diese hatte Karl der Große**) neu geordnet.
In jeder Grafschaft des Reichs sollte der oberste Beamte, der Gaugraf,
mit 7—12 frei gewählten Beisitzern, den Schöffen, im Namen des Kaisers
selbst das Richteramt über die schweren Verbrechen, den sogen. Blutbann,
ausüben. Das Verfahren dabei sollte öffentlich und mündlich nach altem
deutschem Recht und streng unparteilich erfolgen, ohne Ansehen von Person,
Stand oder Rang. Später jedoch zerfiel das karolingische Reich, und unter
den folgenden Königen oder Kaisern kamen viele neue Landesherren auf:
Herzöge, Bischöfe, Fürsten und Grafen aller Art. Diese beanspruchten
selbst in ihren Landen das höchste Richteramt, bildeten aus ihren Beamten
eigene fürstliche Hofgerichte und suchten diese an Stelle der freien kaiserlichen
*) Vgl. I. (Sexta-)Teil S. ii6f.
**) Ebenda S. 121 ff.
Lesebuch für höhere Lehranstalten. (Prenß. Ausg.) in.
12
178
Volksgerichte einzusetzen. Bei dem Sinken der Kaisermacht gelang ihnen das
auch fast überall. Nur in einem Lande, auf Westfalens „roter Erde"*),
wehrte sich das hier ansässige freie, stolze und zäh am Alten Hangende
Bauernvolk dagegen und bewahrte jahrhundertelang das alte Volksgericht
unmittelbar unter kaiserlicher Hoheit, eben die „heilige Feme"**).
Nach wie vor versammelten sich hier nach alter Weise und Form, an
den gewohnten Ding-, Malstätten oder Freistühlen, zu bestimmten
Tagen, meist 4mal des Jahrs, in jedem Gau die erwählten Freien zum
Gericht über schwere Frevel wie Raub, Mord, Zauberei und dergleichen.
Vorsitzer war in Kaisers Namen der von diesem bestätigte Gau-, Stuhl-
oder Fr ei graf, ein unbescholtener freier Westfale, einerlei ob Adeliger
oder Bauer. Als Beisitzer walteten 7 Freischöffen eben solcher Art und
als Helfer noch ein „Umstand" von mindestens 30 „Wissenden", d. h. des
Gerichtsverfahrens Kundigen, die nicht notwendig Westfalen zu sein brauchten.
Die Gerichtsverhandlungen selbst geschahen ursprünglich und der Regel
nach öffentlich vor allem Volk, oft auf Märkten oder freien Plätzen, wie
z. B. in Dortmund und Arnsberg; ferner „bei rechter Tageszeit", d. h.
zwischen 9 und 3 Uhr, „unterm blauen Himmel, bei scheinender Sonne".
Grade diese ihre Öffentlichkeit und ihre unparteiisch strenge Gerechtigkeit
brachten in den wilden Zeiten des Faustrechts und allgemeiner Rechts-
unsicherheit der Feme immer höheres Ansehen, sodaß sie gegenüber den
Gewaltthaten der Mächtigen als Hort des Rechts, der Sicherheit für die
Schwachen und Unterdrückten galt. So verbreitete sich von Westfalen aus
ihr Einstuß allmählich durch ganz Deutschland. Im 14. und 15. Jahr-
hundert erreichte sie ihre höchste Blüte und Macht; überall gab es schließlich
Wissende, an die 100000, deren wachsamer Beobachtung sich kein Schuldiger
entziehen konnte. Das Vorrecht der Freistühle und Freigerichte blieb dabei
ausschließlich Westfalen vorbehalten.
Allerdings zwang grade die wilde Gesetzlosigkeit jener Zeiten die Feme
allmählich, neben dem öffentlichen „Dinge" sich gegen übermütige Frevler
oder etwaige Verräter unter den eigenen Mitgliedern auch eines geheimen
Verfahrens zu bedienen, woran nur die eingeweihten Wissenden teilnehmen
durften. Eben diese Heimlichkeit indes und überhaupt die altfeierlichen
Formen des ganzen Gerichts steigerten noch mehr ihr Ansehen und ver-
liehen dem Ganzen schließlich jenen furchtbaren Anstrich, der dann im
Volksgerede zu den erwähnten Schauermären Anlaß gab.
*) Wahrscheinlich so genannt nach der rötlichen Farbe des eisenhaltigen Bodens; erst später
sinnbildlich auf die vom Kaiser verliehene Blutgerichtsbarkeit gedeutet. Manche meinen auch,
es sei aus Mißverständnis des ursprünglichen Ausdrucks „rüge" d. h. rauhe Erde entstanden.
**) „Feme" heißt eigentlich Strafe, Verurteilung; daher „verfemen" soviel als ver-
bannen, verfluchen.
179
Furchtbar waren in der That manche Formen und Gesetze der Feme.
So schon der Eid, mit dem Schöffen und Wissende Verschwiegenheit
geloben mußten. Er begann: „Ich schwöre die heilige Feme halten zu
helfen und zu verhehlen vor Weib und Kind, vor Vater und Mutter,
vor Schwester und Bruder, vor Feuer und Wind, vor allem, was die Sonne
bescheint, der Regen benetzt, vor allem, was zwischen Himmel und Erde ist."
Unter einander erkannten sie sich an geheimen Zeichen und gereimten Losungen.
Das Gerichtsverfahren selbst verlief etwa so. Ein Beschuldigter wurde
vom Freigrafen 45 Tage vorher durch einen Brief vorgeladen, den ein
Wissender als Fronbote*) an sein Haus oder, wenn der Wohnsitz unbekannt
war, an vier Orten des Landes, an Kreuzwegen, Heiligenbildern und dergl.
anschlug. Drei daneben ausgehauene Späne bekundeten, daß die Ladung von
der Feme herrühre. Erschien der Geladene nicht, so ward auf Anklage eines
Schöffen hin über ihn im heimlichen oder Stillgericht, d. h. unter Ausschluß
aller Nichtwissenden, die „Acht", das Todesurteil, ausgesprochen und 3 Frei-
schöffen mit dessen Vollstreckung betraut. Fanden sie ihn, so knüpften sie ihn
mit einer Weidenschlinge oder einem Strick am nächsten Baume auf und
steckten daneben einen Dolch mit dem Femzeichen: 8. 8. 0. 6., d. h. Stock,
Stein, Gras, Grein, dessen Sinn rätselhaft geblieben ist. Erschien der Ver-
klagte, so fand offene Verhandlung statt. Vor dem Freigrafen lagen ein bloßes
Schwert, auf welches man schwur, und Schlinge oder Strick zur Hinrichtung.
Auch hier trug ein Schöffe die Anklage vor. Konnte der Beschuldigte sich mit
Grund verteidigen und die nötigen Eideshelfer beibringen, so erfolgte
Freisprechung. Wurde er dagegen als schuldig überführt, so folgte dem Todes-
urteil die Strafe in der angegebenen furchtbaren Weise auf dem Fuße nach.
Galt es gar ein schuldiges Mitglied der Feme selbst zu richten, so sollte dies
noch 3 Fuß höher aufgehängt werden als ein sonst verfemter Missethäter.
So empfing gar mancher Frevler und Bösewicht, gegen den andere Gerichte
vielleicht machtlos geblieben wären, durch die unbestechliche Feme doch den ver-
dienten Lohn. Allmählich freilich, gegen Ende des 14. Jahrhunderts etwa,
artete, wie so vieles Menschliche, auch diese Einrichtung zu allerlei Willkür und
Mißbrauch aus und verlor ihr Ansehen. Als sie sich gar anmaßte, Herzöge
und selbst Kaiser vorzufordern, fand sie heftigen Widerstand. Ohnehin wurde
sie überflüssig, als mit dem Fortschritt der Zeit Landesfürsten und Städte
sich zu besserer Rechtspflege vereinigten. Dennoch erhielt sie sich als Bauern-
gericht bis zum Anfange des 19. Jahrhunderts. Am 6. Januar 1803, dem
Dreikönigstage, soll der Westfale Löbbecke das letzte Freigericht unter jener
alten Femlinde zu Dortmund abgehalten haben, die als letztes Überbleibsel
der merkwürdigen Einrichtung noch bis in unsere Tage gedauert hat.
------------ M. Evers.
*) Fron soviel als Herr, also Bote des Herrn, d. h. des Freigrasen.
12*
41. Johann Gutenberg.
Die Erfindung der Buchdruckerkunst.
Früher gab es nur geschriebene Bücher. Die Mönche vorzüglich
beschäftigten sich mit dem Abschreiben, und es ist zum Erstaunen, wie
weit sie es in der Schönschreibekunst gebracht hatten. Die großen An-
fangsbuchstaben wurden sehr schön mit bunten Farben angemalt, auch
wohl mit Gold ausgelegt, oft sogar mit niedlichen Bildchen umgeben.
Solche Abschriften kosteten viele Zeit und vielen Fleiß und waren des-
halb auch sehr teuer. Eine einzige schöne Bibel kostete bis 900 Mark.
Der Buchdruckerkunst ging die Formschneidekunst voraus. Es wurden
nämlich in hölzerne Täfelchen allerlei Bilder von Heiligen geschnitten, mit
Farbe bestrichen und dann aus Pergament abgedruckt. Bald schnitt man
nicht nur einzelne Wörter dabei, sondern auch ganze Bibelstellen; zuletzt
schnitt man sogar ganze Seiten in Holz. Sollte nun ein geschriebenes
Buch gedruckt werden, so mußten gerade so viel Holztafeln da sein, als
das Buch Seiten hatte; nach dem Abdrucke aber hatten diese Tafeln, die
so viele Mühe und Arbeit gekostet, keinen Wert mehr. Da kam ein
deutscher Edelmann, Johann Gensfleisch aus der ritterlichen Familie Sorgen-
loch, von seinem Hause „zum guten Berge" in Mainz, wo er 1401 geboren
war, Johann Gutenberg genannt, zu Straßburg auf den Gedanken, lieber
einzelne Buchstaben in buchenen Stäbchen — woher ihr Name Buchstaben —
auszuschneiden, mit Fäden zu Zeilen an einander zu reihen, mit Tinte und
Lampenruß zu schwärzen und abzudrucken. Der erste Versuch gelang nicht
nach Wunsch, weil die hölzernen Lettern leicht zersprangen; daher nahm er
bleierne, dann zinnerne. 1449 wurde auch die Druckpresse erfunden; diese
war einer gewöhnlichen Weintraubenpresse ähnlich. Gutenberg aber hat das
Verdienst, sie zum Drucke eingerichtet zu haben. In Straßburg kam jedoch
noch kein gelungener Abdruck eines Buches zustande, sondern erst in Mainz.
Dorthin kehrte nämlich Gutenberg zurück und trat 1450 mit Johann
Fust, einem reichen Goldschmiede, und Peter Schösser, Pfarrer in Germers-
heim, in Verbindung. Der letztere gab den Rat, die Buchstaben einzeln
zu gießen, statt sie mühsam zu schneiden. Auch erfand er eine bessere
Druckerschwärze aus Kienruß und Leinöl. Nun war man imstande, ein
ganzes Werk zu drucken. Das erste war eine lateinische Bibel in drei
Bänden, die wahrscheinlich 1456 vollendet wurde. Dem edlen Erfinder
der Kunst aber ward nicht einmal die Freude, zur Vollendung derselben
mitzuwirken. Fust hatte ihm zu dem Unternehmen 2O00 Gulden vor-
gestreckt, welche er nicht sogleich zurückgeben konnte. Fust verklagte ihn
deshalb und bekam zum Ersatz Gutenbergs Lettern und Gerätschaften;
Gutenberg selbst wurde sogar von dem Unternehmen ganz ausgeschlossen.
181
Die ersten Werke setzten alle in Erstaunen. Sie hielten das Gedruckte
für Geschriebenes und konnten nicht begreifen, wie man in so kurzer Zeit
so unzählige Blätter auf einmal und so ähnlich beschreiben konnte, daß
nicht der mindeste Unterschied wahrzunehmen war. Insbesondere waren
die Mönche erbittert und nannten Fust, der mit seinen Bibeln auf Uni-
versitäten und Märkten umherzog, einen Schwarzkünstler. Die Kunst selbst
blieb ein Geheimnis, bis 1462 Mainz erobert und Fusts Werkstütte zer-
stört ward. Die Gesellen, bisher fast wie Gefangene gehalten, flohen jetzt
nach allen Gegenden Deutschlands und Europas und legten Druckereien an.
So ward diese wichtige Erfindung noch vor dem Ende des Jahrhunderts
nicht nur über ganz Deutschland verbreitet, sondern auch über die meisten
europäischen Länder, namentlich über Italien, wo man zuerst die alte nach-
geahmte Mönchschrift, aus welcher unsere jetzige Druckschrift entstanden ist,
in die einfachere und zierlichere sogenannte lateinische Schrift umänderte und
mancherlei Verbesserungen einführte. Fust starb 1466 zu Paris an der Pest;
zwei Jahre später starb auch Gutenberg zu Mainz, fast vergessen.*)
Die Buchdruckerkunst ward gleichsam das Thor, durch welches alle
Bildung und Aufklärung sich schnell nach allen Gegenden verbreitete. Alles
Große und Schöne, das einzelne Männer gedacht und erfunden hatten,
konnte durch sie in kurzer Zeit zu einem bleibenden Gemeingute aller Völker
der Erde werden. War in früherer Zeit eine Handschrift vernichtet, so
war in der Regel das ganze Werk verloren; jetzt konnten mehrere hundert
Exemplare zerstört werden, ohne daß darum das Werk vernichtet war. Jetzt
wurde es möglich, Kenntnisse zu sammeln, auch ohne in dem Hörsale eines
Lehrers zu sitzen oder in den Bücherschatz eines Klosters sich zu vergraben.
Gleichwie aber die Sonne neben dem guten Samen auch manches Unkraut
aus dem Schoße der Erde hervortreibt, so hat auch die Buchdruckerkunst
manches Schädliche und Sittenverderbende zu Tage gefördert. Walter.
42. Luther auf dem Reichstage zu Worms.
Unter dem 6. März 1521 erließ Kaiser Karl V. eine Vorladung an
Luther, damit von ihm in Worms „seiner Lehren und Bücher halber Er-
kundigung eingezogen werde". Dazu verhieß er ihm freies Geleit. Falls er
nicht folgen würde oder nicht widerrufen wollte, erklärten sich die Stünde
mit dem Kaiser darin einverstanden, daß er dann als offenbarer Ketzer be-
handelt werden müßte. Das kaiserliche Schreiben wurde durch den Reichs-
herold Kaspar Sturm erst am 26. März Luther in Wittenberg zugestellt.
Er war sogleich entschlossen der Vorladung zu folgen, aber auch jeden
Widerruf, wenn man ihn nicht eines Irrtums überführe, zu verweigern.
*) 1837 ist ihm ein Denkmal in Mainz errichtet worden.
182
Am 2. April, dem Dienstag nach Ostern, brach Luther auf, indem
etliche Freunde ihn begleiteten und der Wittenberger Magistrat Wagen und
Pferde lieferte. Der Weg führte über Leipzig durch Thüringen von Naumburg
bis Eifenach, dann südwärts über Berka, Hersfeld, Frankfurt, Oppenheim.
Der Herold ritt in seinem Waffenrocke voraus und kündigte hiermit den Mann
an, dessen Wort schon überall so mächtig die Geister erregt hatte, und auf
dessen ferneres Verhalten und Geschick Freund und Feind gespannt war.
Überall lief das Volk zusammen, um ihn von Angesicht zu schauen.
Am 16. April vormittags zehn Uhr fuhr Luther in Worms ein. Er
saß in seiner Mönchstracht auf offenem Wagen mit seinen drei Witten-
berger Begleitern. Eine große Anzahl anderer geleitete ihn zu Pferde; sie
halten teils schon früher sich an ihn angeschlossen, teils waren sie, wie
einige Herren des kursächsischen Hofes, ihm aus Worms zum Empfange
entgegengegangen. Der Wächter auf dem Turme des Domes blies, als er
den Zug ans Thor kommen sah. Tausende strömten herbei, um Luther
zu sehen. Jene Herren des Hofes brachten ihn in das Haus der Johan-
niter-Ritter, wo er neben zwei Räten des Kurfürsten Wohnung erhielt.
Beim Aussteigen sprach er: „Gott wird mit mir sein."
Schon an diesem Tage und ebenso an dem folgenden drängten sich
bei ihm Besuche von vornehmen Herren, Geistlichen und Laien, die ihn
persönlich kennen lernen wollten. Gleich am Abend des folgenden Tags
mußte er vor dem Reichstage erscheinen, der, nicht fern von seiner Herberge,
im bischöflichen Palaste, wo der Kaiser wohnte, versammelt war. Man
führte ihn dorthin auf Seitenwegen, weil auf der Straße vor der Menge,
die ihn zu sehen begehrte, nicht durchzukommen war. Dort hat, als er
nach dem Sitzungssaale hinging, wie alte Überlieferung berichtet, der be-
rühmte Feldhauptmann Georg von Frundsberg*) ihm auf die Achsel geklopft
und gesagt: „Mönchlein, Mönchlein, du gehest jetzt einen Gang, dergleichen ich
und mancher Oberste auch in unserer allerernstesten Schlachtordnung nicht
gethan haben. Bist du auf rechter Meinung und deiner Sache gewiß, so fahre
in Gottes Namen fort und sei nur getrost, Gott wird dich nicht verlassen."
Als Rechtsbeistand war ihm von seinem Kurfürsten der Jurist Hieronymus
Schurs, sein Wittenberger Kollege und Freund, zur Seite gegeben. Als er
aber nach zweistündigem Warten beim Reichstage vorgelassen wurde, legte ihm
hier im Namen des Kaisers der erzbischöflich Triersche Beamte Eck nur einfach
die zwei Fragen vor: ob er die Bücher, die neben Eck auf einer Bank auf-
gehäuft lagen, für die seinigen anerkenne, und ob er ihren Inhalt widerrufen
wolle. Schürf rief dazwischen: „Man nenne die Titel der Bücher!" worauf
Eck sie verlas. Es waren darunter auch rein erbauliche Schriften, wie eine
*) Siehe Teil II (Quinta) S. 293.
183
Auslegung des Vaterunsers, die nie zum Gegenstände einer Anklage gemacht
worden waren. Auf ein solches Verfahren war Luther freilich nicht gefaßt;
dazu mochte der erste Anblick der hohen Versammlung ihn schüchtern machen.
Er antwortete mit leiser Stimme und wie erschrocken: die Bücher seien die
seinigen; die Frage über ihren Inhalt aber betreffe das Höchste, Gottes Wort
und der Seelen Seligkeit; da müsse er vor einer unbedachten Äußerung sich hüten,
bitte daher demütig noch um Zeit zum Überlegen. Nach kurzer Beratung ließ ihm
der Kaiser erwidern, daß er ihm aus Gnade noch Frist bis morgen geben wolle.
So hatte Luther am 18. April, einem Donnerstag, abermals vor dem
Reichstage sich zu stellen. Wieder mußte er zwei Stunden, bis nach sechs Uhr,
warten; er stand da in dichtem Gedränge, unterhielt sich aber noch ganz frei und
heiter mit dem Reichstagsgesandten Peutinger, seinem Augsburger Gönner.
Nachdem er hineingerufen war, begann Eck gegen ihn mit einem Vor-
würfe darüber, daß er erst noch Bedenkzeit gebraucht habe, gab übrigens
jetzt jener zweiten Frage wenigstens die angemessenere und dem Willen
der Stände entsprechendere Form: „Willst du die von dir anerkannten
Bücher alle verteidigen, oder aber etwas zurücknehmen?" Jetzt antwortete
Luther in festem und bescheidenem Tone mit einer wohlüberlegten Rede.
Er unterschied drei Klassen unter seinen Büchern. In etlichen derselben
trage er einfach evangelische Wahrheiten vor, zu welchen Freund und Feind
gleichermaßen sich bekenne; solches könne er doch nicht widerrufen. In
andern Büchern habe er verderbliche Gesetze und Lehren des Papsttums
angegriffen, von denen niemand verhehlen könne, daß durch sie die Gewissen
der Christen jämmerlich gemartert, auch Hab und Gut der deutschen Nation
tyrannisch verschlungen würden; wollte er diese Bücher widerrufen, so würde
er sich zu einem Schanddeckel der Bosheit und Tyrannei machen. Fürs
dritte habe er wider einzelne Personen geschrieben, die jene Tyrannei be-
schützen und die gottselige Lehre vertilgen wollten; gegen sie bekenne er
heftiger gewesen zu sein, als sich zieme; doch könne er auch diese Bücher
nicht widerrufen, ohne der Tyrannei und Gottlosigkeit Vorschub zu leisten.
Zum Schutze aber seiner Bücher könne er nur sagen wie einst der Herr
Christus: „Habe ich übel geredet, so beweise, daß es böse sei;" er bitte
um Gegenzeugnisse aus den prophetischen und evangelischen Schriften.
Wie seine Rede schon im Verlaufe zu einem neuen Straf- und Kampfes-
worte gegen das Papsttum geworden war, so erhob sie sich schließlich zu ernster
Warnung für Kaiser und Reich, daß man nicht, indem man durch Ver-
dammung des göttlichen Wortes Ruhe stiften wolle, vielmehr eine Sünd-
flut von Unheil erwecke und der Regierung des edeln jungen Kaisers einen
unseligen und unheilverkündenden Anfang gebe. Er meine nicht, daß die
hohen Herren dieser seiner Mahnung bedürften, aber er könne der Pflicht
gegen sein Deutschland sich nicht entziehen.
Luther sprach, wie Eck, lateinisch und wiederholte dann, weil es ge-
wünscht wurde, die Rede mit gleicher Festigkeit deutsch. Schurs, der ihm
zur Seite stand, rühmte nachher, „wie Martinus diese Antwort mit
solcher Tapferkeit und züchtiger Freidigkeit*) mit gen Himmel auf-
gehobenen Augen vollbracht habe, daß er und männiglich sich darob hätte
verwundern müssen".
Uber diese seine Erklärung hielten die Fürsten wieder eine kurze Be-
sprechung miteinander. Dann machte ihm Eck im Auftrage des Kaisers
scharfen Vorwurf, daß er unbescheiden geredet und die ihm gestellte Frage
nicht wirklich beantwortet habe; er wies sein Verlangen nach Gegenbeweisen
ab, da seine Ketzereien schon durch die bisherige Kirche und namentlich
das Konstanzer Konzil verurteilt seien und solche Urteile genügen müßten,
wenn irgend etwas in der Christenheit sollte festgestellt werden können. Er
sagte ihm übrigens, falls er solche Artikel widerriefe, ein billiges Ver-
fahren gegen seine andern Schriften zu und forderte jetzt endlich auf die
Frage, ob er alle seine Sätze festhalten oder etwas widerrufen wolle, eine
einfache Antwort „ohne Hörner".
Darauf entgegnete Luther: „Weil denn Kaiserliche Majestät, Kur- und
Fürstliche Gnaden eine schlechte, einfältige, richtige Antwort begehren, so
will ich die geben, so weder Hörner noch Zähne haben soll, nämlich also:
Es sei denn, daß ich mit Zeugnissen der heiligen Schrift oder mit öffent-
lichen, klaren und hellen Gründen und Ursachen überwunden und über-
wiesen werde — denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien
allein nicht, weil es am Tage und offenbar ist, daß sie oft geirrt haben
und ihnen selbst widersprechend gewesen sind, — und ich also mit den
Sprüchen, so von mir angezogen und angeführt sind, überzeuget und mein
Gewissen in Gottes Wort gefangen ist, so kann und will ich nichts wider-
rufen, weil weder sicher noch geraten ist, etwas wider das Gewissen zu
thun." Nur wenige weitere Worte wechselte Eck noch mit Luther darüber,
ob man einem Konzil Irrtum nachweisen könne, worauf letzterer bestand.
Unter Ecks Dringen und Drohen rief Luther die Worte aus: „Hier stehe
ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir. Amen!"
Unwillig hob der Kaiser die Sitzung auf, gegen acht Uhr abends. Es
war inzwischen Nacht geworden, der Saal mit Fackeln beleuchtet, unter der
Zuhörerschaft große Aufregung und Unruhe. Luther wurde hinausgeführt,
worüber unter den Deutschen ein Getümmel sich erhob, weil sie meinten,
man nehme ihn gefangen. Wie er noch in dem heißen Gedränge stand,
ließ ihm Herzog Erich von Braunschweig eine Kanne mit Eimbecker Bier
reichen, aus der er selbst vorher getrunken.
*) D. i. maßvolle Kühnheit.
185
Bei seinem Wiedereintritt in seine Herberge „reckte Luther/' wie ein
dort anwesender Nürnberger erzählt, „die Hände auf, und mit fröhlichem
Angesichte schrie er: Ich bin hindurch, ich bin hindurch!" Spalatin
berichtet: „Er ging in die Herberg so mutig, getrost und fröhlich in
dem Herrn, daß er vor andern und mir sagte: wenn er tausend
Köpfe hätte, wollte er sie ihm eher alle abhauen lassen, denn einen
Widerruf thun."
Der Kaiser, der von Luthers Persönlichkeit wenig Eindruck bekommen
hatte, that schon am Morgen des 19. April den Reichsständen zu wissen,
daß er jetzt Luther nach Wittenberg zurückschicken und als Ketzer behandeln
wolle; allein die Mehrheit derselben setzte es durch, daß vielmehr noch
weitere Verhandlungen durch eine besondere Kommission mit ihm versucht
werden sollten. Diese wurden durch den Kurfürsten von Trier geleitet,
blieben indes erfolglos. Am 25. April ließ der Kaiser Luthern ankündigen,
daß er an seinen Ort zurückzukehren habe und hierzu noch einundzwanzig
Tage lang freies Geleit haben solle. Julius Köstlin.
43. Katharina von Schwarzburg.
Eine deutsche Dame aus einem Hause, das schon ehedem durch Helden-
mut geglänzt und dem deutschen Reich einen Kaiser (Günther von Schwarz-
burg) gegeben hat, war es, die den fürchterlichen Herzog von Alba durch
ihr entschlossenes Betragen beinahe zum Zittern gebracht hätte.
Als Kaiser Karl V. im Jahre 1547 nach der Schlacht bei Mühlberg auf
seinem Zuge nach Franken und Schwaben auch durch Thüringen kam, wirkte
die verwitwete Gräfin Katharina von Schwarzburg einen Sauvegarde-Brief*)
bei ihm aus, daß ihre Unterthanen von der durchziehenden spanischen Armee
nichts zu leiden haben sollten. Dagegen verband sie sich, Brot, Bier und
andere Lebensmittel gegen billige Bezahlung aus Rudolstadt an die Saal-
brücke schaffen zu lassen, um die spanischen Truppen, die dort übersetzen
würden, zu versorgen. Doch gebrauchte sie dabei die Vorsicht, die Brücke,
welche dicht bei der Stadt war, in der Geschwindigkeit abbrechen und in
einer größeren Entfernung über das Wasser schlagen zu lassen, damit die
allzu große Nähe der Stadt ihre raublustigen Gäste nicht in Versuchung
führe. Zugleich wurde den Einwohnern aller Ortschaften, durch welche
der Zug ging, vergönnt, ihre besten Habseligkeiten auf das Rudolstädter
Schloß zu flüchten.
Mittlerweile näherte sich der spanische General, von Herzog Heinrich
von Braunschweig und dessen Söhnen begleitet, der Stadt und bat sich
durch einen Boten, den er voranschickte, bei der Gräfin von Schwarzburg
*) D. i. Schutzbrief.
186
auf ein Morgenbrot zu Gaste. Eine so bescheidene Bitte, an der Spitze
eines Kriegsheeres gethan, konnte nicht wohl abgeschlagen werden. Man
würde geben, was das Haus vermöchte, war die Antwort; Se. Excellenz
möchten kommen und vorlieb nehmen. Zugleich unterließ man nicht, der
Sauvegarde noch einmal zu gedenken und dem spanischen General die ge-
wissenhafte Beobachtung derselben ans Herz zu legen.
Ein freundlicher Empfang und eine gut besetzte Tafel erwarten den
Herzog auf dem Schlosse. Er muß gestehen, daß die thüringischen Damen
eine sehr gute Küche führen und auf die Ehre des Gastrechts halten. Noch
hat man sich kaum niedergesetzt, als ein Eilbote die Gräfin aus dem Saale
ruft. Es wird ihr gemeldet, daß in einigen Dörfern unterwegs die spani-
schen Soldaten Gewalt gebraucht und den Bauern das Vieh weggetrieben
hätten. Katharina war eine Mutter ihres Volkes; was dem ärmsten ihrer
Unterthanen widerfuhr, war ihr selbst zugestoßen. Aufs äußerste über diese
Wortbrüchigkeit entrüstet, doch von ihrer Geistesgegenwart nicht verlassen,
befiehlt sie ihrer ganzen Dienerschaft sich in aller Geschwindigkeit und
Stille zu bewaffnen und die Schloßpforten wohl zu verriegeln; sie selbst
begiebt sich wieder nach dem Saale, wo die Fürsten noch bei Tische sitzen.
Hier klagt sie ihnen in den bewegtesten Ausdrücken, was ihr eben
hinterbracht worden, und wie schlecht man das gegebene Kaiserwort gehalten.
Man erwidert ihr mit Lachen, daß dies nun einmal Kriegsgebrauch sei,
und daß bei einem Durchmarsch von Soldaten dergleichen kleine Unfälle
nicht zu verhüten ständen. „Das wollen wir doch sehen," antwortete sie
aufgebracht. „Meinen armen Unterthanen muß das Ihrige wieder werden,
oder, bei Gott! — indem sie drohend ihre Stimme anstrengte — Fürsten-
blut für Ochsenblut!" Mit dieser bündigen Erklärung verließ sie das
Zimmer, das in wenigen Augenblicken von Bewaffneten erfüllt war, die
sich, das Schwert in der Hand, doch mit vieler Ehrerbietigkeit, hinter die
Stühle der Fürsten pflanzten und das Frühstück bedienten.
Beim Eintritt dieser kampflustigen Schar veränderte Herzog Alba die
Farbe; stumm und betreten sah man einander an. Abgeschnitten von der
Armee, von einer überlegenen, handfesten Menge umgeben, was blieb ihm
übrig, als sich in Geduld zu fassen und, auf welche Bedingung es auch sei,
die beleidigte Dame zu versöhnen. Heinrich von Braunschweig faßte sich zuerst
und brach in ein lautes Gelächter aus. Er ergriff den vernünftigen Aus-
weg, den ganzen Vorgang ins Lustige zu kehren und hielt der Gräfin eine
große Lobrede über ihre landesmütterliche Sorgfalt und den entschlossenen
Mut, den sie bewiesen. Er bat sie sich ruhig zu verhalten, und nahm es
auf sich, den Herzog Alba zu allem, was billig sei, zu vermögen. Auch
brachte er es bei dem letzteren wirklich dahin, daß er auf der Stelle einen
Befehl an die Armee ausfertigte, das geraubte Vieh den Eigentümern
187
ohne Verzug wieder auszuliefern. Sobald die Gräfin von Schwarzburg
der Zurückgabe gewiß war, bedankte sie sich aufs schönste bei ihren Gästen,
die sehr höflich von ihr Abschied nahmen.
Ohne Zweifel war es diese Begebenheit, die der Gräfin Katharina
von Schwarzburg den Beinamen der Heldenmütigen erworben. Sie starb
allgemein verehrt und betrauert im achtundfünfzigsten Jahre ihres Lebens
und im neunundzwanzigsten ihrer Regierung. Die Kirche zu Rudolstadt
bewahrt ihre Gebeine. Friedrich Schiller.
44. Gustav Adolf.
1. Gustav Adolf war ein schöner Mann von großer, stattlicher Gestalt,
weißer Hautfarbe, blondem Haar und Bart und lebhaften blauen Augen.
In den edlen Zügen seines Antlitzes spiegelte sich Heiterkeit und Herzens-
güte, die, mit inniger Frömmigkeit gepaart, den Grundzug seines Cha-
rakters bildeten. Doch fehlten ihm nicht Ernst und Strenge, wo es not
that. In seinem Heere hielt er auf Mannszucht und Ordnung und be-
strafte nachsichtslos jede Gewaltthätigkeit. Dennoch waren ihm alle seine
Krieger mit voller Liebe zugethan; denn er sorgte für sie wie ein Vater,
erkannte freudig jedes Verdienst an und teilte mit seinen Soldaten alle
Mühseligkeiten. Bei aller Frömmigkeit, die er auch auf sein Heer zu
übertragen bemüht war, war er doch fern von religiöser Unduldsamkeit.
Er bitte Gott, sagte er, die Menschen durch Liebe zu vereinigen. Ebenso
groß als Staatsmann wie als Feldherr war er zugleich ein warmer Ver-
ehrer der Wissenschaften und sprach vier Sprachen mit großer Fertigkeit.
Als der König die pommersche Küste betrat, fiel er im Angesicht
seines ganzen Heeres auf die Kniee und flehte im Gebet um Gottes Bei-
stand. Da er in den Augen einiger Hauptleute Thränen der Rührung
bemerkte, sagte er: „Weinet nicht, meine Freunde, sondern betet! Jemehr
Betens, je mehr Siege! Fleißig gebetet ist halb gefochten und gesiegt."
Leicht vertrieb Gustav Adolf die Kaiserlichen aus Pommern und
Mecklenburg. Allein bald sah er sich in seinen Fortschritten gehemmt,
und da mehrere protestantische Fürsten, namentlich die Kurfürsten von
Brandenburg und Sachsen, ihm den Zug durch ihre Länder ver-
weigerten, so vermochte er die Zerstörung Magdeburgs am 20. Mai
1631 nicht zu hindern.
Nach dem Falle Magdeburgs überschwemmte der kaiserliche Feldherr
Tilly Kursachsen. Da endlich schloß der Kurfürst von Sachsen ein
Bündnis mit den Schweden und Gustav Adolf gewann einen herrlichen
Sieg über den bis dahin nie besiegten Tilly in der Schlacht bei Leipzig
(oder Breitenfeld); nun öffnete sich das ganze protestantische Deutschland
freudig dem Sieger.
188
Darauf zog Gustav Adolf durch Mitteldeutschland über Frankfurt
am Main nach dem Rhein, nahm Mainz ein, wandte sich dann nach
Bayern, erzwang den Übergang über den Lech, wobei Tilly tödlich ver-
wundet wurde, und hielt feinen Einzug in München. In dieser Not schuf
der kaiserliche Feldherr Wallenstein ein neues großes Heer, zog nach
Bayern und verschanzte sich auf der Anhöhe bei Zirndorf (unweit
Nürnberg). Nachdem Gustav Adolf einen vergeblichen Sturm auf Wallensteins
Schanzen unternommen hatte, wandte sich dieser nach Sachsen, um dieses
Land von dem schwedischen Bündnis abzubringen. Unverzüglich folgte ihm
der König dorthin nach und zwang ihn am 16. November 1632 zur
Schlacht bei Lützen*) (in der Nähe von Leipzig).
2. Am Morgen des 16. November verhüllte ein dichter Nebel die
Gegend. Als der Nebel gefallen war, bliesen die schwedischen Trom-
peten: „Ein feste Burg ist unser Gott"; das Heer kniete zum Morgen-
gebet nieder, und der König stimmte das von ihm gedichtete Lied an:
„Verzage nicht, du Häuflein klein." Darauf ritt er auf seinem weißen
Leibroß durch die Reihen seiner Krieger. „Ihr lieben Spießgesellen,"
sprach er zu ihnen, „zielt recht und schießt gewiß; mit dreier Stunden
Werk und Arbeit werdet ihr mich zum ersten Könige der Welt machen."
Um elf Uhr, als der Nebel völlig gefallen war, sprengte er vor und rief:
„Nun wollen wir dran, das walt' der liebe Gott! Herr Jesu, Jesu, hilf
mir heute streiten zu deines Namens Ehre!" Die Schweden drangen unter
des Königs Führung siegreich vor; als er aber hörte, daß sein Mitteltreffen
zurückweiche, wollte er demselben Hülfe bringen. An der Spitze eines Reiter-
regiments sprengte er so rasch dorthin, daß nur wenige ihm folgen konnten.
Der Nebel war wieder dichter geworden, der König überdies kurzsichtig,
und so geriet er mitten unter die feindlichen Reiter. Da traf ein Pistolen-
schuß sein Pferd durch den Hals und zerschmetterte ihm den Arm. „Es ist
nichts," rief er den inzwischen nachgekommenen Reitern zu, „folgt mir!"
Aber gleich darauf erhielt er auch einen Pistolenschuß in den Rücken. Mit
dem Seufzer: Mein Gott, mein Gott! sank er tödlich getroffen vom Pferde.
Doch fein Fall erbitterte die Schweden zur Rache, und unter der
Anführung des tapferen Herzogs Bernhard von Weimar warfen sie die
Kaiserlichen wieder zurück. Da sprengte ein Reiteranführer derselben, der
tapfere Pappenheim, an der Spitze von 8 Reiterregimentern heran und
stürzte sich mit Ungestüm auf die siegreichen Schweden, die er über die
Landstraße zurückwarf. Aber auch er sinkt, von zwei Kugeln tödlich ge-
troffen, vom Pferd herab. Da beginnen die Reihen der Kaiserlichen zu
wanken und bald wendet sich ihr ganzes Heer zur Flucht.
*) Siehe Teil II (Quinta) S. 296.
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Die Schweden brachten die Nacht auf dem Schlachtfelde zu: Erst am
folgenden Morgen fanden sie den Leichnam des Königs ganz entkleidet und
entstellt. Der Schwedenstein bei Lützen bezeichnet die Stelle, wo Gustav
Adolf gefallen ist. Über ihm erhebt sich ein Denkmal, welches ihm das
dankbare Deutschland gefetzt hat.
Die Schweden hatten für die evangelische Sache einen herrlichen
Sieg errungen, aber er war mit Gustav Adolfs Tode, welcher das ganze
protestantische Deutschland in die tiefste Trauer und Bestürzung versetzte,
fast zu teuer erkauft. Auch brachte er den ersehnten Frieden noch lange
nicht, da der Krieg sich noch 16 Jahre bis 1648 hinzog. Wenn endlich
der westfälische Frieden den Protestanten völlige Religionsfreiheit
gewährte, so war dieser günstige Ausgang ganz besonders durch Gustav
Adolf vorbereitet. Nach Wernicke.
45. Der alte Derfflinger.*)
Georg Derfflinger wurde i. I. 1606 in einem österreichischen Dorfe
gehören. Er war, wie die Sage geht, der Sohn armer Bauersleute, die
ihn nach seiner Einsegnung das Schneiderhandwerk erlernen ließen. Auf
seiner Wanderschaft kam er an die Elbfähre zu Leitmeritz. Er hatte kein
Geld, und der Fährmann wollte ihn ohne Bezahlung nicht übersetzen.
„Deine Schere und dein Bügeleisen sind zu schwer," wurde ihm spöttisch
zugerufen; „einen Schneidergesellen kann man nicht umsonst mitnehmen!"
Da sah er, wie eine Abteilung Rekruten frei übergeführt wurde. „Geht es
so in der Welt zu," dachte er bei sich, „dann muß man sich zu schicken wissen";
und mit raschem Entschluß schleuderte er sein Schneiderhandwerkszeug in den
Fluß. Gleich darauf kam ein Trupp Reiter daher; Georg Derfflinger ließ
sich anwerben und brauchte von nun an kein Fährgeld mehr zu bezahlen.
So war er ein Kriegsmann geworden und diente von der Pike auf,
erst in sächsischen, dann in schwedischen und endlich in kurfürstlich branden-
burgischen Diensten. Überall zeichnete er sich durch seine Tapferkeit und
Tüchtigkeit aus. Fast an allen Hauptschlachten, welche die Schweden im
dreißigjährigen Kriege schlugen, hat Derfflinger Anteil genommen; mit
ganz beson-derer Auszeichnung focht er bei Breitenfeld (1642). Auch die
herrlichen Siege, welche der Große Kurfürst errang, half Derfflinger er-
kämpfen; die Tage von Rathenow, Fehrbellin (1675), Stralsund (1678)
und Tilsit (1679) sind Ehrentage für ihn gewesen. Bis in sein spätestes
Alter schwang er für seinen obersten Kriegsherrn mit jugendlichem Mute
das Schwert. Was Wunder also, wenn bei solcher Tüchtigkeit und Treue
aus dem Schneidergesellen ein Offizier, aus dem Offizier ein General und
aus dem General ein Feldmarschall geworden ist!
*) Siehe Teil II (Quinta) S. 297.
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Aber der Feldmarschall ist immer bescheiden und demütig gegen seines-
gleichen geblieben und ohne Stolz gegen seine Untergebenen. Er erkannte
es, daß Gott ihn von der Muskete bis zum Feldmarschallstab hatte kommen
lassen, und hat es nie vergessen, was er ehedem gewesen. Oft erzählte
er aus seinem Leben kleine Stücklein und ganz besonders gern folgenden
Vorgang: „Als ich einst in einer Dorfschenke bei Leitmeritz mit mehreren
Wanderburschen des Nachts auf einer Streu schlief und mich unruhig hin
und her warf, fragte mich mein Nachbar, warum ich so unruhig sei.
Ei nun, antwortete ich, seitdem ich heute das schöne Reiterregiment ge-
sehen habe, geht es mir im Kopfe herum, daß ich einmal General werden
möchte. Du Lump, sagte darauf mein Nachbar, wirst mit deinem Schneider-
mute dein Lebtag Ellenreiter bleiben! Nun traf es sich nach Jahren, daß
ich in Rathenow mit dem Bürgermeister, der auch Tuchhändler war, zu
thun hatte. Als ich mir den Mann genauer besah, erkannte ich in ihm
sogleich meinen Schlafgesellen von Leitmeritz. Darauf gab ich mich zu
erkennen und erinnerte ihn an den 'Lump und Ellenreiter' von damals. Wie
vom Donner gerührt stand der Mann da und bat mich fußfällig um Ver-
zeihung. Ich lachte darüber, und betroffen wünschte er mir Glück, daß ich es
so weit gebracht, während er nur Bürgermeister und Ellenreiter geworden sei!"
Ebenso gerade und offen war Derfflinger auch gegen hochgestellte
Personen. Bekannt ist, wie er einem fremden Gesandten, der einst bei
der Tafel des Kurfürsten nach dem General zu fragen wagte, welcher
ehemals Schneider gewesen sei, antwortete: „Der Mann, nach dem Sie
fragen, bin ich, und (auf seinen Degen zeigend) hier ist die Elle, mit
der ich die Hundsfötter messe in die Länge und in die Breite."
Der Unternehmungsgeist, die Schnelligkeit und Kühnheit, welche im
Reiterdienste vor allem nötig sind, bilden die Grundzüge von Derfflingers
Charakter als Kriegsmann. Seine Kriegskenntnis und Wasienknnde ver-
dankte er bloß der unmittelbaren Anschauung und Erfahrung; Gelehrsam-
keit und Studium dagegen blieben ihm durchaus fremd, und sein Mangel
an Schulunterricht kam oftmals in lustigen Mißverständnissen zu Tage.
Ein Rittmeister, den er auf Erkundigungen ausgeschickt hatte, setzte auf
den Meldezettel das Wort Raptim, d. h. in Eile. Derfflinger meinte,
das sei ein Ortsname, und nachdem er lange auf der Karte danach ge-
sucht, sagte er: „Ich habe den Rittmeister nach Neudorf beordert, und der
Teufel hat ihn nach Raptim geführt." Endlich darüber aufgeklärt, es sei
ein lateinisches Wort und bedeute „In Eile", rief er: „Ei, so hätte der
Narr mögen ans gut Deutsch hinschreiben 'in Eil' und hätte mir eine
gute halbe Stunde unnützen Suchens erspart."
Den Abend seines Lebens brachte der greise Held keineswegs in
Ruhe und Unthätigkeit zu. Noch nach dem Tode des Großen Kurfürsten
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hat er unter dessen Sohn, dem Kurfürsten Friedrich III., mit seiner letzten
Kraft siegreich gefochten. Es sollten die letzten Lorbeeren sein, die er hier
erntete. Auch er fühlte die Abnahme seiner Kraft. An der Wiege des
jungen Thronerben (Friedrich Wilhelm I.) sprach er deshalb die Worte:
„Dein Großvater hat mich gehudelt; dein Vater hat mich gehudelt; aber
du sollst mich ungehudelt lassen!"
Den letzten Rest seiner Wallfahrtszeit verlebte Derfflinger auf seinem
Schloß im Dorfe Gusow. Hier beschloß er auch sein thatenreiches Leben
i. I. 1695, beinahe 89 Jahre alt. Einfach und schlicht, wie er gelebt
hatte, wollte er auch begraben sein; in seinem letzten Willen hatte er an-
geordnet, daß bei seiner Begräbnisfeier von seinen Kriegsthaten nicht mit
einem Worte geredet werden sollte.
Nun ruht der alte Haudegen in der stillen Dorfkirche zu Gusow
aus von den Stürmen seines vielbewegten Lebens. Und wer an seinem
Sarge steht oder von ihm liest oder hört, der vergesse nicht, was sein
Leben lehrt:
„. . . Keiner steh' still in der Welt;
Wen's treibt: nur vorwärts, schnell!
Wer ein Held kann werden, der werd' ein Held,
Und wär's auch ein Schneidergesell!" F Tiegs.
46. Schwerins Tod in der Schlacht bei Prag.
Nur das erste Treffen Schwerins war geschlagen, aber einzelne
Regimenter hielten sich noch, während schon das zweite Treffen vorrückte.
Das feindliche Kartätschenfeuer wurde jedoch immer heftiger, und jene noch
stehenden Regimenter fingen an zu weichen: das Regiment von Fouquo,
welches dem Feuer einer Batterie von 14 Kanonen ausgesetzt war, das
Regiment von Kreuzen und endlich das zweite Bataillon des Regiments
Schwerin, vor welchem eben Winterfeldt, schwer verwundet, hingesunken
war. Schwerin hielt zu Pferde bei einer der Engen des schwierigen
Bodens und suchte die Truppen zum Stehen zu bringen, allein ver-
gebens; unwillig, daß auch sein eigenes Regiment wich, entriß er voll
Eifer und Mut dem Fahnenjunker die Fahne seines zweiten Bataillons,
hob sie empor und rief: „Wer ein braver Kerl ist, der folge mir!"
Sein Beispiel und Zuruf beseelten die Truppen mit neuem Mute, sie
wandten sich aus dem Engwege heraus, stellten sich rechts davon in.
Ordnung und begannen im Sturmschritt vorzuschreiten, Schwerin mit der
Fahne in der Hand voran. Aber kaum 12 Schritte waren auf diese Art
gethan und Schwerin nur noch etwa 6 Schritte voraus, da traf ein
Kartätschenschuß den alten Feldherrn, der sogleich ohne die geringsten
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Zeichen des Lebens vom Pferde sank. Fünf Kugeln hatten ihn getroffen,
eine hinter dem Ohr ins Genick, eine durchs Herz und drei in den Unter-
leib. Seine Hand hielt noch die Fahne fest, die mit ihm gefallen war;
sie bedeckte seinen ganzen Körper; der General von Manteuffel nahm sie
auf und gab sie dem Junker wieder, allein dieser hatte sie kaum gefaßt,
als auch ihn eine Kanonenkugel mitten auf die Brust traf und niederwarf.
Der Anblick des tödlich getroffenen und zu Boden gestreckten Feldmarschalls
ergriff feinen Adjutanten, den Hauptmann von Platen, so heftig, daß er
voll Grimms in den Feind stürzte und sogleich seinen Tod fand.
Die Truppen stockten augenblicklich, schwankten und wandten sich aufs
neue zur Flucht. Der Fall des Feldherrn, die Verwundung Winterfeldts,
Fouquös und anderer tapferer Anführer machte'die Krieger unruhig, ließ
sie ohne Befehl, während der Feind sein mörderisches Feuer fortsetzte und
unaufgehalten vordrang. Die Preußen wichen etwa 1200 Schritte zurück,
und der König, der die Verwirrung mit ansah und kaum noch eine
glückliche Wendung hoffte, blickte schon nach den hinter ihm liegenden
Höhen, wohin er das geschlagene Heer zu retten dachte, als die Sachen
wieder eine andere Gestalt annahmen. Denn die Schlacht zerfiel bald
in eine Reihe einzelner Gefechte; da aber der Geist Schwerins aus dem
entseelten Körper in die durch seinen Tod angefeuerten Truppen über-
gegangen war, so wurde jeder einzelne Kampf durch die Trefflichkeit der
Truppen und die Hingebung der Anführer zum Siege.
Als der König die erste Nachricht erhielt, Schwerin sei geblieben,
war er mit dem noch zweifelhaften Gange der Schlacht beschäftigt, wandte
alle Aufmerksamkeit auf die feindliche Linse und erteilte die den Um-
ständen entsprechenden Befehle. Gegen 5 Uhr aber, als der Sieg größten-
teils entschieden war, atmete er wieder auf und überließ sich den Empfin-
dungen des Herzens. Er gewahrte seinen Bruder, den Prinzen Heinrich,
und ritt zu ihm hin, stieg vom Pferde und setzte sich mit sichtbarer
Traurigkeit auf den grünen Rasen, der seitwärts am Wege sich erhöhte.
„Wir haben viel verloren," rief er mit erstickter Stimme, „der Feld-
marschall Schwerin ist tot!" und dann nannte er die andern Generale, die
teils tot, teils verwundet waren.
Inzwischen war der Körper des Helden mit Mühe unter den Toten
und Verwundeten herausgefunden, wurde dann in ein Zelt gebracht und
untersucht, da sich denn die Gewißheit ergab, daß er in demselben Augen-
blicke getroffen und tot gewesen sein müsse. Man brachte die Leiche
darauf in das Kloster St. Margareta, wo sie einbalsamiert und dann vor-
dem Altare niedergelegt wurde. Der König kam herzu und stand in schwei-
gender Betrachtung an dem Sarge, brach dann in Thränen und in Worte
der Wehmut aus, die er dem Entschlafenen nachrief. Schwerins ältester
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Neffe, der als Adjutant ihm zur Seite und nächster Zeuge seines Todes
gewesen, überreichte dem Könige das blutbespritzte Band des schwarzen
Adlerordens, das der Feldmarschall umgehabt; allein der König nahm
das trauervolle Ehrenzeichen nicht an, sondern überließ es der Familie
zu ruhmvoller Bewahrung. Als die Leiche späterhin zur Heimat ab-
geführt wurde, geschah dies mit allem kriegerischen Gepränge; Prinz
Heinrich ließ den Sarg noch öffnen, und als er den Helden betrachtete,
dessen Antlitz die edle Ruhe eines schönen Todes ausdrückte, nahm er ehr-
erbietig den Hut ab; die Soldaten standen umher und weinten um ihren
Bater. A. Varnhagen von Ense.
47. Friedrich II. und Gelle rt.
König Friedrich II. bewohnte im Winter des Jahres 1760 in Leipzig
das Apelsche Haus. Bei dem größten Professor hätte es nicht gelehrter
aussehen können, als in dem Studierzimmer Friedrichs. Nicht unbekannt
war dem Könige der Ruf Gellerts geblieben, er wünschte ihn persönlich
kennen zu lernen und ließ ihn durch einen Major einladen, ihn mit
seinem Besuche zu erfreuen. Der Professor entschuldigte sich anfänglich
mit Kränklichkeit und entschloß sich erst nach langem Zureden, zum Könige
zu gehen. Er legte sein Staatskleid von pfirsichblütenfarbenem Plüsch an,
Degen und Haarbeutel durften nicht fehlen, auf den Schuhen hatte er
breite silberne Schnallen, unter dem Arme den Klapphut. Bescheiden, aber
ohne Verlegenheit, trat Gellert in das Zimmer des Königs, der ihn
freundlich empfing.
Der König. Er ist der Fabeldichter Gellert?
Gellert. Zu Ew. Majestät Befehl; ich habe einige Erzählungen ge-
schrieben und bin Professor der Moral.
K. Professor der Moral? Die thut in unserer Zeit sehr not; es
sind sehr schlimme Zeiten, nicht wahr?
G. Zu Ew. Majestät Befehl, sehr schlimme Zeiten, zumal in dem
armen Sachsen.
K. Meint Er, daß es bei uns besser aussieht? Dann wär' ich
gewiß zu Haus geblieben. Aber ein Professor braucht sich darum nicht
zu kümmern; Er muß es machen wie ich, sieht Er, ich lese hier den
Tacitus und kümmere mich nicht um die Welthändel und den Krieg.
G. Ew. Majestät lesen den Tacitus in einer französischen Über-
setzung? Wir haben auch eine gute deutsche.
Da Gellert etwas angegriffen aussah, bat ihn der König Platz zu
nehmen.
K. Ist Er nie aus Sachsen herausgekommen?
Lesebuch für höhere Lehranstalten. (Preuß. Ansg.) Hl-
13
194
G. Ich bin einmal in Berlin gewesen.
K. Er sollte reisen.
G. Ew. Majestät, dazu fehlt mir Gesundheit und Vermögen.
K. Was hat Er denn für eine Krankheit? etwa die gelehrte?
G. Weil Ew. Majestät sie so nennen, mag sie so heißen; in meinem
Munde würde es zu stolz geklungen haben.
K. Ich habe sie auch gehabt. Ich will Ihn kurieren. Er muß alle
Tage ausreiten, alle Wochen Rhabarber nehmen.
G. Ew. Majestät, dies möchte wohl eine neue Krankheit für mich
sein. Wenn das Pferd gesünder wäre als ich, so würde ich es nicht
reiten können; und wäre es ebenso krank, so möchte ich auch nicht fort-
kommen.
K. So muß Er fahren.
G. Dazu fehlt mir das Vermögen.
K. Ja, das ist wahr, daran fehlt's immer den Gelehrten in Deutsch-
land. Es sind wohl jetzt böse Zeiten?
G. Jawohl, und wenn Ew. Majestät Deutschland den Frieden geben
wollten —
K. Kann ich denn? Hat Er's denn nicht gehört? Es sind ja drei
wider mich.
G. Ich bekümmere mich mehr um die alte als um die neue Ge-
schichte.
Der König gab hier dem Gespräche eine andere Wendung und rich-
tete dann an Gellert die Frage: „Kann Er keine von Seinen Fabeln
auswendig?"
G. Ich zweifle; mein Gedächtnis ist mir sehr ungetreu.
K. Besinne Er sich; ich will unterdessen umhergehen. — Der König
ging, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer auf und ab und spielte mit
seinen Hunden, während Gellert sich besann.
K. Nun? hat Er eine?
G. (aufstehend) Ja, Jhro Majestät, den Maler.
Ein kluger Maler in Athen — *)
K. Und die Moral?
G. Gleich, Jhro Majestät.
Wenn deine Schrift dem Kenner nicht gefällt,
So ist es schon ein böses Zeichen;
Doch wenn sie gar des Narren Lob erhält,
So ist es Zeit, sie auszustreichen.
*) Siehe Teil TI. S. 258.
195
K. (der während des Vortrags durch freundliches Kopfnicken mehr-
mals seinen Beifall bezeigt hatte) Das ist recht schön! Er hat so etwas
Fließendes in Seinen Versen; das verstehe ich alles. Da hat mir aber
Gottsched eine Übersetzung der Iphigenie vorgelegt; ich habe das Fran-
zösische dabei gehabt und kein Wort verstanden. Sie haben mir noch
einen Poeten, den Pitsch, gebracht; den habe ich weggeworfen.
G. Jhro Majestät, den werfe ich auch weg.
K. Nun, wenn ich hier bleibe, so muß Er öfter wiederkommen und
Seine Fabeln mitbringen und mir etwas vorlesen.
G. Ich weiß nicht, ob ich gut lese; ich habe so einen singenden, ge-
birgischen Ton.
K. Ja, wie die Schlesier. Nein, Er muß Seine Fabeln selbst lesen;
sie verlieren sonst viel. Nun, komm Er bald wieder!
Gellert empfahl sich, und der König äußerte sich auch in späterer
Zeit immer sehr anerkennend über ihn. „Gellert ist der einzige deutsche
Dichter," sagte er zu Garve, „der zur Nachwelt kommen wird; er hat zwar
nur in einer kleinen Gattung, aber in dieser mit Glück gearbeitet."
Fr. Förster.
48. Die Völkerschlacht bei Leipzig.*)
Bei Leipzig sammelte sich wie in einem Mittelpunkte die ganze
französische Macht und in einem großen Halbkreise umher die der Ver-
bündeten, von Süden und Osten her ihr großes Heer, von Nordwesten
das des schwedischen Kronprinzen, von Norden Blücher. Napoleon hatte
noch 180000 Mann der besten Truppen, die Verbündeten wohl 250000
Mann; aber sie waren noch nicht alle vereinigt, und Napoleon konnte von
seinem Mittelpunkte aus rasch einen Teil nach dem anderen angreifen.
Am 16. Oktober begann der Kampf im Südosten der Stadt mit dem
Hauptheere der Verbündeten. Die Monarchen waren Zeugen der Tapfer-
keit ihrer Krieger, und wahrlich, Österreicher, Preußen und Russen wett-
eiferten an diesem Tage um den Preis der Todesverachtung und der
kühnen Ausdauer. Die Erde zitterte von dem ungeheuren Krachen der
Geschütze wie bei einem Erdbeben, denn es waren von beiden Seiten
über 1000 Kanonen im Feuer. Am heftigsten wurde bei den Dörfern
Wachau und Liebertwolkwitz gefochten. Stürme folgten auf Stürme; bald
wurde der eine Teil, bald wieder der andere aus den Plätzen verdrängt,
die er eben erobert hatte. Napoleon, der an diesem Tage noch über
mehr Truppen als die Verbündeten verfügte, war um Mittag im Vorteil
und gewann so viel Raum, daß er schon in Leipzig die Glocken zum
*) Bergt. Epische Dichtung Nr. 49.
13*
196
Siegeszeichen läuten ließ. Aber der Wahn dauerte nicht lange. Ein
mächtiger Reiterangriff von französischer Seite sollte die Entscheidung
herbeiführen; als er jedoch abgeschlagen wurde und das verbündete Heer
Verstärkungen an sich zog, ging Napoleon des errungenen Vorteils ver-
lustig, und am Abend behaupteten beide Heere ungefähr dieselbe Stellung,
die sie am Morgen eingenommen hatten.
An demselben Tage hatte Blücher auf der anderen Seite von Leipzig
bei dem Dorfe Möckern mit dem französischen Marschall Marmont ge-
fochten. Durch die harten Verluste des ganzen Feldzuges war sein schle-
sisches Heer sehr zusammengeschmolzen; er mußte die höchste Anstrengung
anwenden, um an diesem Ehrentage auch seinen Teil zu der großen Sache
beizutragen. Der Marschall hatte seine Stärke in und bei Möckern zu-
sammengedrängt und verteidigte das Dorf mit 50 Stück Kanonen. Drei-
mal wurde es erstürmt und dreimal wieder verloren; viele der besten
Anführer fielen, und die Gassen des Dorfes waren mit Toten bedeckt;
und doch ließen die tapferen Männer nicht nach, bis der hartnäckige Feind
ihnen weichen mußte. Er wurde gänzlich geschlagen und bis an die Thore
von Leipzig zurückgeworfen.
Am folgenden Tage, dem 17., einem Sonntage, versuchte Napoleon mit
dem Kaiser Franz besonders zu unterhandeln; allein die Künste seiner Rede
hatten keine Gewalt mehr; daher mußte er sich am 18. noch einmal zu
einer großen Schlacht entschließen, denn weichen wollte er noch immer nicht.
Die Verbündeten hatten ansehnliche Verstärkungen erhalten, namentlich
indem nun auch der Kronpriitz von Schweden am Kampfe teilnahm. Dieser
sollte, mit Blücher vereinigt, von Norden her die Franzosen angreifen, von
Osten der russische General Bennigsen, von Süden Schwarzenberg. Mit
dem Schlage 8 Uhr begann der Kampf. Er war womöglich noch heftiger
als am 16. Nach festem Plane drängten die Verbündeten den hart-
näckigen Feind immer enger und enger zusammen, nahmen ein Dorf nach
dem andern ein und trieben ihn immer näher an die Stadt Leipzig.
Nur den Mittelpunkt seiner ganzen Ordnung, das Dorf Probstheida, hielt
Napoleon unerschütterlich fest; denn wenn dieses verloren ging, so war keine
Rettung mehr. Hier hatte er den Kern seines ganzen Heeres aufgestellt,
und kein auch noch so heftiger Sturm, wenn er auch für einige Zeit gelang,
konnte ihn von dort vertreiben. Da befahlen die Monarchen an diesem
Flecke keine Menschen mehr zu opfern; denn an den anderen Orten des
Schlachtfeldes war der Sieg bereits entschieden. An diesem Tage konnten
auch die sächsischen und würtembergischen Krieger, die bis dahin in Napoleons
Heer hatten fechten müssen, das lange ertragene Joch nicht mehr erdulden.
Mit klingendem Spiele und fliegenden Fahnen zogen sie zu den deutschen
Brüdern hinüber, denen sie schon lange im Herzen angehört hatten.
197
Napoleon hatte mit Sehnsucht den Einbruch der Nacht erwartet, um
nun endlich mit den Trümmern seines Heeres den Rückzug an den Rhein
anzutreten. Beini hellen Scheine des Mondes wälzte sich ein unabseh-
barer Zug von Karren, Wagen, Geschütz, Truppenabteilungen, Marketendern,
Frauen und Kindern und Troß aller Art aus den Thoren von Leipzig auf
dem Ranstädter Steinwege fort. Es war nur diese eine Straße übrig, und
bald war Unordnung und Geschrei durcheinander. Der größte Teil des
Geschützes und Trosses mußte stehen bleiben; Napoleons Garden aber und
die besten Truppen, die er retten wollte, mußten sich vor allen Platz machen.
Um deren Rückzug so lange wie möglich zu decken, blieben die Polen, Darm-
städter und Badener mit einigen Franzosen zurück, die Stadt zu verteidigen.
Am Morgen des 19., um 8 Uhr, rückten die Verbündeten schon zum
Sturme heran, und es wurde lebhaft an den Thoren und Eingängen der
Stadt gestritten. Um 10 Uhr verließ Napoleon Leipzig und mischte sich
in den wogenden Strom der Flucht; um halb 12 Uhr drangen die ersten
Preußen ein und ließen den tiefen Klang ihrer Hörner in den Straßen
der Stadt ertönen. Was noch drinnen war, wurde gefangen, 15000 waffen-
fähige Krieger, 25000 Verwundete von den übrigen Schlachttagen und drei
Obergenerale. Gleich nach Mittag zogen auch die Sieger, König Friedrich
Wilhelm und Kaiser Alexander, ein, wenige Stunden nachher auch Kaiser
Franz. Sie konnten sich ihres großen Werkes aufrichtig freuen; denn durch
ihre großsinnige Einigkeit hatten sie es vollbracht. F. Kohlrausch.
49. König Wilhelms Ankunft in Berlin am 15. Juli 1870.
Wie die ganze Reise des Königs Wilhelm von Ems nach Berlin
einer Triumphfahrt glich, so namentlich auch sein Eintreffen in Berlin.
Was je dem Könige an begeisterten Kundgebungen des Volkes zu teil
wurde, verschwindet gegen die Begeisterung, gegen den Jubel, der
sich bei dieser Rückkehr des königlichen Kriegsherrn kund gab.
Seit zwei Tagen war die Aufregung in Berlin im Wachsen gewesen.
Überall Begeisterung, überall Erbitterung gegen den französischen Über-
mut. Die Aufregung steigerte sich, als nachmittags mit Bestimmtheit
bekannt wurde, daß der König abends 8 Uhr 40 Minuten mit Sonderzug
auf dem Potsdamer Bahnhöfe eintreffen werde. Gegen Abend wogten
Tausende von Menschen durch die Straßen und bildeten vom Pots-
damer Bahnhöfe durch alle die Straßen bis zum Brandenburger Thor
und die Linden entlang eine dichtgedrängte Hecke. Die Plätze am
Bahnhof, am Brandenburger Thor, vor dem Palais waren buchstäblich
mit Menschenmassen bedeckt. Von den Häusern wehten preußische
Banner und norddeutsche Fahnen, viele hatten bereits illuminiert, den
198
ganzen Weg entlang waren die Droschken in Beschlag genommen und
mußten, mit Menschen gefüllt, an der Seite halten. Rasch war auf
dem Potsdamer Bahnhöfe der Ein- und Ausgang der königlichen
Wartezimmer mit Laubgewinden, Kränzen und Fahnen geschmückt,
und die Umwohnenden trugen fortgesetzt Kränze herbei.
Viele hohe Offiziere, die Vertreter der Stadt, ihre goldenen Amts-
ketten tragend, die Minister, viele andere hohe Beamte, die Direktoren
der Bahn, viele junge Damen in weißer Kleidung mit prächtigen
Blumensträußen harrten der Ankunft des Zuges vor dem königlichen
Wartezimmer; eine dichtgedrängte Menge, Damen, Herren, Offiziere,
Arbeiter, alle vereint füllten so dicht den Bahnsteig, daß der Weg zum
Geleise kaum offen zu halten war. Um 3 Uhr waren der Kronprinz,
Graf Bismarck, der Kriegsminister von Roon, der General von Moltke
mittelst Sonderzuges dem Könige nach Brandenburg entgegengefahren.
Dort erhielt Seine Majestät Nachricht von der bevorstehenden Kriegs-
erklärung und befahl sofort die Mobilmachung. Gegen 83/4 Uhr wurde
die Ankunft des Zuges gemeldet; gleich darauf fuhr er ein, und
stürmischer Jubel brach aus. Dieser steigerte sich, als der Zug hielt
und der König den Salonwagen verließ. Unter das donnernde Hurra
mischte sich fortwährend der Ruf: „Nieder mit Frankreich!“
Der König reichte zuerst dem Feldmarschall Wrangel die Hand,
die dieser küßte, und war tief bewegt von dem Empfange. Langsam,
die Hände rechts und links reichend und grüßend, schritt er über den
Bahnsteig nach dem Wartezimmer, auf dem kurzen Wege die Blumen-
sträuße der Damen freundlich entgegennehmend. Alsdann begrüßte
er zunächst die Vertreter der städtischen Behörden, die in ihrer Anrede
das treue, opferbereite Einstehen der Bevölkerung aussprachen. Der
König erwiderte einige Worte herzlichen Vertrauens. Nach einem
kurzen Verweilen bestieg er unter dem brausenden Jubelrufe des Volks
den Wagen, an seiner Seite der Kronprinz.
Unter den Linden stauten sich die Menschenmassen auf den
Seitenwegen, den Fahrdämmen und in der Spazierallee zu so dichten
Knäueln zusammen, daß der Verkehr fast stockte und nur mit Mühe
der Weg für den königlichen Wagen frei gehalten werden konnte. An
vielen Orten wurden Extrablätter verlesen, welche die von Frankreich
erfolgte Kriegserklärung meldeten; diese wurde lebhaft besprochen, und
überall äußerte sich Vertrauen und Zuversicht. Die Haltung der Menge
war ernst und würdevoll.
Jetzt wurde fernes Rufen hörbar, das sich wie Sturmesbrausen
fortpflanzte und zu donnerndem Jubel steigerte, als der König im
offenen Wagen sichtbar ward. Als das Gefährt sich dem königlichen
199
Palais näherte, konnte es nur langsam durch die Menschenmasse vor-
wärtskommen, da sie so gewaltig drängte, daß selbst steinerne Pfeiler
am Opernplatze brachen. Wie ein Orkan brauste das nicht endende
Hurra über den Platz. Der König, der ausgestiegen war, trat an die
Rampe und dankte wiederholt, tief bewegt. Dann wandte er sich
zurück an seine Umgebung, aber wegen des gewaltigen Hurras ver-
nahmen nur die Nächststehenden die Worte: „Bei solcher Begeisterung
meines Volkes ist uns der Sieg sicher; wir können der Zukunft ohne
Furcht entgegengehen!" Dann trat der König in das Palais, aber die
Menge wich und wankte nicht.
Einer der ergreifendsten Augenblicke war es, als die Tausende
und Tausende, welche dicht, Kopf an Kopf vor dem königlichen Palais
standen, entblößten Hauptes plötzlich die Nationalhymne anstimmten.
Viele vermochten vor Erregung nicht zu singen, und auch denen,
welche sangen, zitterte die Stimme, und es standen ihnen die Thränen
in den Augen. Immer und immer wieder gab sich die Begeisterung
des Volkes in lautem Rufen kund, und es ruhete nicht, bis Seine Ma-
jestät sich wiederholt am Fenster zeigte. Als kurz vor 11 Uhr General
von Moltke hinzukam, um sich zum Könige zu begeben, wurde er stür-
misch begrüßt, und viel fehlte nicht, so hob man ihn auf die Schultern
und trug ihn nach dem Palais. Die Begeisterung kannte keine Grenzen,
und fortwährend donnerte das Hurra vor dem zu ebener Erde gelegenen
erleuchteten Fenster des Königs. Gegen halb zwölf Uhr ging in der
Volksmenge von Mund zu Mund die Botschaft, Seine Majestät lasse
bitten nach Hause zu gehen, er habe noch viel und Wichtiges diese
Nacht zu arbeiten. Und wie aus einem Munde erscholl der Ruf in
der Menge: „Nach Hause! Der König hält Kriegsrat ab und wünscht
Ruhe zu haben!“ und in wenigen Minuten war der große Platz geleert.
Noch eines geschah in der Stille der Nacht vor dem Palais des
Königs: das Heldenbild Friedrichs des Großen wurde mit Kränzen und
Laubgewinden geschmückt. Die Absicht ging dahin, dem Könige für
den nächsten Morgen einen erhebenden Eindruck zu bereiten.
In der prächtigen, hellerleuchteten Straße Unter den Linden gab sich
aber noch stundenlang die lebhafteste Bewegung kund. Es wurde eine
Zuschrift an den König entworfen, sogleich gedruckt, in vielen Exem-
plaren verteilt und sofort mit Tausenden von Unterschriften bedeckt.
Für die Überreichung war der nächste Morgen bestimmt. Den Geist
der Zuschrift kennzeichnet folgender Satz aus derselben: „Wie 1813
bis 1815 zu Ew. Majestät erhabenem Vater, so wird auch jetzt jeder
Preuße mit Gut und Blut zu seinem glorreichen Kriegsherrn stehen,
und Ew. Königlichen Majestät getreues Volk bittet nur eines: nicht
200
zu ruhen, bis dieser französische Übermut für alle Zukunft gedemütigt
und Deutschland in seiner alten Größe hergestellt und gesichert ist."
Welch ein Tag war dieser 15. Juli in dem Leben des Königs!
Mit welchen Empfindungen hatte er am Morgen seine Reise von Ems
aus angetreten, welche Beruhigung hatte ihm die Haltung der Be-
völkerung in den neuen Provinzen Kurhessen und Hannover gewährt,
und welche Kräftigung bereitete ihm Berlin! Man denke sich von
dem allem das Gegenteil, und man wird die Bedeutung des Geschilderten
zu würdigen wissen.
Und nun befand sich der König zur Nacht im Kreise bewährter
Helden und Staatsmänner. Ihm waren zur Seite der tapfere Kron-
prinz, der scharfblickende Staatsmann Graf Bismarck, der schweig-
same Denker der Schlachten Moltke, der Kriegsminister Roon, der
treue, unermüdete Ausführer einer Heeres Verfassung, die bisher wohl
unübertroffen dasteht. Diese und daneben Männer ähnlichen Geistes
und Herzens waren in dieser Nacht zum Kriegsrate bei dem Könige ver-
sammelt. Daß die Beratung getragen ward von dem Pulsschlage hoher
Kraft und Weisheit, das sollte der Welt in überraschender Schnelle
und Mächtigkeit kund werden. Und wie der König sich gehoben
fühlte durch die Haltung des Volkes, so auch seine trefflichen Mit-
berater. In diesem Sinne hatten Herz und Geist der Bevölkerung
vollen Anteil an den Beschlüssen, die in der Nacht vom 15. Juli im
Palaste des Königs von Preußen gefaßt wurden.
Daß die Verschuldung des Krieges auf seiten Frankreichs war,
bedurfte keines Beweises mehr. Bismarck und Moltke mochten in der
Nacht vom 15. Juli die bedeutungsschwersten Vorträge ihres Lebens
zu halten haben, jener sich bewegend auf dem diplomatischen, dieser
auf dem Gebiete der Heerführung. Und bald sollte die Welt ein
erschütterndes Schauspiel erleben: die Demütigung des stolzen Frank-
reichs und den Siegeszug des geeinten Deutschlands unter seinen herr-
lichen Helden. Nach Ferd. Schmidt.
50. Die Schlacht bei Sedan.
Mit atemloser Spannung sah man in Deutschland zu Ende August
des großen Kriegsjahres 1870 den unmittelbar zu erwartenden weiteren
Kämpfen auf französischem Boden entgegen. Wohl durfte man hoffen, daß
es dem bereits siegreichen deutschen Heere gelingen werde, den französischen
Marschall Mac Mahon nochmals zu schlagen und damit dem ganzen
Kriege die entscheidende Wendung zu geben. Daß aber über die
Franzosen jetzt ein Triumph erfochten werden sollte, wie die Weltgeschichte
— 201 —
noch keinen bis dahin gekannt hatte, das konnte niemand ahnen oder
vorhersehen.
Die in allen Schlachten besiegten Franzosen waren teils nach Westen
auf Paris zu gedrängt, teils in die Festung Metz geworfen worden. Jetzt
erhielt der Marschall Mac Mahon den Befehl, auf dem Wege nach Paris
wieder umzuwenden und nordwärts in weitem Bogen an der deutschen
Streitmacht vorübermarschierend mit dem Heere von Metz sich zu ver-
einigen. Diese Absicht blieb aber den Unsrigen nicht verborgen. In der
Nacht zum 26. August gab der König Wilhelm den Befehl, daß die
deutschen Heere gleichfalls nicht weiter nach Westen gegen Paris, sondern
nach Nordosten marschieren sollten. Zunächst ging man darauf aus,
den Franzosen den Weg nach Metz zu verlegen. Aber gleichzeitig
faßte der große General v. Moltke schon ins Auge, die Franzosen gegen
die belgische Grenze zu drängen, sie zu überflügeln und wie in einem
Netze zu fangen. Und so geschah es auch. Von den deutschen Heeren
wurden starke Gewaltmärsche ausgeführt, um die Franzosen zu fassen.
Frohe Siegeszuversicht und festes Vertrauen auf ihre bewährten Führer
ließen die Unsern alle Mühsal überwinden.
Am 30. August lagerte ein französisches Heer bei Beaumont, sorglos
mit der Bereitung des Mittagsmahls beschäftigt. Plötzlich schlugen Gra-
naten in das Lager; es war dem preußischen vierten Armeekorps, dank
der Nachlässigkeit der Feinde, gelungen, unbemerkt heranzukommen. Einem
aufgestörten Bienenschwärme gleich eilten die Franzosen zu den Waffen,
von beiden Seiteil kamen Verstärkungen herbei, und es entspann sich eine
heftige, bis zum Abend währende Schlacht, in t>er die Franzosen gänzlich
geschlagen wurden. Der Sieger war Kronprinz Albert von Sachsen.
Jetzt waren die Deutschen dem Feinde auf der Ferse. Nicht vor-
wärts nach Metz, nicht rückwärts nach Paris konnte der unglückliche Marschall
mehr, im Rücken war die belgische Grenze und, noch auf französischem
Boden, die kleine Festung Sedan. Dahin zog er sich, düsterer Ahnung
voll, zurück. Bei ihm war Kaiser Napoleon III.
Im Bogen um das rings von Bergen überragte Sedan stand am
Abende des 31. August das vom zwecklosen Hin- und Herziehen ermattete
französische Heer. Von Süden her rückten in breiter Linie die an Zahl
überlegenen, siegesgewissen deutschen Krieger heran, den Gegner weit über-
ffügelnd. Den Osten und Südosten sperrte der Kronprinz von Sachsen,
den Süden der Kronprinz von Preußen. Schon begannen einzelne er-
bitterte Kämpfe zwischen den Vortruppen. Die Lage des französischen
Heeres war hoffnungslos.
Es ward Nacht und Morgen. Da mit dem ersten Tagesgrauen
am 1. September bricht es los. Südwärts von Sedan liegt das Dorf
202
Bazeilles, inmitten von Gärten und Parkanlagen, von hohen Mauern
umgeben, besetzt von französischen Seesoldaten, denen die Gelegenheit fehlt,
zur See Dienste zu thun. Auf diese stürzen sich die Bayern. Aber Hecke
für Hecke, Haus für Haus wird ihnen streitig gemacht; der Feind erhält
Verstärkung, dringt vor, wird wieder zurückgeworfen in die engen Dorf-
gassen. Und nun entspinnt sich das gräßlichste der Gefechte. Mit Kolben
und Bajonett wird gerungen, Schuß auf Schuß kracht aus den Fenstern
hernieder, und voller Erbitterung mengen sich zuletzt selbst die Einwohner
in den Kampf, nicht Verwundete, nicht Ärzte und Krankenträger schonend.
Da erwacht der alte deutsche Grimm, und erbarmungslos wütet der Kampf.
Endlich, nach fast siebenstündigem Ringen, siegen die Bayern, und um
11 Uhr räumen die Franzosen das Dorf, in dem Tausende wackerer
Krieger den Heldentod gefunden haben.
Inzwischen immer den Gegner überflügelnd, links und rechts von
den Bayern, sind neue Truppen ins Gefecht getreten. Rechts kämpfen
die Sachsen und die preußischen Garden; links stehen die Würtemberger.
Im Westen ist überdies den Franzosen der Ausgang durch die Maas
versperrt, im Norden taucht Bataillon auf Bataillon der Preußen auf,
die in weitem Bogen um die Festung herumgezogen sind. Der Ring ist
geschlossen. Und über den kämpfenden Bataillonen erscheint Batterie an
Batterie, Granaten hageldicht in die immer mehr zurückweichenden Franzosen-
massen schleudernd. Mit Entsetzen sehen diese die Berge rings sich in
Rauch hüllen, aus dem unaufhörlich blitzende Feuerschlünde ihnen sicheren
Tod entgegensenden. Und dazwischen das Geknatter des Kleingewehrs und
das donnernde Hurra des deutschen Fußvolks, das unaufhaltsam, unwider-
stehlich, allumfassend auf sie eindringt. Da trifft eine Granate den Marschall
Mac Mahon, daß er verwundet vom Pferde sinkt. Und dort lenkt ein
Reiter, nur von wenigen begleitet, sein Roß auf Sedan zu. Erdfahl ist sein
Gesicht, erloschen blicken die Augen. Die Verwundeten am Wege ballen
die Faust, wie er vorüberreitet, und der letzte Fluch ihres Mundes trifft
ihn, ihren Verderber, Napoleon.
Und weiter brüllen die Kanonen, immer enger wird der Ring der
Deutschen. Nichts hilft den Franzosen mehr der hartnäckige Widerstand
ihres Fußvolks, nichts die todesmutige Aufopferung ihrer Reiterei, die
vergebens die deutschen Reihen zu durchbrechen sucht. Es ist kein Halten
mehr. Alles, was von Franzosen nicht tot oder verwundet auf dem
Schlachtfelde liegt, wälzt sich in wilder Verzweiflung, Mann, Roß, Wagen
und Geschütze wirr durcheinander, hinein in die Festung. Doch auch hier
erreichen sie die unbarmherzigen Granaten der deutschen Kanonen rings
auf den Höhen, und bald brechen zu all dem Schrecken an mehreren
Stellen der Stadt noch die Flammen hervor. General Wimpffen hatte
203
für den verwundeten Marschall den Oberbefehl übernommen. Er wollte in
all dem Graus noch einen Versuch machen, sich durchzuschlagen, und lud den
Kaiser ein sich in die Mitte der Truppen zu begeben. Dieser aber hatte
bereits an den König von Preußen geschrieben: „Da ich in der Mitte meiner
Truppen nicht habe sterben können, bleibt mir nur übrig, meinen Degen
in die Hände Eurer Majestät niederzulegen." Wäre es ihm wirklich ernstlich
darum zu thun gewesen, den Tod zu finden, er hätte ihn finden können.
Der König befand sich mit seinen Generälen auf einer südwestlich
von Sedan gelegenen Höhe. Es war gegen sechs Uhr und begann schon
zu dunkeln. In Sedan brannte es an zwei Stellen. Jetzt sah man von
der Stadt auf dem geradesten Wege herauf die Parlamentärflagge und
drei Personen zu Pferde sich nähern. Es waren ein französischer General,
ein Hauptmann vom deutschen Generalstabe und ein Ulanentrompeter mit
der Parlamentärflagge. Der König trat etwas vor. Ungefähr achtzig
Schritt vor dem Monarchen stiegen die Reiter ab. Der General, ein
stattlicher Mann, näherte sich ihm bis auf etwa zwanzig Schritt,
dann nahm er sein Käppi ab und ging mit entblößtem Haupte auf den
König zu, dem er das Schreiben überreichte, indem er sagte: „Das ist
der einzige Auftrag, den mir mein Kaiser erteilt hat." Das Schreiben
entgegennehmend, erwiderte der König: „Aber ich verlange als erste Be-
dingung, daß die Armee die Waffen streckt." Dann trat er zurück, um
einer Gruppe, bestehend aus dem preußischen Kronprinzen, dem Prinzen
Karl, dem Großherzog von Weimar, dem Herzog von Koburg, dem Grafen
Bismarck und dem General v. Moltke, den Brief vorzulesen, dessen Inhalt
sich wie ein Lauffeuer auch außerhalb dieses Kreises verbreitete.
Der König war allmählich ganz nach dem Hintergründe getreten. Dort
nahm er auf einem Stuhle Platz, während ein zweiter Stuhl, den Major
v. Alten in die Höhe hielt, ihm als Schreibtisch diente. So schrieb der
König die Antwort auf den Brief des Kaisers Napoleon. Der Major
v. Alten überbrachte dann das Schreiben des Königs dem französischen
General, der es entblößten Hauptes entgegennahm, darauf zu Pferde stieg
und sich zurück in die Stadt begab. Noch ehe er fort war, hatte sich die
fast wie eine Mär klingende Nachricht blitzschnell unter den Truppen ver-
breitet, und ein unermeßlicher Jubel stieg in die Lüfte. Gefangen war
mitsamt seinem Kaiser das ganze französische Heer. Noch einen
Augenblick hielt der König und schrieb stehend und fast schon in der
Dunkelheit das Telegramm, das auch Berlin und Deutschland in einen
Taumel des Entzückens versetzte.
Am 2. September morgens kam nach wiederholter Drohung mit
neuem Kampfe die denkwürdige Übergabe zu stände. Durch sie wurde die
ganze in Sedan eingeschlossene Armee, die (14000 Verwundete abgerechnet)
204
noch über 83 000 Mann stark war (darunter 50 Generale und ungefähr
4000 Offiziere aller Grade), als kriegsgefangen überliefert. Während der
beiden Kampftage waren bereits 21000 Franzosen gefangen genommen
worden. Dem Sieger fielen als Beute zu: 419 Feldgeschütze, einschließlich
70 Mitrailleusen, 139 Festungsgeschütze, 6000 Pferde und ein überaus
zahlreiches Armeematerial. Ein ungeheures Ergebnis! Die Kämpfe auf
den Gefilden von Troja erscheinen wie Scherzspiele gegen den Riefenkampf
um Sedan.
„Welch eine Wendung durch Gotte.s Fügung!" telegraphierte
der ftomme König nach feiner Hauptstadt. Dann begab er sich nach dem
Schlosse Bellevue, wo mittlerweile der gefangene Kaiser Napoleon ein-
getroffen war. Die Begegnung unter so außergewöhnlichen Umstünden
hatte das Herz des siegreichen Monarchen mit tiefem Ernste erfüllt. In
kurzem, fchonungsvoll geführtem Gespräche nahm er die Wünsche des Über-
wundenen entgegen und bestimmte ihm Schloß Wilhelmshöhe bei Kassel
zum nächsten Aufenthaltsorte. Nach Ferd. Schmidt.
51. Zwei kurze Geschichten ans dem letzten deutsch-französischen Kriege,
a. Die Elsässer Pfarrerin.
Eine Pfarrerin im Elsaß war im Grund ihres Herzens deutsch, nicht
nur in der Sprache, sondern vor allem in dem Ernst und der tiefen
Frömmigkeit ihrer Gesinnung, deutsch in dem Fleiß und der Tüchtigkeit,
mit welcher sie nach allen Seiten hin ihren Beruf erfüllte. Sie selbst
aber glaubte das nicht und hielt es grade jetzt im Kriege für ihre Pflicht,
mit patriotischem Eigensinn an ihrem gesunkenen Frankreich festzuhalten.
Im Anfang des Krieges ward sie von den Leiden desselben verschont, aber
mit verbissenem Ingrimm rüstete sie sich auf die verhaßten deutschen Gäste.
Alle Lebensmittelvorrüte wurden verborgen und eingepackt, die Kellerthüre
mit altem Geräte zugedeckt, die Betten in ein Hinterstübchen verschlossen.
Mit Mann und Söhnen beschloß sie: „Wenn die deutschen Mordbrenner
kommen, so darf kein deutsches Wort geredet werden; sie mögen zusehen,
wie sie unser Französisch verstehen; zu essen bekommen sie nur das Nötigste,
um ihren Hunger zu stillen; zu trinken giebt's nur Wasser, zur Lagerstätte
Stroh; man läßt sie nicht sehen, daß mehr im Hause ist. Mehr siud wir
den Feinden unseres Landes nicht schuldig."
Mehrere Tage verflossen in der Stille, nachdem dieser kräftige Be-
schluß gefaßt war. Eines Abends aber — sie war recht müde und freute
sich zur Ruhe zu kommen; draußen war es kalt und stürmisch — da
klopft's gewaltig an der Hausthür, und herein tönt's „Quartier draußen!"
In düsterer, beleidigter Würde erhob sich die Pfarrerin, um ihren Feinden
205
entgegenzutreten; ruhig und gelassen schloß der Pfarrer sein Buch. Nun,
die neun Mann, die da draußen standen, sahen nicht aus wie übermütige,
siegestrunkene Krieger. Sie stammten aus Preußisch - Polen und hatten
ihre Schuldigkeit gethan; jetzt aber kamen sie vom langen Marsch durch
Wind und Wetter, todmüde, hungrig, erfroren, zerfetzt, und schauten lüstern
in das lampenhelle Zimmer, aus dem so behagliche Wärme strömte.
Der ruhigere Pfarrer kam nach, um zu mildern und zu vermitteln,
wenn seine Frau ihren patriotischen Haß zu unverblümt zeigen sollte. Es
war nicht nötig; der Anblick der Leute war der guten Frau ins Herz ge-
gangen. Das Französische, die Zurückhaltung war vergessen. „Kommt nur
schnell in die Stube und wärmt euch!" war das erste Wort an die Feinde.
Weit auf that sie die Thüre und rückte die Stühle zum Ofen. Auf gut
Deutsch rief sie ihre Söhne herbei: „Christian, grabe den Zuckerhut aus;
Karl, hole Wein! Alter, hilf du den Leuten, daß sie sich wärmen können!"
Den erfrorenen Soldaten war wunderbar zu Mute, als sie freundliche,
deutsche Worte hörten und die Betten zum Nachtlager herbeikamen. Es
dünkte ihnen fast wie ein Traum, wie sie so gut ihn noch nicht geträumt,
feit sie im Felde waren. Zuletzt erhob der Pfarrer noch gar sein Glas,
um mit den ungebetenen Gästen anzustoßen. Der Trinkspruch des Pfarrers
aber war der beste von allen; es war der alte Weihnachtsgruß, dessen Er-
füllung uns oft leider so ferne scheint: „Ehre sei Gott in der Höhe und
Friede auf Erden!" und die Gäste haben sich darauf mit herzlichem Gruß
und Dank niedergelegt zu einer Ruhe, wie sie dieselbe schon lange so gut
nicht genossen hatten.
Als am zweiten Tage die Krieger weiter ziehen mußten, ist es ihnen
blutsauer geworden; den ungebetenen Gästen und den gezwungenen Wirten
ist beim Abschied das Auge feucht geworden. Die Soldaten konnten ihren
Gastfreunden nichts zurücklassen als ihren Dank; aber sie haben sich und
ihnen heilig gelobt, wenn sie auch als Kriegsleute ihre blutige Pflicht im
Kampfe erfüllen müßten, daß sie doch menschlich und freundlich verfahren
wollten mit allen Franzosen, die das Los der Schlachten in ihre Hände
führen würde, in dankbarem Andenken an das freundliche Pfarrhaus im
Elsaß. Nach N, Lauxmann.
b. Der Hauptmann und seine Kinder.
In den südlichen Gefechten bei Le Mans hatten unsere Soldaten alle
Kraft aufzubieten, um die größten Anstrengungen zu bestehen und das schreck-
liche Feuer des Feindes auszuhalten. Am 11. Januar 1871 war eine Kom-
panie mutig vorgegangen, um einen Hügel nach dem andern zu erstürmen.
Aber auf der letzten Höhe standen drei Mitrailleusen, welche für die kleine
Truppe furchtbar verheerend werden konnten. Da wählte ein Hauptmann
206
vom 11. Infanterie-Regiment eine kleine Anzahl von Leuten aus, um das
Ziel zu erreichen. Leise schlichen sie durch die Schlucht und erstiegen in
aller Stille den Gipfel, wo die vielläufigen Geschütze ihren Kugelhagel
ausspieen. Der Abhang war so steil, daß die Mitrailleusen nicht so tief
gerichtet werden konnten, um sie in der Schlucht noch zu treffen. Am
Hügelrand halten sie einen Augenblick, dann stürzen sie mit einem wilden
Hurra vorwärts; die Franzosen können nicht widerstehen, sie fliehen, werden
erschlagen oder gefangen. Die Höhen sind im Besitz der Deutschen.
Allein während unser tapferer Hauptmann mit seinen ausgewählten
Kindern sich der Siegesthat freute, flogen durch ein Mißverständnis preußische
Kugeln auf sie zu, und er wird ziemlich schwer getroffen. So mußte er auf
der Höhe in einem Weiler bleiben, der bald von Franzosen besetzt wurde.
Diese hätten ihn als Gefangenen mitgeschleppt, aber eine Frau, welche
seine Freundlichkeit gegen die französischen Verwundeten beobachtet hatte,
nahm sich seiner an, ließ ihn auf ihr Bett legen und erweckte bei ihren
Landsleuten das Mitleid so, daß sie ihn zurückließen. Die Nacht brach
herein, und seine Getreuen dachten darauf, wie sie ihren Hauptmann
wieder befreien könnten. Sie gingen leise vor, schlichen sich in das Dorf,
wo die Franzosen der Ruhe pflegten, kamen zu dem Hause mit einer
Bahre und flüsterten ihm zu: „Jetzt, Herr Hauptmann, jetzt ist es Zeit!"
Sie legten ihn auf die Bahre, faßten kräftig an, und leise, wie sie gekommen
waren, schlichen sie von dannen. Er war durch seine Kinder befreit.
Das machte die Freundlichkeit gegen die Verwundeten und gegen
die Untergebenen. Solche Thaten wie diese werfen einen mildernden
Schein auf die Greuel des Krieges. N. Lauxmann.
52. Ein Schülerbesuch bei Kaiser Wilhelm I. in Ems. 1877.
Der 26. Juni 1877 wird uns Lehrern und Schülern einer der denk-
würdigsten Tage bleiben: war es uns doch vergönnt, an diesem Tage
unsern Kaiser Wilhelm in Ems zu besuchen. Auf eine vorherige mündliche
Anfrage des Direktors beim Hofmarschallamte hatte Se. Majestät in huld-
vollster Weise seine Erlaubnis gegeben. Morgens 4 Uhr schon fuhren
Lehrer und Schüler, letztere uniformiert und mit Lanzen bewehrt, von
mehreren hundert Angehörigen begleitet, mit Extrazug nach Ems. Dort
ordnete sich am Bahnhof das Schülerbataillon, sein eignes Musik- und
Trommlerkorps an der Spitze, und zog dann mit klingendem Spiel und
flatternden Fahnen durch die menschengefüllten Straßen vor die Wohnung
des Kaisers, wo nach besonderer Anordnung des Hofmarschalls Aufstellung
genommen wurde.
207
Um 9 Uhr erschien Se. Majestät, von der Frühpromenade kommend,
auf dem Platze, mit kräftigem Trommelwirbel und Präsentieren der Lanzen
begrüßt. Als auf seine Weisungen: „Lassen Sie schultern," „Lassen Sie
Gewehr abnehmen", die entsprechenden Kommandos vom Direktor gegeben
wurden, mochte das „Gewehr ab" bei dem uns umwogenden Lärm und
Gedränge der Zuschauer auf dem linken Flügel wohl nicht deutlich gehört
worden sein: genug, die dort stehenden Sextaner klappten mit ihren Lanzen
auf dem Steinpflaster nach. Natürlich war dies dem militärisch geübten
Ohr des Kaisers nicht entgangen, denn er quittierte darüber mit kurzem,
herzhaftem Lachen, aus dem doch das reinste Wohlwollen herausklang.
Dann trat Se. Majestät näher heran und ließ sich zunächst vom
Direktor die Lehrerschaft vorstellen. Bei der Besichtigung der Schüler
redete er hier und da einen von ihnen in leutseligster Weise an und be-
schäftigte sich besonders freundlich mit den Quintanern und Sextanern. Dann
ging's im Parademarsch zweimal am Kaiser vorüber. Nachdem die frühere
Aufstellung wieder eingenommen war, trat Se. Majestät nochmals an die
Front heran und richtete hier und da eine scherzhafte Frage an die Knaben.
Einer von ihnen mußte seinen Tornister öffnen, einem anderen untersuchte
er den Inhalt seines Brotbeutels, aus welchem zur großen Belustigung
des Kaisers und der zahlreich sich herandrängenden Zuschauer ein tüchtiges
Butterbrot zum Vorschein kam. Se. Majestät erkundigte sich beim Direktor
in freundlich eingehender Weise nach den Verhältnissen der Anstalt, wann
und wie oft die militärischen Übungen vorgenommen würden u. s. w„ und
sprach seine Anerkennung aus für das Streben, den Schülern auch Sinn
für soldatische Zucht, Ordnung und Gehorsam einzuflößen.
Schließlich sah sich der Kaiser noch am rechten Flügel das Musikkorps
näher an, richtete freundliche Worte an einige der jungen Musiker und
unterhielt sich scherzend mit dem alten Musikmeister, der in treuherzig
biederer Art und in unverfälschtem westfälischem Dialekt Rede und Antwort
stand. Huldvoll grüßend rief dann der Herrscher der jungen Schar Lebe-
wohl zu mit den Worten: „Adieu, meine lieben Jungens, auf Wiedersehn!",
verabschiedete sich vom Direktor und Lehrerkollegium und zog sich unter
stürmisch-begeisterten Jubelrufen in seine Wohnung zurück.
Nun wurden die Knaben in den großen Saal des Kurhauses geführt,
um dort auf Befehl des Kaisers mit Kaffee und Kuchen bewirtet zu werden.
In stolzem Hochgefühl saßen die Jungen mit hochroten Wangen und
leuchtenden Augen als Gäste des Kaisers an den langen Tafeln und
thaten Speise und Trank alle Ehre an, sodaß die kaiserlichen Lakaien gar
hurtig hin- und hereilen mußten, um die hungrige und durstige Schar zu
befriedigen. Nachher ging's im Zuge durch die Anlagen auf der anderen
Lahnseite, dann wieder zurück in den Kurgarten, wo die Schülerkapelle im
208
Musiktempel ein kleines Konzert gab. Während des Zuges durch die An-
lagen war der Kaiser ans offene Fenster getreten und hatte lächelnd wohl
eine Viertelstunde lang den Schülern nachgeblickt. Da es inzwischen Zeit
geworden war zur Rückfahrt nach Oberlahnstein, wo das Mittagsmahl
eingenommen und von wo aus noch die Burg Stolzenfels besucht werden
sollte, so ordnete sich das Bataillon zum Abmarsch nach dem Bahnhof.
Unter den Klängen von: „Ich bin ein Preuße" ging's an der Wohnung
des Kaisers vorbei. Nochmals zeigte sich Se. Majestät am Fenster und
winkte den Schülern, von ihrem begeisterten Hurra begrüßt, ein freund-
liches Lebewohl zu.
Am Bahnhof richtete ein Herr im Namen der Badegäste an Direktor
und Lehrerschaft herzliche Worte des Dankes für die ihnen bereitete
Freude, worauf das Musikkorps zur Erwiderung einen lustigen Marsch
blies. Unter den Klängen desselben und tausendstimmigem Jubelruf der
zahlreich anwesenden Zuschauer brauste der Zug von dannen.
Im Hotel Lahneck zu Oberlahnstein hatte man alle Hände voll zu
thun, um die gewaltige Schar der Gäste zu befriedigen. Die Schüler,
welche an zwei langen Tafeln im Garten saßen, wurden zuerst bewirtet
und fuhren dann in Abteilungen, geführt von einigen Lehrern, auf einem
Dampfer über den Rhein, um die Burg Stolzenfels zu besuchen. Unter-
dessen saßen die Eltern und Angehörigen der Schüler mit einem Teil des
Lehrerkollegiums im großen Saale des Hotels beim Mittagsmahl. Hier
gab der Direktor der freudig erregten Stimmung aller Ausdruck, indem er
der herzgewinnenden und bezaubernden Liebenswürdigkeit des Kaisers gegen
unsere Schüler gedachte und die Versammlung zu einem Hoch auf Se. Ma-
jestät aufforderte, in welches sie mit Begeisterung einstimmte. Der Vater
eines Schülers sprach dem Direktor und der Lehrerschaft den Dank der
Eltern aus für den ihren Söhnen bereiteten schönen Festtag, worauf einer
der Lehrer mit einem Hoch auf unsere Schuljugend antwortete. Abends
6 Uhr erfolgte die Heimfahrt.
Kein Unfall, kein Mißton hat die Freude des schönen Tages getrübt,
und so wird er mit seinen erhebenden Eindrücken Lehrern wie Schülern
unvergeßlich bleiben.
E. Esch. Aus dem Jahresbericht der Realschule Barmen-Wupperfeld.
209
V. Naturgeschichtliches.
53. Säume und Slumen beim Nahen des Frühlings.
1. Der Winter hat Abschied genommen, der Schnee ist größtenteils
zergangen, die schöne Eisbahn, wo wir uns so froh tummelten, ist zu
Wasser geworden; Schmutz und fahles Gras bedecken Wege und Wiesen.
Nur die junge Roggensaat zeigt frische Farben. Und doch fühlen wir:
der Frühling ist da. Die mildere, feuchtere Luft, das Jubeln der Lerche,
das Rauschen des vom Eise befreiten Flusses zeigen uns die beginnende
Herrschaft des Lenzes. Auch die Pflanzenwelt hat die starren Fesseln des
Winters gesprengt; die wärmere Sonne, die reichliche Feuchtigkeit rufen
an Bäumen und Stauden frische Triebe hervor und beleben tausend Keime,
die uns neue Sommerlust verheißen.
Wie schön ist der Blick vom hohen Ufer das lange, tiefe Flußthal
hinab! Die großen Bäume, die nahe am Wasser stehen, sind Erlen,
auch Ellern genannt. Vor einigen Wochen noch schwarz, schimmern sie
jetzt rötlich: sie blühen. Lange Troddelchen werden vom Winde bewegt
und aus einigen steigen gelbliche Staubwolken empor. Klopfe ich mit
solch einem Blütenkätzchen auf die flache Hand, so entleeren gelbliche Beutel
eine Schicht Staub. Den nennt man Blüienstaub, die ihn bergenden
Organe Staubgefäße oder Staubblätter, und die Blüten, an denen er
haftet, männliche. Ans einigen kommt trotz alles Klopfens kein Staub
heraus. Sie haben schon verstäubt; denn schon im März, wenn noch die
Wurzeln der Erlen mit Schnee und Eis bedeckt sind, fangen manche an
zu blühen.
Noch andere Blüten entdeckt man auf der Erle: kleinere zwar, aber
noch schönere. Dunkelrot leuchten sie uns entgegen. Sie stäuben nicht,
doch sehen wir zwischen den kleinen Schuppen rote Fäden hervorlugen.
Das sind die klebrigen Narben, welche auf kugligen Fruchtknoten sitzen.
Fruchtknoten und Narben nennt man Stempel, und Blüten, welche sie
beherbergen, weibliche oder Stempelblüten. Wer scharfe Augen hat, sieht
gelben Staub an den Narben haften, der von den männlichen Blüten
stammt. Nun sind die Stempel befruchtet, d. h. nun können sie sich in
Früchte verwandeln. Wir finden auf den Erlenbänmen schwarze, holzige
Zapfen, die vom vorigen Jahre stammen, hart sind und aussehen wie
kleine Kiefernzapfen. Zwischen ihren Schuppen sitzen noch einige Früchtchen.
Die meisten sind schon herausgefallen. Es sind dunkelbraune, platte
Körnchen, die durch heftiges Anblasen, also auch durch stärkere Winde,
eine kurze Strecke fortgetragen werden.
Lesebuch für höhere Lehranstalten. (Prenß. Ausg.) Hl.
14
210
Hier stehen auch Haselsträucher, deren blattlose Zweige mit langen,
gelblichgrauen männlichen Blütenkätzchen geschmückt sind. Die weiblichen
Blütenstände sind die dickeren unter den Knospen, die sich — wie Mädchen
zum Tanze — mit roten Federschöpfchen geschmückt haben. Daraus ent-
stehen später 2—3, hin und wieder gar 8—10 Nüsse, deren jede in
einem kleinen, aus Blättern gebildeten Näpfchen sitzt.
Die Birke ist aber noch winterlich kahl, nur über und über mit
kleinen Knöspchen bedeckt, aus denen später Zweige, Blätter und Blüten
entstehen. Bohrt man eine Öffnung in den Stamm, so strömt ein wasser-
heller Saft heraus, der süßlich schmeckt und von Kindern gern getrunken
wird. Man kann daraus einen berauschenden Trank bereiten. Wer aber
Lust hat, einen Baum anzuzapfen, der bedenke, daß er ihm damit seine
Nahrung entzieht. Nur wenn der Saft bis in die feinsten Zweige hinauf-
steigt, können alle Knospen schwellen und aufbrechen. Mit jedem Tröpfchen
Saft, das man dem Baume raubt, verurteilt man ein Blatt, eine Blüte
zum Hungertode, ja öfter wiederholtes Anzapfen kann den Baum töten.
Die grasigen Abhänge der Flußufer sind gleichfalls schon von einem
schwach grünlichen Schimmer überzogen. Oben im lockeren Sande wächst
ein zollhohes Pflänzchen, „Hungerblümchen" genannt, weil es aus
Boden wächst, wo andere Pflanzen verhungern, während dies zierliche
Kräutchen hier nicht nur gedeiht, sondern sogar kräftiger wird als auf
guter schwarzer Erde. Weiter unten im Thale findet man die glänzend
grüne Vogelmiere, auf den lehmigen Abhängen die schuppigen Stengel
des Huflattichs mit ihren gelben Blüten und unterirdischen, weit
verzweigten Wurzelstöcken, und das schöne Himmel sch lüsselchen mit
beinahe entfalteten gelben Blüten. Auf der Wiese am Ufer blüht in
Menge das Tausendschönchen. In dem buschigen Teile des Flußthales
hat das Leberblümchen, fälschlich wohl auch Veilchen genannt, seine
tiefblauen Sterne entfaltet. Die Blätter der jungen Blüte sind klein,
wachsen aber mächtig nach, je nachdem sich die Staubfäden strecken. So
kann durch Zusammenfalten und Abwärtsneigen der Blüte der Staub
immer vor Nässe und Kälte geschützt werden. Der Lerchensporn hat
schon vollblühende Trauben, während die Anemone noch in Knospen
steckt. Im tiefen Schatten finden wir den jetzt noch blattlosen, doch auch
schon reich blühenden Seidelbast*), der zu unsern gefährlichsten Gift-
pflanzen gehört. Auf der sumpfigen Wiese wachsen das grüngoldige Milz-
kraut und das saftiggrüne Scharbockskraut mit schönen, goldigglänzenden
Blütensternen.
Alle diese Pflanzen haben andere Blüten als Erle und Haselstrauch.
*) Vergl. S. 214.
211
Ihre bunten Kronblätter lassen sie schöner und vollkommener erscheinen.
Auch besitzen sie sowohl Staubblätter wie Stempel, es sind sogenannte
Zwitterblüten.
2. Wie mögen nun diese Frühlingspflanzen ausgerüstet sein, daß sie
schon blühen können, wo doch kaum der Frost die Erde verlassen und die
meisten andern noch gar nicht angefangen haben zu wachsen? Um zu
wachsen, brauchen die Pflanzen, ebenso wie die Tiere, Nahrung. Diese
nehmen sie mit dem Munde auf, wie aber jene? Wer seinen Stuben-
pflanzen etwas Gutes thun will, begießt sie mit nährendem Wasser oder
giebt in die Töpfe etwas Dung, der vom Wasser gelöst und von den
Wurzeln aufgesogen wird. Aus der Erde aber konnten die Frühlings-
pflanzen noch wenig Nahrung ziehen, denn die war vor kurzem noch hart
gefroren. Sie müssen also selber Nahrungsvorrat besitzen. Aber wo
haben sie ihre „Speisekammern"? Von den Bäumen wissen wir es. Sie
haben im Holze ihres Stammes dicht unter der Rinde den Vorrat auf-
gespeichert und treiben nun, indem ihre Wurzeln aus den lieferen, auch
im Winter nicht gefrorenen Erdschichten Wasser aufsaugen, den nährenden
Saft empor in die höchsten Zweige. Wie sie hat auch der Seidelbast im
holzigen Stamme Nahrung fürs Frühjahr gesammelt. Das Scharbocks-
kraut besitzt diesen Vorrat in den Knollen, die zwischen den Wurzelfasern
hangen; das Leberblümchen, die Anemone, der Huflattich, das Himmel-
schlüsselchen in ihren dicken, in der Erde steckenden Stengeln; der Lerchen-
sporn hat runde, saftige unterirdische Knollen. Jetzt brandschatzen all diese
Frühlingskinder ihre unterirdischen Vorratskammern. Ist die Zeit des
Blühens vorbei, so finden wir Zwiebeln und Knollen schlaff und welk.
Dann gilt's für die Pflanze, sie aufs neue zu füllen.
Der aufgespeicherte Nahrungsstoff all dieser Gewächse kann auch von
den Menschen genossen werden. So hat man bei Hungersnot aus den
Knollen des weit verbreiteten Scharbockskrautes schon Brot gebacken, sich
sogar von Baumrinde ernährt. Für gewöhnlich aber verschmäht man solche
Nahrung, die nicht nur unschmackhaft, sondern oft sogar schädlich ist.
3. Wie kommt's nun endlich, daß die Pflanzen im Winter nicht er-
froren sind? Die Bäume werfen ihre Blätter im Herbst ab, und die
neuen stecken noch warm eingehüllt in Knospen. Die jungen, winzigen,
vielfach gefalteten Blättchen sind dicht behaart, als hätten sie ein Pelzchen
an; außerdem werden sie von harzigen, dicken Schuppen umschlossen und
geschützt, und sind auch selbst von einer Harzschicht bedeckt. Einige Bäume
haben noch das vorjährige, welke Laub festgehalten; hier die Hainbuche,
dort die Eiche. Das mag ihnen wohl auch Schutz gewährt haben. —
Aber die zarteren Gewächse haben sich zum Schutz gegen die Kälte
ganz in die Erde zurückgezogen. So der Lerchensporn, dessen Knolle tief
14*
212
int Boden steckt. Er hat es gut in seinem warmen Bettchen. So auch
die Anemone, der Huflattich, das Himmelschlüsselchen und das Leber-
blümchen. Dazu sind sie auch durch das abgefallene Laub der Bäume
schön zugedeckt.
Weit schlimmer daran ist das Tausendschönchen; doch es ist recht ab-
gehärtet und überdauert den ganzen Winter; ebenso das Milz- und das
Scharbockskraut. Woher es aber kommt, daß manche Pflanzen strengen
Frost vertragen, andere schon bei gelinder Kälte zu Grunde gehen, das ist
noch nicht völlig klargestellt. Jedenfalls sind saftige, wasserreiche Pflanzen
dem Verderben eher ausgesetzt als trockene und harte.
Übrigens kann man alle jene Pflanzen und Stauden, über deren
Blüten wir uns freuten, in den Garten verpflanzen. Doch muß man
genau darauf achten, auf welchem Boden sie stehen, ob sie im Schatten
oder Lichte wachsen, feuchten oder trockenen Standort haben. Auch die
Tiefe der deckenden Erdschicht ist von Wichtigkeit. Alle natürlich gegebenen
Verhältttisse müssen wir ihnen wieder verschaffen, sollen sie uns mit ihren
Blüten erfreuen. Falsch wäre es auch, alle gleichmäßig stark zu gießen.
Scharbockskraut braucht viel Feuchtigkeit, weniger das Himmelschlüsselchen
und Stiefmütterchen, und gar das Hungerblümchen stirbt ab, wenn man
es zu naß hält. Wie wir Menschen machen auch die Pflanzen ganz ver-
schiedene Lebensansprüche, ja sie halten ihre Eigenart noch zäher fest als
die Menschen. Darum muß jeder, der Freilandpflanzen im Garten ziehen
will — das Frühjahr ist aber die richtige Zeit zum Verpflanzen — sorg-
fältig deren Lebensweise erforscht haben. Nach B. Landsberg.
54. Der Wasserreichtum des Waldes.
Die Luft, welche über weiten Waldstrecken steht, wird mehr abgekühlt,
als die über baumlosen Gegenden. Durch die Abkühlung verdichten sich
die Wasserdünste über den Wäldern und fallen in häufigen Regengüssen
auf sie nieder. Der durch die Baumwurzeln aufgelockerte Boden nimmt
das Regenwasser willig auf; die faulenden Blätter und die Moose, welche
häufig den Waldboden bedecken, halten wie ein Schwamm die Feuchtigkeit
fest; das dichte Laubdach der Bäume verhindert, daß die Sonnenstrahlen
die Erde austrocknen. Aus diesen Gründen ist der Waldboden beständig
mit Wasser gesättigt. Dieses Wasser nährt manchen Quell in der Erde
und verbreitet so Fruchtbarkeit weit umher. Es kann uns deshalb nicht
wundern, daß da, wo ntan die Wälder zum größten Teile ausrodet, die
Länder ihrer Fruchtbarkeit beraubt werden.
So bedeckten in alter Zeit herrliche Bäume die Berge Griechenlands
wie Italiens, und das wohl bewässerte Land trug Früchte im Überflüsse
213
und ernährte eine zahlreiche Bevölkerung. Aber die Menschen zerstörten
mutwillig selbst ihr Glück. Die Wälder wurden durch ihre Hand ver-
wüstet, und mit den Wäldern verschwanden die segenspendenden Büche. Nun
lechzten die ausgedörrten Ebenen nach Wasser. Der Regen fiel in ge-
ringer Menge auf das Land; und wenn er auch kam, so wurde er vom
Boden nicht mehr festgehalten und den verborgenen Quellenkammern zu-
geführt, sondern er schwemmte nach und nach das lockere Erdreich von
den Abhängen der Berge herab und machte sie dadurch unfruchtbar. Wenn
die warme Frühlingsluft die baumlosen Berge berührte, so wurde der
Schnee nicht mehr allmählich unter dem kühlenden Schirme der Wälder
aufgetaut und von dem schwammigen Waldboden aufgesogen. Nein, rasch
wurde er in Wasser verwandelt, und dieses stürzte mit rasender Eile auf
die Ebenen herab und brachte Verderben weit und breit. Für die Thäler,
welche sich an Hochgebirgen hinziehen, sind die Wälder auf den Abhängen
der Berge von großer Wichtigkeit, weil sie dem Lawinenstürze eine Wehr «
entgegenstellen. Darum lebt auch in solchen Gegenden die fromme Sage
im Volke, daß die Bäume bluten, wenn man mit der Axt einen Streich
darauf führt, und daß dem, der sie mutwillig beschädigt, die Hand aus
dem Grabe wachse.
Auch unser Vaterland würde großen Schaden haben, wenn man alle
die Wälder, welche noch so viele seiner Anhöhen bedecken, ausrodete.
Viele Bäche würden während der heißen Jahreszeit versiegen, wenn der
Schnee und der Frühlingsregen ihnen nicht in dem Dunkel der Wälder
allmählich Nahrung zuführte. Bei der plötzlichen Schneeschmelze würden
von den kahlen Abhängen der Berge die Wasser so jählings in die Flüsse
stürzen, daß sie aus ihren Ufern treten müßten. Schon jetzt werden die
Überschwemmungen, welche fast jährlich die Ufer der Oder, der Elbe, des
Rheines und so vieler anderer Flüsse heimsuchen, von Sachverständigen
der Verwüstung der Wälder zugeschrieben, welche einst an den Quellen
dieser Gewässer Berge und Hügel bedeckten. Wetzels Lesebuch.
55. Unsere Giftpflanzen.
Was die heilige Schrift von den Früchten des Paradieses sagt, deren
Genuß den Menschen verboten war, das gilt auch von unseren Gift-
gewächsen. Die meisten von diesen sind lieblich anzuschauen; gar manchem
dünkt, daß von ihnen gut zu essen sei; und doch lauert hinter all der
trügerischen Pracht nur der Tod auf den Unvorsichtigen, der sich ver-
locken läßt, ihre Früchte oder Wurzeln zu genießen. — Treten wir einmal
eine kleine Wanderung an, um einige dieser schönen und doch so furcht-
baren Unholdiunen kennen zu lernen. Wir brauchen zunächst nur bis in
214
den Garten zu gehen. Dort schimmern auf Lehm- und Schutthaufen
zwischen brennenden Nesseln und harmlosen Sternkräutern hervor die
röhrenförmigen Blüten des Bilsenkrautes, deren mattes Gelb durch
zierliche violette Adern unterbrochen wird. Ihr widerwärtiger Geruch wird
verstärkt durch die weißen Blütentrichter, die der sperrig in die Höhe ge-
schossene Stechapfel dem Sonnenlichte zubreitet. Am Fuße der alten
Gartenmauer ranken Stengel empor, zwischen deren eiförmigen Blättchen
schwarze oder rote Beeren sich hindrängen; hier haben wir den schwarzen
und den bittersüßen Nachtschatten, nahe, aber unnütze Verwandte der
so nützlichen Kartoffel, die freilich, unreif genossen, auch schädlich werden
kann. Wir gehen an einem Strauche mit lebhaft roten Beeren vorüber;
..es ist der Seidelbast, auch Kellerhals genannt, der uns mit seinen
starkduftendeu, scharlachroten Blüten erfreut. Sieh! dort hat sich ein arges
Giftgewächs heimtückisch unter die gutgezogene Petersilie geschlichen, die
. Hundspetersilie oder der Gartenschierling. Den Frevler, wie täuschend
er sich auch in das Gewand jenes friedlichen Küchengewächses gehüllt hat,
verrät aber sein Räuberbart. An jeder Blütenhülle des Gartenschierlings
hängen nämlich drei lange, schmale grüne Blättchen herab, die der Peter-
silie fehlen. Die ganze schlimme Sippe des Schierlings, namentlich der
gefleckte Schierling, dessen Stengel mit roten Tüpfelchen umsäumt ist,
und der Wasserschierling, an dessen weißgelben, möhrenformigen Wurzeln
sich schon mancher Mensch den Tod gegessen hat, sie müssen ohne Gnade
ausgerottet werden, wo man sie nur findet. Dagegen mag man den
hübschen Goldregenstrauch in der Gartenecke, den blauen Sturmhut,
wie den weißen und roten Fingerhut im Gartenbeete immer zur Zierde
stehen lassen, obwohl ihnen allen nicht zu trauen ist. An Schöllkräutern
vorbei, mit deren gelbem Milchsäfte Kinder sich gern Warzen wegbeizen,
schlüpfen wir durch ein Hinterpförtchen aus dem Garten, überschreiten
einen mit schlammigem Wasser gefüllten Graben, in welchem der gelb-
blühende scharfe Hahnenfuß sich ausbreitet, und kommen auf das Feld.
Im Winde hin und her schwanken die hohen Halme des Roggens,
die blutroten Köpfe des Ackermohns und die blauen der Korn- oder
Flockenblume. Doch halt, was ragen da aus vielen Ähren für merk-
würdige violette Körner weit hervor! Diese Auswüchse, Mutterkorn
genannt, hat man ähnlich wie die rußigen Körperchen, die man auf
manchen Haferrispen findet, als kleine Pilze zu betrachten, die dem Mehle,
dem sie beigemischt werden, schädliche Eigenschaften verleihen. Wir schreiten
hierauf rüstig dem kühlen Walde zu. Kaum find wir in ein kleines
Vorholz eingetreten, bestehend aus Haselnuß-, Erlen-, Weiden- und
Ahornsträuchern, so gewahren wir auf dem feuchten, beschatteten Boden
eine kleine Pflanze, deren vier saftiggrüne Blätter eine schwarze, beinahe
215
kirschgroße Beere einschließen; es ist die giftige Einbeere, die wir vor
uns haben. Ihr zu Seite steht der schmucke Aron, der seinen fleischigen
Kolben über die pfeilförmigen Blätter erhebt. Nicht weit davon glänzen
aus dem dunklen Laube eines strauchartigen Gewächses die schwarzen
Beeren der Tollkirsche uns entgegen. Wir glauben diesem giftgetrünkten
Boden entfliehen zu müssen und steigen die Berglehne hinan, bis uns
Nadelwald umfängt; doch auch hier stellen sich Unholdinnen, wenn auch
anderer Art, ein. Dieser Eibenbaum, der hier so traulich wie der
allgeliebte Tannenbaum dich anschaut, wird im Spütherbste mit wunder-
schönen karmoisinroten Beeren prangen, deren Genuß nicht zuträglich ist.
Und siehe, wie der Boden buntgesprenkelt erscheint durch die Menge der
umherstehenden Pilze! Da ist vor allem der hochrote, mit weißen Punkten
wie mit Zuckerkrumen bestreute Fliegenpilz, der zerschnitten in eine
mit Milch gefüllte Schüssel gelegt und so leichtfertigen Stubenfliegen vor-
gesetzt wird, damit diese davon naschen und sterben sollen. Ebenso finden
wir dort den blauen und roten Täubling, die Giftmorchel u.s.w.
Glücklicherweise verbreiten die meisten Giftpflanzen einen ekelhaften
Geruch um sich, enthalten viele auch einen mißfarbigen Saft, wodurch der
Mensch oft vor deren Genusse, welcher heftige Kopf- und Leibschmerzen,
Schwindelanfälle, wohl gar den Tod zur Folge hat, zurückgeschreckt wird.
Ein verständiger Mensch ißt niemals von einer Pflanze, die er nicht genau
kennt, irgend welchen Teil, weder Wurzel, noch Stengel, noch Blatt, noch
Frucht. Hat aber jemand unwissentlich etwas Verderbliches genossen, so
muß schleunigst ein Arzt herbeigeholt werden. Bis dieser eintrifft, mag
der Kranke Milch, Öl oder auch Seifenwasser trinken, mit einer Feder
im Schlunde gekitzelt werden, damit womöglich das Genossene wieder aus-
gebrochen wird. — Wie sehr man im allgemeinen auch die Giftpflanzen
ihrer Schädlichkeit halber fürchten muß, einige von ihnen sind doch wert-
zuhalten, da sie uns unersetzliche Arzneistoffe liefern, z. B. der Mohn,
der Fingerhut, der Sturmhut, das Bilsenkraut. Als eine Merkwürdigkeit,
die uns beweist, wie sehr verschieden geartet der Geschmack bei den Völkern
der Erde ist, sei noch mitgeteilt, daß im östlichen Asien, in Kamtschatka,
die Leute ein ans Fliegenpilzen bereitetes Getränk mit demselben Wohl-
gefallen trinken, wie wir Kaffee oder Bier. Gustav Gesell.
56. Älumen und Insekten.
Zahlreich und innig sind die Beziehungen zwischen Blumen und In-
sekten. Schon ihr Äußeres zeigt häufig eine Ähnlichkeit, welche diese an
sich ganz verschiedenen Gebilde der Natur für uns miteinander verbindet.
Die prächtigen bunten Farben der Schmetterlinge erinnern an das liebliche
216
Gewand, mit welchem die Blumen sich schmücken, und die bilderreiche
Sprache des Morgenlandes hat denn auch gewisse besonders schön gefärbte
Falter „geflügelte Blumen" genannt. Doch nicht bloß in der Farbe, auch
in der Gestalt ähneln manche Blumen den Insekten. Eine der in unseren
Treibhäusern zahlreich gezogenen ausländischen Orchideen-Gattungen hat
sehr große und schöne Blüten, die einem Schmetterlinge so gleichen, daß
man die Pflanze den vegetabilischen Schmetterling genannt hat. Die
Damen jener Tropengegenden pflegen ihr Haar mit diesen „sitzenden
Faltern" zu schmücken. Andere Blütenformen derselben Familie ahmen die
Gestalten von Fliegen, Bienen oder Spinnen gewissermaßen täuschend nach.
Daß die Insekten die Blumen lieben und sie häufig besuchen, ja in
deren Kronen und Kelchen oft einen länger dauernden Aufenthalt nehmen,
läßt sich täglich beobachten. Die wasserklare, sehr süße Flüssigkeit, welche
die Blumen ausscheiden, und die wir Honigsaft oder Nektar nennen, bietet
wie auch der Blütenstaub den Insekten geeignete Nahrungsstoffe dar.
Meistens kennen die Tierchen die Blumen gar wohl, die ihnen nützen,
oder lernen sie doch bald von den anderen unterscheiden. Stehen honig-
führende und honiglose Blumen zwischeneinander, so sieht man bisweilen
die Bienen in die Kronen beider hineinkriechen, bemerkt aber bald, daß sie
sich auf die nektarspendenden Arten beschränken, wenn sie die honiglosen
mehrfach vergeblich durchsucht haben. Den Blütenstaub pflegen die Käfer
innerhalb der Blüte selbst zu verzehren; andere Insekten tragen denselben
in ihren Bau, wie von den Bienen allgemein bekannt ist. Eine große
Anzahl von Insekten vermag ohne diese Nahrung nicht zu leben.
Vorzüglich Blumen mit lebhaften, schimmernden Farben locken die
Insekten an und werden besonders gern von ihnen besucht. Im allge-
meinen sind das freilich zugleich die reiche Nahrung spendenden Pflanzen;
allein wie die Menschen sich des Anblicks schön gefärbter Blumen freuen,
so scheinen auch einige Insekten sich in ähnlicher Weise an deren Farben-
pracht zu ergötzen. Größere Arten von Schwebfliegen sieht man längere
Zeit vor den prächtig gelb gefärbten, mit orangefarbenen Staubbeuteln
und blau behaarten Staubfäden versehenen Blüten der Königskerze
schweben, als ob sie von dem Farbenschimmer angezogen würden. Ebenso
eine kleine Art von Schwebfliegen bei der schön himmelblauen, mit dunkleren
Streifen gezierten Krone des Ehrenpreis. Höchst merkwürdig ist der bei
mehreren Tagfaltern beobachtete Umstand, daß sie vorwiegend solche Blumen
aufsuchen, welche dieselbe Farbe wie ihre Flügel besitzen. Viele unserer
Bläulinge saugen vornehmlich an blauen Wiesenblumen; auf den Alpen
werden feuerfarbene Lilienblüten und hochrote Korbblütler vorzugs-
weise von feuerfarbenen Schmetterlingen besucht. Offenbar werden die
Schmetterlinge auf Blumen mit übereinstimmender Farbe weit weniger
217
bemerkt und entgehen so leichter den Nachstellungen ihrer Feinde. So
halten sich auch die Nachtfalter, bei Tage schlafend, mit Vorliebe an solchen
Baumstämmen auf, deren Rinde der Farbe ihrer Flügel, oft täuschend
ähnlich, entspricht.
Ganz besonders werden die Insekten auch durch den Geruch zu den
Blumen hingelockt. So übt der Duft des Veilchens auf die Bienen
eine besondere Anziehung aus, und die Nachtschmetterlinge fliegen vor-
züglich den Blumen zu, die sich ihnen durch starken, durchdringenden Wohl-
geruch bemerkbar machen. Von den bekannteren Pflanzen sind es nament-
lich die weiße Lichtnelke, die Nachtviole, das Geißblatt und die
Waldhyazinthe, deren weithin duftende Blumen die Nachtfalter anlocken.
Nach allen diesen Seiten sind die Insekten von den Blumen abhängig,
aber sie vergelten diesen die Liebesdienste, welche sie von ihnen empfangen,
vielfältig wieder. Es ist bekannt, daß die Blütenpflanzen nur dann reifen
Samen hervorbringen, wenn der Blütenstaub auf die Narbe des Stempels
gelangt, in Narbe und Griffel hineinwächst und schließlich mit dem Samen-
keim sich vereinigt. Dabei ist festgestellt, daß bei gemischten Blüten ge-
wöhnlich nur dann kräftiger Samen gebildet wird, wenn die Pollenkörner
auf die Narbe einer andern Blüte derselben Art, nicht auf die Narbe ihrer
eignen Blüte, gelangen. Diese Übertragung der Staubkörner von einer Blüte
zur Narbe einer andern oder die Kreuzung geschieht nun entweder durch
Luftströmungen in der Atmosphäre oder durch Insekten. Es begründet
dies den Unterschied zwischen den sogenannten windblütigen und insekten-
blütigen Pstanzen. Während die ersteren durchweg kleine, unscheinbare
und grünlich gefärbte Blüten haben, zeichnen sich die Jnsektenblüter durch
große und schönfarbige Blüten aus, welche gemeiniglich Blumen genannt
werden. Es sind fast ausschließlich die Ordnungen der Schmetterlinge,
Zweiflügler und Hautflügler, daneben auch die Käfer, welche die Über-
führung des Blütenstaubes vollziehen. So wenig also wie die Insekten
ohne die Blumen, so wenig können diese sich ohne jene erhalten, zumal die
Zahl der insektenblütigen Gewächse die der windblütigen weit übertrifft.
Es kommt bei diesem Dienste, den die Tierchen den Pflanzen leisten,
eine Fülle überraschender Erscheinungen vor. So kriechen bei der gelb-
blütigen Osterluzei sehr kleine, mückenartige Fliegen in die weite Blüten-
öffnung hinein und die lange Blütenröhre hinab bis zu ihrer unteren,
kesselartigen Erweiterung, welche dem Fruchtknoten aufsitzt. Die Innenseite
der Röhre ist zwar mit Härchen besetzt, da diese aber nach unten gerichtet
sind und leicht nach rechts und links ausweichen, treten sie den Tierchen
nicht hinderlich in den Weg, so daß sie glücklich in dem Kessel gelangen
können. Nachdem sie hier nun ihre Nahrungsstoffe verzehrt haben, ver-
suchen sie wieder aus der Blüte zu gelangen, allein die Haare in der
218
Röhre, die bei ihrem Eindringen vor ihnen seitwärts auswichen, ver-
schließen ihnen jetzt, in umgekehrter Richtung, den Weg. So werden die
Fliegen in dem Kessel etwa in derselben Weise gefangen gehalten, wie die
Fische in einer Reuse. Nun laufen die Tierchen ungeduldig in ihrem
engen, dunklen Gefängnisse umher und streifen dabei auch die große Narbe,
an der sie nun den Blütenstaub absetzen, welchen sie bereits früher von
einer andern Osterluzei mit angenommen haben. Bald aber beginnt die
Röhre sich zu verändern; die in ihr befindlichen Haare fangen an zu
welken und schrumpfen ein. Die kleinen Gefangenen spazieren ungehindert
von dannen und begeben sich nun vielleicht zu einer andern Pflanze der-
selben Art, welcher sie den Blütenstaub zutragen, den sie von den Staub-
gefäßen der eben verlassenen Blüte angenommen haben. Hier werden sie
abermals gefangen, setzen die mitgebrachten Pollenkörnchen ab, bürsten die
Staubbeutel aus und werden schließlich wieder aus ihrem Gefängnis
entlassen. So kann sich mit ihnen derselbe Vorgang mehrfach wiederholen.
Schlimmer als die Osterluzei meinen es verschiedene andere Pflanzen
mit den Insekten. Die Venus-Fliegenfalle Nordamerikas schlägt,' wenn
ein Insekt die Blattoberseite berührt, rasch die beiden klappenartigen Hälften
der Blattseiten nach oben zusammen, wobei die langen Stachelzähne des
Randes wie die Finger gefalteter Hände ineinander greifen. Sie schließt
auf diese Weise die Fliegen oder andere Insekten so lange ein, bis der
durch deren Bewegung hervorgebrachte Reiz aufhört und die Insekten tot
sind. In ähnlicher Weise hält eine ganz nahe verwandte Pflanze, unser kleiner
rundblätteriger Sonnentau, die Insekten durch eine klebrige Ausschwitzung
und ihre Drüsenhaare fest. Manche andere Gewächse, vorzüglich der Tropen-
gegenden, zeigen dieselben Erscheinungen. Werden durch die ausscheidende
wässerige oder klebrige Flüssigkeit die Weichteile des Insektes aufgelöst und
diese Stoffe von der Pflanze aufgenommen, so spricht man wohl von
insektenfressenden Pflanzen.
Die Emsigkeit der Biene beim Einsammeln von Honig aus den
Blüten ist zum Sprichwort geworden, und der Schmetterling, welcher von
Blume zu Blume flattert, ist häufig von Dichtern besungen worden. Daß
diese Tiere und ihre Verwandten bei diesen Blumenbesuchen aber für die
Pflanzen auch sehr wichtige Geschäfte besorgen, das pflegt unbeachtet zu
bleiben. Das Zusammenleben von Blumen und Insekten in ihrer gegen-
seitigen Abhängigkeit ist eine der merkwürdigsten und wichtigsten Erschei-
nungen der organischen Welt. Nach W. I. Behrens.
57. Der Schmetterling.
Zum ersten Grün, zum weittönenden Liede der Lerche und zu den
ersten Blumen, welche ihre Kronen öffnen, gesellt sich in den ersten wärmeren
219
Tagen ein geflügelter Geselle, dessen kurze Lebenstage munterm Tändeln
und dem Honigtröpfchen gewidmet sind, das die Blumen im Grunde der
Blüten bereiten. Dieser liebliche Gast ist der Schmetterling, ein Meister-
werk der Natur, ein kleines Wunder der Schöpfung.
Den langgestreckten Leib tragen vier Flügel durch die Lüfte. Man
begreift kaum, wie das kleine Insekt den ganzen Tag über die verhältnis-
mäßig großen Schwingen zu bewegen vermag; aber die starke Muskulatur
an dem Brustkasten und der Bau der Flügel geben uns die nötige Er-
klärung. Die Flügel bestehen aus einer zarten, durchsichtigen Haut, welche
durch ein starkes Gerüst auseinander gespannt wird. Die Adern, welche
vom Grunde des Flügels sich bis nach dem äußern Rande in mannig-
fachen Verzweigungen erstrecken, sind diese Streben, die wir mit dem Ge-
stelle eines Regenschirmes vergleichen können. Unter dem Mikroskope
geben die Verästelungen sich als feine Röhrchen zu erkennen, die mit Luft
gefüllt sind. " '
Als man begann Brücken zu bauen, welche eine weite Spannung
haben mußten, wurde das sogenannte Röhrensystem zum ersten Male in
größerem Maße in Anwendung gebracht. Es beruht auf folgenden Er-
fahrungen. Man weiß, daß ein langer Stab, wenn er an seinen beiden
Enden unterstützt wird, sich durch seine eigene Schwere nach der Mitte
zu einem Bogen heruntersenkt, und daß es nur einer geringen Belastung
bedarf, ihn zum Zerbrechen zu bringen. Wird aber statt des Stabes
eine gleich lange Röhre genommen, so verträgt diese unter gleichen Um-
ständen eine weit größere Belastung. Die großen sogenannten Tunnel-
brücken sind nun nichts anderes als riesige Röhren, welche die ganze Last
eines Eisenbahnzuges tragen können. Die Streben des Schmetterlings-
stügels sind, wie gesagt, ebenfalls Röhren, verbinden also mit der größt-
möglichen Stärke eine Leichtigkeit, wie sie dem Insekte notwendig ist.
Befindet sich der Schmetterling im Puppenzustande, so liegen die
Flügel dicht zusammengefaltet am Leibe; sie dehnen sich erst aus, wenn
er seinen Sarg verläßt, wenn die ersten Sonnenstrahlen ihn zu einem
neuen Leben erwecken. Das Tierchen beginnt Luft einzuatmen und drängt
diese in die hohlen Röhrchen des Flügels, die sich nun aufrichten und
spreizen, um die feine Flügelhaut auseinander zu falten. Man glaubt die
Flügel wachsen zu sehen; allein sie waren schon in der Puppe fertig ge-
bildet, es fehlte nur die Luft, welche ihnen derart die Vollendung giebt.
Aus Luft gewoben, sind die leichten Schwingen bestimmt, das Insekt durch
den leichten Äther zu tragen.
Die wundervolle Färbung des Schmetterlingsflügels bosteht ans einem
feinen Staube, der an den Fingern haften bleibt, wenn man die Flügel
berührt. Unter dem Mikroskope erkennt man, daß dieser Staub aus lauter
220
kleinen gestielten Schuppen besteht, die sich dachziegelartig decken. Auch
diese kleinen Schüppchen sind aus hohlen Röhrchen zusammengesetzt und
mit Luft gefüllt und gleichen einem zierlichen Geflechte aus durchscheinenden,
hohlen Halmen. Die Unterseite der Flügel ist meistens dunkel und wenig
auffallend gefärbt; in dieser Färbung besitzen.die Schmetterlinge einen
Schutz vor mannigfacher Verfolgung.
Wenn es Abend wird und der Tau die leichten Schwingen schwer
macht, sucht der Schmetterling einen Ort zum Übernachten. Die kleinen
Geschöpfe, welche am Tage die Luft belebten, sind am Abend kaum zu
finden; es ist, als hätte eine gütige Fee sie in ihren Schutz genommen.
Verfolgt man aber die Schmetterlinge auf ihrem letzten Fluge, so er-
giebt sich, daß sie stets einen solchen Aufenthaltsort zur Nachtruhe suchen,
dessen Farbe mit der Färbung der Unterseite ihrer Flügel überein-
stimmt.*) Der Kohlweißling hängt sich an die fahlgelbe Rückseite der
Gänsedistel oder an gelbliche Halme und klappt die Flügel zusammen.
Dann ist er kaum von dem Blatte oder dem Halme zu unterscheiden
und täuscht das Auge des ihm nachstellenden Vogels. Andere Schmetter-
linge suchen graue Zäune oder die braune Rinde der Bäume auf, je
nachdem ihre Flügel auf der Unterseite grau oder braun gefärbt sind.
Wieder andere übernachten auf dem schwarzen Boden und gleichen einem
Stückchen toter Erde. Während die Schmetterlinge am Tage dahin-
flatternden Blumen gleichen und in den köstlichsten Farben prangen, deckt
sie während der Dämmerung ein natürlicher Schutz, die unscheinbare
Färbung der Unterseite ihrer Schwingen.
Wenn am Morgen der Tau auf den Fluren liegt, weilt der Schmetter-
ling noch schwerfällig an seinem nächtlichen Ruheorte; erst wenn die Sonne
den lähmenden Tau auftrocknete, entfaltet er seine Schwingen zu einem
neuen Leben des Genusses. Von Blume zu Blume flatternd, taucht er-
den langen Rüssel tief in die Kelche, um den Honig zu schlürfen. Der
Rüssel rollt sich im Zustande der Ruhe spiralförmig auf, verlängert
sich aber während der emsigen Thätigkeit bei dem Saugen des Honigs
aus den Blumen.
Das Weibchen des Schmetterlings hat ein einfacheres Gewand als
das Männchen, welches stets in lebhafteren Farben prangt. Es legt seine
Eier an solche Orte, an denen die auskriechende Brut geeignete Nahrung
findet. Diese Vorsorge für das kommende Geschlecht ist ein wunderbarer
Trieb, den die Natur dem kleinen Geschöpfe gegeben hat. Wir nennen
diesen Trieb Instinkt, ohne ihn jedoch dadurch zu erklären.
Mit dem herannahenden Winter verschwinden die fröhlichen Gesellen
*) Vgl. S. 216, 217.
221
ber Luft. Nur hie und da überwintert ein Schmetterling, der sich au
einen Ort verirrte, der ihm ein Entkommen nicht gestattete. Das Tierchen
liegt dann erstarrt, bis die warmen Tage wieder erscheinen, um dann nach
kurzem Aufflackern des Lebens zu sterben. Julius Stinde.
58. ver Maikäfer.
Ein milder Westwind bringt warmen Regen. Ja, das ist der
wahrste Himmelsbote und Friedensverkündiger. Er dringt tief in den
Schoß der Mutter Erde und löst auch hier unten den letzten starren
Bann des Winters. Wie er Erde und Luft erfrischt und erwärmt, so
bringt er auch neue Lebenskraft, neue, frische Regsamkeit allüberall
den Pflanzen und Tieren. Da heben sich die Hälmchen, da schwellen
die Knospen, die Winterschläfer erwachen allenthalben, kriechen hervor
und empor aus den Winkeln, Ritzen und engen Klausen tief in der
dunklen Erde. Auch die befiederten Wanderer kehren mehr und mehr
in die Heimat zurück.
„Ho, ho, hiho!" hören wir bereits am andern Morgen den Land-
mann hinterm Pfluge die Ochsen antreiben, um den Acker für die
Sommersaat zu bereiten; und während eine Lerche hoch in der klaren
blauen Luft ihm ihre Frühlingsgrüße zutrillert, versammeln sich in
seiner Nähe noch einige andre Luftbewohner. Eine Schar lustiger
Stare trippelt flink über das Land hin und her, eine Krähe nach der
andern kommt langsam und schwerfällig aus dem Walde drüben heran-
gezogen. Bald sammeln sie alle sich in den Furchen hinter dem
Pflüger und suchen aufs emsigste in der frischen, feuchten Erde umher.
Alle diese Vögel sind ziemlich dreist; wenn wir sie nur nicht scheuchen,
können wir sie oft ganz in der Nähe beobachten. Sie lesen hier
Würmer, Schnecken, Maden und dergleichen auf, für sie Leckerbissen;
vor allem andern sind sie aber hinter den weißen Larven her, welche
man Engerlinge nennt.
Dies sind bekanntlich Maikäfer im Jugendkleide, und um diese
für den Haushalt der Natur äußerst schädlichen Oesellen auch unter
der Erde ein wenig näher kennen zu lernen, ist ein Rückblick in das
vergangene Jahr nötig.
Sobald im Frühling die Maikäfer genugsam im zarten Grün der
Blätter geschwelgt haben, graben sich die Weibchen etwa 10—20 cm
tief in lockern Sand oder Kalkboden hinab und legen hier in ver-
schiedene Löcher im ganzen gegen vierzig Eier. Zuweilen kommt eins
oder das andere dann nochmals an die Oberfläche empor, frißt sich
noch einmal tüchtig satt und stirbt nach kurzer Zeit; die meisten
222
erliegen aber der Anstrengung und bleiben gleich in der Erde tot
zurück. Nach 4 bis 6 Wochen schlüpfen aus den Eiern die Larven —
eben unsere Engerlinge. Diese bedürfen zu ihrer vollen Entwicklung
bis zum Käfer 3 oder 4 Jahre, und sind solange dieselben verheerenden
Feinde der Pflanzenwelt an deren Wurzeln, wie die Käfer am oberen
Grün; ja, sie hausen noch verderblicher. Nach dem Ausschlüpfen aus
den Eiern nähren sie sich, noch ganz klein, sogleich von den zarten
Würzelchen des Getreides, der Kohlarten und Gemüse, der Erdbeeren
und anderer Gewächse, und schonen selbst die Wurzeln der Kartoffeln
nicht. Größer geworden, vermögen sie ganze Wiesenflächen zu ver-
derben, und zuletzt fressen sie nicht nur die fingerdicken Wurzeln der
Bäume, sondern zernagen sogar deren Pfähle in der Erde.
Weder menschliche Kunst, noch das Walten der Natur, das doch
sonst oft dem Überhandnehmen schädlicher Geschöpfe Einhalt gebietet,
weiß ihnen Schranken zu setzen. Große Überschwemmungen töten sie
keineswegs; selbst wenn sie steif und hart gefroren waren, leben sie
nach dem Auftauen wieder munter fort. In der frühen Jugend halten
sie sich gesellig beisammen, später geht jeder einzeln seiner Gefräßig-
keit nach. Bei Beginn des Winters kriechen sie wohl bis 1 Meter tief
in die Erde hinab; sobald aber im Frühlinge ein warmer Regen den
Frost herausgeschmolzen und die Sonnenstrahlen das Erdreich wieder
erwärmt haben, dann regen sich auch die Engerlinge zuerst unter allem
erwachenden Leben und kommen nach und nach bis dicht an die
Oberfläche empor.
Hier sehen wir nun, wie sie bei dem Beackern des Feldes häufig
herausgepflügt und von den hinter dem Landmanne herschreitenden
Vögeln sorgsam aufgelesen werden. Ihre übrigen Feinde sind —
außer unserem Hausgeflügel, den Hühnern und Enten, und außer den
Schweinen — vor allem der Maulwurf, ferner das kleinste Raub Säugetier,
die Spitzmaus, der Stacheligel, der Iltis, das kleine Wiesel und die Reb-
hühner. Als eifrige Verfolger des Maikäfers wollen wir außerdem noch
folgende auszählen: Eichelhäher, alle Eulen — mit Ausnahme des
sehr schädlichen Uhus — Turmfalken, Kornweihen, Bussarde, Fleder-
mäuse und besonders die Sperlinge. Die Schonung und Hegung aller
dieser Tiere kann daher auch der Maikäfer wegen nicht dringend genug
empfohlen werden.
Verfolgen wir nun den Entwicklungsgang des Maikäfers bis zu
Ende. Nach mehrmaliger Häutung spinnt sich die Larve — eben der
Engerling — ein, nachdem sie sich irgendwo in der Erde ein säuber-
lich geglättetes und mit ihrem eignen Kote ausgemauertes Kämmerchen
bereitet hat, und verpuppt sich. Dies geschieht im September, und
223
im November verwandelt sich die Puppe zum Maikäfer. Dieser ist
anfangs weiß, weich und zart; er bleibt daher bis zum Frühjahre ruhig
in seiner Klause, und dann erst, nachdem er erhärtet, stark und dunkel
geworden, bohrt er sich durch die etwa 1 Meter dicke Erdschicht
mühsam hindurch an das goldene Tageslicht.
Dies ist wahrlich keine leichte Arbeit, und voll Verwunderung
schauen wir auf das kleine Geschöpf, das eine im Verhältnis so un-
geheure und oft sehr harte Erdschicht in so kurzer Zeit zu durch-
bohren vermag. Wollen wir uns einen Begriff machen, wie zweck-
mäßig ihn dazu die Natur ausgerüstet hat, so dürfen wir nur einen
Maikäfer in die hohle Hand nehmen — da werden wir es fühlen, mit
welcher Kraft und Ausdauer das kleine Geschöpf sich aus dem
Kerker zu arbeiten sucht. Deshalb würden wir ihm gewiß auch
sein kurzes Dasein gern gönnen, wenn er nicht eben ein so schädlicher
Bursche wäre.
Im wundervollen Mai, wenn alle Knospen sich öffnen, alles Tier-
und Pflanzenleben in üppiger Fülle sich entwickelt, kommt auch der
Maikäfer hervor, und deshalb hat er auch nach diesem Monate seinen
Namen. Da giebt’s dann unter der lieben Jugend in der Stadt und auf dem
Lande überall, wo nur ein Bäumchen seine saftig grünen Blätter ent-
faltet hat, einen Jubel: das Maikäferfest. Besonders in der Dämmer-
stunde, wenn die Tiere munter werden, zu summen und zu brummen
und zu fliegen beginnen, dann ertönt auf allen Gassen das frohe und
doch so schwermütig durch den Abend dahinklingende Liedchen:
Maikäfer, flieg!
Dein Vater ist im Krieg,
Dein’ Mutter ist in Pommerland,
Pommerland ist abgebrannt.
Allabendlich geht dann die wilde Hetzjagd hinter den Brummern
her, und wer einen „Kaiser" oder „König", einen „Müller" oder „Rot-
türken" erwischen kann, der dünkt sich reich; denn die Beute ist statt
des sonst üblichen Preises von 4 Stecknadeln oder 2 Knöpfen oder
10 Bohnen, der wohl überall bei derartigen Geschäften geltenden
Münzen, mindestens das Doppelte wert.
Allerdings werden die Käfer von den Menschen nur hier und da,
nach Art der Mandeln, in Zucker gesotten und als Leckerei gegessen;
und gewiß nur selten bereitet man aus ihnen eine Suppe, die für
Kranke gut sein und krebsähnlich schmecken soll. Vor allem werden
sie zur Mast für Schweine, Enten und Hühner, auch zur Herstellung
eines vorzüglichen Düngers oder zur Gewinnung eines als Wagen-
224
schmiere und Brennmaterial geschätzten Öles benutzt, das man in er-
hitzten Pfannen aus ihnen preßt. Den größten Vorteil gewinnt man
dabei von ihnen, wenn man sie zur rechten Zeit für diese und andere
Zwecke einsammeln läßt, bevor sie Baum und Strauch, Gras und Kraut
kahl gefressen haben. Als beste Verwendung der eingefangenen Mai-
käfer ist jedenfalls das sofortige Füttern der Hühner vorzuschlagen,
je eher, je besser, denn — „quäle nie ein Tier zum Scherz; fühlt es
doch wie du den Schmerz!" Und ebenso fühlt es die Qual und Marter
der Gefangenschaft.
Man hat beobachtet, daß alle 3 oder 4 Jahre ein „Maikäferjahr"
kommt, wo diese Schädlinge in außergewöhnlicher Menge hervor-
dringen. Dies ist auch ganz natürlich in ihrer 4jährigen Entwicklung
begründet. Hierauf läßt sich aber auch eine erfolgreiche Bekämpfung
dieser bösen Gäste begründen. Es steht nämlich nach vielen Beob-
achtungen fest, daß das Maikäferweibchen zum Eierlegen regelmäßig
auf den Schauplatz seiner eigenen Jugend zurückkehrt, keineswegs
seine Brut in fremde Gegenden verschleppt. Hiernach ließe sich durch
äußerst sorgfältiges Einsammeln der Käfer, besonders in den ihnen
günstigen Jahren, ein Landstrich oder auch nur eine Feldmark nach
der andern von dieser Plage gänzlich befreien. Dieses Einsammeln
geschieht am besten morgens vor 9 Uhr. Sie sind dann noch von
der Kühle der Nacht erstarrt und lassen sich leicht von den Bäumen
herabschütteln, besonders wenn dies plötzlich und in kurz abgebrochenen
Stößen geschieht. Man sammelt sie am besten auf untergebreiteten
Tüchern. Nach Ruß.
59. Der Dienenstaat.
Die Honigbiene ist schon seit undenklichen Zeiten ein Haustier und
hat sich über den größten Teil der Erde verbreitet. Ihr Pfleger ist der
Imker*) oder Bienenvater, der dem Bienenvolk zunächst die Wohnungen
bereitet, die Bienenstöcke. Diese bestehen meist aus Kasten oder Körben,
die aus Brettern gezimmert oder aus Stroh geflochten sind. Eine kleine
Öffnung darin, das Flugloch, ist die Thür, durch welche die Bienen ver-
kehren; durch sie geht auch der Wechsel von reiner und verbrauchter Luft
vor sich. Davor befindet sich meistens ein kleines Brett, das den Tierchen
den Abflug und Anfing erleichtert.
Als Lohn für seine Mühe entnimmt der Imker dem Stocke einen
Teil des Honigs, den seine fleißigen Lieblinge in ihre Bauwerke
eintragen.
*) So genannt, weil die Bienen auch Immen heißen.
225
Ein Bienenstock wird von etwa zehn- bis fünfzehntausend Bienen
bewohnt, teils Männchen, teils Weibchen. Die Männchen oder Drohnen
sind an Zahl viel geringer als die Weibchen, sie treten nur im Frühjahr
auf, find größer als die Weibchen und auch sonst an den großen Augen
und dem dickeren Hinterleibe leicht kenntlich. Unter den Weibchen macht
sich ein sehr wichtiger Unterschied bemerkbar: nur ein einziges in jedem
Stocke ist imstande Eier zu legen, alle anderen bleiben stets unfruchtbar.
Jenes fortpslanzungsfähige Weibchen übertrifft die anderen an Größe, im
Vergleich zu den etwa gleichgroßen Drohnen hat es einen schlankeren
Hinterleib. Dies eine Weibchen ist also die Mutter des ganzen Nach-
wuchses in einem Bienenstock, somit das wichtigste Tier unter Tausenden
und mit Recht Königin oder Weisel benannt. Die kleineren und un-
fruchtbaren Weibchen heißen Arbeiterinnen, weil sie alle zum Bestände des
Stockes nötigen Arbeiten verrichten.
Beobachten wir ein Jahr hindurch einen Stock von seiner Gründung
an, so lernen wir diese Arbeiten wie überhaupt den Bienenstaat näher
kennen.
Es ist ein warmer Junitag, heller Sonnenschein lagert über der Erde.
Im alten Stocke haben sich die Bienen stark vermehrt. Erregt laufen sie
durcheinander, hängen in einem großen Klumpen am Flugbrett, stechen
mehr als sonst, und im Stock saust's und braust's. Das alles deutet aus
etwas Besonderes hin! Eine Königin wird bald ihre Wiege im Stocke
verlassen, wie das ab und zu vernehmbare „tüht, tüht" anzeigt. Zwei
Königinnen können nun aber doch einmal im Stocke nicht zusammen-
leben, es giebt also entweder einen Kampf auf Leben und Tod, oder die
ältere räumt das Feld. Dies geschieht; siehe da! in wilder Hast dringen
mehrere Tausend Bienen aus dem Flugloche hervor, die alte Königin
mitten unter ihnen. Der Imker sagt: „die Bienen schwärmen". Einige
Minuten schwankt der Schwarm in der Luft hin und her, dann läßt er
sich auf einen Ast nieder, er bildet dabei, indem eine Biene sich an die
andere klammert, eine große herabhängende Traube. Schnell kommt der
Imker herbei und fegt alle Bienen in einen leeren Stock, der fortan die
Wohnung des jungen Volkes bilden soll. Werden «im Laufe des Jahres
noch mehr Königinnen geboren, so werden sie entweder totgestochen, oder
sie verlassen ebenfalls in immer schwächeren Nachschwürmen die alte
Wohnung.
Die junge Königin verläßt ihren Stock während ihres einige Jahre
langen Lebens nur einmal auf längere Zeit, nämlich zum Hochzeitsslug
mit den zugleich aussliegenden Drohnen. Ist die Schwürmzeit vorüber,
so werden die im Frühjahr geborenen Drohnen von den Arbeitsbienen
getötet, der Imker nennt dies die Drohnenschlacht.
Lesebuch für höhere Lehranstalten. (Preuß. Ausg.) III.
15
226
Kaum ist das neue Heim bezogen, so beginnt auch schon die Arbeit.
Die Arbeiterinnen holen von Bäumen Harz herbei und verkleben damit
alle Ritzen und Lücken der Wohnung, um Nässe und Kälte fernzuhalten.
An der Unterseite des Hinterleibs der Arbeiterinnen zeigt sich Wachs in
der Form kleiner Blättchen, daraus werden zunächst die Waben gefertigt.
Diese hängen senkrecht vom Stocke herab und bestehen aus zwei Lagen
von Zellen, die wagrecht nach vorn und hinten gerichtet sind. Alle Zellen
sind gleich groß und weit, und zwar so, daß die Königin hineinschlüpfen
kann. Hinter der ersten Wabe werden noch andere gebaut, bis der Stock
nach und nach ganz ausgebaut ist. Sind die ersten Waben fertig, so beginnt
auch die Königin ihre Thätigkeit. Sie bewegt sich von Zelle zu Zelle und legt
auf deren Grund je ein Ei. Und das muß sie fleißig betreiben, denn in der
Hauptarbeitszeit, im Sommer, erreichen die Arbeiterinnen ein Alter von nur
etwa 6 Wochen. Im Verlauf ihres Lebens legt eine Königin gegen eine
Million Eier. Dem Ei entschlüpft schon nach wenigen Tagen eine augenlose
Larve; da sie keine Füße hat, kann sie nicht selbst Nahrung suchen, sondern
ist darauf angewiesen, von den Arbeiterinnen ernährt zu werden. Und dies
geschieht so reichlich, daß die Larve nach einigen Tagen schon fast die ganze
Zelle ausfüllt. Nunmehr verschließen die Arbeiterinnen die Zelle mit Wachs,
die Larve umspinnt sich mit einem dünnen Seidengewebe und wird zur Puppe.
Hat sich aus der Puppe das Insekt entwickelt — es dauert 16 bis
24 Tage — so durchstößt die junge Biene den Wachsverschluß und mischt
sich unter die Schar der Arbeiterinnen. In deren Mitte verrichtet sie
zuerst nur „häusliche Arbeiten" — sie hält vor allem die Wohnung rein—,
später aber fliegt sie mit hinaus zu den Blumen, um Nahrung zu holen
für sich, die Brut, die im Stocke beschäftigten Arbeiterinnen, sowie für die
Königin und für die Drohnen, die etwa vorhanden sind. Zugleich speichern
sie Nahrung für den Winter auf, wo sie schon der Kälte wegen nicht aus-
fliegen und ohnedies draußen vergeblich Nahrung suchen würden.
Und sie treffen beim Sammeln der Vorräte meistens das richtige
Maß; denn wenn der Proviant aufgezehrt ist, dann ist auch der Frühling
wieder da, der die Bienlein wieder zur reichbesetzten Tafel ladet. So sind
die Bauwerke der Bienen nicht nur Kinderwiegen, sondern auch Vorrats-
kammern für die Zeiten der Not.
Und der ganze Verlauf eines Jahres zeigt, daß in einem Bienen-
stöcke die Arbeit an die einzelnen Glieder des Bienenstaats sorgfältig ver-
teilt ist, daß ferner kein Glied für sich allein bestehen kann, sondern nur
in der Gesamtheit. Ein Bienenstock stellt also ein wohlgeordnetes Gemein-
wesen dar, das man mit Recht einen Staat nennen kann und seine Glieder
ein rühriges Volk, ein Vorbild des Fleißes für die Menschen und jede
menschliche Gemeinschaft. Nach O. Schmeil.
227
60. Die rote Waldameise.
1. Gehen wir an einem sonnigen Frühlingstage in den Nadelwald
zu den Hügeln der roten Waldameise, so können wir wohl ein Stück an-
ziehenden Naturlebens beobachten. Das bekannte Gewimmel hat sich noch
gesteigert: zu den Tausenden flügelloser Ameisen haben sich viele geflügelte
gesellt, die größer als jene sind und kleinen Wespen ähneln. Es sind dies
die jungen Ameisen, die sich zum baldigen Hochzeitsfluge anschicken. Bei
der Rückkehr sterben die Männchen gewöhnlich bald, die Weibchen aber
begründen entweder neue Ansiedlungen oder kehren in das alte Nest zurück.
Ihren Bau verlassen sie von da an nicht wieder, darum verlieren sie auch
bald ihre Flügel, die ihnen in der engen Ameisenstadt ohnedies nur
hinderlich sein würden.
Die kleinen flügellosen Ameisen sind die Arbeiterinnen; sie sind
es, zu denen bereits die Bibel den Faulen weist, sich an ihnen ein
Vorbild zu nehmen.*) Bei ihren Arbeiten bedienen sie sich vor allem
ihrer zangenförmigen Oberkiefer, die ebenso wie der Kopf bei ihnen
viel stärker und größer sind als bei den nichtarbeitenden Gliedern des
Staates; ihre Brust ist dagegen viel schwächer als bei den geflügelten
Ameisen.
Das Nest der Ameise ist eine stattliche Burg, die aus Tannen- und
Kiefernnadeln, Harzteilchen, Holzstückchen, Steinchen u. dergl. aufgeführt
ist. Tragen wir einen solchen Bau, der etwa ebenso tief in die Erde
reicht, wie er sich darüber erhebt, an einer Stelle etwas ab, so sehen wir
ein Labyrinth von Höhlungen und Tunneln, in denen sich bei der sonst
herrschenden Finsternis eben nur eine Ameise zurecht finden kann. Welche
Arbeit mag die Herstellung dieses Kunstwerks den winzigen Bauleuten ge-
kostet haben!
Zudem hat ein Teil der Arbeiterinnen alle Hände voll zu thun mit
der Pflege der Nachkommenschaft.
Da gilt es, die kleinen Eier oder die weißen fußlosen Larven oder
Puppen, die man fälschlich Ameiseneier nennt, bald in ein oberes, bald in
ein unteres Stockwerk zu tragen, ganz wie Wärme und Feuchtigkeit es
erfordern. Da gilt es weiter, die hilflosen Larven zu reinigen und zu
sättigen; schließlich müssen die Arbeiterinnen auch noch den Puppen helfen,
wenn diese aus ihrer Hülle ausschlüpfen.
Andere Arbeiterinnen holen Nahrung. Mit ihren langen und kräf-
tigen Beinen kommen sie schnell voran und mit ihren scharfbekrallten
*) Sprüche Salomonis 6, 6: Gehe hin zur Ameise, du Fauler; siehe ihre Weise
au und lerne. Vgl. auch 30, 25: Die Ameisen ein schwach Volk; dennoch schaffen sie
im Sommer ihre Speise.
15*
228
Füßen steigen sie leicht empor. Hier schleppen einige einen Wurm herbei,
dort nagen welche an einer Tierleiche, bis sie ganz skelettiert ist; dort auf
dem Baume macht eine Anzahl Jagd auf Schädlinge des Waldes, und
hier klettern andere zu Blattläusen empor, um deren süße Auswurfstoffe
zu lecken, denn Süßigkeiten lieben sie ja über alles.
Im Winter verfallen sie in einen Winterschlaf, denn sie würden
draußen keine Nahrung finden und Vorratskammern sind in ihrem Baue
nicht vorgesehen.
2. Neben einigen Freunden, zumal den Blattläusen, haben die Ameisen
auch viele Feinde. Das ist freilich mit ihre eigene Schuld. Denn sie
sind überaus hitzig und jähzornig, kriegerisch und räuberisch, immer ans
Angriff oder Abwehr bedacht. Schlägt man z. B. auf einen Ameisen-
hügel, so eilen die Tiere hastig hervor und man sieht von dem Hügel
einen feinen Sprühregen aufsteigen. Sie spritzen nämlich aus dem auf-
wärts gekrümmten Hinterleib eine giftige Flüssigkeit empor zur Abwehr
gegen den Störenfried. Fangen wir etwas davon mit der Hand auf,
so nehmen wir einen starken, würzigen Geruch wahr, der von der Ameisen-
säure in dieser Flüssigkeit herrührt.
Ihre Hauptfeinde haben die Ameisen unter ihresgleichen. Ein ewiger
Kampf herrscht zwischen den einzelnen Staaten: ein Tier mit fremdem
Nestgeruche wird ohne weiteres angefallen, getötet und verzehrt. Ebenso
ergeht es den Larven und Puppen aus fremden Nestern. Auch unter-
nehmen ganze Völker Kriegs- und Raubzüge gegeneinander; gewisse Arten
heißen gradezu Raubameisen. Und dabei sind manchmal die kleineren viel
wilder, bissiger, gefährlicher als die großen. Viele werden aber auch
eine Beute des Spechts oder des Wendehalses, die sich, durch ihr Feder-
kleid geschützt, sogar von unten her in die Haufen einbohren, um zu den
leckeren Puppen und Larven, dem allbekannten Vogelfutter, zu gelangen.
Einen ganz eigenartigen Feind haben sie in dem Ameisenlöwen.
Mit diesem hat es folgende Bewandtnis. Er ist die Larve der Ameisen-
jungfer; während diese einer Libelle sehr ähnlich ist, hat der Ameisenlöwe
eine plumpe Gestalt, etwa wie die graue Kellerassel, und geht wie ein Krebs
nur rückwärts; er trägt zu seinem Schutze ein sandfarbiges Kleid und hält
sich in sandigem Boden auf, wo er unten in einem zierlichen, genau kreis-
runden Trichter ruht. Diesen stellt er durch fortwährende Rückbewegung
im Kreise her, wobei er mit dem Hinterleib den Sand fortschiebt und sich
immer tiefer eingrübt, ein höchst lustiges und lehrreiches Schauspiel. Er
selbst sitzt dann ganz unten in der Tiefe des Trichters, streckt nur die
scharf gezähnten Zangen heraus und lauert nun von früh bis spät auf
die Ameisen oder was sonst von kleineren Insekten sich nähert. Kommt
nämlich ein solches an den Rand des Trichters, so rutscht der lockere
229
Sand dieser Fallgrube unter seinen Füßen hinweg und es gleitet den
Abhang hinab. Inzwischen schleudert ihm der Räuber mit seinem Kopfe
noch Sand entgegen, und mit diesem zugleich fällt es immer tiefer hinab,
bis es zwischen die Freßzangen seines Feindes gerät und im „Rachen des
Löwen" umkommt, der es völlig aussaugt.
Dem gegenüber hat der Mensch alle Ursache, die Ameisen zu hegen,
denn zumal die Waldameise vertilgt viele schädliche Insekten, z. B. den
Kiefernspinner und Borkenkäfer. Die Verwendung der Puppen also als
Futter für Goldfische und Stubenvögel ist eigentlich ebensowenig zu billigen,
wie jene der lebendigen Ameisen zum Ameisenspiritus, wobei sie tausend-
weise im Spiritus ertränkt werden. Manche Arten allerdings sind schädlich
oder wenigstens lästig. In den Tropen können sie sogar zur verheerenden
Landplage werden. Nach O. Schmeil u. a.
61. Lebensgeschichte einer Stubenfliege.
Von den Tausenden der Stubenfliegen, die den Sommer durch-
summten, ist im Zimmer nur noch eine einzige übrig. Sie ist zur Haus-
freundin geworden, sie darf sich ungestört auf die Fliegenklappe setzen
und gehört zur täglichen Tischgesellschaft. An der Decke, nicht weit vom
Ofen, ist ihr Lieblingsplätzchen. Wer möchte nicht ihre Lebensgeschichte
kennen?
Die Mutter unserer Fliege bewohnte den Pferdestall, und dort legte
sie auch ihre Eier ab. Es waren deren 80. Eine gute Henne legt höch-
stens jeden Tag ein einziges Ei und wird dann schon als fleißig ge-
rühmt; die Fliege dagegen war schon in einer Viertelstunde mit allen 80
fertig. 24 Stunden später war unsere Fliege bereits als winzige Made
ausgeschlüpft. Sie speiste nun Tag und Nacht mit ihren 79 Geschwistern
um die Wette. Nach 14 Tagen war sie ausgewachsen; sie war 10 Milli-
meter groß geworden, etwa so lang wie der Nagel am kleinen Finger.
Jetzt hörte sie mit Fressen auf; ihre weiche weiße Haut war hart und
rotbraun; die Augen hatten nichts mehr zu sehen, der Mund nichts mehr
zu fressen, sie verschwanden. Das Tierchen schrumpfte zur „Puppe" zu-
sammen, ward dicker und kürzer und sah fast aus wie eine Tonne.
Äußerlich erschien das Tönnchen tot, innerhalb desselben aber arbeitete
es rastlos weiter. Nach vierzehn Tagen sprang der Deckel der Tonne
auf, und unsere Stubenfliege schlüpfte in ihrer vollendeten Gestalt hervor.
Die Flügel waren noch klein und zusammengeknittert; der Kopf hatte
seine beiden großen Augen, die wiederum aus Hunderten von kleinen
Augen zusammengesetzt sind, und durch ein fadenförmiges Stielchen hingen
Kopf und Brust zusammen.
230
So saß das neugeborene Geschöpf zunächst ein wenig still im warmen
Sonnenscheine, dann versuchte es seine Flügel; sie schwirrten, und mit
Gesumme ging die Reise fort. Das Stubenfenster stand offen; der un-
gebetene Gast war da. Im Hause traf die wandernde Fliege zahlreiche
Verwandte; da aber keine von ihnen je ihre Eltern gekannt hatte, so
wußte auch keine, wie weit etwa die Vetterschaft her sei. Ein Natur-
forscher aber behauptete, es sei leicht möglich, daß die Tausende, die im
Sommer um Milchtöpfe und Suppenteller schwärmten, von einem einzigen
Fliegenpaare herstammten, welches erst im Frühjahre im Hofe oder
Garten ausgekrochen sei. Kaum war unsere Fliege da, so hatte sie auch
schon entdeckt, daß auf dem Tische etwas Leckeres zu schmausen war.
Schnell befeuchtete sie mit ihrem Rüssel ein Zuckerkrümchen; sie sog es
auf, nachdem es sich gelöst hatte. Als die Fliege mit ihrer Mahlzeit
zu Ende war, putzte sie sich; sie hob die Beine geschickt bis auf den
Rücken und bürstete die Flügel ab, damit ja kein Stäubchen daran hafte.
So hat sie es den ganzen Sommer hindurch getrieben. Der Frost tötete
endlich im Oktober ihre Kameraden; sie aber wußte sich zu retten. Mutter-
seelenallein spaziert sie jetzt an der Decke herum, ohne zu fallen. Wie
ist das möglich? Sie hat am Ende des Fußes weiche Ballen, die einen
klebrigen Saft ausschwitzen. Mit diesen klebrigen Fußballen hält sie
sich fest.
So ist denn auch die kleine Fliege ein Kunstwerk. Kein Künstler-
unter den Menschen könnte sie herstellen. Wagner.
62. Die Feldgrille.
Es war ein heißer Sommermittag, als ich am Feldraine mich aus
das weiche Gras lagerte, um von längerer Wanderung auszuruhen. Ein
schattiger Busch gewährte etwas Kühlung; alles war still ringsumher; nur
die Feldgrille sang ununterbrochen ihr einförmiges Lied.
Oft schon hatte ich das Zirpen gehört, noch nie aber den kleinen
Feldsänger gesehen. Jetzt erklang die Musik dicht neben mir, und — da
saß das Tierchen, wenige Spannen von mir entfernt, an der Thüre seines
Hauses. Ein Röhrengang mündete an der Seite des Feldrains; dort
schaute es bedächtig heraus, hüpfte dann behende hervor und sang. Ich
sah es auf den ersten Blick, daß ich eine leibliche Schwester der Hausgrille
vor mir hatte, des Heimchens, dieser alten Bekannten, die stets so traulich
Musik machte, wenn die Großmutter abends uns neben dem Ofen Märchen
erzählte. Sie schaute mich mit dem wunderlichen Gesichte fragend an,
als meinte sie: ob ich zu den Grillenfängern gehöre, die sie nicht leiden
mag, oder zu den friedlichen Geschöpfen, die Vergnügen finden an der
Feldmusik und mitsingen, wenn andere ein Lied anstimmen.
231
Was hat sie für ein kurioses Gesicht an dem dicken Kopfe, ganz wie
ein lustiges altes Männchen, und die Griechen hatten gar nicht so unrecht
mit ihrer Grillengeschichte. Es war einmal, so erzählten sie, ein wunder-
schöner Jüngling, ebenso lustig als hübsch, sodaß selbst die Göttin Venus
großes Wohlgefallen an ihm fand. „Wie schade ist es," sprach sie, „daß
er einst sterben muß und nicht ewig fortleben kann wie die Götter." So
bat sie den Göttervater, er möge dem Gryllus ewiges Leben verleihen,
und er gewährte die Bitte. Allein sie hatte vergessen, ihm auch ewige
Jugend und Schönheit zu erbitten; so blieb ihr Schützling zwar am
Leben, je älter er aber ward, desto mehr schrumpfte er auch zusammen,
bis er zuletzt zur kleinen Feldgrille ward, braun und bedächtig von An-
gesicht. Nur die gute Laune behielt die Grille noch übrig und singt, dem
alten Gesichte und der winzigen Gestalt zum Trotz, den ganzen Tag lang
behaglich ihr Lied.
Ich sah auch ganz deutlich, wie die kleine Grille ihr sonderbares
Lied zu stände brachte. Sie sang nicht mit dem Munde, wie etwa der
Laubfrosch, machte ihre Musik auch nicht mit dem Brustschilde, etwa wie
das rote Lilienkäferchen im Garten, sondern geigte unverdrossen mit dem
Beine an der Flügeldecke, just wie ein gelernter Spielmann, brauchte auch
weder Kolophonium noch ein Notenblatt dazu, sondern hatte alles aus-
wendig gelernt.
Die jungen Grillen verstehen das Singen noch nicht. Sobald sie
aus dem Ei in die Erde geschlüpft sind, haben sie noch keine Flügel.
Lange Zeit müssen sie hübsch schweigen, wenn die Alten Musik machen,
uno dürfen nur zuhören. Haben sie aber gelernt ihr Brot zu suchen,
Blättchen, Würzelchen und Körner zu verzehren, sind sie davon größer
und stärker geworden, so ziehen sie das Kinderkleid aus, sie häuten sich
und erscheinen endlich mit Flügeln und Flügeldecken. Dann dürfen sie
mitsingen.
„Hör mal," sag' ich zur Grille, „ihr seid mir eine saubere Gesell-
schaft! Deine Basen, die Heuschrecken, fressen ja den Leuten anderwärts
das Getreide vom Felde und das Laub von den Bäumen; du magst hier
am Getreidefelde wohl auch so mancherlei treiben, was der Feldhüter
nicht sehen darf, und daß du ein Schlupfloch dir anlegst, mag wohl auch
seinen guten Grund haben." Da meint die Grille ganz keck und setzt sich
dabei in die Höhe wie ein Männchen: „Machen's die Heuschrecken doch
nie so arg wie die Menschen; diese schmoren meine lieben Verwandten
über dem Feuer und verspeisen sie. Das läßt sich keine Heuschrecke oder
Grille zu Schulden kommen, sondern begnügt sich mit grünem Gemüse
und in der Hungersnot mit bloßem Stroh. Und was mich anbetrifft, so
sieh nur das Getreidefeld an, wie das ringsum so schön steht, ein Halm
232
höher als der andere, jeder voll schwellender Körner! Aber so seid ihr
Menschen; wenn ihr auch alle Scheunen gestopft voll habt und draußen
auf dem Felde noch haushohe Schober, und es nimmt ein hungriges
Tierchen einmal einen Mundvoll, hier ein Blättchen, dort ein ver-
lorenes Korn, so schreit ihr gleich Zeter und scheltet uns Diebe und
Räuber. Ja, ihr gönnt selbst der armen Frau nicht das Hälmchen,
das liegen blieb, sondern scharrt mit dem Rechen alles zusammen.
Befiehlt euch nicht die Bibel, rings am Rande etwas stehen zu lassen
und im Jubeljahre alles den Armen zu gönnen und dem Getiere
des Feldes?"*)
„Höre," sag' ich darauf, „da du in der Bibel so trefflich Bescheid
weißt, so will ich mit dir darüber nicht streiten, denn ich vermeide das
lieber, wenn's sein kann; hab' ich doch selbst kein Getreidefeld und kaufe
das Brot und die Semmel fertig vom Bäcker. Aber erzähle mir lieber
von den andern Gästen, die mit dir auf dem Felde offene Tafel halten,
trotz dem scheltenden Landmanne und dem Feldhüter!"
Nunmehr erzählt mir die Feldgrille eine lange Geschichte vom großen
Schmause auf dem Felde, bei dem sie als Geiger Tafelmusik macht. Alles
singt sie in ihrer Manier und streicht mit dem Beine an dem Flügel,
nickt auch mit den Fühlern dazu und schaut mit den großen Augen mich
aufmerksam an. Wagner.
63. Die Spinnen.
1. Die Spinne ist ein verachtetes Tier; viele Menschen fürchten sich
sogar davor, und doch ist sie auch ein merkwürdiges Geschöpf und hat in
der Welt ihren Nutzen. Zum Beispiel die Spinne hat nicht zwei Augen,
sondern acht. Mancher wird dabei denken, da sei es keine Kunst, daß sie
die Fliegen und Mücken, die an ihren Fäden hängen bleiben, so geschwind
erblickt und zu erhaschen weiß. Allein das macht's nicht aus. Denn eine
Fliege hat nach den Untersuchungen der Naturkundigen viele Hundert
Augen und nimmt doch das Netz nicht in acht, noch ihre Feindin, die
groß genug darin sitzt. Was folgt daraus? Es gehören nicht nur Augen,
sondern auch Verstand und Geschick dazu, wenn man glücklich durch die
Welt kommen und in keine verborgenen Fallstricke geraten will.
Wie fein ist der Faden, den eine Spinne in größter Geschwindigkeit
von einer Wand zur andern zu ziehen weiß! Und doch versichern abermal
die Naturkundigen, daß ein solcher Faden, den man kaum mit bloßen
Augen sieht, wohl 6000 fach zusammengesetzt sein könne. Das bringen sie so
heraus: Die Spinne hat an ihrem Körper nicht nur eine, sondern 6 Drüsen,
*) 2 Mos. 23, 11. 3 Mos. 25. 19, 9 f.
r
— 233 —
aus welchen zu gleicher Zeit Fäden hervorgehen. Aber jede von diesen
Drüsen hat wohl 1000 seine Öffnungen, von denen keine umsonst da
sein wird. Wenn also jedesmal aus allen diesen Öffnungen ein solcher
Faden herausgeht, so ist an der Zahl 6000 nichts auszusetzen, und dann
kann man wohl begreifen, wie ein solcher Faden, obgleich so fein, doch
auch so fest sein könne, daß das Tier mit der größten Sicherheit daran
auf- und absteigen, und sich in Sturm und Wetter darauf verlassen kann.
Muß man nicht über die Kunst und Geschicklichkeit dieser Geschöpfe er-
staunen, wenn man ihrer stillen und unverdrossenen Arbeit zuschaut, und an
den großen und weisen Schöpfer denken, der für alles sorgt und solche
Wunder in einem so kleinen und unscheinbaren Körper zu verbergen weiß?
2. Das mag alles gut sein, denkt mancher, wenn sie nur nicht giftig
wären, und läuft davon oder zertritt sie, wo er eine findet. Aber wer
sagt denn, daß unsere Spinnen giftig seien? Noch kein Mensch ist in
unseren Gegenden von einer Spinne vergiftet worden. Auch sonst thun
diese Tierlein, die nur für die Erhaltung ihres eigenen Lebens besorgt
sind, keinem Menschen etwas zuleide. Im Gegenteil leisten sie in der
Natur einen großen Nutzen, den man aber, wie es oft geschieht, nicht hoch
anschlägt, weil jede einzelne wenig dazu beizutragen scheint. Es ist das
geringste, daß sie hie und da einer Stubenfliege den Garaus machen.
Für diese wäre noch anderer Rat. Aber sie verzehren auch jährlich und
täglich eine große Anzahl anderer Fliegen und Mücklein, die uns durch
ihre Menge beschwerlich und schädlich werden, und gegen welche man sich
nicht erwehren könnte, wenn sie überhand nähmen. Sind nicht manchmal
ganze Ackerfurchen mit Spinnengewebe überzogen und glänzen im Morgen-
tau? Da geht manches zu Grunde, was sonst geschadet hätte.
Ein Gefangener machte einst im einsamen Kerker eine Spinne so
zahm, daß sie seine Stimme kannte und allemal kam, wenn er sie lockte
und etwas für sie hatte. Sie verkürzte ihm an einem Orte, wo kein
Freund zu ihm kommen konnte, manche traurige Stunde. Aber als der
Kerkermeister es merkte, brachte er sie ums Leben. Was ist verabscheuungs-
würdig? Ein solches Tier, das noch einem Unglücklichen einiges Ver-
gnügen machen kann, oder ein solcher Mensch, der dem Unglücklichen auch
dieses Vergnügen mißgönnt und zerstört?—Ein anderer Gefangener, der
sonst nichts zu thun wußte, gab lange Zeit auf die Spinnen acht und
merkte, daß sie auch Wetterpropheten seien. Bald ließen sie sich sehen
und arbeiteten, bald nicht. Einmal spannen sie träge, ein andermal hurtig,
lange Fäden oder kurze, einmal näher zusammen, ein andermal weiter
auseinander, so oder so, und endlich konnte er daran erkennen, was für
Wetter kommt, Sturm, Regen oder Sonnenschein, anhaltend oder ver-
änderlich. Also auch dazu sind sie gut.
-
234
3. Daß es mancherlei Tiere dieser Gattung giebt, sieht man schon
an der Verschiedenheit ihres Gewebes in der freien Luft, an Fenster-
scheiben, in den Winkeln, auf den Feldern, da und dort. Jeder unter-
scheidet leicht die großen buntgefleckten Kreuzspinnen von den kleineren
einfarbig grauen Hausspinnen oder die dunkeln behaarten Keller-
spinnen von den vielfarbigen Feld- und Waldspinnen aller Art,
deren manche ihre Eiersäckchen mitschleppen und daher Sackspinnen
heißen. Allgemein bekannt ist der langbeinige Weberknecht, der an
Mauern und am Boden dahinjagt. Auch Wasserspinnen giebt es; und
manche Arten spinnen überhaupt nicht, sondern springen nach ihrer Beute.
Im Frühjahre und noch mehr im trockenen, warmen Nachsommer sieht
man oft gar viele weiße Fäden in der Luft herumfliegen. Alle Bäume
hängen manchmal voll, und die Hüte der Wanderer auf der Straße
werden davon überzogen. Lange machte man sich allerlei wunderliche
Vorstellungen davon. Jetzt weiß man, daß es lauter Gespinst ist von
unzählig kleinen schwarzen Spinnen, welche deswegen die Spinnen des
„fliegenden Sommers" genannt werden. Da sieht man wieder, wie viel
auch durch kleine Kräfte kann ausgerichtet werden, wenn nur viele das
nämliche thun.
Aber eine gefürchtete Spinne lebt im heißen Süditalien, die Tarantel.
Diese soll gar die Menschen beißen und durch den giftigen Biß krank
und schwermütig machen. Ein Mittel dagegen soll ein gewisser Tanz
sein, die Tarantella genannt. Wenn die Kranken die Musik dazu hörten,
so fingen sie an zu tanzen, bis sie vor Müdigkeit umfielen und als-
dann genasen. Doch ist viel Einbildung und Übertreibung dabei und
wohl auch Betrug.
Eine andere Art lebt in Mittelamerika, die riesige Busch spinne.
Diese nimmt nicht mit Stubenfliegen und Mücklein vorlieb. Nein, jungen
Vögeln und Kolibris geht sie nach, tötet sie und saugt ihnen das Blut
aus. Worüber soll man sich da mehr verwundern, über die große Spinne
oder über die kleinen Vögel? P. Hebel.
64. Tintenfische und Polypen.*)
Wer Italien durchreist, dem werden die Fischmärkte mit ihren tausend-
fältigen Seetieren auffallen, darunter die grausenerregenden Gestalten der
Tintenfische, der eigentlichen Sepien, und erst recht der Oktopöden,
der Polypen des Altertums.
Es besteht nämlich ein bedeutender Unterschied zwischen beiden Arten.
Der eigentliche Tintenfisch, die Sepia, besteht aus einem walzenförmigen
*) Jllustr. Frauenzeitung, II. Jahrg. 1875, S. 299 ff.
235
Rumpfe und dem Kopfe, der nach vorn hin die berüchtigten Fangarme
trägt (daher auch „Kopffüßer", Kephalopoden, genannt). Sehen diese
nun auch bösartig genug aus und werden sie bei den größten Tieren
wohl Schrecken erregen können, so mildert doch der schwerfällige Rumpf
den Anblick bedeutend. Auch das unheimliche Leuchten der Augen tritt
bei gefangenen Tieren, auch in Aquarien weniger hervor. Mir hat wenig-
stens die eigentliche Sepia stets einen mehr komischen als schrecklichen
Eindruck gemacht.
Fürchterlich dagegen tritt sofort der Oktöpus dem Beschauer entgegen.
Hier sitzen die heillosen Fangarme rings um den schwammigen Leib, mit
tausend und abertausend scheußlichen „Augen", nämlich Saugdrüsen, bedeckt;
und das regt sich und windet sich in einem fort, bald „zu scheußlichen
Klumpen sich ballend" und verknäulend, bald auseinander sich ringelnd,
kriechend, tastend, beutesuchend, oft auch jäh um ein anderes Tier her-
schießend und sich verstrickend, immer mehr, immer weiter das unrettbar
Verlorene dem gierigen Rachen in der Mitte zuführend. Bei solchem
Anblick überläuft uns unwillkürlich ein Schauder:
„Da kroch's heran,
Regte hundert Gelenke zugleich" —;
fürwahr, auf kein Scheusal der „traurigen Öde" paßt Schillers Wort so,
wie auf diese entsetzlichen Oktopoden. Ihre ganze Scheußlichkeit entfalten
sie besonders beim Fraß. Im Aquarium zu Neapel ließ man eine große
Krabbe am Bindfaden hinab; zappelnd hing sie noch weit oben, und schon
schoben sich unten bei dem lauernden Greuel die faltigen Arme durchein-
ander; der diesen Arten eigene Farbenwechsel der Erregung begann; heftiger,
gieriger bewegt sich der Knäuel, — da endlich langt der eine Arm weit
hervor und schwankt hin und her der Beute entgegen. Und ein zweiter,
ein dritter strecken sich aus; jetzt berührt der erste das Krustentier und
schmiegt sich gleichsam tückisch liebkosend um sein Opfer; auch die anderen
legen sich herum und — da hilft kein Sträuben mehr — bald ist der
Fraß unter den hundertgelenkigen Fängen im Maule verschwunden. Eine
bis zwei Stunden vergehen, dann speit der Vielfraß die ausgesogene Schale
heil und ganz wieder aus.
Diese Oktopoden also dürften als die eigentlichen Urheber der alten
Krakenfabeln anzusehen sein. Hat man doch wiederholt Ungeheuer von
einer Größe entdeckt, die aller Vorstellung spottet.
Schon 1861 hatte ein französischer Kapitän im Atlantischen Ocean
ein solches Niesentier entdeckt und vom Bord des Dampfers aus töteil
lassen, da er es nicht wagte, Boote auszusetzen, weil der Polyp sie leicht
hätte in den Grund ziehen können. Das Tier war ohne die Arme 5 bis
236
6 Meter lang, und sein Gewicht wurde nach Verhältnis eines Teiles,
der allein erbeutet werden konnte, auf 2000 Kilogramm geschätzt. 1872
wurde ein ähnliches Ungeheuer bei Halifax gefangen von 7 Meter Länge,
mit Armen von Schenkeldicke, wie solche auch in den Museen von Kopen-
hagen und Boston gezeigt werden. Auch in den Häfen des Mittelmeers
liegen oft wahre Giganten zum Kaufe aus. Im Piräus bei Athen sahen
wir mehrere Fischer um ein einziges lebendes Exemplar beschäftigt, die es
kaum bewältigen konnten. In Neapel machte ein Oktopus acht kräftigen
Männern solche Mühe, daß sie schwitzend und keuchend oft im Kampfe
einhalten mußten. Fürchterlich ringelten sich die Fänge um Arme und
Beine der Leute, oft den einen oder andern umwerfend oder niederziehend.
Nur mit Aufbietung aller Kräfte gelang es, die acht Fühler nach allen
Seiten auseinander zu reißen — an jedem war ein Mann angestellt —,
dann das ganze Tier daran emporzuheben und mit voller Wucht auf das
harte Quaderpflaster niederklatschen zu lassen. Immer von neuem wehrte
sich das Ungetüm gegen diese allerdings schnöde Behandlung; und es
dauerte stundenlang, ehe es getötet war.
Diese Behandlung muß sich übrigens das Tier überall dort gefallen
lassen. Man scheint keine andere Tötungsart zu kennen, als diese lang-
same Zerschmetterung, von der allerdings die Steine unangenehm glitschig
werden.
Aber warum befaßt man sich überhaupt mit diesen Tieren? Warum
läßt man das scheußliche Gezücht nicht da, wo es hingehört, in den Tiefen
der See? Nun, keineswegs bloß deshalb, weil sie andern Wesen, z. B.
den nutzbaren Fischen, so gefährlich sind und daher ausgerottet werden
müssen; sondern vor allem, um auch sie zu essen! Lediglich für die Küche,
den Tisch, den Magen müssen auch diese schrecklichsten aller Mißgestalten
ihr zähes Leben hergeben! Und eben jene Steinschmetterung ist schon
eine Art Küchenzurichtung, um die lederartigen Häute des Tieres einiger-
maßen weich und genießbar zu machen. Ebendeshalb stehen sie auch, wie
ich schon bemerkte, überall zum Kaufe aus, meistens schon in Stücke zer-
schnitten und in der verschiedensten Zubereitung; hier frisch und roh, dort
gekocht, dort gebraten, gedörrt, geräuchert, mit und ohne Brühe. Für
Italiener und Griechen bilden sie einen Leckerbissen und werden besonders
gern zum Reisbrei mit Hammelfett angerichtet.
Weniger munden sie unserm Geschmack. Wir wenigstens fanden die
Nahrung — ein gedörrtes Stück — nachdem wir uns überwunden hatten
einmal davon zu kosten, recht fade und zähe, und nur ein guter Schluck
Südwein verhaft der Probe zu gutem Bestehen.
Bei dieser Gelegenheit erzählte uns ein seit lange in Athen an-
sässiger Landsmann, wie er selbst einst durch einen Oktopus in große
237
Gefahr gekommen sei. In einer Meeresbucht nimmt er sein gewöhnliches
Bad und fühlt sich, wie er am felsigen Ufer hinschwimmt, plötzlich fest-
gehalten. Er will sich losreißen aus dem vermeintlichen Seetang, kann
aber nicht; vielmehr fester und fester fühlt er sich umklammert und hinab-
gezogen. Jetzt fällt ihm gleich der Oktopus ein, und er weiß, daß er ver-
loren ist, wenn sich kein Rettungsmittel bietet. Da, eine Felszacke ragt
in unmittelbarer Nähe heraus, und glücklicherweise ist auch flacherer Strand
nur einige Schritte entfernt. Jene umklammert er nun mit der ganzen
Kraft seiner sehnigen Arme; höher und höher schiebt er sich, und endlich
befreit ein gewaltiger Ruck ihn von den Stricken des Untiers. Er schwingt
sich vollends hinauf! — aber lange, lange liegt er noch mit hochklopfender
Brust am Ufer, ehe er sich erholt hat. Doch kaum hat er die Kleider
angelegt, so ist „Rache!" sein einziger Gedanke. An starkem Stricke läßt
er einen Gegenstand hinab und, sobald der Räuber die anscheinende Beute
recht fest und vollständig umschlungen, da geht es, mit Gegenstemmung in
den Felsen, an ein Reißen, bis er endlich den Gegner von seinem Sitze,
an dem er sich festgesogen, losgerissen und auf den flachen Strand hinauf
gezogen hat. Aber kaum traut er seinen Augen: sowie der Oktopus die
Ebene berührt, beginnt er, während jener sein Dolchmesser sucht, sofort
eine so schnelle kugelnde Wanderung meerwärts, daß er ihn nur eben mit
hastigen Sätzen einholen kann. Unmittelbar vor dem Wasser beginnt der
Kampf von neuem; der ganze Mann liegt und drückt auf dem Ungetüm,
dieses aber umstrickt ihn abermals, und mit Schrecken bemerkt er, wie er
langsam auf ihm dem Wasser zugeschoben wird. „Da aber sah ich, was
eine scharfe Klinge wert ist; ritsch — ratsch ging es durch die Arme des
Viehs, und da konnte der Kerl nichts mehr ausrichten. Und sehen Sie:
statt daß er mich selber ausgesogen hat, wie er wollte, da habe ich ihn
mit meinen Leuten gegessen, und wir haben einen reichlichen Schmaus
dran gehabt!"
In der That wird die Geschwindigkeit des Oktopus auf dem Lande
von allen Kennern bestätigt. M. Evers.
65. von des Regenwurms ehrbarem Lebenswandel.
Wenn man des Morgens nach einer feuchtwarmen Nacht in den
Garten tritt und etwa eine lehmige Wegstelle ansieht, so wird man auf
ihr meist einige kleine Erdhüufchen wahrnehmen, die bis 1% cm hoch
und wurstartig gewunden sind. Hebt man eines derselben auf, so findet
man unter ihm ein in die Erde fiihrendes Loch von Federkieldicke. Auf
bewachsenen Landflächen findet man ähnliche Löcher, zum Teil mit ähn-
licher Bedeckung; häufiger aber ragt aus dem Loch eine kleine Sammlung
238
von abgefallenen und angefaulten Pflanzenteilen hervor, Grashälmchen,
Blätter, selbst kleine Zweige. Die Blätter sind zusammengerollt und stecken
fast regelmäßig mit der Spitze im Boden. In jenen Löchern wohnt der
Regenwurm, ein Biedermann, wenn auch nicht mit glänzenden Saloneigen-
schaften ausgerüstet; die Pflanzenteilchen sind seine Futtervorräte, welche er
sich des Nachts betriebsam nach Hause holt. Zu dem Ende steigt er aus
seinem Loch, aber nicht ganz, sondern nur mit dem vorderen Körperteil.
Das Schwanzende bleibt im Loch stecken und dient als feste Axe; um diese
sich drehend, sucht er den Boden im Kreise ab und zieht an sich, was er genieß-
bar findet. Seine Nahrungsmittel sind, wie oben gesagt, sehr bescheiden, haupt-
sächlich abgefallene Blattteile, und selbst die sind ihm in frischem Zustande noch
zu hart; aber in der feuchten Atmosphäre der kleinen Höhle werden sie rasch
faulig und weich, und dann nagt er sie behaglich ab. Die Ernte einer Nacht
dient ihm für mehrere Tage; er zieht sie nur tiefer in seine Wohnung hinab.
Der Regenwurm bohrt sich, wie man täglich sehen kann, mit merk-
würdiger Leichtigkeit in der Erde fort. Streicht man einigemal mit dem
Finger an ihm vorbei, so fühlt man bald, was ihm diese Fähigkeit giebt.
Er ist, besonders auf der Bauchseite, mit sehr kleinen, aber steifen Rauhig-
keiten besetzt, die alle nach hinten gerichtet sind; vom Kopf nach dem Schwanz
gestrichen fühlt er sich ganz glatt an, vom Schwanz nach dem Kopf rauh wie
eine feine Feile. Will er nun vorwärts kriechen, so zieht er sich erst zu-
sammen und streckt sich dann lang aus. Das könnte auf zweierlei Weise
geschehen: 1) Das Kopfende bewegt sich nach vorn, 2) das Schwanzende geht
nach hinten. Das letztere lassen aber die Rauhigkeiten nicht zu; sie geben
also dem Schwanzende einen festen Stützpunkt, und von diesem aus drückt
der Regenwurm seinen zugespitzten Kopf leicht und glatt in die Erde ein.
Wie die von ihm gefertigten Wurmröhren beschaffen sind, das läßt
sich in bröckliger Ackererde schwer erkennen. Im Sande gehen sie 1 bis 2 m
senkrecht abwärts und endigen dort blind, zum Teil mit, zum Teil ohne
horizontale Umbiegung. Am Ende sitzt der Wurm, mit dem Kopf auf-
wärts; rings um ihn sind die Wände mit kleinen Steinen tapeziert. An
der Röhrenwand findet man kleine schwärzliche Hervorragungen; diese sind
die letzten Überbleibsel seiner Verdauung. In einem halb landwirtschaft-
lichen Artikel, wie dieser ist, darf man wohl von Dünger reden; wir wollen
die schwarzen Massen den Humus des Wurmes nennen; denn wie Humus,
wie fette, schwärzliche Ackererde sehen sie allerdings aus und sind fruchtbar
wie diese. Alte, verlassene Wurmröhren sind damit ziemlich regelmäßig
tapeziert oder angefüllt. Bei Versuchen eines Forschers wurden Würmer
in ein Glasgefäß von % m Durchmesser gesetzt, welches bis % m mit Sand
gefüllt und darüber mit einer Schicht abgefallener Blätter bedeckt war.
Die Würmer machten sich schnell ans Werk; nach 1% Monaten waren
239
viele Blätter bis 8 cm tief in den Sand hineingezogen; an der Oberfläche
lag eine Humusschicht von 1 cm Höhe, und im Sande waren zahlreiche
Wurmröhren, teils frisch, teils mit einem innern Humusüberzug von 3 mm
Dicke bekleidet, teils ganz mit Humus gefüllt.
Wenn nun Pflanzen auf einem von Würmern durchzogenen Boden
wachsen, so finden sich in den etwas älteren Röhren Wurzeln derselben,
üppig entwickelt, bis zum Ende der Röhre kriechend, mit zahlreichen Saug-
haaren, welche den Humus der Wände aufsaugen. In der That müssen
solche Röhren dem Wachstum der Wurzeln äußerst günstig sein; sie finden
daselbst Raum in der Richtung senkrecht abwärts, Feuchtigkeit und Nahrung.
Es scheint sogar, daß die meisten Wurzeln, namentlich die dünnen, bieg-
samen Saugwurzeln, nur da in den Untergrund hinabdringen können, wo
die Würmer ihnen den Pfad vorgezeichnet haben.
Um von der Massenhaftigkeit der Wurmthätigkeit eine Vorstellung zu
bekommen, hat jener Naturforscher die Wurmlöcher in einem Garten über-
schlagsweise gezählt. Er fand auf den Hektar etwa 133 000 Würmer, die
zusammen das ansehnliche Gewicht von 400 LZ haben und in 24 Stunden
etwa 66 LZ Humus erzeugen.
Im ganzen also besteht die Thätigkeit des Regenwurms darin, daß
er die Verwandlung der pflanzlichen Abfallstoffe in Dünger beschleunigt,
den Untergrund auflockert, den Wurzeln Wege in diesem eröffnet und sie
zugleich auf diesen Wegen mit Nahrung versorgt. Sogar was er selbst
den Pflanzenresten an Nahrung für sein Dasein entnimmt, das liefert er
getreulich wieder ab; während des Lebens atmet er es als Kohlensäure
aus und setzt es als Schleim ab — beides Dinge, welche die Pflanzen
zu ihrem Wachstum verwerten —, nach seinem Tode dient sein verwesender
Körper selbst als Dünger. Daß er Wurzeln anfresse, ist reine Verleumdung;
nie findet man Reste frischer Wurzeln in seinem Magen; der Arme müßte
verhungern, wenn er vor so hartes Futter gestellt würde.
Nun die Lehre: Bis vor dreißig Jahren schlug man die Maulwürfe
und Regenwürmer tot, weil sie Feinde des Landmannes seien. Dann lernte
inan die Maulwürfe schonen, weil sie die Würmer fressen. Jetzt zeigt sich,
daß der Wurm eine brave Kreatur ist, welche in bescheidener Verborgenheit
stille Dienste leistet, die kein anderer ersetzen kann. Der Landmann soll
ihn also als einen seiner besten Freunde betrachten. Aber schwierig ist
die andere Frage: Soll man die Maulwürfe nun wieder totschlagen
oder nicht? Ich denke im allgemeinen, nein, wenigstens nicht, wo es viele
Engerlinge und ähnliches Ungeziefer giebt; denn gegen diese ist der Maul-
wurf unersetzbar, und wenn er auch Regenwürmer wegfrißt, so werden sie
sich durch Fortpflanzung schon selbst helfen. E. Budde.
240
66. Der Frosch.
Wohl hast du dich -schon über die flinken Sprünge des Frosches
gefreut, der so hoch durchs feuchte Gras hüpft, daß du, wenn du's ihm
gleichthun wolltest, zum wenigsten stubenhoch, ja haushoch springen
müßtest, deiner Größe angemessen. Gar manches mußte aber der
Springmeister vorher lernen und erleben, ehe er's zu solcher Höhe in
seiner Kunst brachte.
Nie hat der Frosch erfahren können, wer sein Vater und seine Mutter
waren. Viele Frösche lebten beisammen in dem großen Teiche. Den
Winter hindurch lagen sie im tiefen Schlammgrunde starr und steif wie
tot, ohne zu essen und zu atmen. Sie träumten von Sonnenschein und
schönen Fliegenbeinchen, von Nixenblumen und fetten Würmchen, während
droben auf dem glatten Eisspiegel muntre Knaben Schlittschuh liefen. Da
klopft der Frühling an die große Fensterscheibe ihres Zimmers, und von
dem starken Pochen springt sie entzwei in tausend Stücke. Er haucht ins
kalte Wasser, es dampft der Teich, als sei der warme Morgentrunk bereit;
von kleinen Tierchen wimmelt's schon an den Wassergräsern und an dem
Laichkraute, das in dichten Massen sich emporstreckt. Das Morgenbrot ist
fertig. Da stehen die Frösche vom Winterschlafe auf, sie recken und strecken
sich, sie dehnen ihre Glieder, die so lange müßig waren; jetzt heben sie
sich vom tiefen Grunde nach oben. Sie tummeln sich. Alle Vöglein
tragen zu Neste und füttern ihre Kleinen, die Schafe führen ihre Lämmchen
zur blumenreichen Wiese — da werden auch die kalten Frösche des Sumpfes
mit fortgerissen vom allgemeinen Jubel, von der Frühlingsfreude. Erst
steckt ein einzelner den dicken Kopf empor übers Wasser und quakt in
kurzen, tiefen Tönen, dann fallen zwei, drei andere ein und zuletzt der
ganze Chor. Ein großes Frühlingslied wird eingeübt und den ganzen
schönen Abend lang dem Monde vorgesungen. Zwei dicke Schallblasen
treten dabei dem Männchen an der Seite des Halses hervor und helfen
den Schall verstärken.
Nun legen die fröhlichen Frösche ihre Eier. Große, gallertartige
Massen, dem Eiweiß ähnlich, hängen sie an die Wasserpflanzen. Dunkle
Pünktchen sind in der schleimigen Masse. Aus jedem dieser Pünktchen
wird einst ein Fröschchen. Das laue Wasser ist die große Wiege der
jungen Frösche, die duftige Maienluft schaukelt sie gelinde. Weiße Hahnen-
fußblüten und gelbe Dotterblumen sind die bunte, leichte Decke. Die
Sonne ist die große Mutter, die mit warmen Strahlen Hunderte von
Eiern brütet. Das Pünktchen in dem Froschlaiche wird größer und größer,
die gallertarige, klare Masse wird geringer und zerteilt sich. Der junge
Frosch schlüpft aus. Welche wunderliche Gestalt zeigt er! Ein rundes,
241
schwarzes Körperchen und daran ein langer, breiter Schwanz, das ist das
ganze Tier. Am Körperchen ist noch kein Unterschied von Kopf, Hals,
Rumpf und Bauch zu merken; nur die Augen und den Mund sehen wir
daran, und an den Seiten ragen zwei zartgefaserte Häutchen in das
Wasser. Dies sind Kiemen, durch die das Tierchen Atem holt. Sie sind
geeignet, die Lust aufzunehmen, die in dem Wasser ist.
Lustig ist es anzusehen, wie das junge Fröschchen sich bewegt. Es
besitzen zwar viele Tiere einen Schwanz; das Pferd wedelt mit dem
seinigen sich die Fliegen ab, der Hund giebt durch Wedeln dem Hausherrn
seine Freude zu erkennen, einige Tiere, z. B. manche Affen klettern auch
damit, aber alle diese Tiere haben außer ihm noch andere Werkzeuge der
Bewegung. Der Schwanz scheint nur so nebenbei dazusein, sodaß man
manchen Pferden und Hunden ihn abhaut, ohne daß es ihnen weiter
etwas schadete oder sie etwa in ihrer Schnelligkeit irgend hinderte. Beim
jungen Frosche dagegen ist der Schwanz sein Ein und Alles: Hand und
Fuß und Flosse. Nur mit ihm kann sich das kleine, glatte Tierchen fort-
bewegen, und es sieht sich niedlich an, wie der junge Frosch, den man in
diesem Zustande Kaulquappe nennt, so schnell und munter links und rechts
im hellen Wasser schwimmt, nach der Oberfläche steigt oder nach dem
Grunde taucht. Jetzt rudert er mitten hinein in einen dichten Schwarm
von Würmchen und frißt sich satt, jetzt fährt er an einer Wasserschnecke
schnell vorbei und besieht sich ihr gewundenes Gehäuse, dann flieht er
wieder vor einem Fische in einen dichten Busch von Wassersternen, der in
dem Teiche wächst.
Nachdem das Fröschchen sich eine geraume Zeit mit seinem Schwänzchen
hat forthelfen müssen, fangen die beiden Hinterfüße an zu wachsen. Zuerst
nur wie zwei Häkchen erscheinend, werden sie allmählich immer größer, bis
sie endlich, mit Schenkeln, mit Zehen und Schwimmhäuten versehen, voll-
ständig fertig sind. Nun geht es mit dem Schwimmen schon viel besser.
Wenn vorher aus der Schar von Fröschlein, die nur den Schwanz zum
Schwimmen besaßen, sehr viele von räuberischen Fischen verzehrt wurden,
so wird es diesen mordbegierigen Feinden schon viel schwieriger, jetzt eines
habhaft zu werden. In großer Eile flieht der Schwarm nach allen Seiten
auseinander, sobald ein Hecht sich naht, und verkriecht sich behende hinter
Steine und Blätter und Wurzelwerk. Sowie dem Frosche die Hinterfüße
wachsen, ziehen sich die Kiemen allmählich in den Leib zurück. Er atmet
jetzt mit ihnen Luft aus dem Wasser, das er einschluckt. Eine Zeit lang
übt er sich nun tüchtig mit Schwanz und Hinterbeinen. Er legt sie dicht
an seinen glatten Körper, jetzt breitet er die Zehen mit der Schwimmhaut
aus und stößt kräftig die Beine gleichzeitig nach hinten, und wie ein Pfeil
schießt er durchs Wasser. Der Schwanz hilft noch fortwährend mit. So-
Lesebuch für höhere Lehranstalten. (Preuß. Ausg) III. 16
242
wie die Hinterbeine ihre Sache besser und besser lernen, fangen auch die
Vorderbeine zu wachsen an. Nun schwimmt das Fröschchen gewandt und
schnell, macht rechtsum, linksum, auf und ab. Es ist überhaupt in allen
Teilen viel größer und stärker geworden und auch viel verständiger. Kopf
und Brust und Leib lassen sich nun deutlich unterscheiden. Sowie die
Beine größer und geschickter werden, wird der Schwanz in gleichem Maße
schwächer und kleiner. Der Frosch bedarf endlich seiner gar nicht mehr;
deshalb ist er auch, sobald die Beine völlig ausgewachsen sind, gänzlich
verschwunden.
Bisher war es dem Frosche nur möglich, im Teiche und in dem
Graben zu leben und hier die mancherlei Würmchen zu verzehren. Doch
aus den meisten derselben werden Fliegen und Mücken; die fliegen dann in
die Luft und halten dort ihre lustigen Tänze, setzen sich auf die schwan-
kenden Grasblätter und Halme und kommen nie ins Wasser zu dem
Frosche zurück. Sehnsüchtig sieht er seiner leckeren Speise nach, er will
aufs Land. Bisher konnte er mit seinen Kiemen nur solche Luft einatmen,
die im Wasser sich befindet, und das Fröschchen mußte sterben, wenn wir
es aus dem Wasser nahmen und lange Zeit im Trocknen ließen, wie es ja
den Fischen auch ergeht; doch während die Beine sich kräftigten und zum
Hüpfen allmählich geeignet wurden, bildeten sich die Wasserkiemen zu
Lungen um, die im stände sind, die Luft so zu atmen, wie wir selbst es
thun. Nun endlich kriecht der Frosch ans Land und lernt hüpfen, hoch
und höher, bis er die Fliege auf dem Vergißmeinnicht erhascht. Seine
Zunge leistet ihm bei seiner Jagd gar gute Dienste. Sie ist breit und
vorn im Munde festgewachsen, nach hinten liegt sie frei und lose in dem
Munde. Blitzschnell klappt sie sich heraus, wenn das Mücklein nahe genug
ist, ergreift es und kehrt mit ihm zum Munde zurück. Wie der Frosch
seinen Ruderschwanz abgethan hat, so legt er zuzeiten auch seine Haut ab;
doch während jener allmählich vom Körper wieder aufgesaugt und ander-
wärts verbraucht wird, zieht er diese vollständig aus. Sie ist freilich so
dünn, daß, wenn es einem einmal gelingt, ein solches Häutchen aufzufischen
und aufs Papier zu kleben, es dann ganz so aussieht, als sei es nur mit
schwacher Farbe auf das weiße Blatt gemalt. Sehr selten findet man
jedoch solch Häutchen, denn gewöhnlich speist es der Frosch sogleich auf,
wenn er es abgestreift hat.
Einer von den Fröschen ist aber mit diesen Künsten noch nicht zu-
frieden; ihm ist's viel zu gering, zwischen gelben Dotterblumen und
Sumpfveilchen umherzuspringen oder auf den Blättern des Froschlöffels und
des Pfeilkrauts sich zu wiegen; er will höher hinauf auf Büsche und
Bäume, will wie ein Vogel im grünen Laube leben und auf den Zweigen
sein wunderliches Liedchen singen. Du kennst den Laubfrosch, diesen Wetter-
243
Propheten, der so oft im engen Glase gefangen auf der Leiter sitzen muß,
um den Leuten Regen oder Sonnenschein vorauszuverkündigen. Er ist es,
der so geschickt von einem Blatte des Baumes zum andern springt. Hier
versteckt er sich auf der unteren Seite des Laubes und lauert, bis eine
bunte Fliege oder ein schöner Schmetterling vorüberkommt. An jeder Zehe
seiner Füße hat er ein rundes Häutchen, das ähnlich dem Saugleder ist,
mit dem so oft die Knaben spielen. Diese tauchen ein solches Lederstückchen
in Wasser, und nachdem es weich geworden ist, drücken sie es fest an den
glatten Stein und ziehen dann an dem Faden, der in der Mitte befestigt
ist. Es haftet dann oft so fest, daß der Stein emporgezogen wird, ohne
daß das Leder los läßt. Ähnliche Häutchen hat, wie gesagt, der Laub-
frosch an jeder Zehe eins, und mit diesen hält er sich so fest, selbst an
der glatten Rinde und dem glänzenden Laube, daß er niemals füllt.
Summt dann ein Tierchen in der Nähe vorbei, so ahnt es selten seinen
Feind, denn seine Farbe gleicht der des Blattes, auf dem er sitzt; ja wie
das Laub allmählich sein Aussehen verändert, so ändert er das seine auch.
Im Frühjahre ist er hellgrün, später wird er dunkler, und gegen den
Herbst hin wird er bräunlich. Sowie die Fliege oder Motte ihm nahe
genug ist, hält sich der Frosch mit einem Fuße fest, schnellt wie ein Blitz
auf seine Beute los, und selten entgeht ihm diese. So findet er fort-
während reiche Speise, und auch der Trank fehlt nicht. Mit seiner dünnen
Haut saugt er die Regentropfen und den Tau, der an den Blättern hängt,
und führt den ganzen Sommer hindurch ein fröhliches Leben.
So ward mit der Zeit aus dem unbeholfenen schwarzen Kügelchen,
das dem Laiche entschlüpfte, das schnelle, muntere Fröschchen, das über Gras
und Blumen springt und in der Krone des Baumes sich vergnügt.
Wagner.
16*
244
VI. Aus der Länder- und Völkerkunde.
67. Jm Lande der Mitternachtssonne,
a. Die Lofoten.
In den letzten Jahrzehnten ist Norwegen ein viel besuchtes Land
geworden; auch der deutsche Kaiser hat seine Erholungsreisen schon mehrere
Male nach diesem an eigenartigen Naturreizen so reichen Lande gerichtet
und mit Vorliebe dessen nordwestliche Küste besucht. Den Verkehr mit diesen
Küstenstrichen vermitteln besonders Bergen er und Hamburger Dampf-
schiffe. Diese fahren zwischen den die Küste beschirmenden Felseninseln
hindurch und kommen deshalb nur an wenigen Stellen aus die offene See.
Am zweiten Tage nach der Abreise von Drontheim treten die Reisenden
in die kalte Zone ein; denn das Schiff überschreitet bei der Stadt Bodö,
fast 500 km von Drontheim entfernt, den nördlichen Polarkreis. Jenseits
desselben ist, je nach der Lage des Ortes, von Mitte Mai bis Ende Juli
die Mitternachtssonne sichtbar, eine Erscheinung, welche diesen nördlichen
Gegenden einen unsagbaren Reiz verleiht. Während dieser Zeit herrscht
dauernde Helligkeit; die Klarheit der Luft rückt die ganze, weite Landschaft in
so täuschende Nähe, daß der Reisende einen vor ihm auftauchenden Punkt in
einem Tage zu erreichen glaubt, während dazu noch einige Tagereisen nötig
sind. Die Sonnenscheibe verschwindet nicht mehr, sondern steigt am Himmel
auf und nieder; oft umgiebt sie ein herrliches Farbenspiel; die Sterne
treten auch um Mitternacht nicht hervor, und der Mond steht ohne Schein
blaß am Himmel.
Von Bodö aus erreicht man die Inselgruppe der Lofoten. Diese
Fahrt gehört zu den schönsten Seefahrten der Welt. Der Süden Europas
kann sich mit diesen eigenartigen und großartigen Naturschönheiten nicht
messen. Nach der einen Seite hin erblickt man die lange Inselgruppe mit
ihren wild zerklüfteten Gebirgszügen; nach der andern Seite schaut man
die hoch und kühn aus dem Meere emporsteigenden Gebirge des Fest-
landes, gewaltige Gebirgslandschaften an der See mit den seltsamsten
Bergformen. Überall, wo nicht Schnee liegt, an den Abhängen und am
Fuße der Berge erfreut das Auge ein frisches Grün. Verschiedene Moos-
arten breiten einen lichten Teppich über die sonst nackten Felsmassen; daneben
leuchten die Blütensterne der in Norwegen viel genossenen Moltebeere, und
das wilde Veilchen blüht unmittelbar neben einer Schneewand. Weite,
mit Alpenkräutern bewachsene Grasflächen gewähren dem Vieh vortreffliches
Futter, und in einigen Thälern ist an geschützten Stellen sogar der Anbau
von Kartoffeln, Hafer und Gerste möglich. Für ein Polarland erscheint
245
solch ein üppiger Pflanzenwuchs wie ein Naturwunder; denn in Sibirien
und Nordamerika erstarrt unter gleichen Breitegraden alles in Eis und
Schnee, und die Nordpolfahrer erliegen nicht selten der grimmen Kälte
oder den das Schiff einschließenden und erdrückenden Eismassen. Dieses
Wunder bewirkt der Golfstrom, jene warme Meeresströmung, welche wie
eine riesige Wasserleitung den größten Teil Norwegens umflutet. Alle
Freude und aller Segen kommt dem Lande aus dem Meere, welches seine
größte Wärmequelle bildet und niemals zufriert, während das Innere des
Landes unter der Herrschaft strenger Kälte steht.
Der Baumwuchs der Lofoten freilich ist spärlich; nur die Birke kommt
noch fort. Die Bewohner sind mehr auf Viehzucht als auf Ackerbau an-
gewiesen. Ziegen, Schafe und Rinder werden in ziemlicher Menge gehalten;
Pferde giebt es nur vereinzelt, zumal da nur wenige fahrbare Wege vor-
handen sind. Tiefe Sümpfe und Moore werden im Innern der Inseln
durch das von den Bergen rinnende Schneewasser gebildet; doch liefern
diese Torfmoore billigen Brennstoff. Unzähliges Geflügel vom Adler bis
zum Schneehuhn belebt die in tiefes Schweigen gehüllte Natur. Sehr
einträglich ist das Sammeln der Eiderdunen; das Erlegen der Eiderenten
selbst wird jedoch mit Geldstrafe belegt.
Die Hauptwiege des tierischen Lebens ist das Meer; Kabeljau, Dorsch
und Hering spielen in der Seefischerei die wichtigste Rolle. Der Dorsch-
sang wird von Mitte Januar bis Mitte April betrieben. In dieser Zeit
sucht der Dorsch, um zu laichen, die flacher liegenden Bänke an der Ost-
seite der Lofoten auf. Dann finden sich etwa 6000 Boote mit 25 000
Fischern zusammen; diese fahren 7 km weit ins Meer hinein und fangen
den sehr gefräßigen und daher leicht anbeißenden Fisch mit Netzen oder
langen Leinen, an denen Angelschnüre befestigt sind. Die Fischer wohnen
in den Hütten der Strandbewohner, welche die erbeuteten Fische aufschneiden
und trocknen oder einsalzen. Eingesalzen heißt der Fisch Laberdan, gesalzen
und an der Sonne auf den Klippen getrocknet Klippfisch, ungesalzen auf
Gerüsten getrocknet Stockfisch. Der letztere wird in ganzen Schiffsladungen
als Fastenspeise in die südlichen katholischen Länder befördert. Aus den
Lebern und Eingeweiden des Fisches wird der Leberthran gesotten, und
die abgeschnittenen Köpfe verwendet man, mit Seetang gekocht, zu Vieh-
futter, oder sie werden in Guanofabriken in großen Pfannen geröstet und
dann zermahlen.
Aber mit großen Gefahren ist die Seefischerei verbunden. Schon oft
hat ein plötzlich hereinbrechender Weststurm die Rückkehr unmöglich gemacht
und nicht allein die Hoffnung auf eineu reichen Fang, sondern auch Hun-
derte von Menschenleben vernichtet. Selten ist auf den Lofoten eine Familie
zu finden, die nicht wenigstens einen Angehörigen im rauhen Ringen um
246
das Dasein dem Meere hätte opfern müssen. — Auch den Großtieren des
Meeres, dem Walfisch und seinen Verwandten, wird von kühnen Jägern
nachgestellt.
Die Bewohner der Lofoten sind Norweger. Sie haben einen kräftigen
Körperbau und meist blonde Haare und blaue Augen. Ihr Wesen ist
ruhig und langsam, ernst und schweigsam, wie die Natur, die sie umgiebt;
aber sie zeichnen sich durch lebhafte Auffassung und Klugheit aus; obgleich
am Alten hängend, sind sie doch unternehmend und ausdauernd. Dem
Fremden gegenüber sind sie anfangs verschlossen und fast scheu; sobald man
aber ihr Zutrauen gewonnen hat, zeigen sie ihre ganze Treuherzigkeit und
Offenheit. Fremdes Eigentum ist ihnen heilig; keinem Einheimischen fällt
es ein, eine Thür zu verschließen, selbst des Nachts nicht, und man lächelt
im stillen über den Fremden, der ängstlich sein Zimmer verschließt. Fast
jedermann kann wenigstens lesen und schreiben, und eine echte Frömmig-
keit wurzelt im Volke. Eigentliche Dörfer giebt es nicht. Die Holz-
häuser, deren Fugen mit Moos ausgestopft, deren Wände mit Brettern
verkleidet, und deren Dächer mit Birkenrinde und Rasen belegt sind, liegen
weit verstreut am Strande. Der Kirchenbesuch ist deshalb ziemlich be-
schwerlich; aber trotzdem die Leute oft meilenweite Wege oder Bootfahrten
machen müssen, sind sie fleißige Kirchgänger. Auch Wanderprediger durch-
streifen das Land und laden die Bewohner von Haus zu Haus zu einer
Versammlung ein, die dann unter großer Beteiligung in einem leeren
Warenhause oder Fischspeicher abgehalten wird. Die Sonntagsheiligung
wird streng beobachtet; vom Samstag bis zum Montag darf kein Brannt-
wein verkauft werden, und dieses Verbot erstreckt sich sogar auf die längs
der Küste verkehrenden Dampfer.
d. Hammerfest und das Nordkap.
Setzt man von den Lofoten aus die Reise nach dem Nordkap, dem
nördlichsten Punkte unseres Erdteils, fort, so kommt man an der nörd-
lichsten Stadt Europas vorüber. Hammerfest ist fast 1000 km von Dront-
heim entfernt und liegt auf einer gänzlich unbewohnten Felseninsel an
einer tiefen, halbkreisförmigen, sehr geschützten Bucht. Die Stadt lehnt
sich an eine langgestreckte Höhe an, deren Schneestürze ihr oftmals Gefahr
drohen. Der Sommer ist kurz, bringt aber zuweilen recht warme Tage.
Die Sonne bleibt vom 13. Mai bis zum 29. Juli ununterbrochen am
Himmel stehen. Aber diesem langen Sommertage steht auch eine gar lange
Winternacht gegenüber. Dann muß man beständig Licht brennen. Die
Sterne funkeln am dunkeln Himmel in erhöhtem Glanze; der Mond gießt
sein zauberisches Licht über die verschneite Stadt und das flutende Nord-
meer, und zuweilen erhellt ein feurigstrahlendes, in glänzenden Farben
247
leuchtendes Nordlicht die Dunkelheit, welche gegen Mittag in eine kurze
Dämmerung übergeht. Endlich bricht im Osten der erste Lichtstreif hervor,
die sehnlich erwartete Sonnenscheibe lugt Ende Januar am Rande des
Sehkreises schüchtern hervor und wird von den Einwohnern mit lauter
Freude begrüßt. Zwar zeigt sie sich täglich zunächst nur ganz kurze Zeit
und verschwindet bald wieder. Aber je höher sie steigt, um so länger
dauern die hellen Stunden, bis jener lange Sommertag beginnt.
Hammerfest wurde im Jahre 1787 gegründet, besaß 1801 nur 77 und
zählt jetzt 2200 Einwohner. Da die Häuser fast alle von Holz gebaut
sind, so ist es schon öfter gänzlich eingeäschert worden. Die Stadt ist
sauber; die Hauptstraße folgt der Krümmung der Hafenbucht; die andern
Straßen sind eng. Unangenehm berührt den Fremden ein starker, die
ganze Stadt erfüllender Thrangeruch, der von den Siedereien ausgeht.
Einige Gasthöfe bieten dem Fremden ein gutes Unterkommen; mehrere
Zeitungen erscheinen am Orte; nach Drontheim und Christiania ist der
Telegraph gespannt, und alle 14 Tage erscheint von Hamburg her ein
Dampfer. In einigen hübschen Verkaufsläden werden Renntiergeweihe,
Eisbärenfelle, Walroßzähne, Pelzstiefel, Lappenkleider u. a. feilgeboten.
Vor der Stadt und an den Hafendämmen erblickt man zahlreiche Fisch-
gerüste und geräumige Warenspeicher. Von den beiden Kirchen ist eine
lutherisch, die andere griechisch-katholisch; denn Hammerfest ist ein Haupt-
sitz des russischen Handels. Der Hasen liegt voll von russischen Fahr-
zeugen, meist plumpe Dreimaster. Der Handel besteht zum Teil noch in
Tauschgeschäften; die Russen bringen Getreide, Mehl und Holz und führen
die Erzeugnisse des Landes fort. In den Straßen und auf den Hafen-
dämmen herrscht ein lebhaftes Durcheinander von Menschen fast aller nord-
europäischen Völker, vorwiegend Russen mit struppigem Haar und Bart,
Lappen und Finnen in ihrer bunten Tracht. So bewegt das Bild ist,
welches Stadt und Hafen bieten, so öde ist die Umgebung. Auch im
Sommer ist kein Baum, kein Strauch zu sehen; keine Landstraße geht von
der Stadt aus; wohin das Auge blickt, finstere, nackte Felsen, schauerlich
düstere Einsamkeit.
Die Fahrt von Hammerfest bis zu dem 32 km entfernten Nordkap
ist von ermüdender Eintönigkeit. Eine Mauer nackter Felsen steigt jäh aus
dem Wasser auf, hier und da in Spalten und Höhlen auseinanderklaffend,
die einer Unzahl von Seevögeln zur Wohnung dienen. Das Schiff erreicht
den öden Ort Gjesvär, der nur aus wenigen niedrigen Hütten armer
Fischer besteht. Die Reisenden besteigen ein Boot, welches in einen Fjord
einbiegt, und erst von hier aus gelangen sie endlich nach einem mühsamen
Aufstiege auf den äußersten, 300 m über dem Meeresspiegel liegenden Vor-
sprung des Nordkaps. Majestätisch ragt die steile, dunkle Felsmasse über
248
die Wogen. Vor uns, soweit das Auge reicht, dehnt sich das Polarmeer
bis in jene unbekannte Ferne aus, deren Eisgürtel der Anstrengungen
derer spottet, welche den geheimnisvollen Schleier zu lüften und bis zum
Nordpole vorzudringen suchen. Hinter uns liegt Europa, zur Rechten er-
streckt sich Asien, zur Linken Amerika. Totenstille herrscht ringsum; nur
die Wogen branden und tosen gegen das Felsenufer, und hoch auf sprüht
zerstäubend der schimmernde Gischt, der wie ein blendend weißer Schleier
um die Klippen wallt. Ergriffen von der Großartigkeit dieses Bildes ver-
lassen die Reisenden die einsame Feste des Nordens und suchen ihre Boote
auf, um wieder in freundlichere Stätten und zu Menschen zurückzukehren.
A. Heineck-Essen nach Karl Planer u. a.
68. Petersburg.
Petersburg, die Hauptstadt Rußlands an der Newa-Mündung, ist
durchaus keine malerische Stadt. Es fehlt in den Straßen wegen der
weitläufigen Bauart so sehr an geschlossenen Gruppen und daher an kräftigen
Schatten, daß es schwer hält, Straßenbilder zu gewinnen, die den bei uns
gar nicht seltenen an Schönheit gleichkämen. Zudem ist das Gelände der
Stadt, die etwa eine Quadratmeile einnimmt, so eben, daß sich kein Teil
über den andern erhebt. Namentlich macht sich dies im Winter bemerklich,
wo alles mit dem einförmigen Weiß des Schnees überzogen ist.
Kein Ort erleidet aber auch eine so interessante Verwandlung wie die
Newatochter im Frühling, wenn ihr Himmel sich abklärt und die Sonne
das bleiche Leichentuch des Winters von den Dächern und Flüssen hebt.
Da fassen erst die Häuser auf dem dunkeln Grunde festen Fuß, die grünen
Dächer, die blauen Kirchenkuppeln und die vergoldeten Kirchturmspitzen
erfreuen nun das Auge, und die klaren Wasserflächen werfen das Bild der
schmucken Paläste tausendfach zurück.
Keine unserer heutigen Städte kann sich rühmen, so ganz aus Palästen
und Riesengebäuden zusammengesetzt zu sein wie Petersburg. Hier liegen
z. B. drei Gebäude — die Admiralität, das kaiserliche Schloß und das
erste Kadettenhaus — nebeneinander, die eine so riesige Größe haben, daß
man, um von dem einen Ende zum andern zu gelangen, auf dem geradesten
Wege 25 Minuten wandern muß. In manchen solcher Gebäude wohnen
mehrere tausend Menschen, im Winterpalais z. B. 6000; 4000 Betten für
Kranke sind im Hospital der Landtruppen aufgeschlagen, und im Findel-
hause finden 7000 Kinder Unterkommen.
Selbst manche Privathäuser haben eine ähnliche Ausdehnung, und
ihre Besitzer beziehen jährlich eine Einnahme von etwa 100000 Rubel;
viele Häuser geben daher an Zahl der Gebäude und an Größe der ein-
zelnen Flügel der Hofburg in Wien wenig nach.
249
Die meisten Häuser in Petersburg sind zweistöckig, nur in den inner-
sten Stadtteilen findet man drei- und vierstöckige. Die Mehrzahl ist hölzern,
denn die Russen haben namentlich der Wärme wegen eine Vorliebe für
niedrige und hölzerne Häuser. Das Bauen der Häuser ist sehr kostspielig,
weil der Tagelohn teurer ist als irgendwo sonst; ferner der Fundamente
wegen. Der schwammige und morastige Boden macht es nämlich durchaus
nötig, erst ein ganzes Gerüst unter die Erde zu versenken, ehe ein
Bau darüber erscheinen kann. Alle größeren Gebäude der Stadt ruhen
auf Rosten von sehr langen Bäumen, die erst in tieferen Schichten des
Bodens festen Grund finden.
Bei der Leichtigkeit, mit der die Russen sich zu Veränderungen ent-
schließen, wird in Petersburg natürlich viel gebaut und umgebaut. An
den Häusern wird fast beständig bald hier, bald da etwas geändert. Ein
einziges Fest, ein Ball, ein Gastmahl veranlaßt oft große Veränderungen im
Innern eines Hauses. Findet man z. B. die Zimmer zu klein, so bricht
man eine Mauer durch, zieht das folgende Zimmer hinzu und läßt für
den festlichen Abend Thüren einsetzen. So bleibt kein reicheres Privathaus
auch nur für Monate in demselben Zustande. Auch in der Verwendung
der Zimmer wird immer gewechselt: bald ist diese, bald jene Stube Schlaf-
zimmer; bald empfängt die Herrin des Hauses in diesem, bald in jenem
Salon; bald bestimmt sie ihr Schlafzimmer zu dem der Kinder, bald die
Schulstube zum Ballsaal. So tief steckt der Wandertrieb in der Natur
der Russen, daß sie im Laufe des Jahres nicht nur von einem Ende des
Hauses zum andern wandern, sondern auch noch innerhalb einer Jahreszeit
wenigstens in den verschiedenen Etagen ihres Hauses auf und ab ziehen.
Das Straßenpfiaster ist in Petersburg, wie man es bei km sumpfigen
Boden nicht anders erwarten kann, eins der teuersten, denn es bedarf be-
ständiger Ausbesserungen; und doch dringt die Feuchtigkeit überall hindurch.
Auch verstehen sich die Russen schlecht aufs Pflastern; man hat daher für
die besseren Straßen deutsche Pflasterer berufen, die immer genug zu thun
finden. Übrigens verwendet man dort im allgemeinen schon deshalb weniger
Sorgfalt auf ein gutes Pflaster, weil für 6 Mouate die Natur selbst mit
Schnee und Eis pflastert.
Die Zu- und Abgänge der Häuser von allen Seiten her sind bequem
und weit. Die Häuser der Großen haben meistens Vorhöfe zum An- und
Abfahren der Wagen, wie bei uns nur die Theater oder Paläste. Auch
das Innere ist durchweg geräumiger als in unsern Städten,' und wer sich
bei uns mit ein paar Zimmern begnügt, hält in Petersburg gewiß auf
ein halbes Dutzend.
Eine der kostbarsten Zierden der Petersburger Häuser bilden die
großen Fensterscheiben. Man hat mit Recht gefunden, daß die Fenster-
250
stäbe, wodurch die Scheiben zusammengehalten werden, das Aussichtsfeld
unterbrechen. Darum läßt man sie ganz weg und füllt die Fensterspannung
mit einer einzigen großen Spiegelscheibe aus. In den meisten Salons
befindet sich nur ein so kostbares Fenster; ihm gegenüber erhalten dann
die Arbeitstische und Ruhesitze der Damen ihren Platz, so daß man von
da aus das ganze Straßenleben bequem beobachten kann.
Der Stadtplan Petersburgs ist großartig in seiner Anlage. Peter
der Große, der ihr den Namen gab nach dem Apostel Petrus, rechnete
eben bei ihrer Gründung auf eine große Zukunft. Aber obwohl sie jetzt
2 Jahrhunderte besteht, reicht ihre Bevölkerung noch nicht hin, die weiten
Räume mit dem Leben zu füllen, das man in einer großen Residenzstadt
erwartet. Wenn auch sämtliche iy4 Millionen Menschen beständig auf den
Straßen verkehrten, so bliebe doch für jeden noch immer ein Raum von
über 60 m und man würde etwa alle 6 Schritte einen Menschen treffen.
Darum fällt jedem Fremden die Leere in den Straßen auf.
Dabei ist die Bevölkerung sehr bunt und mannigfaltig. Wie viel-
fach sind nicht schon die Volksstämme, welche Petersburg als ihre Haupt-
stadt ansehen! Man betrachte nur das Militär. Da sieht man den Ko-
saken, der sein Roß tummelt, mit eingelegter Lanze über den Platz traben;
den Tscherkessen in seiner reichen Tracht und in voller Rüstung, der auf
den öffentlichen Plätzen seine kriegerischen Übungen anstellt; den Taurier
aus der Krim, der, seiner Steppen und seines Allah eingedenk, würdevoll
durch das Getümmel schreitet; und so noch viele andere Soldaten in den
verschiedenen Uniformen der russischen Armee, denn von allen muß eine
Probe in der Residenz vertreten sein. Neben dieser Menge von Soldaten
sieht man fast eben so viele Beamte in Uniform, dazu Polizisten, Lakaien u. et.;
auch die Lehrer aller öffentlichen Schulen, z. B. die Professoren erscheinen
wie ihre Schüler in Uniformen.
Übrigens fehlt auch im bürgerlichen Verkehr der Hauptstadt kein Volk
von Europa und fast keins von Asien. Man betrachte z. B. das niedere
Volk. Da schlendern die deutschen Bauern zwischen lärmenden Klein- oder
Bartrussen, die schlanken Polen neben den untersetzten Finnen und Esthen,
Mohammedaner, Heiden und Christen, weiße Kaukasier, schwarze Mohren,
gelbe Mongolen.
Entschieden am interessantesten entwickelt sich das Petersburger Straßen-
leben auf der herrlichen Newsky-Perspektive. Diese prachtvolle Straße hat
eine Länge von 4 Werst, d. h. etwas über 4 km. Gegen das Ende hin
macht sie einen kleinen Winkel. Sie durchschneidet alle verschiedenen Ringe
der Stadt, das Quartier der armen Vorstädter wie die Gegenden des
Reichtums und Luxus im Mittelpunkte der Stadt. An ihrem äußersten
Ende sind auf der einen Seite ein Kloster und ein Kirchhof: Tod und
251
Einsamkeit. Dann kommen kleine niedrige Häuser von Holz, Viehmärkte
und Branntweinschenken, von singenden russischen Bauern umschwärmt, also
Dorfleben und Vorstadttreiben; weiterhin hie und da zweistöckige Gebäude
aus Stein, bessere Wirtschaften und Lüden, die Farben der Häuser gelb
und rot, und die Menschen mit langen Bärten und noch längeren Kaftanen.*)
Biegt man aber um die Ecke des Winkels, den die Straße macht, so zeigt
sich in der Ferne die goldene Riesennadel des schlanken Admiralitätsturmes.
Jetzt brauchen wir nur ein paar Brücken zu überschreiten, so offenbart sich
allmählich der Kern der Residenz. Die Paläste schwellen drei- bis vier-
stöckig empor, die Inschriften an den Häusern mehren und vergrößern sich,
die Vierspänner werden häufiger. Endlich gelangt man zur Fontanka,
einem Arm der Newa, und der Annitschkow-Brücke, und hiermit beginnt
die eigentliche Residenz. Von dieser Brücke bis zum Ende ist die Straße
mit den schönsten Palästen geschmückt, daneben wird das Bild belebt durch
die ausländischen Magazine, die Silberbuden, die Kathedrale und die
Hauptkirchen aller Religionen der Stadt. Und der Verkehr aus dieser
Straße ist überraschend lebhaft. Man sieht Vierspänner auf jedem Tritt,
und im Getümmel der Menge Generale und Fürsten auftauchen.
Von der Annitschkow-Brücke bis zum Endpunkte der Straße, der Ad-
miralität, hin und her zu wandeln, ist eins der anmutigsten Vergnügen,
die ein Stadtleben zu bieten vermag. Auch nimmt jeder Petersburger
Stutzer einmal des Tages seinen Freund an den Arm und macht diese
Promenade ein paarmal auf und ab. Die beliebteste Seite der Straße ist
die nördliche, weil sie die Sonnenseite ist, die hier jeder sucht; sie ist daher
auch mit den schöneren Läden und Verkaufshallen besetzt.
Wie in der Natur anderes Wetter immer wieder andere Tiere zum
Vorschein bringt, so bringt es in Petersburg andere Menschen auf die
Straße. Da nun das Wetter des Petersburger Himmels erstaunlich wankel-
mütig ist, so verändert sich der Anblick der Straßenmenge dort ungemein
häufig. Noch mehr aber wirkt die Verschiedenheit der Religionen. Frei-
tags, am heiligen Tage der Mohammedaner, paradieren die Turbane,**) die
schwarzen Bärte der Perser und die geschorenen Köpfe der Tartaren. Am
Sabbath erscheinen die schwarzseidenen Kaftane der Juden, und am Sonn-
tage jubeln die Scharen der Christen hinaus. An großen Staatsfesten
aber, den sogenannten „Kaiserlichen Tagen", erscheinen dann alle Trachten,
alle Farben und alle Moden, die von Paris bis Peking gang und gäbe
sind. Es ist, als wenn Noahs Arche an der Newa gestrandet wäre und
sich hier ihres bunten Inhalts entledigt hätte.
Nach I. G. Kohl.
*) Oberröcke.
**) Kopfbedeckungen aus Zeugstreifen, die mehrmals um ein Käppchen gewickelt sind.
252
69. Fahrt von Konstantinopel auf dem Bosporus nach Kttjükdere.
Konstantinopel, 3. Dezember 1835.
Nachdem wir eine Nacht in Pera geruht, setzten wir uns in einen
der äußerst zierlichen, leichten Nachen, welche zu Hunderten im Hafen,
dem goldenen Horn, herumfahren. Die Ruderer sitzen schon fertig und
warten. Sobald man sich entschieden, wem man den Vorzug geben will,
und unten auf dem Boden des schwankenden Fahrzeuges Platz genommen,
versetzen ein paar Ruderschläge den Nachen aus dem Getümmel der War-
tenden hinaus ins Freie.
Aber wie soll ich den Zauber schildern, welcher uns jetzt umfing!
Aus dem rauhen Winter waren wir in den mildesten Sommer, aus einer
Einöde in das regste Leben versetzt. Die Sonne funkelte hell und warm
am Himmel, und nur ein dünner Nebel umhüllte durchsichtig den feen-
haften Anblick. Zur Rechten hatten wir Konstantinopel mit seiner bunten
Häusermasse, über welche zahllose Kuppeln, die kühnen Bogen einer Wasser-
leitung, große steinerne Hanns*) mit Bleidächern, vor allen aber die himmel-
hohen Minarets**) emporsteigen, welche die sieben riesengroßen Moscheen
der Stadt umgeben. Das alte Seraj***) streckt sich weit hinaus ins
Meer mit seinen phantastischen Kioskenfi) und Kuppeln, mit schwarzen
Cypressen und mächtigen Platanen. Der Bosporus wälzt gerade auf diese
Spitze zu seine Fluten, welche sich schäumend am Fuß der alten Mauer
brechen. Dahinter breitet sich die Propontis (das Marmorameer) mit
ihren Inselgruppen und felsigen Küsten aus. Der Blick kehrt aus dieser
duftigen Ferne zurück und heftet sich auf die schönen Moscheen von
Skutäri, der asiatischen Vorstadt, auf den Mädchenturm, welcher zwischen
Europa und Asien aus der tiefen Flut auftaucht, auf die Höhen, welche
noch mit frischem Grün prangen, und auf die weiten Begräbnisplätze im
Dunkel der Cypressenwälder.
Wir eilten zwischen großen Kauffahrern mit den Wimpeln aller
Nationen und riesenhaften Linienschiffen hindurch aus dem goldenen Horn
in den Bosporus. Zahllose Nachen glitten in allen Richtungen über
das unbeschreiblich klare, tiefe Wasser; jetzt wendeten wir uns links um
das Vorgebirge, welches Pera, die Frankenstadt, und Gälata mit seinen
alten Mauern und dem gewaltigen, runden Turm trägt, von welchem
einst die Genueser der Eroberung Konstantinopels teilnahmlos zuschauten.
Wegen der heftigen Strömung halten sich die Nachen beim Hinauf-
fahren ganz dicht an das europäische Ufer, und wir betrachteten mit Ver-
gnügen die Einzelheiten der Sommerwohnungen, welche von den Wellen
*) Türkische Gasthäuser. — **) Schlanke Türme. — ***) Des Sultans Kaiserpalast.
— f) Eine Art Gartenhaus.
253
bespült werden. Die Fenster sind mit dichten Rohrgittern geschlossen und
die Gärten von Lorbeer- und Granatbäumen beschattet und mit zahllosen
Blumentöpfen besetzt. Eine Menge blühender Rosen lachte den Vor-
überfahrenden aus den Gitterfenstern der Gartenmauern entgegen, und
Delphine sprangen schnaubend dicht neben dem Kahn über die glatte
Fläche empor. Auf beiden Ufern des Bosporus reiht sich eine Wohnung
an die andere, eine Ortschaft folgt der andern, und die ganze, 3 Meilen
werte Strecke von Konstantinopel bis Büjükdere bildet eine fortgesetzte
Stadt aus zierlichen Landhäusern und großherrlichen Palästen, aus Fischer-
hütten, Moscheen, Cafes, alten Schlössern und reizenden Kiosken.
Besonders schön liegt Therapia, wo die Botschafter Englands und
Frankreichs wohnen. Der Ort schaut aus den von jetzt an felsigen und
unbebauten Bergwänden des Bosporus hinaus ins schwarze Meer. Links
um eine weite Bucht reihen sich die Häuser von Büjükdere mit den Hotels
der österreichischen, russischen, preußischen und anderen Gesandtschaften.
Wir stiegen in Büjükdere ans Land und stellten uns unserem Ge-
sandten vor, welcher uns mit der ausgezeichnetsten Güte und Freundlich-
keit empfing und uns sogar eine Wohnung in seinem reizend gelegenen
Hotel einräumte.
H. v. Moltke (aus den „Briefen über Zustände und Begebenheiten in der Türkei").
70. Eine Fahrt durch die Pußta.
Brief v. Bismarcks an seine Gemahlin.
Szolnok, 27. Juni 1852.
In den vorhandenen Atlanten wirst Du eine Karte von Ungarn finden,
auf dieser einen Fluß Theiß, und wenn Du dann über Szegedin hinauf
nach der Quelle suchst, einen Ort Szolnok. Ich bin gestern mit der
Eisenbahn von Pest nach Alberti-Jrsa gefahren. Der Ort liegt am Rande
der ungarischen Steppen zwischen Donau und Theiß, welche ich mir
spaßeshalber ansehen wollte. Man ließ mich nicht ohne Eskorte reisen,
da die Gegend durch berittene Räuberbanden, hier Betyaren genannt, un-
sicher gemacht wird. Nach einem reichlichen Frühstück unter dem Schatten
einer Linde bestieg ich einen sehr niedrigen Leiterwagen mit Strohsäcken
und drei Steppenpferden davor, die Ulanen luden ihre Karabiner, saßen
auf, und fort ging's in sausendem Galopp: Hildebrand und ein ungarischer
Lohndiener auf dem Vordersack, und als Kutscher ein dunkelbrauner Bauer
mit Schnurrbart, breitrandigem Hut, langen, speckglänzenden, schwarzen
Haaren, einem Hemd, das über dem Magen aufhört und einen hand-
breiten, dunkelbraunen Gurt eigener Haut sichtbar läßt, bis die weißen
Hosen anfangen, von denen jedes Bein weit genug zu einem Weiberrock
ist, und die bis an die Kniee reichen, wo die gespornten Stiefel anfangen.
254
Denke Dir festen Rasengrund, eben wie der Tisch, auf dem man bis an
den Horizont meilenweit nichts sieht als die hohen, kahlen Bäume der
für die halbwilden Pferde und Ochsen gegrabenen Ziehbrunnen (Pütt-
schwengel). Tausende von weißbraunen Ochsen mit armlangen Hörnern,
flüchtig wie Wild, von zottigen, unansehnlichen Pferden, gehütet von be-
rittenen, halbnackten Hirten mit lanzenartigen Stöcken, unendliche Schweine-
herden, unter denen jederzeit ein Esel, der den Pelz (bunda) des Hirten
trägt und gelegentlich ihn selbst, dann große Scharen von Trappen,
Hasen, hamsterartige Zeisel, gelegentlich an einem Weiher mit salzhaltigem
Wasser wilde Gänse, Enten, Kibitze — das waren die Gegenstände, die
an uns und wir an ihnen vorüberflogen während der drei Stunden, die
wir auf sieben Meilen bis Kecskemet fuhren, mit etwas Aufenthalt in einer
Csarda (einsames Wirtshaus).
Kecskemet ist ein Dorf, dessen Straßen, wenn man keine Bewohner
sieht, an das kleine Ende von Schönhausen erinnern; nur hat es 45000 Ein-
wohner, ungepflasterte Straßen, niedrige, orientalisch gegen die Sonne ge-
schlossene Häuser mit großen Viehhöfen. Ein fremder Gesandter war da
eine so ungewöhnliche Erscheinung, und mein magyarischer Diener ließ die
Excellenz so rasseln, daß man mir sofort eine Ehrenwache gab, die Be-
hörden sich meldeten und Vorspann requiriert wurde. Ich brachte den
Abend mit einem liebenswürdigen Offizierkorps zu, die darauf bestanden,
daß ich auch ferner Eskorte mitnehmen müsse, und mir eine Menge Räuber-
geschichten erzählten. Gerade in der Gegend, nach der ich reiste, sollten
die übelsten Raubnester liegen, an der Theiß, wo die Sümpfe und Wüsten
ihre Ausrottung fast unmöglich machen. Sie sind vortrefflich beritten und
bewaffnet, diese Betyaren, überfallen in Banden von fünfzehn bis zwanzig
die Reisenden und die Höfe und sind am andern Tage zwanzig Meilen
davon. Gegen anständige Leute sind sie höflich. Ich hatte den größten
Teil meiner Barschaft zurückgelassen, nur etwas Wäsche bei mir und hatte
eigentlich einen Kitzel, diese Räuber zu Pferde, in großen Pelzen, mit
Doppelflinten in der Hand und Pistolen im Gurt, deren Anführer schwarze
Masken tragen und zuweilen dem Landadel angehören sollen, näher kennen
zu lernen. Vor einigen Tagen waren mehrere Gendarmen im Gefecht mit
ihnen geblieben, dafür aber zwei Räuber gefangen und in Kecskemet stand-
rechtlich erschossen worden. Dergleichen erlebt man in unsern langweiligen
Gegenden gar nicht.
Um die Zeit, wo Du heut morgen aufwachtest, hast Du schwerlich
gedacht, daß ich in dem Augenblick mit Hildebrand in gestrecktem Galopp
über die Steppe flog, einen liebenswürdigen, sonnenverbrannten Ulanen-
offizier neben mir, jeder die geladenen Pistolen im Heu vor sich liegend,
und ein Kommando Ulanen, die gespannten Karabiner in der Faust,
255
hinterher jagend. Drei schnelle Pferdchen zogen uns, die unweigerlich
Rosa und Csillak (Stern) und das nebenlaufende Betyar (Vagabund)
heißen, von dem Kutscher ununterbrochen bei Namen und in bittendem
Tone angeredet werden, bis er den Peitschenstiel quer über den Kopf hält
und mega, mega (halt an) ruft: dann verwandelt sich der Galopp in
sausende Carriere. Ein sehr wohlthuendes Gefühl! Die Räuber ließen
sich nicht sehen; wie mir mein netter, brauner Leutnant sagte, würden sie
schon vor Tagesanbruch gewußt haben, daß ich unter Bedeckung reiste;
gewiß aber seien welche von ihnen unter den würdig aussehenden, statt-
lichen Bauern, die uns auf den Stationen aus den gestickten, bis zur
Erde gehenden Schafpelzmänteln ohne Ärmel ernsthaft betrachteten und
mit einem ehrenfesten Istem adiamek (Gelobt sei Gott) begrüßten. Die
Sonnenhitze war glühend den ganzen Tag, ich bin im Gesicht wie ein
Krebs so rot. Ich habe achtzehn Meilen in zwölf Stunden gemacht,
wobei noch zwei bis drei Stunden, wenn nicht mehr, auf Anspannen
und Warten zu rechnen sind, da die zwölf Pferde, die ich brauchte, für
uns und die Bedeckung erst gefangen werden mußten. Dabei war vielleicht
ein Dritteil des Weges tiefster Mahlsand und Dünen wie bei Stolpmünde.
Um fünf kam ich hier an, wo ein buntes Gewühl von Ungarn,
Slovaken, Walachen die Straßen belebt; Szolnok ist ein Dorf von etwa
6000 Einwohnern, aber Eisenbahn- und Dampfschiffstation an der Theiß.
Die wildesten und verrücktesten Zigeunermelodieen schallen mir ins Zimmer;
dazwischen singen sie durch die Nase mit weit aufgerissenem Munde in
kranker, klagender Molldissonanz Geschichten von schwarzen Augen und von
dem tapfern Tod eines Räubers, in Tönen, die an den Wind erinnern,
wenn er im Schornsteine lettische Lieder heult. Die Weiber sind im
ganzen gut gewachsen, einige ausgezeichnet schön; alle haben pechschwarzes
Haar, nach hinten in Zöpfe geflochten, mit roten Bändern darin; die
Frauen entweder lebhaft grünrote Tücher oder rotsammetne Häubchen mit
Gold auf dem Kopf, ein sehr schön gelbes, seidenes Tuch um Schulter
und Brust, schwarze, auch urblaue, kurze Röcke und rote Saffianstiefel,
die bis unter das Kleid gehen, lebhafte Farben, meist ein gelbliches Braun
im Gesicht, und große, brennend schwarze Augen. Im ganzen gewährt so
ein Trupp Weiber ein Farbenspiel, das Dir gefallen würde, jede Farbe
am Anzug so energisch, wie sie sein kann. Ich habe nach meiner Ankunft
um fünf in Erwartung des Diners in der Theiß geschwommen, Csardas
tanzen sehen, bedauert, daß ich nicht zeichnen konnte, um die fabelhaften
Gestalten für Dich zu Papier zu bringen, dann Paprikahähndel, Stürl (Fisch)
gegessen, viel Ungar getrunken, geschrieben und will nun zu Bett gehen,
wenn die Zigeunermusik mich schlafen läßt.
Gute Nacht. Istem adiamek!
O. v. Bismarck.
256
71. Über und durch den St. Gotthard.
1. Die alten Römer haben den Gotthard noch nicht als Paß benutzt,
denn der Aufstieg war ihnen zu schwierig, sie wählten den Julier und
Splügen oder den Brennerpaß. Später aber wurde die Gotthardstraße
als der kürzeste Übergang vom Norden nach Italien ein belebter Ver-
kehrsweg. Allerdings war der nur 3 bis 5 Meter breite Pfad nicht
eben bequem, und der Handel konnte nur mit Hülfe von Packpferden oder
Maultieren getrieben werden, die nach ihrer Last (3 Centner nannte man
ein Saum) den Namen Saumtiere hatten. Diese brauchten zwar für den
Weg von Flüelen bis Bellinzona bei günstigem Wetter 4 Tage, der
Verkehr war aber doch überaus rege: durchschnittlich überschritten jährlich
16 000 Reisende und 9000 Saumtiere den Gotthardpaß.
So blieb es bis um 1825. Da entschlossen sich die Kantone Uri
und Tessin, den Saumweg zu einer breiten und sicheren Straße umzu-
gestalten. So entstand die vielbewunderte Kunststraße über den Gotthard,
ein großartiges Denkmal schweizerischer Thatkraft und Opferwilligkeit.
Folgen wir ihrem Zickzack.
Von Flüelen am Südende des Urner Sees führt die Straße durch
das breite untere Reußthal nach dem Flecken Altdorf. Die Lage des
Ortes mit seinen schmucken Häusern ist sonnig, und das Thermometer fällt
im Winter selten unter 12 oder 15 Grad Celsius. Die Thalsohle ist
sehr fruchtbar, denn es gedeihen Wallnußbäume, echte Kastanien und Wein;
selbst Pfirsiche, Aprikosen und Feigen reifen dort.
Zugleich betreten wir in Altdorf den klassischen Boden der Tellsage.*)
Das Standbild des Helden bezeichnet die Stelle, wo der kühne Schütze
beim Apfelschuß gestanden haben soll. Seitwärts, am Eingang des Schächen-
thals, liegt Bürgten, wo er nach der Sage gelebt hat, und am Schächenbache
zeigt man noch die Stelle, wo er als Greis mit Aufopferung seines Lebens
ein Kind gerettet haben soll.
Verfolgen wir die Straße weiter, die bald den wilden Schächenbach
überschreitet, so sehen wir jenseits der Reuß das Dorf Attinghausen und
die Trümmer der Burg, wo der volksfreundliche Freiherr von Attinghausen
lebte und starb.
Das Thal wird jetzt enger und die Straße geht dicht an der Reuß
entlang, aber mit seinen grünen Matten ist es immer noch fruchtbar wie
ein Garten. Bei Am st eg aber, am Fuße des Bristen st ocks, in dessen
Nähe Zwinguri liegt, ändert sich die Landschaft. Die Straße beginnt
mehr zu steigen und ist in Felsen gesprengt, die rechts hoch aufsteigen,
*) Vgl. II. (Quinta-) Teil S. 48 ff.
257
links zum Bette der Reuß jäh abfallen. Deutlich sind hier die Bahnen
der Lawinen zu sehen, die vom Bristen ins Reußthal Hinabrollen. Der
Wald verschwindet allmählich, das Thal ist überfüllt mit gewaltigen Granit-
brocken, Fruchterde aber ist eine Seltenheit. Kühn gewölbte Brücken leiten
die Straße bald aufs linke, bald aufs rechte Reußufer, und immer ist der
Blick ins Hauptthal und in die Seitenthäler wundervoll und großartig.
So genießt man beim Dorfe Göschenen, das 1100 Meter hoch liegt,
von der Reußbrücke einen prächtigen Blick in das 3 Stunden lange, ein-
same Göschenenthal; im Hintergründe erheben sich die mächtigen Schnee-
felder des Dammastocks, der ein Teil jenes Eismeeres ist, aus dem
Quellflüsse der Rhone, Reuß und Aar entspringen. Hinter Göschenen
erreicht man die Felsschlucht der Schöllenen, die Schiller in seinem
„Tell", ohne sie je gesehen zu haben, so anschaulich schildert.
Hier steigen die Granitfelsen viele hundert Meter empor, und die
Straße klettert in zahlreichen Windungen aufwärts. Lawinen gefährden den
Wanderer, aber an den bedrohtesten Stellen sind Schutzgalerieen errichtet,
über welche sie hinweggeleitet werden. Um eine Felsenecke sich windend
führt die Straße zu der berühmten Teufelsbrücke. Ganz zu Schaum
aufgelöst jagt hier die Reuß mit donnerähnlichem Brausen in jähem Sturze
abwärts, und der starke Luftzug bewegt die Wasserstaubwolken, die bei
Sonnenschein in allen Farben des Regenbogens schimmern. Über dem
Abgrunde spannt sich 32 m hoch der kühne Bogen der neuen Brücke von
1830, die stolz herabblickt auf die alte bemooste, deren Bau nach des
Volkes Meinung nur durch Satans Hülfe möglich war.
Über den Wasserfall hinweg krümmt sich die Straße aufwärts zum
Urner Loche, einem.Tunnel oder Felsenthor, das zu den anziehendsten
Partieen der Schweizer Alpenpässe gehört; zumal der Übergang aus der
Dämmerung des Tunnels in die Helle des freien Urserenthales ist sehr
wirkungsvoll. Überrascht hemmt der Wanderer seinen Schritt; ist es ihm
doch, als habe eine freundliche Hand in öde Felsenhallen ein Paradies des
Friedens gebettet. In friedlicher Stille liegt hier Andermatt und eine
halbe Stunde weiter aufwärts Hospenthal. Dann freilich wird es berg-
auf immer öder und wilder; der Weg führt über eine felsige Einöde, „das
Feld" genannt, wo im Frühjahr Lawinen niedergehen und im Winter
schlimme Schneestürme Hausen.
An kleinen Seen zieht die Straße vorüber und erreicht die Paß höhe
(2114 m). Links erhebt sich schroff der Gotthardstein, rechts die Fibbia,
die anderen Spitzen des Gebirgsstocks sind nicht zu sehen. Überall um-
giebt uns nacktes, graues Gestein. In trostloser Umgebung liegen die
Gebäude: Posthaus, Gasthof und Hospiz; kein Baum, kein Strauch, kein
Rasenplätzchen schmückt oder belebt sie.
Lesebuch für höhere Lehranstalten. (Preuß, Ausg.) III.
17
258
Wann in dieser unwirtbaren Höhe das erste gastfreundliche Haus er-
richtet wurde, ist unbekannt. Im 12. Jahrhundert sollen Benediktiner hier
eine Kapelle erbaut und nach dem Hildesheimer Bischof Godehardus be-
nannt haben. Damit sei der ganzen Gebirgsgruppe der Name verliehen
worden. Eine Herberge scheint jedoch erst im 14. Jahrhundert errichtet zu
sein. Das Hospiz gewährt, durch freiwillige Gaben unterhalten, jährlich
Tausenden von unbemittelten Reisenden unentgeltlich Unterkommen und
Pflege.*)
Jenseits der Paßhöhe empfängt den Wanderer das schauerlich wilde
Val Tremöla (Thal des Zitterns), das wegen seiner Lawinenstürze im
Winter und Frühjahr gefürchtet ist. In Sprüngen und Wasserfällen
rauscht der Tessin zur Seite der Straße abwärts, um milderen Gegenden
zuzueilen. Die prächtige Straße senkt sich in immer neuen und kunstvollen
Zickzackwindungen abwärts. Bald erscheinen einzelne Blütenpflanzen am
Wege, vom Wanderer freudig begrüßt. Dann folgen an den Berghängen
dunkle Tannen und helle Lärchen, und nach Inständiger Wanderung ist
das Dorf Airölo mit seinen grünen Alpenweiden und schönen Baum-
gruppen erreicht, der erste Ort italienischer Zunge.**)
2. So wichtig und belebt nun auch die Gotthardstraße früher war, —
noch 1874 wurde sie von mehr als 70000 Postreisenden benutzt — sie
ist jetzt stiller geworden. Am 31. Mai 1882 hörte das Hospiz zum letzten
Male das Posthorn klingen, denn am 1. Juni desselben Jahres wurde die
Gotthardbahn dem Verkehr übergeben.
Diese Alpenbahn war nicht ohne Vorläufer. Im Ostflügel der Alpen
führte seit 1854 ein Schienenweg über den Semmering und 1867 wurde
die Brenn er bahn eröffnet. Beide führen über die Alpen. In den
Centralalpen dagegen mußte man wegen der größeren Höhe der Pässe
hiervon absehen, es galt vielmehr, ähnlich wie bei der Cenis bahn, das
Gebirge zu durchbohren und einen meilenlangen Riesen tun n el herzustellen.
Nachdem nun zwischen Deutschland, Italien und der Schweiz der Plan
der Gotthardbahn vereinbart war, wurde im Jahre 1872 mit dem Bau
des Tunnels begonnen. Er sollte auf der Nordseite bei Göschenen
1109 in hoch beginnen und südlich bei Airolo 1145 m hoch enden. Die
Länge war auf nahezu 15 km berechnet, und der höchste Punkt sollte
1154 m Höhe haben. Rasch schritt die Tunnelbohrung, die dem Genfer
Bauunternehmer L. Favre übertragen war, von der deutschen wie von der
italienischen Seite aus vorwärts. Jährlich waren an die 3000 Arbeiter
*) Vgl. I. (Sexta-) Teil Nr. 100. 106.
**) In allerneuester Zeit leider durch Bergrutsche schwer gefährdet und teilweise
zerstört.
259
beschäftigt, und es gelang in 7% Jahren das Riesenwerk zu vollenden,
dessen Herstellung 45 Millionen Mark kostete. Am 29. Februar 1880 fiel
die letzte Scheidewand im Schoße des Gotthard.
Hiermit war der schwierigste Teil der Aufgabe vollendet; nun galt es,
die Zufahrtlinien von Brunnen bis Göschenen und von Airolo nach
Biaska zu bauen. Tiefe Schluchten und Thäler mußten überbrückt werden;
man mußte auf hohen Stützmauern und durch zahlreiche Tunnel die Höhe
gewinnen und dabei die Lawinenzüge vermeiden. Auch dies wurde gelöst
und ein Wunderwerk geschaffen, auf das unsere Zeit stolz sein darf.
Am 1. Juni 1882 wurde, wie erwähnt, die Bahn eröffnet. Der
Schnellzug gelangt nunmehr von Luzern in 4 Stunden nach Airolo,
und während ein Eilwagen von Göschenen bis dahin 5 bis 6 Stunden
brauchte, eilt die Lokomotive in 30—35 Minuten durch den Tunnel.
Freilich das Gefühl einer gewissen Bangigkeit wird wohl manchen be-
schleichen, wenn er hindurchführt. Dumpfer Widerhall ertönt; die Wagen-
lampen brennen trüber, und wie Irrlichter huschen die Lampen des Tunnels
vorbei; auch die Temperatur wird unbehaglich hoch. Aber wenn man den
höchsten Punkt erreicht hat, der etwa IO m höher liegt als die Spitze des
Brockens, wird die Luft besser. Bald zeigt sich in der Ferne ein lichter
Punkt — es geht dem goldenen Tageslichte entgegen — nicht lange währt
es und Airolo ist erreicht. Nun eilt der Zug neben dem Tessin her durch
ein wundervoll malerisches Thal nach Bellinzona, wo die Bahn sich teilt.
Denkt nun der Reisende auf solch einer Fahrt von Deutschland nach
Italien an die Gefahren, die ihm drohen würden, wenn er zu Fuß oder
im Stellwagen über den Gotthardpaß zöge; erinnert er sich, wie manches
Tier- und Menschenopfer der Gotthard jährlich forderte: dann wird er sich
freuen, daß er sich dem Dampfrosse anvertrauen kann, das ihn so sicher
durch die Tiefe des Urgebirges gen Süden führt.
Auch die italienische Schweiz mit ihren großartigen und doch lieblichen
Landschaften, sowie die schönen Ufer der Seen Oberitaliens werden daher
von Deutschland jetzt häufig besucht. Wichtiger aber ist der neue Schienen-
weg noch für den Handel und Postverkehr; denn die Gotthardbahn ist die
gerade Verbindungslinie zwischen den Häfen der Nordsee, den Rheinlanden,
Baden, Würtemberg und der Schweiz einerseits, und der lombardischen
Tiefebene, Mailand und Genua, dem größten italienischen Mittelmeerhafen,
andrerseits; sie ist eben die beste Verkehrs- und Handelssträße zwischen
Deutschland und Italien. Nach Grube.
17*
260
72. Entdeckung der blauen Grotte auf der Inset Capri.
Der Morgen brach an; ich weckte meinen Freund, wir kleideten uns
an und gingen zu Don Pagäno, dem Notar, den wir schon in vollem
Zeug und Zuge fanden. Er hatte einen Korb mit Lebensmitteln für unsere
Fahrt gefüllt, auch eine Laterne dazu gepackt für den Fall, daß wir in der
Grotte ausstiegen. Bald kam auch das Frühstück, der kleine Sohn Paganos
jubelnd dahinter. Nachdem wir uns erquickt hatten, zogen wir fröhlich
aus. In einer halben Stunde gelangte der kleine Zug zum nördlichen
Strande hinab, wo Angelo und unser Eseltreiber bereits unser warteten.
Die Kufen*), Pechpfannen, Laternen und Stricke wurden auf ein kleines
Boot gepackt. Wir selbst bestiegen ein größeres und schleppten jenes nach.
Der Eseltreiber und Angelo ruderten nun so schnell mit uns dahin, daß
wir sie bitten mußten langsamer zu fahren, um die Ufer betrachten zu
können, da diese allerlei Merkwürdigkeiten boten. So bemerkten wir unter
einer fast überhängenden Felswand mancherlei Nischen und Tropfstein-
höhlen, in deren einige das Meer hineinwogt. Allmählich wurden die
Rudernden, vorher ziemlich gesprächig, auffallend feierlich. Dann bogen
wir um eine Felsenecke, die Ruder wurden eingezogen, die Barke stand still.
Niemand sprach ein Wort.
„Warum wird denn hier angehalten?" fragte ich.
„Hier ist die Höhle!" antwortete Angelo mit etwas Befangenheit.
„Wo denn?" fragte ich wieder.
Da zeigte er mir im Hintergründe der kleinen Bucht den finstern
Eingang derselben, nicht viel größer als eine Kellerluke. Das hier tief-
blaue Meer wallte ruhig hinein und heraus. Alles schwieg. Don Pagano
war sehr nachdenklich geworden.
„Nun, Angelo, macht das Feuer an!" unterbrach ich die bange Stille,
„wir haben nicht viel Zeit und wollen flink hinein und heraus!" Angelo
stieg in die kleine Barke, setzte die Pfanne in die eine Kufe, schlug Stahl
an Stein, und bald loderte und brodelte ein Pechfeuer so lustig, als
man jemals eins gesehen. Die Glut und der Qualm waren so groß,
daß Angelo, wie er die Kufe damit auf das Meer setzte, ein Gesicht machte
wie eine Citrone unter der Presse.
Wir Fremden lachten herzlich darüber, der Notar aber ward immer
ernsthafter.
„Nun, Herr Notar," sagte ich, „stink ausgekleidet! Wir wollen nun hinein!"
„Ich bin noch warm, geniert Euch nicht! Schwimmt immer voran,
ich werde bald nachkommen!" war die Antwort.
*) Gefäße.
L
261
„Nein, liebster Freund," antwortete ich darauf, „so ist die Sache nicht
gemeint. Wir schwimmen alle zusammen."
„Aber warum alle?"
„Weil es sonst aussieht, als ob Ihr Furcht hättet! Ich will Euch
ein bißchen helfen auskleiden!"
„Nein nein, laßt mich, ich bin wirklich noch zu warm."
„Nun, so wollen wir ein wenig warten."
Der Notar fing endlich an die Oberkleider abzuwerfen: „Geht nur
hinein, ich komme bestimmt bald nach!" „Nein," sagte ich, ihn bei den
Schultern fassend, „Herr Notar, wenn Ihr Euch nicht sofort zum Schwimmen
bereitet, so werf' ich Euch so ins Wasser." Dieses Wort, halb ernsthaft,
halb scherzhaft gesprochen, verfehlte seine Wirkung nicht. Er war bald von
jeder künstlichen Hülle befreit, aber hineinspringen wollte er noch immer
nicht. Da gab ich ihm im günstigen Moment einen leichten Druck an die
Schulter, und plump! lag er im Wasser, aus dem er augenblicklich wieder
einem Korkstöpsel gleich in die Höhe schoß und prustend auf und nieder
hüpfte. Er war eine von den leichten Naturen, die im Wasser nicht unter-
gehn, sondern obenauf schwimmen. Wir Fremden plumpten nun ebenfalls
hinein und schwammen lustig um ihn herum. Er hatte mir den Scherz
nicht übel genommen, teilte indes keineswegs meine Lustigkeit, denn — der
verhängnisvolle Moment rückte heran. Angelo, in der einen Kufe nach
türkischer Weise kauernd, ruderte, die andere mit dem Feuer vor sich her-
treibend, dem Eingänge zu. Ich glaube, keiner von uns war ohne eine
gewisse Bangigkeit. Nicht als ob ich mich vor fabelhaften Dingen gefürchtet
hätte; aber ich dachte an Haifische und fragte Angelo, ob man hier welche
vermuten könne. Seine Antwort: „Habt keine Furcht, sie gehen nicht
zwischen Felsen!" gab mir nicht genügende Beruhigung; denn, dachte ich,
er hat gut reden, er hat seine Beine in der Kufe!
Nun war er unter dem Eingang, nun tappte er sich an den Wänden
hinein. Der gewaltige Rauch des Pechfeuers schlug ihm und mir entgegen,
und wir mußten die Augen schließen, als wir unter das innere mächtige
Gewölbe kamen. Als ich sie wieder aufthat, sah ich alles finster um mich
her. Feuer und Rauch blendeten, wo Angelo sich an den nassen Wänden
forttappte, und nur mit dem Gehör konnte ich nach dem Hall der rings
anschlagenden Brandung einigermaßen die Größe des überwölbten Bassins
ermessen. Ich schwamm in wunderlich banger Erwartung weiter; da merkte
ich, daß der Notar und mein Freund, die mir erst gefolgt waren, beide
zugleich umkehrten, und wandte mich sie zu schellen; aber — welch ein
Schreck kam über mich, als ich nun das Wasser unter mir sah gleich
blauen Flammen entzündeten Weingeistes! Unwillkürlich fuhr ich empor,
denn vom Feuer immer noch geblendet, glaubte ich im ersten Augenblick
262
eine vulkanische Erscheinung zu sehen. Als ich aber fühlte, daß das Wasser
kühl war, blickte ich an die Decke der Wölbung, meinend, der blaue Schein
müsse von da kommen. Aber die Decke war geschlossen, und ich erkannte
endlich, vom Feuer abgewendet, halb und halb einiges von ihrer Gestalt.
Das Wasser aber blieb mir wunderbar, und mir schwindelte darin, denn
wenn die Wellen etwas ruhten, war es mir gerade, als schwömme ich
im unabsehbaren blauen Himmel. Ein banges Entzücken durchzitterte
mich, und ich rief meinen Gefährten zu: „Bei allem, was schön ist, kommt
wieder herein; denn wenn nichts in der Grotte ist als das himmlische
Wasser, bleibt sie dennoch ein Wunder der Welt! Kommt, fürchtet euch
nicht, es sind weder Haifische noch Teufel hier zu sehen, allein eine Farben-
pracht, die ihres Gleichen sucht!" Auf diesen jauchzenden Zuruf faßten sie
von neuem Mut und schwammen wieder herein. Beide teilten nun mein
Entzücken, aber wir alle begriffen das Wunder nicht, wir konnten es nur
anstaunen. Angelo hatte nun mit seinem Feuer den Hintergrund erreicht,
wo sich ein Landungsplatz darstellte. Ich schwamm dahin und erklomm
das Ufer, wunderbar angeregt; denn die Höhle schien, so groß sie schon
war, dort noch viel weiter fortzugehn.
„Hier wird der Gang des Tiberius sein!" rief der Notar aus dem
Wasser. Ich fand es nicht unwahrscheinlich, ließ mir von Angelo eine
Laterne reichen, in der ein kleines Lämpchen brannte, und ging bebend
vorwärts; denn der Boden war ungleich und sehr schlüpfrig; von der
Decke hingen Tropfsteinzacken herab, und bei jedem Schritt veränderten sich
die Schatten, überall umherirrend an den abenteuerlich gebildeten Wänden.
Bald hier, bald da schien sich etwas zu bewegen. Meine Phantasie, durch
das unerklärte Wunder des Wassers und die mannigfaltigen Formen an-
geregt, sah jeden Augenblick Gestalten, und der Gedanke überflog mich, es
könne die Höhle ein Aufenthalt von Seeräubern sein. Nun sah ich im
Schein des schwachen Lämpchens plötzlich etwas Weißes schimmern und
blieb stehen es zu betrachten. Meine Gefährten aber fragten aus dem
Wasser herauf, warum ich so zurückträte. „Weil ich ein Gerippe sehe,"
wollte ich eben sagen; aber als ich genauer hinleuchtete, war es Tropfstein-
bildung, die vor der gespannten Phantasie diese Gestalt angenommen, weil
ich anfing die Höhle für eine Mordhöhle zu halten. Ich schritt weiter
vor, aber ein kalter Schauer überlief mich, als ich, vor mich hinleuchtend,
plötzlich meinen Schatten nicht hinter mir, sondern neben mir erblickte.
Was ist das? dachte ich bei mir; geht hier eine Thür auf, werden nun
die Mörder gegen dich Waffenlosen kommen und deine Gefährten dich ent-
setzt verlassen? Als ich mich trotzend zur Rechten wandte, sah ich, daß
hier ein Fenster in den Gang gehauen war. Er mündete in die große
Grotte, und das Licht des durchschwommenen Eingangs schimmerte herein.
263
„Hier ist Spur von Menschenhand!" rief ich den Gefährten zu; „kommt
her und seht ein gehauenes Fenster!" Der Notar kam eilig näher und
krabbelte sich eifrig an dem Felsen herauf, ihm folgte der deutsche Freund.
„Wahrhaftig, ein gehauenes Fenster!" rief Don Pagano, „hier ist der Gang
Tibers, darauf will ich meinen Kopf verlieren!"
Von dem Fenster aus erschien die Grotte nun in voller Pracht, ein
mächtig großes und tiefes Bassin, weit überwölbt von tropfsteingezierten,
schön geschwungenen Felsen, das Wasser ein wallender Himmel, dessen blaues
Licht die Decke darüber zauberisch erhellte. Am hochroten Saume, der,
rings von Seetieren gebildet, alle Ränder der Grotte verzierte, funkelten
die Brandungen umher und spielten die Farben aller Edelgesteine. Zum
Eingänge herein aber schimmerte das helle Tageslicht und breitete gleich
einem Monde seinen Schein über das Wasser.
Wir beschlossen, über ihrer Schönheit alles vergessend, die Grotte zu
zeichnen, um später zu versuchen, ob wir sie malen könnten. Ersteres zu
thun sprangen wir ins Wasser, schwammen hinaus, holten unsre Feldstühle
und Mappen und setzten uns in das Fenster. Einer hielt dem andern
abwechselnd die Laterne, damit er sehen könne, was er zeichnete. So brachten
wir zwei Ansichten der Grotte zustande. Unterdes hatten der kleine Pagano
und der Eseltreiber die Barken draußen andern Schiffern übergeben und
schwammen nun jubelnd herein und jauchzend im prächtigen Wasser der
Grotte herum; sie nahmen sich aus wie schwarze Dämonen. Wo sie hin-
schlugen, sprühten blaue Funken. Don Pagano aber, dem unser Zeichnen
zu lange währte, schwamm hinaus; er hatte Geschäfte in Capri und konnte
nicht bleiben, so gern er gewollt hätte.
Vor der Grotte traf er den Besitzer des Grundstücks. Dieser war auf
das vernommene Jauchzen und Jubeln gleich einer Ziege am Felsen herab-
geklettert und sah eben mit offenem Mund und neugieriger Scheu nach dem
Eingänge, als — ein ihm bekanntes Gesicht, eben unser Notar, daraus hervor-
geschwommen kam. „Herr Notar, da heraus kommt Ihr? Was ist denn innen
für ein Jauchzen und Jubeln?" „Der Teufel ist drin!" sagte der nun ganz
beherzte Notar mit behaglichem Humor und schwamm nach der Barke. „Guckt
selbst hinein und seht, was er für ein Gesicht hat!" rief er von dort, als er
das Hemd überwarf. Der erstaunte Eigentümer des Grundstücks faßte nun auf
mehreres Zureden ebenfalls Mut, warf die Kleider ab und schwamm zu uns
herein. Der Eseltreiber und der kleine Pagano begrüßten ihn jauchzend. Der
Jubel, die Höhle, das Wasser, das Feuer, unsere sonderbare Zeichenanstalt, alles
setzte ihn in immer neues Erstaunen. „Wie habt Ihr den Mut haben können in
diese Luke zu schwimmen? Ich bin hier aufgewachsen, alles das gehört mir, und
ich habe nie gewagt zu betrachten, was ich habe. Ihr Fremden habt doch Herzen
von Stein und Eisen!" rief er einmal über das andre aus. Kopisch.
264
73. Ein Stiergefecht in Madrid.
Ein großes Stiergefecht fand am Tage nach meiner Ankunft in
Madrid statt. Um 3 Uhr nachmittags begab ich mich nach der kreis-
runden Arena; 12 000 Menschen waren da versammelt, um die Kämpfe
zu schauen. Wie in den Amphitheatern der Alten erheben sich etwa
20 steinerne Stufen, auf welchen man sitzt, und darüber noch zwei Reihen
Logen, in der Mitte die der Königin. Der innere, ganz freie Raum,
der eigentliche Kampfplatz, ist von den Zuschauern durch eine ringförmige,
zwei Meter hohe Schranke von Balken und starken Planken getrennt. Ein
kleiner Auftritt macht es möglich, sich mit Sicherheit aus der Arena über
die Schntzwehr zu schwingen, wenn der Fußkämpfer dem Stier nicht anders
mehr ausweichen kann.
Nach einigem Harren öffnete sich die Pforte, und herein ritt der
Alguazil, eine Obrigkeitsperson in altertümlicher Tracht, welcher den Anfang
des Spiels verkündet; er wurde einmütig ausgezischt, ausgelacht und aus-
gepfiffen, warum, weiß ich nicht. Er mochte sein Schicksal wohl schon im
voraus kennen und schien sich wenig daraus zu machen. Wie die Römer
im Cirkus ihre Konsuln verhöhnten und ihre Kaiser beschimpften, so hat
beim Stiergefecht auch das spanische Volk einige Zügellosigkeit frei. Jetzt
traten die Chulos*) ein, zu Fuß, mit bunten Mänteln über dem Arm.
Ihnen folgten sechs Picadores zu Pferde. Sie waren in Lederwams und
Hosen, auf der rechten Seite mit Eisenschienen gesichert, den spanischen
Hut auf dem Kopfe. Jeder trug eine starke Lanze mit nur 12 Millimeter
langer Eisenspitze und saß in einem hohen Bauschsattel, der einen festen
Sitz gewährt. An ihre Spitze trat unter lebhaftem Beifallsruf der
Matador (wörtlich Mörder) namens Cuchiera, ein berühmter, gefeierter
Held der Arena. Diese Phalanx rückte gegen den königlichen Sitz vor,
wo sich die Königin Christine befand, ließ sich auf ein Knie nieder und
gab ihr den königlichen Gruß, worauf aus 12000 Kehlen gezischt wurde.
Jetzt trat die Hauptperson ein, ein gewaltiger, schwarzer Stier mit
spitzen Hörnern und flammenden Augen. Diese Bestie befindet sich nämlich
in einem Zwinger, in dessen Decke Löcher angebracht sind, durch die man
den Stier mit spitzen Stacheln sticht, so daß er schon bei ziemlich übler
Laune ist, bevor er eintritt. Sobald die Pforten seines Kerkers sich
öffnen, schießt er mitten in die Arena, sieht sich wild und verwundert um,
scharrt den Sand mit den Füßen und stürzt dann auf den ihm zunächst
stehenden Picador los. Dieser hält unbeweglich still und läßt das wütende
Tier gegen seine Lanzenspitze auflaufen. Dem Pferde ist das rechte Auge
verbunden, damit es den Stier nicht sieht und nicht scheut. Der Anlauf
*) Die Chulos und Picadores haben den Stier zu reizen und vom Matador abzulenken.
265
war aber so gewaltig, und der Reiter saß so fest im Sattel, daß Mann
und Roß in die Höhe gehoben wurden und rücklings überschlugen. Im
selben Augenblick saßen die spitzen Hörner dem Pferde im Leibe, so daß
ein fingerdicker Blutstrahl aus dem Herzen floß. Der Picador lag unter
dem Pferde, und sein Anzug hinderte ihn, irgendwie sich fteizumachen.
Jetzt wäre es um ihn geschehen gewesen, wenn nicht die Chulos mit ihren
bunten Mänteln zu Hülfe gekommen wären. Alsbald ließ der Stier von
seiner Beute los und stürzte sich auf einen der Fußgänger oder vielmehr
dessen farbigen Lappen. Er verfolgt den Träger durch die ganze Bahn; dieser
schwingt sich über die Schranke, welche unter dem Stoß der Hörner des Stieres
erbebt. Wie verdutzt steht der nun da, nachdem sein Gegner verschwunden ist.
Alsbald stellt sich ihm ein zweiter Picador dar, welcher dasselbe
Schicksal hat wie sein Vorgänger. Ehe noch die Chulos zu Hülfe kommen
können, versetzt der Stier dem an der Erde zappelnden Pferde einen
zweiten Stoß und trägt es hoch empor durch die halbe Bahn. Dem
dritten Pferde riß der Stier im Nu den ganzen Leib auf, so daß das
unglückliche Tier in seine Gedärme trat. Und in diesem Zustande wurde
es durch Sporen und Schläge angetrieben und mußte noch einen zweiten
Angriff der wilden Bestie aushalten. Natürlich erhielt der Stier jedesmal
einen furchtbaren Stoß von der spitzen Lanze in die linke Schulter,
er verweigerte den ferneren Angriff der Reiter, und nun mußten die
Banderilleros heran. Dies sind Fußgänger, welche in jeder Hand einen
6 Decimeter langen Pfeil tragen, dessen Spitze mit Widerhaken versehen
ist, und welcher am entgegengesetzten Ende Fähnchen, Rauschgold und
selbst kleine Vogelbauer hat, aus denen die Vögel, mit bunten Bändern
geziert, entfliehen. Mit diesen Pfeilen gehen sie geradeswegs auf den
Stier los. In demselben Augenblick, wo dieser ausholt, springen sie seit-
wärts und stoßen ihm ihre Pfeile zwischen Ohren und Hörnern ins Genick.
Jetzt wird das Tier vollends rasend und toll. Oft treibt es eine ganze
Schar von flüchtigen Chulos über die Schranke, wobei sie laut verhöhnt
werden. Einmal saß der Stier selbst quer auf dem oberen Rande dieses
Bollwerks, und es kommt zuweilen vor, daß er hinübergelangt. Einer der
Chulos hatte die Keckheit, den farbigen Mantel umzuhängen, so daß der
Angriff des Stieres nun direkt auf ihn gerichtet war. In dem Moment,
wo jener den Kopf senkte und mit geschlossenen Augen vorstürzte, sprang
er über ihn fort und kam neben ihm zu stehen.
Wenn nun endlich die Wut des Tieres aufs höchste gesteigert, seine
Kraft aber schon im Schwinden ist, so tritt der Matador ihm ganz allein
gegenüber. Jetzt entsteht die größte Stille und Aufmerksamkeit; denn
dies Beginnen ist bei weitem das gefährlichste. Der Matador, ein schöner
Mann in Schuhen, weißen Strümpfen, hellblauer, seidener Jacke und
266
Beinkleidern, ein Netz über das Haar geflochten, führt in der Linken ein
scharlachrotes Mäntelchen, in der Rechten eine meterlange, vierschneidige
Toledoklinge. Die muß dem Stier an einem ganz bestimmten Punkte in
den Nacken gestoßen werden. Trifft der Degen eine andere Stelle, so
schleudert das Tier ihn wieder heraus oder zersplittert ihn. Um aber den
rechten Punkt zu treffen, handelt es sich um 6, höchstens 8 Centimeter, in
welcher Entfernung das Tier an dem Menschen vorbeistoßen muß. Alles ist
darauf berechnet, daß der Stier jedesmal lieber nach dem roten Tuch als
nach dessen Träger ausfällt, und daß er seinen Stoß blindlings geradeaus
führt. Es kommen aber Ausnahmen vor, und dann ist der Matador verloren.
Bedächtig und kaltblütig schritt der Caballero*) auf seinen schwarzen
Gegner zu und hielt ihm das Tuch hin. Zweimal ließ er ihn unter
seinem Arm durchpassieren. Das dritte Mal steckt die Klinge bis an
das Heft dem Tiere im Nacken. Noch wütet dieses wohl eine Minute
herum, dann aber fängt es an, aus dem Maule zu bluten, schwankt und
stürzt zusammen. Eine Art Henkersknecht schleicht dann von hinten heran
und stößt ihm ein Stilett**) in den Nacken, worauf der Stier auch im selben
Augenblick tot ist. Jetzt traben fünf Maultiere mit bunten Bändern und
Schellen in die Bahn und schleifen die gefallenen Pferde und zuletzt den
Stier im Galopp hinaus. Es wird etwas Sand auf die Blutspuren
gestreut, und ein neuer Stier kommt an die Reihe.
So wurden acht Stiere nacheinander zu Tode gehetzt. Zwanzig Pferde
blieben tot auf dem Platze, mehrere wurden mit schrecklicher Verwundung
hinausgeführt. Ein einziger Stier tötete acht Pferde. Menschen kamen
nicht zu Schaden. Es ist wahr, die Pferde sind derart, daß, wenn der
Stier sie heute nicht tötete, sie morgen zum Schinder gebracht würden.
Gute Pferde würden teils sehr kostbar sein, teils würden sie nicht dazu
zu bringen sein, selbst mit einem verbundenen Auge das Anrennen des
Stieres anzunehmen, ohne zu scheuen oder ohne sich zu wehren. Je mehr
Pferde der Stier tötet und je gefährlicher er den Menschen wird, um so
lauter wird ihm Beifall geklatscht. Ein Stier wollte gar nicht angreifen.
Unter wütendem Schimpfen und Verwünschungen der Zuschauer lief er feige
in der Bahn herum. Da rief alles: „Die Hunde!" Sobald diese in die
Bahn gebracht wurden, waren sie kaum noch zu halten und stürzten wütend
auf den Stier, welcher gleich einen spießte und hoch in die Luft warf.
Die übrigen faßten ihn aber, einer unter anderen biß sich in seiner Zunge
fest und ließ sich hoch auf- und abschleudern. Man hätte ihn zerreißen
können, ehe er losgelassen. Vier Hunde hatten zuletzt das große Tier so,
daß es sich nicht mehr befreien konnte, und daß der Matador es niederstieß.
*) Kavalier, hier der Matador. — **) Kleiner Dolch.
267
Als der achte Stier geendet, fing es schon an, dunkel zu werden; das ganze
Publikum rief aber nach einem neuen Stier, und der neunte wurde fast
im Finstern gehetzt, was für den Matador äußerst gefährlich ist.
Dies nun ist das Schauspiel, welches die Spanier über alles lieben,
an dem die zartesten Frauen teilnehmen, und dem die jungvermählte
Infantin zulächelte. Was mich betrifft, so habe ich an einem Stier-
gefecht vollkommen genug gehabt, und Du wahrscheinlich an der Be-
schreibung. H. v. Moltke, Spanischer Reisebrief vom 28. Oktober 1846.
74. Die Franzosen.
Die Franzosen sind mittelgroß, nicht grade stark, aber behend
und flink. Sie sind mäßig im Essen und Trinken und könnten hierin
den Deutschen zum Muster dienen. Der Franzose ist hitzig, er wird
leicht bös, ja wütend, zankt, schreit, tobt, droht mit Händen und
Augen; aber er ist auch bald wieder gut. Man sieht oft zwei Fran-
zosen mit einander streiten, so laut und heftig, daß man jeden Augen-
blick erwartet, sie würden sich bei den Köpfen fassen, so nahe sind
sie sich mit den Gesichtern gekommen; aber eine Viertelstunde nachher
kann man sie Arm in Arm nach einem Weinhaus gehen sehen, um
Versöhnung zu trinken. Der Deutsche macht weniger Worte, schlägt
eher drein und trägt länger nach. Eine der auffallendsten Eigenschaften
der Franzosen ist ihre Heiterkeit, die sie selten verläßt; sie nehmen
nicht leicht etwas übel, und wenn im hitzigsten Wortwechsel einer der
Streitenden einen guten Witz macht, so endet oft plötzlich aller Zank
mit einem Gelächter, in das der Gegner gerne mit einstimmt. Diese
heitere Gemütsart macht die Franzosen sehr gesellig und gesprächig.
Ein paar Franzosen, die sich fremd auf der Reise treffen, sind, ehe
eine halbe Stunde vergeht, im lebhaftesten Gespräch, während Deutsche
sich viel länger besinnen und Engländer gar nichts reden. Aber jene
Heiterkeit wird auch oft zum Leichtsinn, der sich über alles wegsetzt
und selbst über die heiligsten und wichtigsten Dinge spöttelt.
Es ist bekannt, daß viele Franzosen die Gesellschaften außer dem
Hause dem Familienleben vorziehen. Eine andere sehr auffallende Eigen-
schaft ist ihr Ehrgeiz und eine bodenlose Ruhmredigkeit. Seine persön-
liche Ehre und der Ruhm (gloire) der „großen Nation“ geht ihm über
alles. Jede Ehrenkränkung ist er sogleich bereit blutig zu rächen, und die
Drohung: „Herr, vergessen Sie nicht, daß ich ein Franzose bin,“ kann
der Ausländer häufig genug hören. Dieser Ehrgeiz geht oft in Eitelkeit
und Kleinlichkeit über; anderseits kann er sich, wie es das Jahr 1870—71
beweist, fast bis zum Wahn steigern. Die Franzosen putzen sich gern
JE.
— 268 —
und zeigen meist feinen Geschmack für das Gefällige und Wirkungsvolle.
Nirgends sieht man aber auch so viele Ordenszeichen, wie in Frank-
reich, wo man die farbigen Bändchen selbst am Alltagsrock und
Überzieher trägt. Auch kennen wir ja die Pariser Moden und ahmten
sie bisher leider nur allzu blind und eifrig nach.
Die Franzosen sind klar in ihren Gedanken und bestimmt in ihrem
Ausdruck. Sie lieben eine gewandte lebhafte Unterhaltung und sind
Meister ebenso des schlagfertig witzigen Gesprächs, der feinen geist-
reichen „(Konversation", wie der anmutigen Augenblicks-Plauderei, der
„Causerie". Das Tiefe ist nicht immer ihre Sache, weil es oft dunkel
klingt. Sie neigen mehr zum Glänzenden und Blendenden, und alles
muß mit „Esprit", mit Geist und Witz gewürzt sein. Im Religiösen
zeigen sie die schärfsten Gegensätze: die Volksmasse vielfach aber-
gläubisch, die Gebildeten ungläubig und selbst religionsfeindlich. Doch
gilt dies natürlich nicht von allen. Im übrigen sind sie höflich und
gefällig; es läßt sich, wo nicht der Nationalhaß ins Spiel kommt, leicht
und angenehm mit ihnen leben und umgehen.
Nach dem Oldenburger Volkslesebuch erweitert.
75. Holland.
Fährt man den Rhein hinab der Nordsee zu, so gelangt man in ein
tief gelegenes Land, das sich an den Küsten des Meeres hinstreckt. Wer-
das Plattdeutsche versteht, kann sich wohl noch leidlich mit den Menschen,
die dort wohnen, verständigen und merkt es bald, daß die Bewohner
deutschen Stammes sind. Das Land heißt Holland. Es ist reich an
prächtigen Städten und großen Dörfern. Herrliches Wiesenland sieht man
da, und darauf weiden stattliche Rinder und Pferde. An andern Stellen
schweift der Blick über Heideland hin, das mit einförmigem Heidekraut
bewachsen ist. Dann wieder fällt das Auge auf mooriges Niederungsland,
in welchem lausend fleißige Hände mit dem Stechen des Torfes beschäftigt
sind. So geht es fort im bunten Wechsel. Aber wunderbar: — alles,
was das Auge erblickt, hat der Mensch aus dem Schlamme herausgehoben
und zum Teil den Wogen des Meeres abgewonnen. Denn es hat eine
Zeit gegeben, wo die Fluten der Nordsee sich über diese Gegenden ergossen.
Noch heute muß der Holländer sein Land, sein Haus, sein Feld vor dem
Andringen des Meeres verteidigen. Wenn die Flut kommt, steht er in
Gefahr, seinen ganzen Reichtum in den Wasserwogen begraben zu sehen.
Um das zu verhindern, hat er starke und mächtige Dämme (Deiche) er-
richtet, an denen das ungestüme Meer sich brechen soll.
In zahlreichen Armen windet sich der Rhein durch das Land. Wie
schleicht er zwischen seinen niedrigen Ufern so träge dahin! Ist das der-
269
selbe Fluß, der brausend und schäumend von den Schweizer Bergen sich
herabstürzte und seine stolzen grünen Wogen durch unser deutsches Vater-
land ergoß? Er ist es; aber er ist ein Greis geworden, und mit Mühe
nur erreicht er das Meer. Außerdem ist Holland von zahllosen Kanälen
durchzogen. Sie sind angelegt, um das Land zu entwässern und den Ver-
kehr der Menschen zu erleichtern. Diese Kanäle sind belebt von Schiffen,
Kühnen und breiten Fähren, die gezogen werden, daher „Treckschuten"
genannt, welche Waren und Menschen durch das Land befördern. Im
Winter wird der Verkehr durch Schlitten und Schlittschuhlauf vermittelt,
worin die sonst so schwerfälligen Holländer Meister find.
Trittst du in eine Stadt oder ein Dorf, so findest du alles still,
reinlich und nett. Überaus liebt der Holländer eine spiegelblanke Sauber-
keit, die zuweilen fast übertrieben erscheint. Giebt es doch Ortschaften, wo
wöchentlich die ganzen Straßen ausgewaschen werden.
Sein Haus schmückt der Niederländer mit Blumen und Kräutern, mit
Schnörkeln und Bildern. Kamine und Öfen sind oft mit glasierten Kacheln
ausgelegt, auf denen, meist in blauweiß, zierliche Bildchen glänzen. Auf
den Simsen darüber reiht sich allerhand Thon- und Porzellangeschirr, wo-
von die Delfter Krüge und Teller am berühmtesten sind. Die zierlichen
Gürten, deren Beete und Wege mit bunten Steinen und Muscheln um-
randet sind, prangen im farbigsten Blumenschmuck. Namentlich in der
Tulpenzucht ist Holland weltberühmt geworden; seltene Haarlem er Zwiebel-
sorten wurden oft mit fabelhaften Preisen bezahlt. Auf dem Lande herrscht
auch in den Stallungen, den Scheunen und Dreschtennen eine Ordnung und
Reinlichkeit, die gradezu beschämend wirkt, wenn man an die Unsauberkeit
so mancher heimatlichen Dörfer und Bauernhöfe denkt! Aber diese große
Reinlichkeit, diese peinliche Sauberkeit der Holländer, dazu ihre Blumen-
liebe und Blumenpflege, ihre Freude an bunten Farben sind leicht er-
klärlich. Grau, trübe und einförmig ist ihr Land; denn es ist ein Land
der Marschen, Sümpfe und Heiden, wo nur um die Dörfer und Kanäle
her einzelne Baumgruppen sich erheben. Das Meer, die Seen, Teiche und
Gräben machen die Luft feucht; der Himmel ist oft umnebelt. Das Torf-
und Marschland ist schmutzig. Hiergegen braucht der Holländer ein Gegen-
gewicht und er hat es sich bereitet durch die Freude an dem Netten, Heitren
und Bunten, womit er sich umgiebt.
Im allgemeinen ist das Volk langsam, zurückhaltend, kaltblütig, und
auf dem Lande leicht mißtrauisch, eigensinnig und ablehnend. Bedächtig
und gemächlich schreitet der Bauer in seinen hohen Holzschuhen einher; mit
prüfender Miene, in schwerfälliger, breiter Rede begegnet er dem Fremden.
Vielfach haben sich noch die alten malerisch bunten Trachten erhalten, die
Rotjacken und schwarzsamtenen Pumphosen der Männer, die breiten hellen
270
Flügelhauben der Frauen mit ihrem Goldbehang. Auch an Gebräuchen
und Sitten stößt dem Reisenden viel Merkwürdiges auf. Mancherwärts
lassen sich die Männer auf Straßen oder Plätzen zum Gespräch in die
Sitzhucke nieder, und oft sieht man in dieser anscheinend so unbequemen
Stellung ganze Reihen stundenlang verharren.
Wer aber meint, daß ein Holländer sich auch mit der Arbeit nicht
sonderlich befasse, der irrt. Seine Vorfahren sind grade so gewesen wie
er, und doch haben sie mit Schaufel, Spaten und Ruder ihr Land dem
Meere abgerungen und haben mit unermeßlicher Anstrengung Mauern,
Türme, Deiche und Wälle da erbaut, wo sonst Frösche, Möven und Rohr-
dommeln hausten. Sieh den Holländer am Bord seiner Schiffe, auf
denen er das Meer befährt. Da zeigt er sich nicht bequem und langsam,
sondern rasch und kräftig, wenn auch immer besonnen. Den Fleiß des
Volkes kann man recht kennen lernen in den großen Seestädten, wie
Amsterdam und Rotterdam.
Hier wimmelt es von regem Geschäfts- und Handelsverkehr. Denn
wenn auch die Holländer ihr einstiges großes Kolonialreich in Ost- und
Westindien zum größten Teil an die Engländer verloren haben, so be-
sitzen sie doch noch reiche Kolonieen genug — darunter das herrliche Kaffee-
land Java — um einen umfangreichen Welthandel betreiben zu können.
Zumal Amsterdam, wie Venedig auf Pfählen und Rosten über dem Wasser
erbaut, gehört noch zu den bedeutendsten Handelsstädten Europas. Die
ganze Stadt durchziehen Schiffahrtskanäle, und dicht neben den Häusern
ragen Masten und Segel empor. Zusammen mit den baumbepflanzten
Uferstraßen (holländisch: Grachten) gewähren sie höchst malerische Bilder.
Von Gewerben sind am berühmtesten wohl die Diamantenschleifereien;
schon seit dem 17. Jahrhundert ist für den Diamantenhandel Amsterdam
gradezu der Weltmarkt.
Doch auch in der Kunst haben sich die phlegmatischen Holländer
Weltruhm erworben: in der Baukunst wie in der Malerei. Von letzterer
zeugen die herrlichen Museen in Amsterdam und andern Städten mit
der reichen Fülle ihrer Gemälde von den bedeutendsten Malern der sogen,
niederländischen Schule. Unter diesen sind Rubens und sein Schüler
Van Dyk (sprich: Deik), anderseits Rembrandt die anerkannten Meister.
Daß die Niederländer einst auch in gewaltigem, fast 80 jährigem
Freiheitskampfe (1568—1648) sich die Unabhängigkeit von der spanischen
Weltmacht erstritten haben und daß ihr Land damals der Sitz und Hort
der religiösen und bürgerlichen Freiheit in Europa gewesen ist, das gehört
schon in das Gebiet der eigentlichen Geschichte.
Nach dem Oldenburger Volkslesebuch umgearbeitet und erweitert von M. Evers.
271
76. London und seine Umgebung.*)
1. London war schon lange vor der Zeit Cäsars ein blühender Ort,
und auch in der späteren englischen Geschichte giebt es keinen Zeitraum,
wo es ganz zurückgetreten wäre. Das römische London, von dem sich
manche Reste noch erhalten haben, umfaßt nur einen Teil der heutigen
City; das mittelalterliche wuchs allmählich an der Themse ab- und auf-
wärts, griff auf das Südufer des Flusses über und dehnte sich nach Norden
zu den nächsten Ortschaften aus, die allmählich mit der Stadt verbunden
wurden. Zahlreiche Seuchen, von denen das eng gebaute und ungesunde
London des Mittelalters betroffen wurde, konnten das Wachstum ebenso
wenig hemmen, wie Kriege und Aufstände. Der große Brand von 1666
zerstörte viele der alten Häuser, schaffte Luft und Licht und war für die
spätere Entwickelung der Stadt sogar von Nutzen. Mit dem Beginn der
Eisenbahnzeit wurde deren Wachstum immer rascher; so ist London aus
seiner eigenen Grafschaft noch in drei andere hineingewachsen, zahlreiche
Nachbarorte verschwanden in dem Häusermeer und sind Stadtteile geworden.
Ist nun die natürliche Lage der Stadt der Grund für ihr gewaltiges
Aufblühen, oder ist alles der Thatkraft der Londoner und der Gunst der
staatlichen Verhältnisse zuzuschreiben?
Einige geographische Vorzüge hat die Stadt allerdings aufzuweisen, man
darf sie aber auch nicht überschätzen. Zunächst ist die Themse mit ihrer
breiten Mündung und ihren lebhaften Gezeiten ein höchst geeigneter Fluß
für das Einfahren großer Seeschiffe, und die ganze Themsemündung sowie
die Flußstrecke bis London kann sehr wohl als ein einziger Hafen für die
Riesenstadt angesehen werden. Die allergrößten Schiffe kommen allerdings
nicht bis in die Stadt selbst hinein, aber sie finden unterhalb genug
bequeme Landungsplätze. London ist aber gleichzeitig der letzte Punkt,
an dem die Themse bequem überschritten werden kann, es nimmt eine
ähnliche Stelle ein wie Hamburg an der Elbe und Königsberg am Pregel.
Hier laufen heute auch alle Bahnlinien aus bem Nordwesten, Norden und
Nordosten zusammen und verzweigen sich dann wieder durch die südlichen
und südöstlichen Grafschaften. Diese beiden natürlichen Vorteile wiegen
allerdings sehr schwer; aber man muß auch der Gunst der geschichtlichen
Verhältnisse, dem Reichtum Englands und der Thatkraft der Bevölkerung,
die jeden günstigen Umstand vortrefflich zu nutzen wußte, sehr viel zuschreiben.
Die Bevölkerung Londons, der größten Stadt der Erde, beträgt etwa
6 Millionen: die erste Million erreichte die Stadt im ersten Jahrzehnt
unsers Jahrhunderts. Sehr viele Einwanderer aus allen Teilen der Erde
*) Die englische Aussprache der hier genannten Örtlichkeiten vgl. in der Schluß-
bemerkung S. 274.
272
wenden sich jährlich nach London, und die Sterblichkeit ist nicht hoch; denn
die Riesenstadt ist infolge ihrer guten Kanalisation und Wasserversorgung
eine der gesündesten Großstädte der Erde. Zudem findet man dort weniger
große Mietskasernen als vielmehr kleine schmale Häuschen, vielfach nur
von einer Familie bewohnt.
2. Die einzelnen Stadtteile zeigen in ihrem Aussehen und in der
Beschäftigung ihrer Bewohner die schärfsten Unterschiede. Da haben wir
zunächst den Kern der Stadt, die City, die den Hauptsitz des Londoner
Großhandels bildet, und von wo die wichtigsten Unternehmungen in Eng-
land und in den fernsten Ländern ausgehen. Die zum Wohnen bestimmten
Gebäude verschwinden in der City immer mehr und werden durch umfang-
reiche Warenlager und Kontore ersetzt. Deshalb hat auch die Bevölkerung
der City in unserem Jahrhundert stark abgenommen. 1801 wohnten
129 000 Menschen dort, 1881 nur noch 51000. Die Zahl derer jedoch,
die sich während des Tages hier aufhalten, abends aber auf den Eisen-
bahnen nach den Vororten zurückkehren, beträgt mindestens 1 Million. In
der City erblicken wir die St. Pauls-Kirche und die alte düstere Festung,
den Tower, die Wahrzeichen von ganz London; ferner die Bank von
England, die Börse und zahlreiche andere, meist dem Geschäftsverkehre
dienende Gebäude. Noch immer bildet diese Altstadt, die in vielen Stücken
ihre eigene Verwaltung bewahrt hat, einen scharfen Gegensatz zu den übrigen
Teilen Londons.
Westlich von der City betreten wir diejenigen Teile, wo vorzugsweise
die wohlhabenderen Klassen wohnen. Hier liegen die Regierungsgebäude,
viele Paläste, das große Parlamentshaus, die Westminsterabtei, welche einst
einsam vor den Mauern des alten London stand, sowie zahlreiche der Wissen-
schaft und Kunst gewidmete Gebäude. Es genügt, an das Britische Museum
und das Heim der Londoner Geographischen Gesellschaft zu erinnern.
Während die inneren Teile dieses „Westend" gleich der City an Volks-
menge noch abnehmen, zeigen die äußeren, die halb ländlichen Charakter
tragen, eine zum Teil sehr beträchtliche Zunahme. Durch schöne und große
öffentliche Parkanlagen, wie sie sich zwischen den Häusermassen von Paris,
Wien und Berlin nicht in dieser Weise finden, werden die langen Straßen-
züge in Westend angenehm unterbrochen.
Nördlich vom Mittelpunkte liegen dichtbewohnte, meist gewerblichen
Betrieben dienende Stadtteile; einen noch schärferen Gegensatz zum Westend
bildet aber der große östliche Teil Londons, der bei dem Tower, der
erwähnten alten Zwingburg der Stadt, beginnt. Hier finden wir die
dichteste Bevölkerung.
Hier und im Süden hat nämlich die Londoner Industrie ihren Hauptsitz.
Für die wichtigsten Stätten derselben halten die Engländer selbst die
273
Brauereien; es giebt aber kaum irgend eine Industrie, die in London
nicht irgendwie vertreten wäre. Auch Buchdruck und Buchhandel nehmen
eine sehr hohe Stellung ein. Die eigentlichen Industrieviertel stehen
natürlich zur Themse und ihrem Schiffsverkehr in engster Beziehung.
Die Einfuhr ist viel bedeutender als die Ausfuhr, da Rohstoffe und
Waren aus allen Teilen der Erde, besonders aus Ostindien und China
zusammenströmen, um von hier aus den englischen Provinzen und den
andern Ländern Europas zugeführt zu werden.
3. Der ungeheure Verkehr der Riesenstadt wird durch neun große,
hier ausgehende Hauptbahnen, durch zahlreiche Vorortbahnen und durch
die meist in tiefen Einschnitten und Tunneln laufenden Stadtbahnen ver-
mittelt, die es hauptsächlich ermöglichen, daß der Londoner tagsüber seine
Geschäfte in der City, dem Ost- oder Südende erledigen, abends aber die
Außenteile der Stadt oder die Vororte aufsuchen kann, wo er gesünder
und billiger wohnt. Daneben vermitteln zahlreiche Straßenbahnen und
kleine Dampfer einen großen Teil des Verkehrs. Da die Themse unter-
halb London Bridge nicht überbrückt werden kann, sind die beiden Themse-
tunnel angelegt worden; durch den einen von beiden führt unter dem Bette
des Flusses hinweg eine vielbenutzte Eisenbahn. Der Verkehr der Fuß-
gänger wird durch vortreffliche Bürgersteige sehr erleichtert; sie bestehen aus
Quadersteinen und gewähren in den Hauptstraßen acht und mehr Personen
Raum, um bequem neben einander hinzuwandeln. Auch haben die Eng-
länder die Gewohnheit, den Entgegenkommenden nach rechts auszuweichen,
wodurch alles Stoßen und Drängen verhindert wird. Über die Wagen
hält die Polizei strenge Aufsicht, die Droschken sind alle numeriert, und
wehe dem Kutscher, der den festgesetzten sehr billigen Fahrpreis überschreiten
wollte. Zu jeder Stunde der Nacht kann man sich, auch mit Schätzen
beladen, einer Droschke oder einem Cab*) anvertrauen, wenn nur jemand
aus dem Hause, wo man einsteigt, die Wagennummer so ins Auge faßt,
daß es der Kutscher gewahrt.
4. Die Umgebung Londons ist ungemein freundlich durch die reiche
Abwechslung von kleinen Städten, Dörfern, Landsitzen und durch das
frische Grün des zwar nicht wald-, aber doch baumreichen Landes. Mäßige
Höhenzüge, zu denen die Vorstädte und Vororte der Weltstadt zum
Teil schon hinaufgestiegen sind, fassen das Themsethal ein. Flußaufwärts
begegnen wir zahlreichen Landsitzen, Schlössern und großen Parkanlagen,
da hier Handel und Schiffahrt ganz zurücktreten. Wir nennen vor
allem Richmond und Windsor, beide auf dem rechten Ufer. Windsor
ist die eigentliche Residenz des englischen Hofes, es hat einen großen Park
*) Cab ----- leichte Droschke.
Lesebuch für höhere Lehranstalten. (Preuß. Ausg.) Hl.
18
274
mit langen Alleen und ein großes Schloß, das sich auf einem Kreidehügel
erhebt. Auch Kew mit seinem botanischen Garten und Eton mit seiner
Gelehrtenschule gehören der östlichen Umgebung Londons an.
Nach Norden schließt sich hügeliges Ackerland an, dessen Bevölkerung
durch die Nähe der Großstadt wenig beeinflußt wird. Lebhafter sieht
es in der gleichfalls hügeligen Umgebung Londons im Süden aus. Der
bekannte Krystallpalast, zugleich Museum und Festhalle, lockt stets viele
Menschen an.
Nach Osten endlich treffen wir an der Themse eine große Reihe von
Vorhäfen und Nebenstädten. Da liegt zunächst schon ganz mit London
zusammengewachsen Deptford. Dann folgt Greenwich, jedem Geographen
als Ausgangspunkt für die Berechnung nach Längengraden wohlbekannt;
hier werden auch die Reliquien Franklins aufbewahrt. Noch weiter
abwärts liegt Woolwich, wo sich der Waffenpark der englischen Kriegs-
macht befindet; in Nord-Woolwich werden besonders Telegraphenkabel
gefertigt. Sehr zerrissene Ufer bezeichnen die Mündung des ansehnlichen
Medway in die Themse. Hier liegt Chatham, das durch seine Zeughäuser
für die englische Seemacht fast so wichtig ist, wie Woolwich für die Land-
macht. Zum Schutze dieser wichtigen Anlagen sind hier ausgedehnte
Befestigungen geschaffen worden, die man sonst in England selten findet.
Nach Fr. Hahn und A. W. Grube.
Anmerkung. Die oben vorkommenden Ortsnamen werden englisch so gesprochen:
Chatham — tschättäm
City — ßitti
Deptford ----- dettförd
Eton — iht'n
Greenwich = grrnitsch
Kew = kjuh
London ----- lond'n
- Bridge — lond'n-
u bridsch
Medway — med'eh
Richmond ----- ritschmönd
Tower --- tau'r
Windsor --- uinds'r
Woolwich — ullitsch.
B. Poesie.
I. Epische Dichtung.
a. Aus dem Matur- und Menschenleben.
1. Die Hirsche im Wildgarten.
Wie schön ist hier das Waldgehege,
Die hohen Tannen, der grüne Plan!
Das kann euch Hirschen wohl behagen,
Und doch sieht man es euch nicht an.
Man giebt euch Heu dort in der Krippe. 5
Im Winter selbst ein warmes Haus;
Bequem könnt ihr spazieren gehen,
Und doch seht ihr so traurig aus!
„Was soll uns das Haus und die Krippe voll Heu!
Wir sind ja gefangen, die Lust ist vorbei. 10
Wie setzten wir sonst durch Feld und Gestrüpp,
Durch den brausenden Strom, über Stein und Geklipp!
Ost warfen dem Tod wir entgegen die Brust;
Jetzt gehn wir spazieren — vorbei ist die Lust!"
Robert Reinick.
2. Das Vogelnest.
An eine Kirche kam ich einst zu wallen
Mit Klosterzellen, längst verlassnen Hallen;
An spitz gebognen Fenstern ist zu schauen
Laubwerk und manche Blum', in Stein gehauen;
Vor allen Bildern zierlich, wahr und lebend, 5
Ein steinern Vogelnest, am Aste schwebend;
Der Jungen Schnäblein heischend aufgerissen,
Die Mutter sie zu ätzen hold beflissen,
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Sie wärmend mit den aufgespreizten Schwingen;
Die Kleinen werden fliegen bald und singen.
Ich stand gefesselt von des Meisters Macht
Und sann gerührt, was er sich wohl gedacht.
Hat er im Bild die Kirche still verehrt,
Wie sie getreu die Kinder schützt und nährt?
Vom Bildner kündet uns die alte Sage:
Im Bilde redet des Gewissens Klage.
Es lebt' ein Mönch, noch einer von den alten,
Von jenen frommen, rührenden Gestalten.
Rein, alle segnend, allen mild und gut,
Wie Frühlingswärme auf den Saaten ruht,
So war sein Herz, so lebten seine Sitten;
Er kränkte niemand und verletzte keinen,
Und flössen Thränen ihm, so sind's die seinen,
Die nächtlich von der bleichen Wange glitten.
Einst geht mit alter Zeit er zu Gerichte,
Und vorwurfsvoll erschreckt ihn die Geschichte,
Wie er, ein Knabe, einst den Wald durchzogen.
Da kam ein Vöglein heim ins Nest geflogen;
An hohen Zweigen hing die Frühlingsbrut,
Das grüne Laub hielt sie in dunkler Hut;
Doch strich der Wind, den grünen Schleier hebend,
Der Knabe sah das Nest am Wipfel schwebend.
Da hob er einen Stein und warf empor,
Zerstört hin fiel die Brut und ihn ergriff,
Daß er es heut' noch hört, der Klagepfiff,
Mit dem im Wald die Mutter sich verlor. —
„O düstrer Groll, der gern den Bau vernichtet,
Wo sich ein Glück auf Erden eingerichtet!"
So klagt der Mönch und kann sich's nicht vergeben,
Daß er den Vögeln brach ihr junges Leben.
Und das Zerstörte wieder aufzubauen,
Hat er das Nest im Felsen ansgehauen.
Oft sah man ihn zu seinem Bilde kehren,
Um seine stille Wehmut dran zu nähren.
Nik. Lenau.
277
3. Die Katzen und -er Hausherr.
1. Tier'und Menschen schliefen feste,
Selbst der Hausprophete schwieg,
Als ein Schwarm geschwänzter Gäste
Von den nächsten Dächern stieg.
2. In dem Vorsaal eines Reichen
Stimmten sie ihr Liedchen an,
So ein Lied, das Stein' erweichen,
Menschen rasend machen kann.
3. Hinz, des Murners Schwieger-
vater,
Schlug den Takt erbärmlich schön,
Und zween abgelebte Kater
Quälten sich ihm beizustehn.
4. Endlich tanzen alle Katzen,
Poltern, lärmen, daß es kracht,
Zischen, heulen, sprudeln, kratzen,
Bis der Herr im Haus erwacht.
5. Dieser springt mit einem Prügel
In dem finstern Saal herum,
Schlägt um sich, zerstößt den Spiegel,
Wirft ein Dutzend Schalen um,
6. Stolpert über ein'ge Späne,
Stürzt im Fallen auf die Uhr
Und zerbricht zwo Reihen Zähne:
Blinder Eifer schadet nur.
Gottfr. Lichtwer. (Gekürzt.)
4. Der Peter in -er Frem-e.
1. Der Peter will nicht länger bleiben,
Er will durchaus fort in die Welt;
Dies Wagestück zu hintertreiben,
Der Mutter immer schwerer fällt.
„Was willst du," spricht sie, „draußen machen?
Du kennst ja fremde Menschen nicht;
Dir nimmt vielleicht all deine Sachen
Der erste beste Bösewicht."
2. Der Peter lacht nur ihrer Sorgen,
Wenn er die Mutter weinen sieht,
Und wiederholt an jedem Morgen
Sein längst gesungnes Reiselied.
Er meint: „Die Fremde nur macht Leute,
Nicht in der Nähe wohnt das Glück.
Drum such' ich's gleich recht in der Weite;
Doch kehr' ich mit der Zeit zurück."
3. Zu Hilfe ruft man alle Basen,
Jedwede giebt dazu ihr Wort;
Doch Peter läßt nicht mit sich spaßen,
Der Tollkopf will nun einmal fort.
278
Da sprach die Mutter voller Kummer:
„So sieh doch nur den Vater an!
Der reiste nie, und ist nicht dummer
Als mancher weitgereiste Mann."
4. Doch Peter läßt sich nicht bewegen,
Sodaß zuletzt der Vater spricht:
„Nun gut! ich wünsch' dir Glück und Segen,
Fort sollst du; doch nun säum' auch nicht!"
Nun geht es an ein Einballieren
Vom Fuß hinauf bis an den Kops;
Man wickelt, daß auch nichts kann frieren,
Das dickste Band um seinen Zopf.
5. Und endlich ist der Tag gekommen;
Gleich nach dem Essen geht er heut;
Voraus ist Abschied schon genommen,
Und alles schwimmt in Traurigkeit.
Die Eltern das Geleit ihm geben
Bis auf das nächste Dorf hinaus,
Und weil da ist ein Wirtshaus eben,
Hält man noch einen Abschiedsschmaus.
6. Ein Fläschchen Wein wird vorgenommen;
Doch still wird Peter, mäuschenstill;
Man trinkt auf glücklich Wiederkommen,
Und Peter seufzt: „Nun, wie Gott will!"
Er muß die Augen manchmal reiben,
Nimmt Abschied noch einmal recht schön
Und sagt, man soll' nur sitzen bleiben,
Denn weiter lass' er keinen gehn.
7. Und endlich wankt er fort, der Peter,
Obgleich es ihn beinahe reut.
Nach jeden hundert Schritten steht er
Und denkt: Wie ist die Welt so weit!
Das Wetter will ihn auch nicht freuen;
Es weht der Wind so rauh und kalt;
Er glaubt, es könne heut noch schneien,
Und schneit's nicht heut, so schneit's doch bald.
279
8. Jetzt schaut er bang zurück, — jetzt geht er
Und sinnt, wie weit er heut noch reist;
Jetzt kommt ein Kreuzweg — ach! da steht er,
Und niemand, der zurecht ihn weist!
„Ach!" seufzt er, „so was zu erleben
Gedacht' ich nicht, daß Gott erbarm'!
Hätt' ich der Mutter nachgegeben,
So säß' ich jetzt noch weich und warm.
9. Wie konnt' ich so mein Glück verscherzen!
Ich war doch wirklich toll und dumm.
Wie würde mich die Mutter herzen,
Kehrt' ich an diesem Kreuzweg um!"
Und rasch beschließt er sich zu drehen,
Wie wenn man was vergessen hat,
Und rennt — ich hätt' ihn mögen sehen —
Zurück zur lieben Vaterstadt.
10. Die Eltern saßen unterdessen
Im Wirtshaus noch in guter Ruh,
Bekämpften ihren Gram durch Essen
Und tranken tiefgerührt dazu.
Der Peter ließ sie gern beim Schmause;
Ihn reizte nur der Heimat Glück;
Drum läuft er sporenstreichs nach Hause
Auf einem Seitenweg zurück.
11. Und froh, daß in der Näh' und Ferne
Sein Fuß sich nicht verirret hat,
Gelangt er vor dem Abendsterne
Inkognito noch in die Stadt.
Doch ist er kaum erst heimgekommen,
So schallt Gelächter durch das Haus;
Das hätt' er übel fast genommen;
Allein er macht sich nichts daraus.
12. Man scherzt: „Du mußt mit Meilenschuhen
Gewandert sein! Drum setz' dich auch
Nun hintern Ofen, um zu ruhen,
Und pfleg' am Brotfchrank deinen Bauch!"
280
Er thut's. — Bald traten auch die Alten
Zur Stubenthür betrübt herein;
Die Mutter seufzt mit Händefalten:
„Ach Gott, wo mag mein Peter sein?"
13. Da kriecht der Peter vor und schmunzelt:
„Was klagt ihr denn? Hier bin ich ja!"
Die Mutter jauchzt, der Vater runzelt
Die Stirn und spricht: „Schon wieder da?
Nun, wie ich's dachte, ist's geschehen;
Die Mutter war nur ganz verwirrt;
Ich hab's dem Burschen angesehen,
Wie weit die Reise gehen wird."
14. Die Mutter jubelte, durchdrungen
Von frommem Dank: „'s ist besser so!
Nun hab' ich wieder meinen Jungen
Gesund daheim; des bin ich stoh!"
Doch Peter sagte ganz beklommen:
„Hätt' ich nur nicht geglaubt, es schneit,
Und wär' der Kreuzweg nicht gekommen,
Ich wäre jetzt, wer weiß, wie weit!"
Aug. Gottlob Eberhard (nach Grübet).
5. Die Histörchen.
„Wir sitzen zusammen auf lustiger Bank,
Erzähle drum jeder einen Schwank,
Vielleicht von dummem Volk etwas,
Das macht uns Klugen am meisten Spaß.
Wer ausgetrunken hat, fängt an!
Das trifft mich selber — nun wohlan!
Die Fockbecker — es ist doch kein Fockbecker am Tisch?"
„Nein, noch ist er draußen, erzähl' Er nur frisch!"
„Die Fockbecker aßen Hering einmal,
Das war für sie ein Göttermahl!
Sie dachten: das sollte man öfter haben,
Ist eine der besten Tafelgaben.
Sie haben nicht viel und sind nicht reich,
Drum legen sie an einen Heringsteich
281
Und kaufen sie gut gesalzen ein 15
Und setzen sie in den Teich hinein.
Und dachten so ohne sondre Müh'n
Sich ihren Heringsbedarf zu ziehn.
Ging einer nun bei dem Wasser vorbei
Und rührte sich was, so rief er: „Hei! 20
Es rührt sich schon; es werden schon mehr!"
Und rieb sich die Hände und freute sich sehr.
Als nun der Herbst gekommen war,
Da ließen sie ab das Wasser klar
Und standen herum und guckten drein: 25
Da fanden sie — einen Aal allein,
Von Heringen nicht einen Schwanz,
Die waren weggeschwunden ganz.
Da schrieen sie alle auf einmal:
„Der Aal hat sie verzehrt, der Aal! 3o
Fort, fort mit ihm zur Feuerqual!"
„Nein," meinte der eine, „so stirbt er zu schnell;
Werst lieber ihn in ein Wasser hell!"
„In ein Wasser? das wär' ein dummer Streich!
Er hat ja immer gelebt im Teich." 35
„Das Wasser im Teich ist flach und klein,
Wohl zehnmal tiefer muß es sein;
Werft in den großen Strom ihn hin,
Da wird er schon versaufen drin!"
Wie nun der Aal tief Wasser spürt, 4O
Und lustig drin herumvagiert,
Da rufen sie: „Seht seine Not!
Ersaufen ist ein böser Tod!"
Die Fockbecker — doch da kommt einer herein,
Da muß ich wahrhaftig stille sein. 45
Guten Tag, Herr Fockbecker, setzet Euch,
Trinkt, und erzählt ein Histörchen!" „Gleich!
Die Kisdorfer — es ist doch kein Kisdorfer am Tisch?"
„Nein, noch sind sie draußen, erzähl' Er nur frisch!"
„Die Kisdorfer sind nicht grade dumm;
Doch kommen sie oft ums Wahre herum.
Einst, wie ein fremder Bauer da fährt,
Macht er am Wege sich Gras fürs Pferd,
Läßt liegen die Sense und denkt: „Hierher
60
282
55 Komm ich am Abend und hol' mir mehr."
So fährt er davon. Nun war es ein Spaß,
Die Kisdorfer merken, es fehlt da Gras,
Und halten die Sense für ein Tier,
Und glauben, das hat gefressen hier.
60 Der kühnste tritt nah hinzu und spricht:
„Es scheint zu schlafen, es rührt sich nicht.
Was thun? Dem Ding ist nicht zu traun,
Kommt her, und machen wir einen Zaun
In aller Stille rings herum,
65 So muß es verhungern!" Das schien nicht dumm.
Sie machen den Zaun: „Nun kann's nicht heraus!"
Da gehn sie getröstet all nach Haus.
Der Bauer kam wieder, der hat gelacht
Und die Sense geholt und Gras gemacht
70 Und den Streich dann unter die Leute gebracht.
Den Kisdorfern aber war angst und bang,
Weil das Tier den Zaun doch übersprang.
Und keiner ging damals allein,
Sie mußten immer gekoppelt sein,
75 Bis auf dem Markt sie Sensen gesehn
Und merkten, das sei ein Ding zum Mähn.
Noch schöner war es mit einem Gaul,
Der schlug um sich mit den Füßen nicht faul;
Dem bauten sie rings umher ein Haus —
so Doch erzähl' ich die Geschichte nicht aus,
Es kommt von Kisdorf eben ein Mann.
Heran, heran, nur immer heran,
Herr Kisdorfer, kommt und setzet Euch,
Trinkt, und erzählt ein Histörchen!" „Gleich!
85 Die Gabler — es ist doch kein Gabler am Tisch?"
„Nein, noch sind sie draußen, erzähl' Er nur frisch!"
„Die Gabler kannten die Katzen noch nicht,
Und wurden geplaget vom Müusegezücht;
Da bracht' ein Jud' eine Katze daher,
90 Die, sagt er, zum Mäus'ausrotten wär'.
Der Jude verlangte die halbe Welt,
Da legten zusammen sie vieles Geld
Und setzten die Katz' ins erste Haus:
„Dort fange sie an und rotte aus!"
283
Der Jude war schon ein Weilchen fori, 95
Ein Tauber ritt nach und rief: „Ein Wort!
Was frißt das Tier?" „Milch!" rief er zurück,
„Und Mäuschen frißt es!" „O Ungelück!"
Ruft aus der Taube, denn er verstund:
Auch Menschen frißt es! „O böse Stund'!" 100
Es erschrickt im Dorf Mann, Weib und Kind;
Doch weil sie gefaßte Leute sind,
Entschließen sie sich: „Ums Haus dahier
Macht flugs ein Feuer, verbrennt das Tier!
Viel besser ein Haus geopfert ist, 105
Als wenn es einen Menschen frißt!"
Gesagt, gethan, das Feuer brennt;
Doch die Katze kommt heraus gerennt,
Und läuft in das zweite — „auch das muß fort!
Viel besser Brand als Menschenmord!" 110
Man zündet an, flink ist sie heraus
Und ist schon wieder im dritten Haus.
Das ist des Schulzen; der brave Mann,
Er setzt das Seine gern daran,
Wenn er die Menschheit retten kann. 115
Hei! brennt der Speck in Schulzens Haus!
Wipp! war die Katze wieder heraus.
Hier kann nichts helfen, man sengt und brennt,
Wo immer nur das Tier hinrennt.
Die Katze bleibt in einem Lauf, 120
So geht das Dorf in Feuer auf.
Doch tröstet man sich bei aller Not,
Die Katze ist zuletzt doch tot.
Man trug sie auf einer Stang' umher,
Als ob es ein groß Mirakel wär'. 125
Das Dorf war bald neu aufgestellt,
Sie hatten viel verscharrtes Geld.
Und dies war nicht ihr letztes Stück;
Sie hatten bei aller Dummheit Glück.
Zum Beispiel — doch da kommt ein Mann 130
Aus Gabeln, still! Heran, heran,
Herr Gabler, kommt und setzet Euch,
Trinkt, und erzählt ein Histörchen." „Gleich!
135
140
145
160
155
160
165
170
284
Die Büsumer — es ist doch kein Büsumer am Tisch?"
„Nein, noch sind sie draußen, erzähl' Er nur frisch!"
„Die Büsumer wohnen am Meeresstrand
Und sind für kluge Leute bekannt,
Nur treiben sie die Bescheidenheit
In manchem Stücke gar zu weit.
Des einen Sonntags ihrer neun
Schwimmen sie weit in die See hinein.
Auf einmal, wie das Meer so schwankst,
Wird einem um die andern angst,
Und zählt sie alle: „Eins, zwei, drei",
Bis acht, und läßt sich aus dabei;
Denn er ist ein echtes Büsumer Kind,
Die immer so bescheiden sind.
Ein zweiter probiert's, zählt: „Eins, zwei, drei"
Bis acht, und vergißt sich auch dabei.
Da schwimmen sie alle bestürzt ans Land,
Wo eben ein kluger Fremder stand.
Dem klagten sie jammernd ihre Not
Und sagten: „Von uns ist einer tot!"
Und wußten nicht, welcher ertrunken sei.
Und jammern und zählen immer aufs neu
Und finden immer nur wieder acht,
Weil jeder bescheiden an sich nicht gedacht.
Der Fremde sprach: „Bescheidenheit
Führt euch, ihr guten Leute, zu weit;
Steck' jeder die Nas' in den Sand einmal,
Und zählt die Tupfen, so habt ihr die Zahl."
Sie folgten dem Fremden, da zählten sie — neun!
Und luden vor Freud' ihn zum Frühstück ein.
Die Büsumer — still, wer tritt in die Thür?
Ein Büsumer. Schön willkommen hier,
Herr Büsumer, kommt und setzet Euch,
Trinkt, und erzählt ein Histörchen." „Gleich!
Die Romöer — es ist doch kein Romöer am Tisch?"
„Nein, noch sind sie draußen, erzähl' Er nur frisch!"
„Die Romöer tragen als Leibgewand
Die rote Jacke, das ist bekannt.
Nun war ein Robbenschlüger zu arm,
Trug eine graue, daß Gott erbarm!
285
Er sagte zwar: „Ich liebe das Grau;"
Doch neckten ihn damit Mann und Frau: 175
„Geh, Peter Modder, Ihr thut nur so,
Hättst du eine rote, so wärest du froh."
Nun muß es zu jenkr Zeit geschehn,
Daß in Romoe kalte Winde wehn;
Die Kirche steht so sehr nach Nord, 180
Man rückte sie gern nach Süden fort.
Da sprach Peter Modder: „Das wird gar leicht
Von uns durch vereinte Kraft erreicht.
Stemmt alle euch hier im Norden dran,
Ich richt' auf der Süderseite dann; 185
Und daß wir treffen das rechte Maß,
Legt eine rote Jacke ins Gras;
Dann schiebt, und hat sie erreicht die Wand,
So klopf' ich und rufe: „Stillestand!"
Gesagt, gethan, der Rat beliebt. 190
Die Jacke liegt da, man drückt und schiebt
Vermeintlich fort die Kirchenwand;
Da ruft Peter Modder: „Stillestand!
Ihr schiebt zu stark, die Jack' ist fort!"
Da laufen sie alle hin zum Ort; 195
Fort ist sie richtig, jedermann
Sieht staunend Peter Moddern an
Und lobet seinen guten Rat
Und ist gar stolz auf solche That.
Doch nächsten Sonntag wundert sich 200
Im Dorfe jeder männiglich:
Peter Modder, der sonst graue Mann,
Hat eine rote Jacke an.
Und keiner wußte da, woher
Die rote Jack' ihm kommen wär'. ^05
Die Romöer — still, wer tritt in die Thür?
Ein Romöer. Schön willkommen hier,
Herr Romöer, kommt und setzet Euch,
Trinkt, und erzählt ein Histörchen!" „Gleich!
Die Hosdrupper — es ist doch kein Hosdrupper am Tisch?"
„Nein, noch sind sie draußen, erzähl' Er nur frisch!" [210
„Die Hosdrupper leben friedlich im Land,
Und Krieg ist dort ganz unbekannt.
286
Und wie sie einmal Gras mähen zu Heu,
Ist einer, vielleicht ein Fremder, dabei,
Der hatt' in der Stadt gehört von Krieg.
Da fragten sie alle: „Was ist denn Krieg?"
Da sagte der Mann: „Der Krieg besteht
Darin, daß immer die Trummel umgeht."
„Wie geht denn die Trummel?" „Sie geht: bumm bumm,
Bumm bumm im ganzen Land herum.
Der Krieg ist schlimm und frißt viel Leut'
Samt Vieh und Häusern weit und breit!"
Die Hosdrupper sprachen: „Vor Kriegesnot
Bewahr' uns der liebe Herregott!"
Und mäheten weiter. Nun lag im Gras
Ein Faß voll Bier, gut schmeckte das.
Die Sommerhitze war nicht gering,
Weshalb es bald zu Ende ging.
Da fliegt durch den Spund zum Ungelück
Eine Hummel hinein, find't nicht zurück.
Summ summ, bumm bumm, summ summ, bumm bumm,
Flog sie im hohlen Faß herum.
Da sprach der klügste: „Ich höre: bumm bumm,
Der Krieg ist da, die Trummel geht um!"
Nun fliehn sie über Stock und Block,
Und jeder wünscht der Bein' ein Schock.
Das leere Faß noch rettet der ein',
Läuft immer hinter den andern drein;
Drin tobt die Hummel mit ihrem Gebrumm
Dicht hinter ihnen: bumm bumm bumm.
Sie liefen, bis endlich der Mann mit dem Faß
Hinfiel und es zerbrach im Gras.
Da traf ein Splitter den einen am Kopf:
„Ich bin geschossen!" schrie der Tropf.
Das war den andern erst ein Graun,
Hoch sprangen sie über Heck' und Zaun
Und rannten fort, die Kreuz und Quer,
Man sah sie den ganzen Tag nicht mehr.
Die Hosdrupper — still, wer tritt in die Thür?
Ein Hosdrupper. Schön willkommen hier!
Herr Hosdrupper, kommt und setzet Euch,
Trinkt und erzählt ein Histörchen!" „Gleich!"
287
Der Hosdrupper setzt sich, trinkt und spricht:
„Ein rechtes Histörchen weiß ich nicht; 255
Doch ist euch Lustiges angenehm,
So gab's recht dumme Leute vordem
Zu Bis horst, das vergangen ist.
Da wohnt' einst mancher gute Christ,
Die Kirche aber war so klein, 260
Sie fanden bei Tage kaum hinein;
Wie sollt' es erst in der Christnacht geschehn,
Wenn alle Wege mit Schnee verwehn!
Da spannten sie einen langen Strick
Von der Kirchenthür zum Dorf zurück; 265
Dran gingen sie hin, wenn Christnacht war,
Möcht' das Wetter sein trüb oder klar.
Sie kamen lange Jahre mit Glück
Am Stricke hin und wieder zurück;
Doch einmal band ein böser Mann 270
Den Strick an den offnen Brunnen an.
Plantsch! fällt der erst' in das Wasser da;
Der zweite dahinter war schon nah,
Und denkt, er schließt die Kirchenthür,
Und ruft: „Laß offen, ich bin schon hier!" 275
Plantsch! fällt der zweite dazu ins Loch;
Da ruft der dritte: „Warte doch!
Was machst du zu?" und planscht hinein.
Da ruft der vierte hinterdrein:
„Was schlagt ihr denn die Pforte zu?" 280
Und planscht hinein im selben Nu.
Der fünft' und sechste mit Weib und Kind,
Das purzelt alles hinein geschwind;
Drein plumpt das ganze Volk gemach,
Der Pfarr' und Küster hintennach, 286
Und blieb nicht eine Seel' am Ort,
Ganz war es ausgestorben dort.
Und kamen sie miteinander um,
So war auch kein Lamento drum.
Zuletzt getrost’ sich jeder Christ,
Daß solch ein Volk verstorben ist!
Es geh' der Krug die Reih' herum,
Dankt Gott, daß keiner von uns so dumm!"
290
288
Chorus.
„Ja, geh' der Krug die Reihe herum,
295 Dankt Gott, daß keiner von uns so dumm!" Aug. Kopisch.
6. Seltsame Menschen.
Ein Mann, der in der Welt sich trefflich umgesehn,
Kam endlich heim von seiner Reise.
Die Freunde liefen scharenweise,
Und grüßten ihren Freund; so pflegt es zu geschehn.
5 Da hieß es allemal: „Uns freut von ganzer Seele
Dich hier zu sehn; und nun erzähle!"
Was ward da nicht erzählt! „Hört," sprach er einst, „ihr wißt,
Wie weit von unsrer Stadt zu den Huronen ist.
Elfhundert Meilen hinter ihnen
io Sind Menschen, die mir seltsam schienen.
Sie sitzen oft bis in die Nacht
Beisammen fest auf einer Stelle
Und denken nicht an Gott noch Hölle.
Da wird kein Tisch gedeckt, kein Mund wird naß gemacht;
15 Es könnten um sie her die Donnerkeile blitzen,
Zwei Heer' im Kampfe stehn; sollt' auch der Himmel schon
Mit Krachen seinen Einfall droh'n,
Sie blieben ungestöret sitzen;
Denn sie sind taub und stumm. Doch läßt sich dann und wann
20 Ein halbgebrochner Laut aus ihrem Munde hören,
Der nicht zusammenhängt und wenig sagen kann,
Ob sie die Augen schon darüber oft verkehren.
Man sah mich oft erstaunt zu ihrer Seite stehen;
Denn wenn dergleichen Ding geschieht,
25 So pflegt man öfters hinzugehen,
Daß man die Leute sitzen sieht.
Glaubt, Brüder, daß mir nie die gräßlichen Geberden
Aus dem Gemüte kommen werden,
Die ich an ihnen sah: Verzweiflung, Raserei,
so Boshafte Freud' und Angst dabei,
Die wechselten in den Gesichtern.
Sie schienen mir, das schwör' ich euch,
An Wut den Furien, an Ernst den Höllenrichtern,
An Angst den Missethätern gleich!"
289
„Allein, was ist ihr Zweck?" so fragten hier die Freunde. 35
„Vielleicht besorgen sie die Wohlfahrt der Gemeinde?"
„Ach nein!" „So suchen sie der Weisen Stein?" „Ihr irrt."
„So wollen sie des Zirkels Viereck finden?"
„Nein!" „So bereu'n sie alte Sünden?"
„Das ist es alles nicht." „So sind sie gar verwirrt? 40
Wenn sie nicht hören, reden, fühlen,
Noch sehn, was thun sie denn?" „Sie spielen." Gottfr.Lichtwer.
7. Die Sonne bringt es an den Tag.
1. Gemächlich in der Werkstatt faß
Zum Frühtrunk Meister Nikolas;
Die junge Hausfrau schenkt ihm ein,
Es war im heitern Sonnenschein. —
Die Sonne bringt es an den Tag.
2. Die Sonne blinkt von der Schale Rand,
Malt zitternde Kringeln an die Wand.
Und wie den Schein er ins Auge faßt,
So spricht er für sich, indem er erblaßt:
„Du bringst es doch nicht an den Tag."
3. „Wer nicht? was nicht?" die Frau fragt gleich;
„Was stierst du so an? Was wirst du so bleich?"
Und er darauf: „Sei still, nur still!
Jch's doch nicht sagen kann, noch will.
Die Sonne bringt's nicht an den Tag."
4. Die Frau nur dringender forscht und fragt,
Mit Schmeicheln ihn und Hadern plagt,
Mit süßem und mit bitterm Wort;
Sie fragt und plagt ihn fort und fort:
„Was bringt die Sonne nicht an den Tag?"
5. „Nein, nimmermehr!" — „Du sagst es mir noch." —
„Ich sag' es nicht." — „Du sagst es mir doch." —
Da ward zuletzt er müd' und schwach
Und gab der Ungestümen nach.
Die Sonne bringt es an den Tag.
6. „Auf der Wanderschaft, 's sind zwanzig Jahr',
Da traf es mich einst gar sonderbar;
Lesebuch für höhere Lehranstalten. (Preuß Ausg.s III.
19
290
Ich hatt' nicht Geld, nicht Ranzen, noch Schuh,
War hungrig und durstig und zornig dazu. -*■
Die Sonne bringt's nicht an den Tag.
7. Da kam mir just ein Jud' in die Quer,
Ringsher war's still und menschenleer.
„Du hilfst mir, Hund, aus meiner Not;
Den Beutel her, sonst schlag' ich dich tot!"
Die Sonne bringt's nicht an den Tag.
8. Und er: „Vergieße nicht mein Blut,
Acht Pfennige sind mein ganzes Gut!"
Ich glaubt' ihm nicht und fiel ihn an; —
Er war ein alter, schwacher Mann —
Die Sonne bringt's nicht an den Tag.
9. So rücklings lag er blutend da,
Sein brechendes Aug' in die Sonne sah;
Noch hob er zuckend die Hand empor,
Noch schrie er röchelnd mir ins Ohr:
„Die Sonne bringt es an den Tag."
10. Ich macht' ihn schnell noch vollends stumm
Und kehrt' ihm die Taschen um und um —
Acht Pfenn'ge, das war das ganze Geld.
Ich scharrt' ihn ein auf selbigem Feld —
Die Sonne bringt's nicht an den Tag.
11. Dann zog ich weit und weiter hinaus,
Kam hier ins Land, bin jetzt zu Haus. —
Du weißt nun meine Heimlichkeit,
So halte den Mund und sei gescheit!
Die Sonne bringt's nicht an den Tag.
12. Wann aber sie so flimmernd scheint,
Ich merk' es wohl, was sie da meint,
Wie sie sich müht und sich erbost, —
Du, schau nicht hin und sei getrost:
Sie bringt es doch nicht an den Tag."
13. So hatte die Sonn' eine Zunge nun,
Der Frauen Zungen ja nimmer ruhn. —
291
„Gevatterin, um Jesus Christ!
Laßt Euch nicht merken, was Ihr nun wißt." —•
Nun bringt's die Sonne an den Tag.
14. Die Raben ziehen krächzend zumal
Nach dem Hochgericht, zu halten ihr Mahl.
Wen flechten sie aufs Rad zur Stund?
Was hat er gethan? Wie ward es kund?
Tie Sonne bracht' es an den Tag.
Adelbert v. Chainisso.
8. Die Auswanderer.
1. Ich kann den Blick nicht von
euch wenden,
Ich muß euch anschaun immerdar:
Wie reicht ihr mit geschäft'gen Händen
Dem Schiffer eure Habe dar!
2. Ihr Männer, die ihr von dem
Nacken
Die Körbe langt, mit Brot beschwert,
Das ihr aus deutschem Korn gebacken,
Geröstet habt auf deutschem Herd;
3. Und ihr im Schmuck der langen
Zöpfe,
Ihr Schwarzwaldmädchen braun und
schlank,
Wie sorgsam stellt ihr Krüg' und Töpfe
Auf der Schaluppe grüne Bank!
4. Das sind dieselben Töpf und
Krüge,
Oft an der Heimat Born gefüllt;
Wenn am Missouri alles schwiege,
Sie malten euch der Heimat Bild:
5. Des Dorfes stcingefaßte Quelle,
Zu der ihr schöpfend euch gebückt,
Des Herdes traute Feuerstelle,
Das Wandgesims, das sie geschmückt.
6. Bald zieren sie im fernen Westen
Des leichten Bretterhauses Wand;
Bald reicht sie müden braunen Gästen,
Voll frischen Trunkes, eure Hand.
7. Es trinkt daraus der Tscherokese,
Ermattet, von der Jagd bestaubt;
Nicht mehr von deutscher Rebenlese
Tragt ihr sie heim, mit Grün belaubt.
8. O sprecht, warum zogt ihr von
dannen?
Das Neckarthal hat Wein und Korn,
Der Schwarzwald steht voll finstrer
Tannen,
Im Spessart klingt des Älplers Horn.
9. Wie wird es in den fremden
Wäldern
Euch nach der Heimatberge Grün,
Nach Deutschlands gelben Weizen-
feldern,
Nach seinen Rebenhügeln ziehn!
10. Wie wird das Bild der alten
Tage
Durch eure Träume glänzend wehn!
Gleich einer stillen, frommen Sage
Wird es euch vor der Seele stehn.
19*
292
11. Der Bootsmann winkt! — Zieht hin in Frieden!
Gott schütz' euch, Mann und Weib und Greis!
Sei Freude eurer Brust beschießen,
Und euern Feldern Reis und Mais! Ferdin. Freiligrath.
9. Das Gewitter.*)
1. Urahne, Großmutter, Mutter
und Kind
In dumpfer Stube beisammen sind;
Es spielet das Kind, die Mutter sich
schmückt,
Großmutter spinnt, Urahne gebückt
Sitzt hinter dem Ofen im Pfühl**) —
Wie wehen die Lüfte so schwül! -
4. Großmutter spricht: „Morgen
ist's Feiertag;
Großmutter hat keinen Feiertag,
Sie kochet das Mahl, sie spinnet
das Kleid:
Das Leben ist Sorg' und viel Arbeit.
Wohl dem, der that, was er sollt'!" —
Hört ihr's, wie der Donner grollt?
2 Das Kind spricht: „Morgen
ist's Feiertag;
Wie will ich spielen im grünen Hag,
Wie will ich springen durch Thal
und Höh'n,
Wie will ich pflücken viel Blumen
schön!
Dem Anger, dem bin ich hold!" —
Hört ihr's, wie der Donner grollt?
5. Urahne spricht: „Morgen ist's
Feiertag;
Am liebsten morgen ich sterben mag;
Ich kann nicht fingen und scherzen
mehr,
Ich kann nicht sorgen und schaffen
schwer;
Was thu' ich noch auf der Welt?" —
Seht ihr, wie der Blitz dort fällt?
3. Die Mutter spricht: „Morgen
ist's Feiertag;
Da halten wir alle fröhlich Gelag,
Ich selber, ich rüste mein Feierkleid;
Das Leben, es hat auch Lust nach
Leid,
Dann scheint die Sonne wie Gold!" —
Hört ihr's, wie der Donner grollt?
6. Sie hören's nicht, sie sehen's nicht,
Es flammt die Stube wie lauter Licht;
Urahne, Großmutter, Mutter und
Kind
Vom Strahl miteinander getroffen
sind.
Vier Leben endet ein Schlag —
Und morgen ist's Feiertag.
Gustav Schwab.
*) Anlaß des Gedichts ist eine wirkliche Begebenheit: Am 30. Juni 1828 schlug
der Blitz in der Württembergischen Stadt Tuttlingen in ein Haus und tötete von dessen
10 Bewohnern 4: Großmutter, Mutter, Tochter und Enkelin, die erste 71, die letzte
8 Jahre alt.
**) Pfühl = Federkissen, Polster. Hier wohl für Polsterstuhl.
293
10. Das Lied vom braven Mann.*)
1. Hoch klingt das Lied vom braven Mann,
Wie Orgelton und Glockenklang.
Wer hohes Muts sich rühmen kann, ,
Den lohnt nicht Gold, den lohnt Gesang.
Gottlob, daß i^ singen und preisen kann, y. ,.
Zu singen und preisen den braven Mann.
2. Der Tauwind kam vom Mittagsmeer
Und schnob durch Welschland trüb und feucht;
Die Wolken flogen vor ihm her,
Wie wenn der Wolf die Herde scheucht.
Er fegte die Felder, zerbrach den Forst;
Auf Seeen und Strömen das Grundeis borst.
3. Am Hochgebirge schmolz der Schnee;
Der Sturz von tausend Wassern scholl;
Das Wiesenthal begrub ein See;
Des Landes Heerstrom wuchs und schwoll;
Hoch rollten die Wogen entlang ihr Gleis
Und rollten gewaltige Felsen Eis.
4. Auf Pfeilern und auf Bogen schwer,
Aus Quaderstein von unten auf,
Lag eine Brücke drüber her,
Und mitten stand ein Häuschen drauf.
Hier wohnte der Zöllner mit Weib und Kind.
„O Zöllner! o Zöllner! entfleuch geschwind!"
'Kv,
yVy/^Ai
5. Es dröhnt' und dröhnte dumpf heran,
Laut heulten Sturm und Wog' ums Haus.
Der Zöllner sprang zum Dach hinan
Und blickt' in den Tumult hinaus.
„Barmherziger Himmel, erbarme dich!
Verloren! verloren! Wer rettet mich?"
*) Anlaß des Gedichts ist auch hier, wie bei Nr. 9, ein wirkliches Ereignis. Bei
einer furchtbaren Überschwemmung der Etsch bei Verona im Frühling 1776 wurde eine
Brücke bis auf den mittelsten Bogen zerstört, worauf ein Haus mit zahlreichen Bewohnern
stand. Diese rettete mit eigener Lebensgefahr ein geringer Arbeitsmann und schlug her-
nach den hohen Lohn, den ein Graf ihm bot, hochherzig zu Gunsten der Geretteten aus.
Unmittelbar darauf brachen Bogen und Haus im Strudel zusammen.
294
6. Die Schollen rollten, Schuß auf Schuß;
Von beiden Ufern, hier und dort,
Von beiden Ufern riß der Fluß
Die Pfeiler samt den Bogen fort.
Der bebende Zöllner, mit Weib und Kind,
Er heulte noch lauter als Strom und Wind.
7. Die Schollen rollten, Stoß auf Stoß;
An beiden Enden, hier und dort,
Zerborsten und zertrümmert schoß
Ein Pfeiler nach dem andern fort.
Bald nahte der Mitte der Umsturz sich. —
„Barmherziger Himmel, erbarme dich!" x"'
8. Hoch auf dem fernen Ufer stand
Ein Schwarm von Gaffern, groß und klein,
Und jeder schrie und rang die Hand,
Doch mochte niemand Retter sein.
Der bebende Zöllner mit Weib und Kind
Durchheulte nach Rettung den Strom und Wind.
9. Rasch galoppiert' ein Graf hervor,
Auf hohem Roß ein edler Graf.
Was hielt des Grafen Hand empor?
Ein Beutel war es, voll und straff. —-
„Zweihundert Pistolen sind zugesagt
Dem, welcher die Rettung der Armen wagt!"
10. Und immer höher schwoll die Flut,
Und immer lauter schnob der Wind,
Und immer tiefer sank der Mut! —
O Retter! Retter! komm geschwind! —
Stets Pfeiler bei Pfeiler zerborst und brach;
Laut krachten und stürzten die Bogen nach.
11. „Hallo! hallo! Frisch auf gewagt!" —
Hoch hielt der Graf den Preis empor.
Ein jeder hört's, doch jeder zagt,
Aus Tausenden tritt keiner vor.
Vergebens durchheulte mit Weib und Kind
Der Zöllner nach Rettung den Strom und Wind.
295
s 12. Sieh, schlecht und recht ein Bauersmann
Am Wanderstabe schritt daher,
Mit grobem Kittel angethan,
An Wuchs und Antlitz hoch und hehr.
Er hörte den Grafen, vernahm sein Wort
Und schaute das nahe Verderben dort.
13. Und kühn, in Gottes Namen, sprang
Er in den nächsten Fischerkahn;
Trotz Wirbel, Sturm und Wogendrang
Kam der Erretter glücklich an.
Doch wehe! der Nachen war allzu klein,
Der Retter von allen zugleich zu sein. S ,
/ „ .
14. Und dreimal zwang er fernen Kahn,
Trotz Wirbel, Sturm und Wogendrang;
Und dreimal kam er glücklich an,
Bis ihm die Rettung ganz gelang.
Kaum kamen die letzten in sichern Port,
So rollte das letzte Getrümmer fort.
1 * (
15. „Hier," rief der Graf, „mein wackrer Freund!
Hier ist dein Preis; komm her! nimm hin!" —
Sag an, war das nicht brav gemeint?
Bei Gottb'der Graf trug hohen Sinn. /
Doch; höher und himmlischer, wahrlich'.! schlug ^
Das Herz, das der Bauer im Kittel trug.
/
16. ,,Mein Leben ist für Gold nicht feil.
Arm bin ich zwar, doch ess ich satt.
Dem Zöllner werd' Eu'r Gold zu teil,
Der Hab und Gut verloren hat!"
So rief er mit herzlichem Biederton
Und wandte den Rücken und ging davon. —
17. Hoch klingst du, Lied vom braven Mann,
Wie Orgelion und Glockenklang!
Wer solches Muts sich rühmen kann,
Den lohnt kein Gold, den lohnt Gesang.
Gottlob, daß ich singen und preisen kann,
Unsterblich zu preisen den braven Mann.
X|lv/vs
Gottfr. Aug. Bürger. (Gekürzt.)
296
11. Johanna Sebus.*)
Der Damm zerreißt, das Feld erbraust,
Die Fluten spülen, die Fläche saust.
„Ich trage dich, Mutter, durch die Flut;
Noch reicht sie nicht hoch, ich wate gut." —
5 „Auch uns bedenke, bedrängt wie wir sind,
Die Hausgenossin, drei arme Kind!
Die schwache Frau! . . . Du gehst davon!"
8ie trägt die Mutter durchs Wasser schon.
„Zum Bühle**) da rettet euch! harret derweil!
10 Gleich kehr’ ich zurück, uns allen ist Heil.
Zum Bühl ist’s noch trocken und wenige Schritt;
Doch nehmt auch mir meine Ziege mit!"
Der Damm zerschmilzt, das Feld erbraust,
Die Fluten wühlen, die Fläche saust.
15 Sie setzt die Mutter auf sichres Land;
Schön Suschen gleich wieder zur Flut gewandt.
„Wohin? wohin? Die Breite schwoll;
Des Wassers ist hüben und drüben voll.
Verwegen ins Tiefe willst du hinein?" —
20 „Sie sollen und müssen gerettet sein!"
Der Damm verschwindet, die Welle braust,
Eine Meereswoge, sie schwankt und saust.
Schön Suschen schreitet gewohnten Steg,
Umströmt auch gleitet sie nicht vom Weg,
25 Erreicht den Bühl und die Nachbarin;
Doch der und den Kindern kein Gewinn!
Der Damm verschwand, ein Meer erbraust’s,
Den kleinen Hügel im Kreis umsaust’s.
Da gähnet und wirbelt der schäumende Schlund
30 Und ziehet die Frau mit den Kindern zu Grund;
Das Horn der Ziege faßt das ein’,
So sollten sie alle verloren sein!
*) Gleichfalls nach einer wirklichen Begebenheit, vgl. Goethes eigene
Anmerkung: „Zum Andenken der 17 jährigen Schönen, Guten aus dem Dorfe Brienne
[bei Griethausen unfern Kleve], die am 13. Januar 1809 bei dem Eisgange des
Rheins und dem großen Bruche des Dammes von Eüeverham Hilfe reichend unter-
ging.“ — **) Hügel.
297
Schön Suschen steht noch strack und gut;
Wer rettet das junge, das edelste Blut?
Schön Suschen steht noch wie ein Stern, 35
Doch alle Werber sind alle fern.
Rings um sie her ist Wasserhahn,
Kein Schifilein schwimmet zu ihr heran.
Noch einmal blickt sie zum Himmel hinauf,
Da nehmen die schmeichelnden Fluten sie auf. 40
Kein Damm, kein Feld! Nur hier und dort
Bezeichnet ein Baum, ein Turm den Ort.
Bedeckt ist alles mit Wasser sch wall;
Doch Suschens Bild schwebt überall. —
Das Wasser sinkt, das Land erscheint, 45
Und überall wird schön Suschen beweint. —
Und dem sei, wer’s nicht singt und sagt,
Im Leben und Tod nicht nachgefragt! Wolfgang Goethe.
12. Der Lotse.
1. „Siehst du die Brigg*) dort auf den Wellen?
Sie steuert falsch, sie treibt herein
Und muß am Vorgebirg zerschellen,
Lenkt sie nicht augenblicklich ein.
2. Ich muß hinaus, daß ich sie leite!" —
„Gehst du ins offne Wasser vor,
So legt dein Boot sich auf die Seite
Und richtet nimmer sich empor." —
3. „Allein ich sinke nicht vergebens,
Wenn sie mein letzter Ruf belehrt;
Ein ganzes Schiff voll jungen Lebens
Ist wohl ein altes Leben wert.
4. Gieb mir das Sprachrohr! Schifflein, eile!
Es ist die letzte, höchste Not!"
Vor fliegendem Sturme gleich dem Pfeile
Hin durch die Scheren eilt das Boot.
5. Jetzt schießt es aus dem Klippenrande.
„Links müßt ihr steuern!" hallt ein Schrei.
Kiel oben treibt das Boot zu Lande,
Und sicher fährt die Brigg vorbei. Ludw. Giesebrecht.
*) Einmastiges Schiff.
298
13. Die Trommel.
1. Rings wirbelt die Trommel im Preußenland,
Still liegt nur ein Hüttchen am baltischen Strand.
2. Was jammert das Weib drin bei Tag und bei Nacht?
Ihr Mann ist gefallen in heißer Schlacht.
3. Auch traf ihr die Kugel der Söhne zwei;
Der jüngste nur lebt und ihr Kummer dabei.
4. Und lebt dir ein Knabe, was härmst du dich bleich?
O, preise den Himmel! Noch bist du ja reich!
5. Doch horch! Welche Töne das Ufer entlang!
Das Weib schrickt zusammen, was macht ihr so bang?
6. „Horch, Mutter, wie schallt es so mächtig und laut!" —
„Mein Sohn, zur Kirche wohl führt man die Braut." —
7. „Nein, Mutter, das klingt nicht wie Hochzeitston." —
„So trägt man den Paul wohl zu Grabe, mein Sohn."
8. „Nein, nein, so klingt auch nicht Sterbegesang,
Schon kenne den Ton ich, schon hört' ich den Klang.
9. Als einst ich ihn hörte zum ersten Mal,
Das war's für den Vater das Abschiedssignal.
10. Und als er zum andern getroffen mein Ohr,
Da folgten die Brüder dem werbenden Korps.
11. Nun ruft er zum dritten, er ruft es nun mir:
Die andern sind tot, und die Reih' ist an dir.
12. Die Reih' ist an mir, das Gewehr in die Hand,
Zu fechten für Freiheit und Vaterland.
13. Hinaus denn, hinaus in des Kampfes Glut!
Leb', Mutter, wohl! Bleib in Gottes Hut!"
14. Hin ziehet der Knabe, das Schwert er schwingt,
Ein hüllt sich das Weib, und die Trommel verklingt.
Hermann Besser.
14. Der Trompeter.
1. Wenn dieser Siegesmarsch in das Ohr mir schallt,
Kaum halt' ich da die Thränen mir zurück mit Gewalt.
Mein Kamerad, der hat ihn geblasen in der Schlacht,
Auch schönen Mädchen oft als ein Ständchen gebracht;
299
Auch zuletzt, auch zuletzt, in der grimmigsten Not,
Erscholl er ihm vom Munde, bei seinem jähen Tod.
Das war ein Mann von Stahl, ein Mann von echter Art;
Gedenk' ich seiner, rinnet mir die Thrän' in den Bart.
Herr Wirt, noch einen Krug von dem feurigsten Wein!
Soll meinem Freund zur Ehr', ja zur Ehr' getrunken sein.
2. Wir hatten musiziert in der Frühlingsnacht
Und kamen zu der Elbe, wie das Eis schon erkracht;
Doch schritten wir mit Lachen darüber unverwandt,
Ich trug das Horn und er die Trompet' in der Hand.
Da erknarrte das Eis, und es bog und es brach,
Ihn riß der Strom von dannen, wie der Wind so jach.
Ich konnt' ihn nimmermehr erreichen mit der Hand,
Ich mußte selbst mich retten mit dem Sprung auf den Sand
Er aber trieb hinab, auf die Scholle gestellt,
Und rief: „Nun geht die Reis in die weite, weite Welt!"
3. Drauf setzt' er die Trompet' an den Mund und schwang
Den Schall, daß rings der Himmel und die Erde erklang.
Er schmetterte gewaltig mit vollem Mannesmut,
Als gält' es eine Jagd mit dem Eis in der Flut.
Er trompetete klar, er trompetete rein,
Als ging's mit Vater Blücher nach Paris hinein! . . .
Da donnerte das Eis, die Scholle, sie zerbrach,
Und wurde eine bange, bange Stille danach! . . .
Das Eis verging im Strom und der Strom in dem Meer —
Wer bringt mir meinen Kriegskameraden wieder her?
Aug. Koplsch.
15. Das taube Mütterlein.
1. Wer öffnet leise Schloß und Thür?
Wer schleicht ins Haus hinein?
Es ist der Sohn, der wiederkehrt
Zum tauben Mütterlein.
2. Er tritt herein! Sie hört ihn nicht,
Sie saß am Herd und spann;
Da tritt er grüßend vor sie hin
Und spricht sie „Mutter" an.
300
3. Und wie er spricht, so blickt sie auf,
Und — wundervoll Geschick —
Sie ist nicht taub dem milden Wort,
Sie hört ihn mit dem Blick!
4. Sie thut die Arme weit ihm auf,
Und er drückt sich hinein,
Da hörte seines Herzens Schlag
Das taube Mütterlein.
5. Und wie sie nun beim Sohne sitzt
So selig, so verklärt —
Ich wette, daß taub Mütterlein
Die Englein singen hört.
16. Mama bleibt immer schön.
1. Durchs grünumrankte Fenster blickt
Die Sonne ins Gemach.
Großmutter sitzt und nickt und strickt,
Sie nickt den ganzen Tag.
Ihr Haar ward weiß; es grub die Zeit
Viel tiefe Furchen ein.
Zu ihren Füßen tändelnd kniet
Ihr jüngstes Enkelein.
2. „Was nickst du denn so immerzu?"
Die kleine Unschuld spricht:
„Großmutter, gar nicht schön bist du!
Dein Haar gefällt mir nicht. —
Und überm Auge auf der Stirn
Die große Falte da!
Es ist Mama viel schöner doch!
Wie schön ist doch Mama!"
3. Großmutter sieht den Liebling an:
„Schönheit vergehet bald!
Das Alter hat's mir angethan,
Und auch Mama wird alt!"
„Mama!?" — Des Kindes Aug' umzieht
Ein Hauch von Kümmernis —
„O nein! Mama bleibt immer schön!
Das weiß ich ganz gewiß!"
Fr. Halm.
Karl Siebel.
301
17. Des fremden Kindes heiliger Christ.
1. Es läuft ein fremdes Kind
Am Abend vor Weihnachten
Durch eine Stadt geschwind,
Die Lichter zu betrachten,
Die angezündet sind.
2. Es steht vor jedem Haus
Und sieht die hellen Räume,
Die drinnen schaun heraus,
Die lampenvollen Bäume;
Weh wird's ihm überaus.
3. Das Kindlein weint und spricht:
„Ein jedes Kind hat heute
Ein Bäumchen und ein Licht
Und hat dran seine Freude,
Nur bloß ich armes nicht.
4. An der Geschwister Hand
Als ich daheim gesessen,
Hat es mir auch gebrannt;
Doch hier bin ich vergessen
In diesem fremden Land.
5. Läßt mich denn niemand ein
Und gönnt mir auch ein Fleckchen?
In all den Häuserreih'n
Ist denn für mich kein Eckchen,
Und wär' es noch so klein?
6. Läßt mich denn niemand ein?
Ich will ja selbst nichts haben;
Ich will ja nur am Schein
Der fremden Weihnachtsgaben
Mich laben ganz allein."
7. Es klopft an Thür und Thor,
An Fenster und an Laden,
Doch niemand tritt hervor,
Das Kindlein einzuladen;
Sie haben drin kein Ohr.
8. Ein jeder Vater lenkt
Den Sinn auf seine Kinder;
Die Mutter sie beschenkt,
Denkt sonst nichts mehr noch minder,
Ans Kindlein niemand denkt.
9. „O lieber heil'ger Christ,
Nicht Mutter und nicht Vater
Hab' ich, wenn du's nicht bist.
O sei du mein Berater,
Weil man mich hier vergißt!"
10. Das Kindlein reibt die Hand,
Sie ist von Frost erstarret;
Es kriecht in sein Gewand
Und in dem Gäßlein harret,
Den Blick hinaus gewandt.
11. Da kommt mit einem Licht
Durchs Gäßlein hergewallet
Im weißen Kleide schlicht
Ein ander Kind; wie schallet
Es lieblich, da es spricht:
12. „Ich bin der heil'ge Christ,
War auch ein Kind vordessen,
Wie du ein Kindlein bist;
Ich will dich nicht vergessen,
Wenn alles dich vergißt.
13. Ich bin mit meinem Wort
Bei allen gleichermaßen
Ich biete meinen Hort
So gut hier auf den Straßen
Wie in den Zimmern dort.
14. Ich will dir deinen Baum,
Fremd Kind, hier lassen schimmern
Auf diesem offnen Raum,
So schön, daß die in Zimmern
So schön sein sollen kaum."
302
15. Da deutet mit der Hand
Christkindlein auf zum Himmel,
Und droben leuchtend stand
Ein Baum voll Sterngewimmel,
Vielästig ausgespannt.
16. So fern und doch so nah,
Wie funkelten die Kerzen!
Wie ward dem Kindlein da,
Dem fremden, still zu Herzen,
Da’s seinen Christbaum sah!
17. Es ward ihm wie ein Traum!
Da langten hergebogen
Englein herab vom Baum
Zum Kindlein, das sie zogen
Hinauf zum lichten Raum.
18. Das fremde Kindlein ist
Zur Heimat nun gekehret
Bei seinem heil’gen Christ,
Und was hier wird bescheret,
Es dorten leicht vergißt.
Friedrich Rückert.
b. Aus der Sage.
18. Chidher.
1. Chidher*), der ewig junge, sprach:
Ich fuhr an einer Stadt vorbei,
Ein Mann im Garten Früchte brach;
Ich fragte, seit wann die Stadt hier sei.
Er sprach, und pflückte die Früchte fort:
„Die Stadt steht ewig an diesem Ort,
Und wird so stehen ewig fort."
Und aber nach fünfhundert Jahren
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.
2. Da fand ich keine Spur der Stadt;
Ein einsamer Schäfer blies die Schalmei,
Die Herde weidete Laub und Blatt;
Ich fragte: „Wie lang ist die Stadt vorbei?"
Er sprach, und blies auf dem Rohre fort:
„Das eine wächst, wenn das andre dorrt;
Das ist mein ewiger Weideort.“
Und aber nach fünfhundert Jahren
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.
3. Da fand ich ein Meer, das Wellen schlug,
Ein Schiffer warf die Netze frei;
Und als er ruhte vom schweren Zug,
Fragt’ ich, seit wann das Meer hier sei.
*) Chidher oder Chidr, mohammedanischer Genius der ewigen Jugend.
303
Er sprach, und lachte meinem Wort:
„So lang als schäumen die Wellen dort,
Fischt man und fischt man an diesem Fort."
Und aber nach fünfhundert Jahren
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.
4. Da fand ich einen waldigen Raum
Und einen Mann in der Siedelei;
Er fällte mit der Axt den Baum.
Ich fragte, wie alt der Wald hier sei.
Er sprach: „Der Wald ist ein ewiger Hort;
Schon ewig wohn’ ich an diesem Ort,
Und ewig wachsen die Bäum’ hier fort."
Und aber nach fünfhundert Jahren
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.
5. Da fand ich eine Stadt, und laut
Erschallte der Markt vom Volksgeschrei.
Ich fragte: „Seit wann ist die Stadt erbaut?
Wohin ist Wald und Meer und Schalmei?"
Sie schrien, und hörten nicht mein Wort:
„So ging es ewig an diesem Ort,
Und wird so gehen ewig fort."
Und aber nach fünfhundert Jahren
Will ich desselbigen Weges fahren.
Friedrich Rückert.
19. Legende vom Hufeisen.
Als noch, verkannt und sehr gering,
Unser Herr auf der Erde ging
Und viele Jünger sich zu ihm fanden,
Die sehr selten sein Wort verstanden,
Liebs er sich gar über die Maßen 5
Seinen Hof zu halten auf der Straßen,
Weil unter des Himmels Angesicht
Man immer besser und freier spricht.
Er ließ sie da die höchsten Lehren
Aus seinem heiligen Munde hören; io
Besonders durch Gleichnis und Exempel
Macht' er einen jeden Markt zum Tempel.
15
20
25
30
35
40
45
50
304
*
So schlendert' er in Geistesruh
Mit ihnen einst einem Städtchen zu,
Sah etwas blinken auf der Straß',
Das ein zerbrochen Hufeisen was.*)
Er sagte zu Sankt Peter drauf:
„Heb doch einmal das Eisen auf!"
Sankt Peter war nicht aufgeräumt;
Er hatte soeben im Gehen geträumt,
So was vom Regiment der Welt,
Was einem jeden wohlgefällt —
Denn im Kopf hat das keine Schranken —
Das waren so seine liebsten Gedanken.
Nun war der Fund ihm viel zu klein,
Hätte müssen Krön' und Scepter sein;
Aber wie sollt' er seinen Rücken
Nach einem halben Hufeisen bücken?
Er also sich zur Seite kehrt
Und thut, als hätt' er's nicht gehört.
Der Herr nach seiner Langmut drauf
Hebt selber das Hufeisen auf
Und thut auch weiter nicht dergleichen.
Als sie nun bald die Stadt erreichen,
Geht er vor eines Schmiedes Thür,
Nimmt von dem Mann drei Pfennig dafür.
Und als sie über den Markt nun gehen,
Sieht er daselbst schöne Kirschen stehen,
Kauft ihrer so wenig oder so viel,
Als man für einen Dreier geben will,
Die er sodann nach seiner Art
Ruhig im Ärmel aufbewahrt.
Nun ging's zum andern Thor hinaus
Durch Wies' und Felder ohne Haus;
Auch war der Weg von Bäumen bloß,
Die Sonne schien, die Hitz' war groß,
Sodaß man viel an solcher Stütt'
Für einen Trunk Wasser gegeben hätt'.
Der Herr geht immer voraus vor allen,
Läßt unversehens eine Kirsche fallen.
*) „was" ältere Form = war.
305
Sankt Peter war gleich dahinter her,
Als wenn es ein goldner Apfel wär';
Das Beerlein schmeckte seinem Gaum.
Der Herr nach einem kleinen Raum
Ein ander Kirschlein zur Erde schickt, 55
Wonach Sankt Peter schnell sich bückt.
So läßt der Herr ihn seinen Rücken
Gar vielmal nach den Kirschen bücken.
Das dauert eine ganze Zeit.
Dann sprach der Herr mit Heiterkeit: 60
„Thätst du zur rechten Zeit dich regen,
Hättst du's bequemer haben mögen.
Wer geringe Ding' wenig acht't,
Sich um geringere Mühe macht." Wolfgang Goethe.
20. Der Mönch von Helsterbach.
1. Ein junger Mönch im Kloster Heisterbach
Lustwandelt an des Gartens fernstem Ort;
Der Ewigkeit sinnt tief und still er nach
Und forscht dabei in Gottes heil'gem Wort.
2. Er liest, was Petrus der Apostel sprach:
Dem Herren ist ein Tag wie tausend Jahr',
Und tausend Jahre sind ihm wie ein Tag —
Doch wie er sinnt, es wird ihm nimmer klar.
3. Und er verliert sich zweifelnd in den Wald;
Was um ihn vorgeht, hört und sieht er nicht —
Erst wie die fromme Vesperglocke schallt,
Gemahnt es ihn der ernsten Klosterpflicht.
4. Im Lauf erreichet er den Garten schnell;
Ein Unbekannter öffnet ihm das Thor.
Er stutzt — doch sieh! schon glänzt die Kirche hell,.
Und draus ertönt der Brüder heil'ger Chor.
5. Nach seinem Stuhle eilend tritt er ein,
Doch wunderbar! ein andrer sitzet dort.
Er überblickt der Mönche lange Reihn,
Nur Unbekannte findet er am Ort.
Lesebuch für höhere Lehranstalten. (Preuß. Ausg.) III.
20
306
6. Der Staunende wird angestaunt ringsum,
Man fragt nach Namen, fragt nach dem Begehr;
Er sagt's — da murmelt man durchs Heiligtum:
„Dreihundert Jahre hieß so niemand mehr."
7. „Der letzte dieses Namens," tönt es dann,
„Er war ein Zweifler und verschwand im Wald;
Man gab den Namen keinem mehr fortan." —
Er hört das Wort, es überläuft ihn kalt.
8. Er nennet nun den Abt und nennt das Jahr;
Man nimmt das alte Klosterbuch zur Hand,
Da wird ein großes Gotteswunder klar:
Er ist's, der drei Jahrhunderte verschwand.
9. Ha, welche Lösung! Plötzlich graut sein Haar,
Er sinkt dahin und ist dem Tod geweiht,
Und sterbend mahnt er seiner Brüder Schar:
„Gott ist erhaben über Ort und Zeit.
10. Was er verhüllt, macht nur ein Wunder klar;
Drum grübelt nicht, denkt meinem Schicksal nach!
Ich weiß, ihm ist ein Tag wie tausend Jahr',
Und tausend Jahre sind ihm wie ein Tag."
Wolfgang Müller.
21. Rheinsage.
1. Am Rhein, am grünen Rheme,
Da ist so mild die Nacht,
Die Rebenhügel liegen
In goldner Mondespracht.
2. Und an den Hügeln wandelt
Ein hoher Schatten her
Mit Schwert und Purpurmantel,
Die Krone von Golde schwer.
3. Das ist der Karl, der Kaiser,
Der mit gewalt'ger Hand
Vor vielen hundert Jahren
Geherrscht im deutschen Land.
4. Er ist heraufgestiegen
Zu Aachen aus der Gruft
Und segnet seine Reben
Und atmet Traubenduft.
5. Bei Rüdesheim da funkelt
Der Mond ins Wasser hinein
Und baut eine goldne Brücke
Wohl über den grünen Rhein.
6. Der Kaiser geht hinüber
Und schreitet langsam fort
Und segnet längs dem Strome
Die Reben an jedem Ort.
307
7. Dann kehrt er heim nach Aachen 8. Wir aber füllen die Römer
Und trinken im goldenen Saft
Uns deutsches Heldenfeuer
Und deutsche Heldenkraft.
Und schläft in seiner Gruft,
Bis ihn im neuen Jahre
Erweckt der Trauben Duft.
Emanuel Geibel.
22. Zer Klabautermann.* **))
1. Flink auf! Die luftigen Segel gespannt!
Wir fliegen wie Vögel von Strand zu Strand,
Wir tanzen auf Wellen um Klipp' und Riff,
Wir haben das Schiff nach dem Pfiff im Griff,
Wir können, was kein andrer kann:
Wir haben einen Klabautermann.
2. Der Klabautermann ist ein wackerer Geist,
Der alles im Schiff sich rühren heißt,
Der überall, überall mit uns reist,
Mit dem Schiffskapitän flink trinkt und speist;
Beim Steuermann fitzt er und wacht die Nacht,
Und im oberen Mast, wenn das Wetter kracht.
3. Jst's Wetter klar und die Fahrt gelingt,
So nimmt er die Geige und tanzt und springt,
Und alles muß auf dem Deck sich schwingen,
Unzählige selige Lieder singen.
Nicht Sturm, nicht Wurm, ihn ficht nichts an:
Wir haben den wahren Klabautermann.
4. Hei, klettert er! Sei die See auch groß,
Klabautermann läßt kein Takelwerk los,
Er läuft auf den Rahen, wenn alles zerreißt,
Er thut, was der Kapitän ihm heißt. —
Und wißt ihr, wie man ihn rufen kann?
Kourage heißt der Klabautermann. Aug. Kopisch.
23. Klein Noland.*)
1. Frau Bertha saß in der Felsenkluft,
Sie klagt' ihr bitteres Los.
Klein Roland spielt' in freier Luft,
Des Klage war nicht groß.
*) Nach der Matrosensage ein kleiner Schiffskobold, Poltergeist (von „klabastern",
d. h. klopfen, poltern), in jedem Schiff als Schutzgeist, Wächter und Helfer gedacht ähnlich
wie die Heinzelmännchen im I. (Sexta-) Teil S. 232 ff.
**) Über Roland vgl. I. (Sexta-) Teil S. 92 ff.
20*
308
2. „O König Karl, mein Bruder hehr,
O, daß ich floh von dir!
Um Liebe ließ ich Pracht und Ehr',
Nun zürnst du schrecklich mir.
3. O Milon, mein Gemahl so süß!
Die Flut verschlang mir dich.
Die ich um Liebe alles ließ,
Nun läßt die Liebe mich.
4. Klein Roland, du mein teures Kind,
Nun Ehr' und Liebe mir!
Klein Roland, komm herein geschwind!
Mein Trost kommt all von dir.
5. Klein Roland, geh zur Stadt hinab,
Zu bitten um Speis' und Trank,
Und wer dir giebt eine kleine Gab',
Dem wünsche Gottes Dank'/
6. Der König Karl zur Tafel saß
Im goldnen Rittersaal.
Die Diener liefen ohn' Unterlaß
Mit Schüssel und Pokal.
7. Von Flöten, Saitenspiel, Gesang
Ward jedes Herz erfreut,
Doch reichte nicht der helle Klang
Zu Berthas Einsamkeit.
8. Und draußen in des Hofes Kreis,
Da saßen der Bettler viel,
Die labten sich an Trank und Speis'
Mehr als am Saitenspiel.
9. Der König schaut in ihr Gedräng'
Wohl durch die offne Thür;
Da drückt sich durch die dichte Meng'
Ein feiner Knab' Herfür.
10. Des Knaben Kleid ist wunderbar
Vierfarb zusammengestückt;
Doch weilt er nicht bei der Bettlerschar,
Herauf zum Saal er blickt.
309
11. Herein zum Saal klein Roland tritt,
Als wär's sein eigen Haus.
Er hebt eine Schüssel von Tisches Mitt'
Und trägt sie stumm hinaus.
12. Der König denkt: was muß ich sehn?
Das ist ein sondrer Brauch.
Doch weil er's ruhig läßt geschehn,
So lassen's die andern auch.
13. Es stund nur an eine kleine Weil',
Klein Roland kehrt in den Saal.
Er tritt zum König hin mit Eil'
Und faßt seinen Goldpokal.
14. „Heida! Halt an, du kecker Wichts
Der König ruft es laut.
Klein Roland läßt den Becher nicht,
Zum König auf er schaut.
15. Der König erst gar finster sah,
Doch lachen mußt' er bald.
„Du trittst in die goldne Halle da
Wie in den grünen Wald.
16. Du nimmst die Schüssel von Königs Tisch,
Wie man Äpfel bricht vom Baum;
Du holst wie aus dem Brunnen frisch
Meines roten Weines Schaum." —
17. „Tie Bäurin schöpft aus dem Brunnen ftisch,
Die bricht die Äpfel vom Baum;
Meiner Mutter ziemet Wildbret und Fisch, *
Ihr roten Weines Schaum." —
18. „Ist deine Mutter so edle Dam',
Wie du berühmst, mein Kind,
So hat sie wohl ein Schloß lustsam
Und stattlich Hofgesind?
19. Sag' an: Wer ist denn ihr Truchseß?
Sag' an: Wer ist ihr Schenk?" —
„Meine rechte Hand ist ihr Truchseß,
Meine linke, die ist ihr Schenk." —
310
20. „Sag' an: Wer sind die Wächter treu?"
„Mein' Augen blau allstund." —
„Sag' an: Wer ist ihr Sänger frei?"
„Der ist mein roter Mund." —
21. „Die Dam' hat wackre Diener, traun!
Doch liebt sie sondre Livrei,
Wie Regenbogen anzuschaun
Mit Farben mancherlei!" —
22. „Ich hab' bezwungen der Knaben acht
Von jedem Viertel der Stadt,
Die haben mir als Zins gebracht
Vierfältig Tuch zur Wat."*) —
23. „Die Dame hat nach meinem Sinn
Den besten Diener der Welt.
Sie ist wohl Bettlerkönigin,
Die offne Tafel hält?
24. So edle Dame darf nicht fern
Von meinem Hofe sein.
Wohlauf, drei Damen! Auf, drei Herr'n!
Führt sie zu mir herein!"
25. Klein Roland trägt den Becher flink
Hinaus zum Prunkgemach;
Drei Damen auf des Königs Wink,
Drei Ritter folgen nach.
26. Es stund nur an eine kleine Weil',
Der König schaut in die Fern';
Da kehren schon zurück mit Eil'
Die Damen und die Herr'n.
27. Der König ruft mit einem Mal:
„Hilf, Himmel! Seh' ich recht?
Ich hab' verspottet im offnen Saal
Mein eigenes Geschlecht.
28. Hilf, Himmel! Schwester Bertha bleich,
Im grauen Pilgergewand!
Hilf, Himmel! in meinem Prunksaal reich
Den Bettelstab in der Hand!"
*) Die „Wat" altertümlich für Gewebe, Kleid (vgl. Watte f. v. a. Steppfutter für
Kleider).
311
29. Frau Bertha fällt zu Füßen ihm,
Das bleiche Frauenbild.
Da regt sich plötzlich der alte Grimm,
Er blickt sie an so wild.
30. Frau Bertha senkt die Augen schnell,
Kein Wort zu reden sich traut.
Klein Roland hebt die Augen hell,
Den Ohm begrüßt er laut.
31. Da spricht der König mit mildem Ton:
„Steh auf, du Schwester mein!
Um diesen deinen lieben Sohn
Soll dir verziehen sein."
32. Frau Bertha hebt sich freudevoll:
„Lieb Bruder mein, wohlan!
Klein Roland dir vergelten soll,
Was du mir Guts gethan.
33. Soll werden, seinem König gleich,
Ein hohes Heldenbild;
Soll führen die Färb' von manchem Reich
In seinem Banner und Schild.
34. Soll greifen in manches Königs Tisch
Mit seiner freien Hand;
Soll bringen zu Heil und Ehren frisch
Sein seufzend Mutterland." Ludwig Uhland
24. Roland
1. Der König Karl saß einst zu Tisch
Zu Aachen mit den Fürsten;
Man stellte Wildbret auf und Fisch
Und ließ auch keinen dürsten.
Viel Goldgeschirr von klarem Schein,
Manch roten, grünen Edelstein
Sah man im Saale leuchten.
2. Da sprach Herr Karl, der starke
Held:
„Was soll der eitle Schimmer?
Das beste Kleinod dieser Welt,
Das fehlet uns noch immer.
Schildträger.
Dies Kleinod, hell wie Sonnenschein,
Ein Riese trägt's im Schilde sein
Tief im Ardennerwalde."
3. Graf Richard, Erzbischof Tur-
pin,
Herr Haimon, Naim von Bayern,
Milon von Anglant, Graf Garin,
Die wollten da nicht feiern.
Sie haben Stahlgewand begehrt
Und hießen satteln ihre Pferd',
Zu reiten nach dem Riesen.
312
4. Jung Roland, Sohn des Milon,
sprach:
„Lieb Vater, hört, ich bitte!
Vermeint Ihr mich zu jung und schwach,
Daß ich mit Riesen stritte,
Doch bin ich nicht zu winzig mehr
Euch nachzutragen Euern Speer
Samt Eurem guten Schilde."
5. Die sechs Genossen ritten bald
Vereint nach den Ardennen;
Doch als sie kamen in den Wald,
Da thäten sie sich trennen.
Roland ritt hinterm Vater her;
Wie wohl ihm war, des Helden Speer,
Des Helden Schild zu tragen!
6. Bei Sonnenschein und Monden-
Streiften die kühnen Degen; glicht
Doch fanden sie den Riesen nicht
In Felsen und Gehegen.
Zur Mittagsstund' am vierten Tag
Der Herzog Milon schlafen lag
In einer Eiche Schatten.
7. Roland sah in der Ferne bald
Ein Blitzen und ein Leuchten,
Davon die Strahlen in dem Wald
Die Hirsch' und Reh' aufscheuchten;
Er sah, es kam von einem Schild,
Den trug ein Riese, groß -und wild,
Vom Berge niedersteigend.
8. Roland gedacht' im Herzen sein:
Was ist das für ein Schrecken!
Soll ich den lieben Vater mein
Im besten Schlaf erwecken?
Es wachet ja sein gutes Pferd,
Es wacht sein Speer, sein Schild und
Schwert,
Es wacht Roland, der junge.
9. Roland das Schwert zur Seite
band,
Herrn Milons starkes Waffen,
Die Lanze nahm er in die Hand
Und that den Schild aufraffen;
Herrn Milons Roß bestieg er dann
Und ritt erst sachte durch den Tann,
Den Vater nicht zu wecken.
10. Und als er kam zur Felsenwand,
Da sprach der Ries' mit Lachen:
„Was will doch dieser kleine Fant
Auf solchem Rosse machen?
Sein Schwert ist zwier*) so lang als er,
Vom Rosse zieht ihn schier der Speer,
Der Schild will ihn erdrücken."
11. Jung Roland rief: „Wohlauf
zum Streit!
Dich reuet noch dein Necken.
Hab' ich die Tartsche lang und breit,
Kann sie mich besser decken!
Ein kleiner Mann, ein großes Pferd,
Ein kurzer Arm, ein langes Schwert,
Muß eins dem andern helfen."
12. Der Riese mit der Stange
Auslangend in die Weite; schlug,
Jung Roland schwenkte schnell genug
Sein Roß noch ans die Seite.
Die Lanz' er auf den Riesen schwang,
Doch von dem Wunderschilde sprang
Auf Roland sie zurücke.
13. Jung Roland nahm in großer
Hast
Das Schwert in beide Hände;
Der Riese nach dem seinen faßt',
Er war zu unbehende;
Mit flinkem Hiebe schlug Roland
Ihm unterm Schild die linke Hand,
Daß Hand und Schild entrollten.
*) Zwier s. v. a. zweimal.
313
14. Dem Riesen schwand der Mut
dahin,
Wie ihm der Schild entrissen;
Das Kleinod, das ihm Kraft verliehn,
Mußt' er mit Schmerzen missen.
Zwar lief er gleich dem Schilde nach,
Doch Roland in das Knie ihn stach,
Daß er zu Boden stürzte.
15. Roland ihn bei den Haaren
griff,
Hieb ihm das Haupt herunter;
Ein großer Strom von Blute lief
Ins tiefe Thal hinunter;
Und aus des Toten Schild hernach
Roland das lichte Kleinod brach
Und freute sich am Glanze.
16. Dann barg er's unterm Kleide
gut
Und ging zu einem Quelle;
Da wusch er sich von Staub und Blut
Gewand und Waffen helle.
Zurücke ritt der jung' Roland
Dahin, wo er den Vater fand
Noch schlafend bei der Eiche.
17. Er legt' sich an des Vaters
Seit',
Vom Schlafe selbst bezwungen,
Bis in der kühlen Abendzeit
Herr Milon aufgesprungen: -
„Wach' auf, wach' auf, mein Sohn
Roland!
Nimm Schild und Lanze schnell zur
Hand,
Daß wir den Riesen suchen!"
18. Sie stiegen auf und eilten sehr,
Zu schweifen in der Wilde;
Roland ritt hinterm Vater her
Mit dessen Speer und Schilde.
Sie kamen bald zu jener Statt',
Wo Roland jüngst gestritten hätt';
Der Riese lag im Blute.
19. Roland kaum seinen Augen
glaubt',
Als nicht mehr war zu schauen
Die linke Hand, dazu das Haupt,
So er ihm abgehauen,
Nicht mehr des Riesen Schwert und
Speer,
Auch nicht sein Schild und Harnisch
mehr,
Nur Rumpf und blut'ge Glieder.
20. Milon besah den großen
Rumpf:
„Was ist das für 'ne Leiche?
Man sieht noch am zerhau'nen Stumpf,
Wie mächtig war die Eiche.
Das ist der Riefe! Frag' ich mehr?
Verschlafen hab' ich Sieg und Ehr',
Drum muß ich ewig trauern!" —
21. Zu Aachen vor dem Schlosse
stund
Der König Karl sehr bange:
„Sind meine Helden wohl gesund?
Sie weilen allzulange.
Doch seh' ich recht, auf Königswort!
So reitet Herzog Haimon dort,
Des Riesen Haupt am Speere."
22. Herr Haimon ritt in trübem
Mut,
Und mit gesenktem Spieße
Legt' er das Haupt, besprengt mit
Blut,
Dem König vor die Füße:
„Ich fand den Kopf im wilden Hag,
Und fünfzig Schritte weiter lag
Des Riesen Rumpf am Boden."
314
23. Bald auch der Erzbischof Turpin
Den Riesenhandschuh brachte,
Die ungefüge Hand noch drin;
Er zog sie aus und lachte:
„Das ist ein schön Reliquienstück,
Ich bring' es aus dem Wald zurück,
Fand es schon zugehauen."
24. Der Herzog Naim von Bayer-
land
Kam mit des Riesen Stange:
„Schaut an, was ich im Walde fand:
Ein Waffen stark und lange!
Wohl schwitz' ich von dem schweren
Druck;
Hei! Bayrisch Bier, ein guter Schluck,
Sollt' mir gar köstlich munden!"
25. Graf Richard kam zu Fuß
daher,
Ging neben seinem Pferde;
Das trug des Riesen schwere Wehr,
Den Harnisch samt dem Schwerte:
„Wer suchen will im wilden Tann,
Manch Waffenstück noch finden kann,
Ist mir zu viel gewesen."
26. Der Graf Garin that ferne schon
Den Schild des Riesen schwingen.
„Der hat den Schild, des ist die Krön',
Der wird das Kleinod bringen!" —
„Den Schild hab' ich, ihr lieben Herr'n;
Das Kleinod hätt' ich gar zu gern,
Doch das ist ausgebrochen."
27. Zuletzt that man Herrn Milon
sehn,
Der nach dem Schlosse lenkte;
Er ließ das Rößlein langsam gehn,
Das Haupt er traurig senkte.
Roland ritt hinterm Vater her
Und trug ihm seinen starken Speer
Zusamt dem festen Schilde.
28. Doch wie sie kamen vor das
Schloß
Und zu den Herr'n geritten,
Macht' er von Vaters Schilde los
Den Zierat in der Mitten;
Das Riesenkleinod setzt' er ein,
Das gab so wunderklaren Schein
Als wie die liebe Sonne.
29. Und als nun diese helle Glut
Im Schilde Milons brannte,
Da rief der König wohlgemut:
„Heil Milon von Anglante!
Der hat den Riesen übermannt,
Ihm abgeschlagen Haupt und Hand,
Das Kleinod ihm entrissen!"
30. Herr Milon hatte sich gewandt,
Sah staunend all die Helle:
„Roland, sag' an, du junger Fant,
Wer gab dir das, Geselle?" —
„Um Gott, Herr Vater, zürnt mir nicht,
Daß ich erschlug den groben Wicht,
Derweil Ihr eben schliefet!"
Ludwig Uhland.
25. Der Skiela'ufer. *)
1. „Wer klopft so eilig und mit Macht
An meine Thür in später Nacht?
's mag ein verirrter Wandrer sein.
Du ärmster Mann, tritt hurtig ein!"
*) Skie, norwegischer Schneeschuh.
315
Er legt die Arbeit schnell zur Seiten,
Ergreift den Kieferspan mit Hast
Und eilt, ins niedre Haus zu leiten
Mit frohem Gruß den fremden Gast.
2. Der Riegel knarrt, er tritt hinaus, —
Er steht gelähmt vom nächt'gen Graus,
Die Leuchte seiner Hand entfällt:
Er sah vom Feind das Haus umstellt.
Schnell greifen ihn vier kräft'ge Arme
Und ziehn ihn von der Schwelle fort;
Und einer aus dem wilden Schwarme
Giebt ihm das unwillkommne Wort:
3. „Du führst uns den verborgnen Pfad,
Hoch über den Kiölengrat,*)
Zur nächsten Stadt in Norreland;
Denn wider sie ist unsre Hand."
Doch er mit männlichem Erröten:
„Unmögliches verlanget ihr!
Wann hielt's ein Normann mit den Schweden?
Ihr kamt nicht vor die rechte Thür."
4. Und sie mit wilder Ungeduld:
„Ob ungern oder ob mit Huld,
Das gilt uns gleich! Du hast die Wahl
Nur zwischen Gold und hartem Stahl.
Ein nächt'ger Gang von wenig Meilen
Befreit dich schnell aus aller Not;
Bleibst du, so stirb! und mit dir teilen
Dein Weib und Kind den Rachetod."
5. Zusammen brach der kräft'ge Mann,
Der Schweiß von seiner Stirne rann;
Zwiespältig ringt in ihm der Geist,
Bis sich empor der Normann reißt,
Und spricht das Wort voll Grimm und Schmerzen:
„Ihr Jünglinge, Vergelt' euch Gott,
Daß ihr mit eines Mannes Herzen
Treibt solch unmenschlich Spiel und Spott!
*) Kjölen, das schneebedeckte Hochgebirge zwischen dein nördlichen Norwegen (Norre-
land) und Schweden.
316
6. Wohlan! nicht um den eignen Leib,
Nur um die Kindlein und mein Weib
Füg' ich mich eurem harten Zwang;
Den Sündensold ich nicht verlang'."
Er wendet sich ins Haus und bindet
Die Schneeschuh an den Knöcheln fest,
Ergreift den hohen Stab und zündet
Die Leuchte an dem Kohlenrest.
7. Noch einmal fällt sein trüber Blick
Auf seine Teueren zurück;
Sie schlummern ohne Sorg' und Harm
So selig, wie in Gottes Arm;
Und leise spricht er seinen Segen.
Dann tritt er vor den Kriegerzug;
Er schreitet aus, und rasch entgegen
Dem Hochgebirge geht's im Flug.
8. Da saust der Skie, da stäubt der Schnee,
Aus braunen Nebeln schwankt die Höh;
Vorüber fliegt im Geisterreihn
Der Wassersturz, der Fels, der Hain;
Im Schwung und Sprung auf glatten Sohlen
Durchbraust der Hanf die Winterflur,
Es keucht der Sturm, ihn einzuholen,
Und tilgt die flücht'ge Menschenspur.
9. So durch der Schluchten Doppelnacht
Zur Höh, wo die Lawine kracht,
Und ob des Gießbachs schwankem Steg
Führt er sie den verborgnen Weg.
Dem matten Scheine der Laterne
Folgt keck der rasche Kriegerhauf',
Und endlich hebt sich in der Ferne
Die schwerbedrohte Stadt herauf.
10. Dort lag sie, — einsam Turm und Thor,
Kein Lichtlein schimmert draus hervor,
Und wie die Wolke trüb und schwer
Lag Mitternachtsschlaf drüber her. —
317
Er sieht's mit Gram, hört die Bedränger
Jetzt kühner stürmen durch das Feld,
Merkt, wie der Feind sich immer enger
An seine flüchtigen Fersen hält.
11. Er schaut hinüber, schaut zurück,
Und alles flirrt vor seinem Blick;
Es ruft aus jedem Busch und Rohr:
„Normann, halt ein! was hast du vor?"
Da muß er vor sich selbst erbeben;
Er seufzet, bis zum Tode matt:
„O Herr, nimm hin mein schuldig Leben,
Errette nur die gute Stadt!"
12. Ihm ist, als hab' es Gott bejaht,
Und kühn erwächst ihm Will' und Rat. —
Dort läuft den steilen Bergeshang
Ein hoher Tannenwald entlang;
Ein Pfad lockt in die Waldeshalle,
Der dichtumschattet abwärts führt
Und unversehns in jähem Falle
Im tiefsten Abgrund sich verliert.
13. Den schlägt er ein; die Hand aufs Herz,
Das feste Auge himmelwärts,
Fliegt er des Wegs zur Felsenwand
Und stürzt sich von des Abgrunds Rand.
Noch flammt die Leuchte im Gesträuche,
Die Schweden folgen ihrem Schein —
Und drunten deckt des Normanns Leiche
Der Feinde zuckendes Gebein. Ferdin. Bäßler.
26. Der Läufer von Glarus.
Einst fochten die von Uri sich
Und die von Glarus bitterlich
Um ihre Landesscheiden an;
Da ward zuletzt der Spruch gethan:
5 „Zur Tag- und Nachtgleich'allerfrühst,
Sobald der Hahn den Morgen grüßt,
Soll nach der beiden Länder Enden
Jedweder einen Läufer senden,
Und wo sich dann begegnen beide,
Da sei fortan des Landes Scheide." io
Und als der Morgen war gekommen
Und kaum die höchsten Alpen glommen,
Zu Uri wachte schon der Hahn
Und sang den Morgen lustig an.
Der Hunger hat ihn früh geweckt; 15
Und wie er kaum die Flügel reckt,
318
Bricht schon der Urner hurtig auf
Und nimmt zur Scheide seinen Lauf.
Indes zu Glarus schläft noch fest
20 Der Hahn in seinem warmen Nest;
Sie hatten trefflich ihn gefüttert,
Drum schlief er satt und unerschüttert,
Derweil im roten Morgenbrand
Ihn bänglich die Gemein' umstand.
25 Doch endlich hub er an zu krähen
Und schlummertrunken sich zu blähen,
Und hurtig sprang der Glarner auf
Und nahm zur Scheide seinen Lauf.
Doch als er eilte kurze Strecke,
30 Kam droben um die Felsenecke
Der Urner schon mit stolzen Tritten
Ins fremde Land herabgeschritten.
Der Glarner hielt mit nichten an,
Er sprang noch unverzagt bergan,
35 Daß er noch Land dem guten Rechte
Und seinem Volk gewinnen möchte.
Der Urner hüpft mit lautem Hohn:
„Hier ist die Scheide!" ruft er schon.
Doch will er von den Alpenmatten
Ein Stücklein ihm zurückerstatten, 40
Soweit es ihm noch möge glücken,
Ihn fortzutragen auf dem Rücken.
Der schwingt ihn auf die Schulter
drauf
Und klettert frisch den Steg hinauf;
Er atmet schwer, das Knie bricht ein, 45
Erblassend stürzt er aufs Gestein.
„Hier ist die Grenze!" ruft er schnelle —
Sein Grabstein ist zur selben Stelle.
Glückselig, wer zu guter Letzt
„Hier ist die Grenze!" rufen kann. 50
Am Steine, den dein Mut gewann,
Den Ruhstein du gefunden hast —
Da, braver Läufer, halte Rast!
Adolf Stöber. (Gekürzt.)
27. Harras, -er kühne Springer.*)
1. Noch harrte im heimlichen Dämmerlicht
Die Welt dem Morgen entgegen,
Noch erwachte die Erde vom Schlummer nicht,
Da begann sich's im Thale zu regen.
Und es klingt herauf wie Stimmengewirr,
Wie flüchtiger Hufschlag und Waffengeklirr,
Und tief aus dem Wald zum Gefechte
Sprengt ein Fähnlein gewappneter Knechte.
2. Und vorbei mit wildem Ruf fliegt der Troß,
Wie Brausen des Sturms und Gewitter,
Und voran, auf feurig schnaubendem Roß,
Der Harras, der mutige Ritter.
Sie jagen, als gält' es den Kampf um die Welt,
Auf heimlichen Wegen durch Flur und Feld,
Den Gegner noch heut zu erreichen
Und die feindliche Burg zu besteigen.
*) Nach alter sächsischer Volkssage des Zschopau-Thals, wo man noch heute bei
Schloß Lichtenwalde einen Felsen den „Harrassprung" nennt und neuerdings durch einen
Denkstein bezeichnet hat.
319
3. So stürmen sie fort in des Waldes Nacht
Durch den fröhlich aufglühenden Morgen;
Doch mit ihm ist auch das Verderben erwacht,
Es lauert nicht länger verborgen:
Denn plötzlich bricht aus dem Hinterhalt
Der Feind mit doppelt stärkrer Gewalt;
Das Hifthorn ruft furchtbar zum Streite,
Und die Schwerter entfliegen der Scheide.
4. Wie der Wald dumpf donnernd wiederklingt
Von ihren gewaltigen Streichen!
Die Schwerter klirren, der Helmbusch winkt,
Und die schnaubenden Rosse steigen.
Aus tausend Wunden strömt schon das Blut;
Sie achten's nicht in des Kampfes Glut,
Und keiner will sich ergeben;
Denn Freiheit gilt's oder Leben
5. Doch dem Häuflein des Ritters wankt endlich die Kraft,
Der Übermacht muß es erliegen;
Das Schwert hat die meisten hinweggerafft,
Die Feinde, die mächtigen, siegen.
Unbezwingbar nur, eine Felsenburg,
Kämpft Harras noch und schlägt sich durch,
Und sein Roß trägt den mutigen Streiter
Durch die Schwerter der feindlichen Reiter.
6. Und er jagt zurück in des Waldes Nacht,
Jagt irrend durch Flur und Gehege;
Denn ffüchtig hat er des Weges nicht acht,
Er verfehlt die kundigen Stege.
Da hört er die Feinde hinter sich drein,
Schnell lenkt er tief in den Forst hinein,
Und zwischen den Zweigen wird's helle,
Und er sprengt zu der lichteren Stelle.
7. Da hält er auf steiler Felsenwand,
Hört unten die Wogen brausen;
Er steht an des Zschopau-Thals schwindelndem Rand
Und blickt hinunter mit Grausen.
Aber drüben auf waldigen Bergeshöhn
Sieht er seine schimmernde Feste stehn;
320
Sie blickt ihm freundlich entgegen,
Und sein Herz pocht in lauteren Schlägen.
8. Ihm ist's, als ob's ihn hinüberrief,
Doch es fehlen ihm Schwingen und Flügel;
Und der Abgrund, wohl fünfzig Klafter tief,
Schreckt das Roß, es schäumt in den Zügel.
Und mit Schaudern denkt er's und blickt hinab,
Und vor sich und hinter sich sieht er sein Grab;
Er hört, wie von allen Seiten
Ihn die feindlichen Scharen umreiten.
9. Noch sinnt er, ob Tod aus Feindes Hand,
Ob Tod in den Wogen er wähle;
Dann sprengt er vor an die Felsenwand
Und befiehlt dem Herrn seine Seele.
Und näher schon hört er der Feinde Troß,
Aber scheu vor dem Abgrund bäumt sich das Roß;
Doch er spornt's, daß die Fersen bluten,
Und er setzt hinab in die Fluten. —
10. Und der kühne, gräßliche Sprung gelingt;
Ihn beschützen höh're Gewalten.
Wenn auch das Roß zerschmettert versinkt,
Der Ritter ist wohl erhalten.
Und er teilt die Wogen mit kräftiger Hand,
Und die Seinen stehn an des Ufers Rand
Und begrüßen freudig den Schwimmer. —
Gott verläßt den Mutigen nimmer. Theod. Körner.
«. Aus der Heschichle.
28. Lenokrotes vor dem VolksZrrichle. (396—314 v. Chr.)
Als zu Athen Xenokrates einst vor dem Volksgerichte stand,
Da trat er wie ein andrer vor und hob zum Schwure schon die Hand.
Doch eh' er noch den Mund erschloß, zu sprechen den gewalt'gen Eid,
Erhob der Heliasten*) Schar sich ungestüm in Einigkeit.
5 Und alle, alle riefen laut, all die Fünfhundert: „Schwöre nicht!
Der Wahrheit Sonne strahlet hell von deinem edlen Angesicht;
*) Das Volksgericht zu Athen, etwa unsere Geschworenen.
321
Wer kann dich einer Lüge zeihnd Noch nie befleckte deinen Mund
Die Falschheit und der Doppelsinn, und lauter ist dein Herzensgrund.
Wir glauben dir, wenn unser Ohr ein Wort nur deines Mundes hört,
So viel, als wenn ein andrer uns den heiligsten der Eide schwört? 10
So scholl's. Errötend winkte zwar Xenokrates: „Genug, genug!"
Ich aber glaube, daß sein Herz in jenem Augenblicke schlug,
Als wär' er in Olympia vor allem Volke hochbeglückt,
Als würde auf sein Siegerhaupt des wilden Ölbaums Kranz gedrückt.
Denn Heil dem Mann, des Seele klar und dessen Worte truglos sind, 15
Und fest bestehn und nicht verwehn wie leichte Spreu im Wirbelwind.
Es nimmt ein jeder ungeprüft wie neugeprägtes Gold sie an,
Auch ohne Handschlag, ohne Eid, und denkt getrost: Ein Wort, ein Mann!
W. Fischer. (Etwas gekürzt.)
29. Lied der römischen Legionen.
1. Durch deutschen Schnee, durch Parther-Sand
Mit immer gleichem Schritte,
Wir tragen mit das Vaterland
Und Römer-Recht und -Sitte.
2. Und nach dem Sieg das Schwert gesenkt
Und Pflug geführt und Spaten;
Das Land, das römisch Blut getränkt,
Wird römischer Penaten.*)
3. Denn wo der Feldherr Lager schlug,
Da mag uns Heimat werden;
Wir folgen unsrer Adler Flug,
Und unser ist die Erden.
4. Der Sumpf versiegt, der Urwald fällt,
Nahn sich des Liktors**) Stäbe;
Wir bringen eine schön're Welt:
Den Ölbaum und die Rebe.
5. Am Euphrat und am Donaustrom
Blüht frommer Dienst der Laren,***)
Und rings ersteht ein kleines Rom
Zum Staunen der Barbaren.
*) Penaten — Schutzgötter des Staates.
**) Die Liktoren (Gerichtsdiener) gingen vor den römischen Beamten einher,
ein Bund Holzstäbe mit einem Beile tragend, als Zeichen der Gewalt über Leben
und Tod.
***) Laren = römische Hausgötter, vgl. S. 177.
Lesebuch für höhere Lehranstalten. (Preuß. Ausg.) III.
21
322
6. Und Straßen bauet von Granit,
Die noch in fernsten Tagen
Den eh'rnen Schritt, den Siegesschritt
Der Schlachtkohorten tragen.
7. Denn uns ward aus Orakelmund
Das Schicksalswort verkündet:
„So ewig steht im Erdenrund
Das Römerreich gegründet,
8. So lange ziehn von Pol zu Pol
Die römischen Legionen,
Als am betürmten Kapitol
Die ew'gen Götter thronen!" Felix Dahn.
30. Drusus' Tod. (9 v. Chr.)*)
1. Drusus ließ in Deutschlands
Forsten
Goldne Römeradler horsten;
An den heil'gen Göttereichen
Klang die Axt mit freveln Streichen.
5. Säumt der Deutsche gerne lange,
Nimmer beugt er sich dem Zwange;
Schlummernd mag er wohl sich
strecken;
Schläft er, wird ein Gott ihn wecken."
2. Siegend fuhr er durch die Lande,
Stand schon an der Weser Strande,
Wollt' hinüber jetzt verwegen,
Als ein Weib ihm trat entgegen.
3. Übermenschlich von Gebärde,
Drohte sie dem Sohn der Erde:
„Kühner, den der Ehrgeiz blendet,
Schnell zur Flucht den Fuß gewendet!
6. Drusus, da sie so gesprochen,
Eilends ist er aufgebrochen;
Aus dem Schauer deutscher Haine
Führt er schnell das Heer zum Rheine.
7. Vor den Augen sieht er's flirren,
Deutsche Waffen hört er klirren,
Sausen hört er die Geschosse,
Stürzt zu Boden mit dem Rosse.
4. Jene Marken unsrer Gauen
Sind dir nicht vergönnt zu schauen,
Stehst am Markstein deines Lebens,
Deine Siege sind vergebens.
8. Hat den Schenkel arg zerschlagen,
Starb den Tod nach dreißig Tagen.
Also wird Gott alle fällen,
Die nach Deutschlands Freiheit stellen.
Karl Simrock.
■) Vgl. S. 169.
323
31. Die Römerstraße.
1. Man spricht im Dorf noch oft von ihr,
Der alten drauß' im tiefen Walde,
Sie zeige sich noch dort und hier,
Am Feldweg und am Saum der Halde.
2. Sie zieht herauf und steigt hinab,
Es weidet über ihr die Herde;
An ihrer Seite manches Grab:
So liegt sie drunten in der Erde.
3. Es führt ob ihr dahin der Steg;
Der Pfliiger mit dem Jochgespanne
Geht über ihren Grund hinweg,
Und Wurzeln schlägt auf ihr die Tanne.
4. Der Römer hat sie einst gebaut
Und ihr den Ruhm, die Pflicht, die Trauer,
Der Gräber Urnen anvertraut
Und feines Namens ew'ge Dauer.
5. Und heut, aus ferner Zeiten Nacht
Bewegt es mich wie nahes Wehen,
Ein Lichtstrahl wie von selbst erwacht,
Ein Augenblick wie Geistersehen.
6. Mir ist, Kohorten schreiten dort
Gepanzert nach dem Lagerwalle,
Es tönt des Kriegstribunen Wort
Vom Turm her zu der Tuba Schalle.
7. Der Prätor naht, vom Volk umringt;
Liktoren ziehn, behelmte Reiter —
Und wie sich Bild mit Bild verschlingt,
Am Tag traumwandelnd schreit' ich weiter.
8. Da plötzlich ruft ein Laut mich wach,
Ein Erdgedröhn auf nahen Gleisen —
Ich steh' am Kreuzweg; hier durchbrach
Den Römerpfad der Pfad von Eisen.
9. Und donnernd rollt der Wagenzug
Vorbei den alten Meilensteinen,
Wie Blitz des Zeus und Geisterflug,
Der Erde Völker zu vereinen. Hermann Lingg. (Gekürzt.)
21*
324
32. Gotentreue.
1. Erschlagen war mit dem halben Heer
Der König der Goten, Theodemer.
2. Die Hunnen jauchzten auf blutiger Wal,
Die Geier stießen herab zu Thal.
3. Der Mond schien hell, der Wind pfiff kalt.
Die Wölfe heulten im Föhrenwald.
4. Drei Männer ritten durchs Heidegefild,
Den Helm zerschroten, zerhackt den Schild.
5. Der erste über dem Sattel quer
Trug seines Königs zerbrochnen Speer.
6. Der zweite des Königs Kronhelm trug,
Den mitten durch ein Schlachtbeil schlug.
7. Der dritte barg mit treuem Arm
Ein verhüllt Geheimnis im Mantel warm.
8. So kamen sie an den Jster*) tief,
Und der erste hielt mit dem Roß und rief:
9. „Ein zerhau'ner Helm — ein zerhackter Speer —
Von dem Reiche der Goten blieb nichts mehr!"
10. Und der zweite sprach: „In die Wellen dort
Versenkt den traurigen Gotenhort;
11. Dann springen wir nach dem Uferrand —
Was säumst du, Meister Hildebrand?"**)
12. „Und tragt ihr des Königs Helm und Speer,
Ihr treuen Gesellen — ich trage mehr."
13. Auf schlug er seinen Mantel weich.
„Ich trage der Goten Hort und Reich.
14. Und habt ihr gerettet Speer und Krön' —
Ich habe gerettet — des Königs Sohn!
15. Erwache, mein Knabe! Ich grüße dich,
Du König der Goten, Jung-Dieterich!"***) Felix Dahn.
*) Lateinischer Name der Donau, besonders des Unterlauss.
**) Vgl. oben Nr. 15, S. 60 ff.
***) Desgleichen Nr. 14, S. 49 ff.
325
33. Das weiße Sachsenroß.
1. Es jagt der Sturm im grünen Wald,
Er reitet und zwängt der Eichen Wucht;
Die alte Weser muß ihre Wellen
Vor Zorn und Angst am Fels zerschellen,
Und vom Gebirg und aus der Schlucht
Des Donners Siegesrufen hallt.
2. Ein fränkischer Mann, gar müd und still,
Verlassen irrt im fremden Land;
Die Glieder brechen ihm fast zusammen,
Doch löscht ihm nichts des Auges Flammen;
Da steht ein Httttlein an dem Strand.
„Hallo! ein Fremder Obdach will!"
3. Ein Sachse, hoch, mit stolzem Blick,
Sieht lang' und fremd den Franken an:
„Kommst du, um Gastfreundschaft zu bitten,
So bist du sicher in Sachsenhütten." —
Da trat den Herd der Franke an,
Er nahm den Becher und gab ihn zurück.
4. Sie sitzen ernst am heil'gen Herd,
Sie sehen schweigend einander an,
Und stumm bewundert immer wieder
Ein jeder des andern Heldenglieder.
Da hebt zuletzt der Franke an:
„Bei Gott, wir sind einander wert!
5. Wenn solcher viel das Sachsenland
Zum Kampf ob unserm König stellt,
So möchte Karol bitter klagen,
Daß Sachs und Frank' noch Schlachten schlagen."
Da führt der Sachs' ihn an der Hand
Hinaus aufs regengrüne Feld.
6. Ein weißes Roß, gar stark und schön,
Sprang auf der freien Weide frei.
„O laß das schöne Roß uns fangen!"
So sprach der Franke mit Verlangen.
„Gefangen hat's noch keiner gesehn,
Doch auf mein Locken kommt es frei!"
326
7. Und wie er es gerufen mild,
Da kommt es lustig wiehernd nah
Und bäumt die schlanken Vorderfüße
Und bringet seine besten Grüße.
Da sprach der Sachse: „Siehe da,
Das ist des Sachsenvolkes Bild!"
8. Der Franke reichet ihm die Hand:
„Das war ein Wort zu seiner Zeit;
Du sollst von fränk'scher Großmut hören,
Dem Kampf der Völker will ich wehren;
Du denke dieser Stunde heut!
Ich bin der König Karl genannt."
9. Der Sachse reicht ihm auch die Hand:
„Hast fränk'sche Großmut du genannt,
So lern' auch Sachsentreue kennen,
Ich will dir deinen Gastfreund nennen;
Herr Karl, du bist in mücht'ger Hand,
Ich bin der Wittekind genannt."
10. Da rief Herr Karl: „Ja, treu und frei!
Das edle Roß, das ist dein Bild!
Nun soll der goldne Friede tagen,
Du sollst die Herzogskrone tragen;
Das weiße Roß, das führ' im Schild,
Für ewig sei es treu und frei!" Max v. Oer
34. Kaiser Otto I.
1. Zu Quedlinburg im Dome ertönet Glockenklang;
Der Orgel Stimmen brausen zum ernsten Chorgesang.
Es sitzt der Kaiser drinnen mit seiner Ritter Macht,
Voll Andacht zu begehen die heil’ge Weihenacht.
2. Hoch ragt er in dem Kreise, von männlicher Gestalt,
Das Auge scharf wie Blitze, von goldnem Haar umwallt.
Man hat ihn nicht zum Scherze den Löwen nur genannt;
Schon mancher hat empfunden die löwenstarke Hand.
3. Wohl ist auch jetzt vom Siege er wieder heimgekehrt;
Doch nicht des Reiches Feinden hat mächtig er gewehrt —
Es ist der eigne Bruder, den seine Waffe schlug,
Der dreimal der Empörung blutrotes Banner trug.
327
4. Jetzt schweift er durch die Lande geächtet, flüchtig hin,
Das will dem edlen Kaiser gar schmerzlich in den Sinn;
Er hat die schlimme Fehde oft bitter schon beweint:
„0 Heinrich, du mein Bruder, was bist du mir so feind!"
5. Zu Quedlinburg vom Dome ertönt die Mitternacht,
Vom Priester wird das Opfer der Messe dargebracht;
Es beugen sich die Kniee, es beugt sich jedes Herz,
Gehet in heil’ger Stunde steigt brünstig himmelwärts.
6. Da öffnen sich die Pforten, es tritt ein Mann herein,
Es hüllt die starken Glieder ein Büßerhemde ein;
Er schreitet auf den Kaiser, er wirft sich vor ihm hin,
Die Knie er ihm umfasset mit tiefgebeugtem Sinn.
7. „0 Bruder! meine Fehle, sie lasten schwer auf mir;
Hier liege ich zu Füßen, Verzeihung flehend, dir.
Was ich mit Blut gesündigt, die Gnade macht es rein;
Vergieb, o strenger Kaiser, vergieb, du Bruder mein!"
8. Doch strenge blickt der Kaiser den sünd’gen Bruder an:
„Zweimal hab’ ich vergeben, nicht fürder mehr fortan!
Die Acht ist ausgesprochen, das Leben dir geraubt;
Nach dreier Tage Wechsel, da fällt dein schuldig Haupt!"
9. Bleich werden rings die Fürsten, der Herzog Heinrich bleich,
Und Stille herrscht im Kreise, gleichwie im Totenreich;
Man hätte mögen hören jetzt wohl ein fallend Laub,
Denn keiner wagt zu wehren dem Löwen seinen Raub.
10. Da hat sich ernst zum Kaiser der fromme Abt gewandt,
Das ew’ge Buch der Bücher, das hält er in der Hand;
Er liest mit lautem Munde der heil’gen Worte Klang,
Daß es in aller Herzen wie Gottes Stimme drang:
11. „Und Petrus sprach zum Herren: Nicht so? genügt ich hab’,
Wenn ich dem sünd’gen Bruder schon siebenmal vergab?
Doch Jesus ihm antwortet: Nicht siebenmal vergieb,
Nein, siebenzig mal sieben, das ist dem Vater lieb!“
12. Da schmilzt des Kaiser Strenge in Thränen unbewußt;
Er hebt ihn auf, den Bruder, er drückt ihn an die Brust.
Ein lauter Ruf der Freude ist jubelnd rings erwacht —
Nie schöner ward begangen die heil’ge Weihenacht.
Heinr. v. Mühler.
328
35. Das Mahl
1. Von Würtemberg und Baden
Die Herren zogen aus,
Von Metz des Bischofs Gnaden
Vergaß das Gotteshaus;
Sie zogen aus zu kriegen
Wohl in die Pfalz am Rhein
Sie sahen da sie liegen
Im Sommersonnenschein.
2. Umsonst die Rebenblüte
Sie tränkt mit mildem Duft,
Umsonst des Himmels Güte
Aus Ährenfeldern ruft;
Sie brannten Hof und Scheuer,
Daß heulte groß und klein;
Da leuchtete vom Feuer
Der Neckar und der Rhein.
3. Mit Gram von seinem Schlosse
Sieht es der Pfälzer Fritz,
Heißt springen auf die Rosse,
Zween Mann auf einen Sitz.
Mit enggedrängtem Volke
Sprengt er durch Feld und Wald,
Doch ward die kleine Wolke
Zum Wetterhimmel bald.
4. Sie wollen seiner spotten,
Da sind sie schon umringt,
Und über ihren Rotten
Sein Schwert der Sieger schwingt.
Vom Hügel sieht man prangen
Das Heidelberger Schloß,
Dorthin führt man gefangen
Die Fürsten samt dem Troß.
5. Zuhinterst an der Mauer,
Da ragt ein Turm so fest,
Das ist ein Sitz der Trauer,
Der Schlang' und Eule Nest.
)u Heidelberg.
Dort sollen sie ihm büßen
Im Kerker trüb und kalt,
Es gähnt zu ihren Füßen
Ein Schlund und finstrer Wald.
6. Hier lernt vom Grimme rasten
Der Würtemberger Utz,
Der Bischof hält ein Fasten,
Der Markgraf läßt vom Trutz.
Sie mochten schon in Sorgen
Um Leib und Leben sein,
Da trat am andern Morgen
Der stolze Pfälzer ein.
7. „Herauf, ihr Herrn, gestiegen
In meinen hellen Saal!
Ihr sollt nicht fürder liegen
In Finsternis und Qual.
Ein Mahl ist euch gerüstet,
Die Tafel ist gedeckt,
Drum, wenn es euch gelüstet,
Versucht, ob es euch schmeckt!"
8. Sie lauschen mit Gefallen,
Wie er so lächelnd spricht;
Sie wandeln durch die Hallen
Ans goldne Tageslicht.
Und in dem Saale winket
Ein herrliches Gelag,
Es dampfet und es blinket,
Was nur das Land vermag.
9. Es setzten sich die Fürsten;
Da möcht' es seltsam sein:
Sie hungern und sie dürsten
Beim Braten und beim Wein.
„Nun, will's euch nicht behagen?
Es fehlt doch, deucht mir, nichts?
Worüber ist zu klagen?
An was, ihr Herrn, gebricht's?
329
10. Es schickt zu meinem Tische
Der Odenwald das Schwein,
Der Neckar seine Fische,
Den frommen Trank der Rhein.
Ihr habt ja sonst erfahren,
Was meine Pfalz beschert!
Was wollt ihr heute sparen,
Wo keiner es euch wehrt?"
11. Die Fürsten sahn verlegen
Den andern jeder an,
Am Ende doch verwegen
Der Ulrich da begann:
„Herr, fürstlich ist dein Bisfen,
Doch eines thut ihm not,
Das mag kein Knecht vermissen:
Wo ließest du das Brot?" —
12. „Wo ich das Brot gelassen?"
Sprach da der Pfälzer Fritz,
Er traf, die bei ihm saßen,
Mit seiner Augen Blitz;
Er that die Fensterpforten
Weit auf im hohen Saal,
Da sah man allerorten
Ins offne Neckarthal.
13. Sie sprangen von den Stühlen
Und blickten in das Land,
Da rauchten alle Mühlen
Rings von des Krieges Brand;
Kein Hof ist da zu schauen,
Wo nicht die Scheune dampft,
Von Rosses Huf und Klauen
Ist alles Feld zerstampft.
14. „Nun sprecht, von wessen Schul-
Jst so mein Mahl bestellt? jden
Ihr müßt euch wohl gedulden,
Bis ihr besät mein Feld,
Bis in des Sommers Schwüle
Mir reifet eure Saat,
Und bis mir in der Mühle
Sich wieder dreht ein Rad.
15. Ihr seht, der Westwind fächelt
In Stoppeln und Gesträuch;
Ihr seht, die Sonne lächelt,
Sie wartet nur auf euch.
Drum sendet flugs die Schlüssel
Und öffnet euren Schatz,
So findet bei der Schiissel
Das Brot den rechten Platz!"
Gustav Schwab.
36. Zwei Helden.
1. Die Türken stürmten Tag für Tag
Und stritten sich müd und matt,
An achtzigtausend fanden ihr Grab
Vor Wien, der tapfern Stadt.
2. Doch zürnend trieb Held Soliman
Zum zwanzigsten Sturm sein Heer,
Die Schwerter blitzten, und sausend flog
Durch die Lüfte Pfeil und Speer.
3. Ein Deutscher mäht mit seinem Schwert,
Als stünd' er im Ährenfeld,
Bis ihm ein wuchtiger Keulenschlag
Den linken Arm zerschellt.
330
4. Er sank, ihn deckte der Schild nicht mehr,
Schon droht ihm sicherer Tod,
Da rettete ihn sein Nebenmann
Noch glücklich aus der Not.
5. Er deckt ihn mit dem eignen Schild,
Kühn gegen den Feind gewandt;
Da zischt ein Pfeil, das Schwert entsinkt
Des Kriegers blutender Hand.
6. Doch gaben die beiden den Kampf nicht auf,
Sie sind ja noch bewehrt,
Die Linke des einen führt den Schild,
Die Rechte des andern das Schwert.
7. So türmen sie Leichen auf Leichen auf —
Horch! jauchzendes Siegesgeschrei!
Die Türken fliehen heulend ins Feld,
Und Wien ist endlich frei.
8. Die Helden hören's und sinken matt,
Mit Wunden bedeckt, auf den Wall
Und rufen noch im Sterben vereint:
„Hoch Deutschland überall!"
9. So fand man beide nach der Schlacht,
Dem Feinde zugekehrt,
Der eine hielt 'nen zerbrochenen Schild,
Der andre ein schartiges Schwert. Julius Sturm.
37. Der schwedische Trompeter.
1. Was klingt so hell und heiter zu Librach auf der Au?
Das ist ein Schwedenreiter mit der Schärpe gelb und blau,
Das war ein frommer Beter, ein tapfrer Degen auch
Der wackere Trompeter — das war so Schwedenbrauch.
2. Zum Rheingraf soll er's tragen von des Königs eigner Hand,
Wie sie den Tilly schlagen, der Magdeburg verbrannt.
Er zieht auf schlimmer Reise, und doch, dem Feind zum Spott,
Bläst er die kühne Weise: Eine feste Burg ist Gott!
3. Er bläst so laut und helle, es schallt den Wald entlang,
Es klingt so scharf und schnelle wie Schwertschlag jeder Klang —
Laß ab, du guter Reiter, zieh heimwärts rasch und stumm,
Nicht reit' und blase weiter, denn Feinde sind ringsum.
331
4. Deine Botschaft ist verraten dem Grafen Jsolan,
Es lüstet die Kroaten nach König Gustavs Plan;
Du lockst mit deinen Klängen die Feinde selbst herbei —
Sechs aus dem Walde sprangen und von jeder Flanke drei.
5. Von links und rechts sie traben heran mit Hurra jetzt,
Und vorn der breite Graben, kein Roß darüber setzt.
Er richt't sich auf im Bügel, er blickt um sich im Zorn,
Er giebt dem Roß die Zügel, er giebt dem Roß den Sporn.
6. „Greif aus, mein Rapp, mit Springen, jetzt gilt es schärfen Trott;
Wenn Gott will, kann's gelingen — eine feste Burg ist Gott!"
Und mit verhängtem Zügel zum Graben geht's im Flug.
„Glaubst du, dein Rapp' hat Flügel?" lacht der Kroaten Zug.
7. Dicht hinterher sie brausen mit Schießen und mit Schrein —
Hei! wie die Kugeln sausen und die Rosse hinterdrein.
Nun bis zur Sattelkappe im Sprung den Kopf er biegt,
Und hui! der treue Rappe hoch über den Graben fliegt.
8. Die Kroaten halten am Rande, sie fluchen ob der Schmach,
's ist eine kecke Bande — doch keiner thut's ihm nach.
Doch er ritt drüben weiter, im Schritt, dem Feind zum Spott,
Und fromm blies er und heiter: „Eine feste Burg ist Gott!"
Felix Dahn.
38. Fehrbellin.
1. Herr Kurfürst Friedrich Wilhelm, der große Kriegesheld,
Seht, wie er auf dem Schimmel vor den Geschützen hält!
Das war ein rasches Reiten vom Rhein bis an den Rhin,
Das war ein heißes Streiten am Tag von Fehrbellin!
2. Wollt ihr, ihr trotz'gen Schweden, noch mehr vom deutschen Land?
Was tragt ihr in die Marken den wüt'gen Kriegesbrand?
Herr Ludwig von der Seine, der hat euch aufgehetzt,
Daß Deutschland von der Peene zum Elsaß werd' zerfetzt.
3. Doch nein, Graf Gustav Wrangel, hier steh nun einmal still!
Dort kommt Herr Friedrich Wilhelm, der mit dir reden will.
Gesellschaft aller Arten bringt er im raschen Ritt
Samt Fahnen und Standarten zur Unterhaltung mit.
4. Nun seht ihn auf dem Schimmel, ein Kriegsgott ist es, traun!
Den Boden dort zum Tanze, den will er sich beschaun.
Und unter seinen Treuen, da reitet hintenan
Zuletzt, doch nicht aus Scheuen, Stallmeister Froben an.
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5. Und wie Herr Wrangel drüben den Schimmel nun erblickt,
Ruft er den Kanonieren: „Ihr Kinder, zielt geschickt!
Der auf dem Schimmel sitzet, der große Kurfürst ist's;
Nun donnert und nun blitzet! auf wen's geschieht, ihr wißt's."
6. Die donnern und die blitzen und zielen wohl nichts Schlechtes,
Und um den Herren fallen die Seinen links und rechts;
Dem Derfflinger, dem Alten, fast wird es ihm zu warm;
Er ist kein Freund vom Halten mit dem Gewehr im Arm.
7. Und dicht und immer dichter schlägt in die Heeresreihn
Dort in des Schimmels Nähe der Kugelregen ein.
„Um Gott, Herr Kurfürst, weiche!" Der Kurfürst hört es nicht,
Es schaut sein Blick, der gleiche, dem Feind ins Angesicht.
8. Dem Schimmel möcht' es ahnen, wem dieses Feuer gilt;
Er steigt und schäumt im Zügel, er hebt sich scheu und wild.
Die Herren alle bangen, doch sagt's ihm keiner an;
Wär' doch nicht rückwärts gangen der fürstlich-große Mann.
9. O Preußen, damals wägte auf eines Auges Blick,
Auf eines Zolles Breite sich furchtbar dein Geschick!
O Zollern, deine Krone, o Friederich, dein Ruhm!
Hier galt's im Ahn dem Sohne, im Hut dem Königtum;
10. Hier galt es Deutschlands Freiheit ob nord'scher Übermacht:
Und wer, wenn er gefallen, wer schlüge seine Schlacht?
Nicht Homburgs edle Hitze, nicht Derfflings rauher Mut,
Nicht Grumbkows Säbelspitze, nicht Heer noch Landsturm gut.
11. Und doch der Tod ist nahe und mäht um ihn herum,
Und alles zagt und trauert, und alles bleibet stumm.
Die Scheibe ist der Schimmel, das merket jeder nun,
Doch helfen mag der Himmel, von uns kann's keiner thun.
12. Da reitet zu dem Fürsten Emanuel Froben her:
„Herr Kurfürst, Euer Schimmel, er scheut sich vorm Gewehr;
Das Tier zeigt seine Launen, Ihr bringt's nicht ins Gefecht,
So nehmt nur meinen Braunen, ich reit's indes zurecht."
13. Der Herr schaut ihm herüber: „Es ist mein Lieblingsroß;
Doch das verstehst du besser, so reit es nur zum Troß."
Sie wechseln still; dann sprenget rasch, ohne Gruß und Wort,
Den Zügel lang verhänget, der edle Froben fort.
333
14. Und weit von seinem Herren hält er zu Rosse nun,
Für wenig Augenblicke scheint das Geschütz zu ruhn;
Der Kurfürst selber sinnet, warum es jetzt verstummt,
Und „Wacker war's gewinnet!" der alte Derffling brummt.
15. Da plötzlich donnert's wieder gewaltig übers Feld,
Doch nur nach einem Punkte ward das Geschütz gestellt;
Hochauf der Schimmel setzet, Herr Froben sinkt zum Sand,
Und Roß und Reiter netzet mit seinem Blut das Land.
16. Die Ritter alle schauen gar ernst und treu darein.
O Froben dort am Boden, wie glänzt dein Ruhmesschein!
Der Kurfürst ruft nur leise: „Ha! war das so gemeint?"
Und dann nach Feldherrnweise: „Nun vorwärts in den Feind!"
Julius Minding.
39. Der alte Derfflinger.*)
1. Es haben alle Stände
So ihren Degen wert,
Und selbst in Schneiderhände
Kam einst das Heldenschwert;
Drum jeder, der da zünftig
Mit Nadel und mit Scher',
Der mache jetzt und künftig
Vor Derffling sein Honneur.
2. In seinen jungen Tagen
War das ein Schneiderblut,
Doch möcht' ihm nicht behagen
So Zwirn wie Fingerhut;
Und wenn er als Geselle
So saß und fädelt' ein,
Schien ihm die Schneiderhölle
Die Hölle selbst zu sein.
3. Einst, als das Nadelhalten
Ihm schier ans Leben ging,
Dacht' er: „Das Schüdelspalten
Ist doch ein ander Ding."
Fort warf er Maß und Elle
Voll Kriegslust an die Wand,
Nahm an der Nadel Stelle
Den Säbel in die Hand.
4. Sonst focht er still und friedlich
Nach Handwerksburschen-Recht,**)
Jetzt war er unermüdlich
Beim Fechten im Gefecht;
Es war der flinke Schneider
Zum Stechen wohl geschickt;
Oft hat er an die Kleider
Dem Feinde was geflickt.
5. Er stieg zu hohen Ehren,
Feldmarschall ward er gar;
Es möcht' ihn wenig scheren,
Daß einst er Schneider war;
Nur, fand er einen Spötter,
Verstund er keinen Spaß
Und brummte: „Für Hundsfötter
Sitzt hier mein Ellenmaß."
*) Siehe Teil II (Quinta) S. 297.
**) „Fechten" in der Handwerkersprache s. v. a. Haus bei Haus um einen Zehr-
pfennig bitten.
334
6. Krank lag in seinem Schlosse 7. Es fehlt der alten Hülle
Der greise Feldmarschall, In Breite schon und Läng',
Keins seiner Lieblingsrosse Der Geist tritt in die Fülle,
Kam wiehernd aus dem Stall; Der Leib wird ihm zu eng;
Er sprach: „Als alter Schneider Gesegnet sei dein Wille,
Weiß ich seit langer Zeit, Herr Gott, in letzter Not!"
Man wechselt seine Kleider — Er sprach's und wurde stille —
Auch hab' ich des nicht Leid. Der alte Held war tot.
Theod. Fontane.
40. Der alte Dessauer.*)
1. Ich will ein Lied euch singen!
Mein Held ist eigner Art:
Ein Zopf vor allen Dingen,
Und Puder nicht gespart,
Blitzblank der Rock vom Bürsten,
Und jeder Knopf wie Gold: —
Ihr merkt, es gilt dem Fürsten,
Dem alten Leopold.
2. All' Wissenschaft und Dichtung
Sein Lebtag er vermied,
Und sprach er je von „Richtung",
Meint' er in Reih und Glied;
Statt Opern aller Arten
Hatt' er nur einen Marsch,
Und selbst mit Schriftgelahrten
Verfuhr er etwas barsch.
3. Nicht möcht' er Phrasen türmen
Von Fortschritt, glatt und schön,
Er wußte nur zu stürmen
Die Kesselsdorfer Höhn;
Er hielt nicht viel vom Zweifel
Und wen'ger noch vom Spott,
Er war ein dummer Teufel
Und glaubte noch an Gott.
4. Ja, ja! er war im Leben,
Was man so „Schwachkopf" heißt,
Und soll ich Antwort geben,
Warum mein Lied ihn preist?
Nun denn, weil nie mit Worten
Er seine Feinde fraß,
Und weil ihm rechter Orten
So Herz wie Galle saß.
5. Wir haben viel vonnöten,
Trotz allem guten Rat,
Und sollten schier erröten
Vor solchem Mann der That;
Verschnittnes Haar im Schopfe
Macht nicht allein den Mann, —
Ich halt' es mit dem Zopfe,
Wenn solche Männer dran.
Theod. Fontane.
41. Seydlitz.
1. Herr Seydlitz auf dem Falben
Sprengt an die Front heran,
Sein Aug' ist allenthalben,
Er mustert Roß und Mann;
Er reitet auf und nieder
Und blickt so lustig drein,
Da wissen's alle Glieder:
Heut wird ein Tanzen sein.
*) Siehe Teil I (Sexta) S. 140.
335
2. Noch weit sind die Franzosen,
Doch Seydlitz will zu Ball;
Die gelben Lederhosen,
Sie sitzen drum so prall;
Schwarz glänzen Hut und Krempe,
Im Sonnenschein zumal,
Und gar die blanke Plempe
Blitzt selbst wie Sonnenstrahl.
3. Sie brechen auf von Halle,
Die Tänzer allbereit;
Bis Gotha hin zu Balle
Ist freilich etwas weit,
Doch Seydlitz, vorwärts trabend,
Spricht: „Kinder, wohlgemut!
Ich denk, ein luskger Abend
Macht alles wieder gut."
4. Die Nacht ist eingebrochen;
Zu Gotha auf dem Schloß,
Welch Tanzen da und Kochen
Im Saal und Erdgeschoß!
Die Tafel trägt das Beste
An Wein und Wild und Fisch, —
Da, ungeteilte Gäste
Führt Seydlitz an den Tisch.
5. Die Witz- und Wortspieljäger
Sind fort mit einem Satz,
Die Schwert- und Stulpenträger,
Sie nehmen hurtig Platz;
Herr Seydlitz bricht beim Zechen
Den Flaschen all den Hals —
Man weiß, das Hälsebrechen
Verstund er allenfalls.
6. Getrunken und gegessen
Hat jeder, was ihm scheint;
Dann heißt es: „Aufgesessen
Und wieder nach dem Feind!"
Der möchte sich verschnaufen
Und hält bei Roßbach an,
Doch nur, um fortzulaufen
Mit neuen Kräften dann.
7. Das waren Seydlitz' Späße.
Bei Zorndors galt es Zorn;
Als ob's im Namen säße,
Nahm man sich da aufs Korn;
Das slavische Gelichter —
Herr Seydlitz hoffte, traun,
Noch menschliche Gesichter
Aus ihnen zuzuhaun.
8. Des Krieges Blutvergeuden,
Die Fürsten kriegten's satt;
Nur Seydlitz wenig Freuden
An ihrem Frieden hat.
Oft jagt er drum vom Morgen
Bis in die Nacht hinein;
Es können dann die Sorgen
So schnell nicht hinterdrein.
9. Er kam nicht hoch zu Jahren,
Früh trat herein der Tod;
Könnt' er zu Rosse fahren,
Da hätt's noch keine Not;
Doch auf dem Lager balde
Hat ihn der Feind besiegt,
Der draußen auf der Halde
Wohl nimmer ihn gekriegt.
Theod. Fontane.
42. wie schön leuchtet der Morgenstern!
„Wie schön leuchtet der Morgen- Mit Thränen füllt sich jedesmal
stern!" Mein Auge, spiel' ich den
Hab' doch kein andres Lied so gern! Choral.
336
5 's war damals, als der alte Fritz
Noch stritt um Schlesiens Besitz;
Hier in den Schluchten lag sein Heer,
Der Feind dort auf den Höhn umher.
Da sah's im Dorf gar übel aus,
10 Die Scheuern leer, kein Brot im Haus,
Im Stalle weder Pferd noch Kuh,
Und vor dem Feind die Furcht dazu.
So hatt' ich eben eine Nacht
Mit Seufzen und Gebet durchwacht
15 Und stieg beim ersten Morgengraun
Den Turm hinauf, um auszuschaun,
Wie's draußen stund'; 's war still
umher,
Und ich sah keine Feinde mehr.
Da zog ich still mein Käpplein ab,
20 Dem lieben Gott die Ehre gab.
Horch! plötzlich trabt's ins Dorf herein,
Der Himmel woll' uns gnädig fein!
Ein alter Schnauzbart jagt im Trab
Nach meinem Haus, dort steigt er ab.
25 Kaum bin ich unten, schreit er: „Lauf,
Schließ mir geschwind die Kirche auf!"
Ich bat: „Bedenkt, 's ist Gottes Gut,
Was man vertraut hat meiner Hut,
Und Kirchenraub bestraft sich schwer."
30 Doch er schrie wild: „Was schwafelt Er?
Flink aufgeschlossen, sonst soll ihn" —
Schon wollt' er seinen Säbel ziehn,
Da dacht' ich bang an Weib und Kind
Und öffnete die Kirch' geschwind
35 Und trat dann zagend mit ihm ein;
Mein Weib schlich weinend hinterdrein.
Er ging vorüber am Altar,
Hinauf dann, wo die Orgel war;
Da stand er still: „Gesangbuch her!
40 Hier den Choral da spielet Er,
Und daß Sie brav die Bälge tritt!
Marsch! vorwärts jetzt und zögert nit!"
Ich fing mit einem Vorspiel an,
Wie ich's mein Lebetag gethan.
Da fiel der Alte grimmig ein: 45
„Was soll mir das Geklimper sein?
Hab' ich's denn nicht gesagt dem Herrn:
Wie schön leuchtet der Morgen-
stern!" —
„'s ist nur das Vorspiel!"—„Dummes
Zeug!
Was spielt Er denChoral nicht gleich?" 50
So spielt' ich denn, weil er's befahl,
Ganz ohne Vorspiel den Choral;
Der alte Schnauzbart sang das Lied,
Ich und mein Weib wir sangen mit.
Das Lied war aus, still faß der Mann, 55
Ein heißer Strom von Thränen rann
Ihm übers braune Angesicht,
Die funkelten wie Demantlicht.
Dann stand er auf und drückte mir
Die Hand und sprach: „Da, nehmt 60
das hier!"
Es war ein großes Thalerstück.
Ich wies das Geld beschämt zurück;
Er aber rief: „Was soll das, Mann?
Bei Gott, es klebt kein Blut daran!
Gebt's an die Armen in dem Ort!" 65
Drauf gingen wir zusammen fort.
Und noch im Gehen sprach er weich:
„Kein Lied kommt diesem Lied mir
gleich,
Es hat mich in vergangner Nacht
Zum lieben Gott zurückgebracht. 70
's rief gestern abend der Major
Vor unsrer Front: 'Freiwill'ge vor!
's soll ein verlorner Posten stehn
Dem Feinde nah, dort auf den Höhn;
Hat keiner Lust, hat keiner Mut?' 75
Das trieb mir ins Gesicht das Blut.
'Da müßten wir nicht Preußen sein!'
Ich rief's und trat rasch aus den
Reihn;
Drei meiner Söhne folgten mir:
'Gehst du, so gehen wir mit dir!' 80
So zogen wir nach jenen Höhn,
Um dort die ganze Nacht zu stehn.
Es blitzte hier, es krachte da,
Es war der Feind uns oft so nah,
85 Daß er uns sicherlich entdeckt,
Wenn uns nicht droben Der versteckt.
Ja, Mann, ich hab' so manche Nacht
Im Feld gestanden auf der Wacht,
Doch war mir nie das Herz so schwer, —
90 's kam nur von meinen Jungens her;
Ihr habt ja Kinder, — nun, da wißt
Ihr selbst, was Vaterliebe ist.
Drum hab' ich auch emporgeblickt
Und ein Gebet zu Gott geschickt.
95 Und wie ich noch so still gefleht,
Da ward erhört schon mein Gebet;
Denn leuchtend ging im Osten fern
Auf einmal auf der Morgenstern,
Und mächtig mir im Herzen klang
Ivo Der längst vergess'ne fromme Sang;
Hätt' gern gesungen gleich das Lied,
Doch schwieg ich, weil's uns sonst
verriet.
Zugleich fiel mir auch manches ein,
Was anders hätte sollen sein,
Vor allem, daß ich dieses Jahr
Noch nicht im Gotteshause war.
Das machte mir das Herz so schwer,
Das war's, das trieb mich zu Euch her."
Der Alte sprach's, bestieg sein Pferd
Und machte munter rechtsumkehrt. —
Seht, drum hab' ich das Lied so gern:
„Wie schön leuchtet der Morgenstern,"
Und spiel' noch heute jedesmal
Ganz ohne Vorspiel den Choral.
Und wenn ich spiel', sitzt immerdar
Mir dicht zur Seite der Husar;
Ich höre seinen kräft'gen Baß,
Und da — wird mir das Auge naß.
Julius Sturm.
43. Uettelbeck. Der Preuße in Lissabon.
Ein Bürgersmann von echtem Schrot und Korn,
Der noch als Greis, da Kolberg ward belagert,
Es unter Gneisenau verteid'gen half,
Doch jetzt begraben liegt seit lange schon —
Sein Name heißt Joachim Nettelbeck —
War einst als eines Schiffes Kapitän
In Lissabon und in bedrängter Lage.
Er wußte keine Ladung für sein Schiff,
Sah tief bekümmert in die Zukunft aus,
Gedachte trauernd all der lieben Seinen
Im fernen Preußenland. Geladen nun
Zu einem Schmaus bei einem Portugiesen,
Den er noch kaum von Ansehn kennt, geht still
Und düstren Sinns er seinen Weg. Am Platz
Erblickt er plötzlich — und er glaubt zu träumen,
Traut seinen Augen nicht, den staunenden —
Erblickt er — 's ist unglaublich! — Schildwach' stehn
Vor einem Zelt zwei preußische Soldaten.
Lesebuch für höhere Lehranstalten. (Preuß. Ausg.) III.
22
338
Zwei Grenadiere waren's, wie sie damals
20 Gekleidet gingen, majestätisch, steif,
Der Zopf nicht fehlte. Wie in Erz gegossen,
So standen die vor jenem Zelte da,
Und auf dem Zelte flattert Preußens Fahne.
Er denkt bei sich: Die mußt du rasch begrüßen!
25 Tritt aus sie zu, reicht ihnen froh die Hand —
Und sieht, — es sind Wachspuppen, gut gebildet.
„Ha!" ruft er aus, „wo solch ein Aushängschild
Gewählt ist worden, muß auch mehr noch stecken,
Was eines Preußen Herz erlaben kann!"
30 Und zahlt sein Eintrittsgeld und geht hinein.
Und drinnen nun erblickt er, welch Entzücken!
(Es war im Jahre siebzehnhundertachtzig)
Auf einem Throngerüst den alten Fritz,
Zum Sprechen ähnlich; und die Siegesgöttin
35 Und die Gerechtigkeit umschweben ihn.
Ringsum geschart stehn viele Portugiesen;
Sie hören lauschend, mit bewegtem Antlitz,
Die Thaten jenes preußischen Monarchen,
Die ein begeisterter Rhapsode schildert.
40 Da fasset unsern Nettelbeck das Heimweh;
Ihm pocht das Herz (so drückt er selbst sich aus)
Und hämmert ihm gewaltig in der Brust.
Nun stürzt er vor, wirft sich dem Bild zu Füßen;
Gebrochne Stimme, Auge voll von Thränen,
45 Gefaltet beide Hände, kniet er da
Und jauchzt: „Mein König! Ich bin auch ein Preuße!"
Ein Jubel füllt das Zelt, sie drängen sich
All' hin zu ihm, den Preußen anzuschau'n;
Sie drücken ihm die Hand, sie streicheln ihn,
50 Sie preisen laut den alten Fritz. Wie leuchten
Die Augen ihm! Wie reich nun schreitet er,
Arm wie er ist, von Volkes Schwarm umgeben,
Wie stolz hinaus: „Ja, ich bin auch ein Preuße!"
So bewegt in tiefster Seele
55 Kommt er zu dem großen Schmause.
Kapitäne vieler Schiffe
Trifft er in dem reichen Hause.
Sämtlich sind sie eingeladen
Zu dem wunderlichen Feste,
Und der Wirt bewirtet köstlich
Alle seine fremden Gäste.
Starke Weine fließen strömend,
Heiß wird jedem zugetrunken;
60
;
— 339 —
Bald ist einer nach dem andern
65 Selig untern Tisch gesunken.
Nur der Nettelbeck steht sicher,
Hat sich's heilig vorgenommen,
Sich bei Sinnen zu erhalten,
Und kein Glas mehr angenommen;
70 Sagt nur, ob man ihn bestürme,
Ihn ein schwächlich Männlein heiße:
„Nein, ich habe zur Genüge,
Und ich gab mein Wort als Preuße,
Keinen Tropfen trink' ich drüber!"
75 Als nun all die durst'gen Seelen
Schnarchend unterm Tische liegen,
Will sich Nettelbeck empfehlen;
Doch es spricht der Wirt: „Du bleibe!
Prüfen wollt' ich meine Leute,
80 Du nur, Preuße, hast bestanden.
Rüste du dein Schiff noch heute!
Solche Männer, fest und tüchtig,
Können mir Vertrau'n erwecken;
Du erhältst die reichste Ladung!"
Und fo wurde Nettelbecken 85
Mitten in der Armut Weh
Eine volle Ladung Thee
Und ein Frachtgebot von dreißig,
Sage dreißigtausend Thaler.
Jener war ein prompter Zahler; so
Und der Kapitän lud fleißig,
Stach bei hellem Sonnenschein
In die blaue See hinein.
Aber eh' er fortgeschwommen,
Hat er — wer verdenkt ihm das? — 95
Noch einmal das Zelt besuchet,
Wo der alte Fritze saß.
Karl v. Holtei.
44. Da« Lied Tom Schill.
1. Es zog aus Berlin ein tapferer Held,
Er führte sechshundert Reiter ins Feld,
Sechshundert Reiter mit redlichem Mut,
Die dürsteten alle Franzosenblut.
2. Auch zogen mit Reitern und Rossen im Schritt
Wohl tausend der tapfersten Schützen mit.
Ihr Schützen, gesegn’ euch Gott jeglichen Schuß,
Durch welchen ein Franzmann erblassen muß!
3. So zieht der tapfre, der mutige Schill,
Der mit den Franzosen sich schlagen will;
Ihn sendet kein Kaiser, kein König aus,
Ihn sendet die Freiheit, das Vaterland aus.
4. Bei Dodendorf färbten die Männer gut
Das Magdeburger Land mit französischem Blut,*)
Zweitausend zerhieben die Säbel blank,
Die übrigen machten die Beine lang.
5. Drauf stürmten sie Dömitz, das feste Haus,
Und jagten die Schelmenfranzosen heraus;
*) Der Sieg bei Dodendorf am 5. Mai 1809.
22
340
Dann zogen sie lustig ins Pommerland ein,
Da soll kein Franzose sein Kiwi!*) mehr schrei’n.
6. Auf Stralsund stürmte der reisige Zug —
0 Franzosen, verständet ihr Vogelflug!
0 wüchsen euch Federn und Flügel geschwind!
Es nahet der Schill, und er reitet wie Wind.
7. Er reitet wie Wetter hinein in die Stadt,
Die der Wallenstein weiland belagert hat,
Wo der zwölfte Karolus im Thore schlief.
Jetzt liegen ihre Mauern und Türme tief.
8. 0 weh euch, Franzosen! jetzt seid ihr tot,
Ihr färbet die Säbel der Reiter rot,
Die Reiter, sie fühlen das deutsche Blut,
Franzosen zu säbeln, das deucht ihnen gut.
9. 0 Schill, o Schill! du tapferer Held!
Was sind dir für bübische Hetze gestellt!
Viele ziehen zu Lande, es schleichet vom Meer
Der Däne, die tückische Schlange, daher.
10. 0 Schill, o Schill! du tapferer Held!
Was sprengst du nicht mit den Reitern ins Feld?
Was schließest in Mauern die Tapferkeit ein?
In Stralsund, da sollst du begraben sein.
11. 0 Stralsund, du trauriges Stralesund!
In dir geht das tapferste Herz zu Grund,
Eine Kugel durchbohret das treueste Herz,**)
Und Buben, sie treiben mit Helden Scherz.
12. Da schreiet ein frecher Franzosenmund:
„Man soll ihn begraben wie einen Hund,
Wie einen Schelm, der an Galgen und Rad
Schon fütterte Krähen und Raben satt."
13. So trugen sie ihn ohne Sang und Klang,
Ohne Pfeifenspiel und ohne Trommelklang,
Ohne Kanonenmusik und Flintengruß,
Womit man die Tapfern begraben muß.
*) Nach dem Französischen „Qui vive? Wer da?“
**) Schill fiel am 31. Mai 1809.
341
14. Sie schnitten den Kopf von dem Rumpf ihm ab
Und warfen den Leib in ein schlechtes Grab.
Da schläft er nun bis an den jüngsten Tag,
Wo Gott ihn zu Freuden erwecken mag.
15. Da schläft der fromme, der tapfre Held,
Ihm ward kein Stein zum Gedächtnis gestellt;
Doch hat er auch keinen Ehrenstein,
Sein Name wird nimmer vergessen sein.
16. Denn zäumet ein Reiter sein schnelles Pferd,
Und schwinget ein Reiter sein blankes Schwert,
So rufet er zornig: Herr Schill! Herr Schill!
Ich an den Franzosen Euch rächen will.
Ernst Moritz Arndt.
45. Die Opfer zu Wesel.
Generalmarsch wird geschlagen zu Wesel in der Stadt,
Und alle fragen ängstlich, was das zu deuten hat.
Da führen sie zum Thore hinaus, still, ohne Laut,
Die kleine Schar, die heiter dem Tod ins Antlitz schaut.
Sie hatten kühn gefochten mit Schill am Ostseestrand 5
Und gehn nun kühn entgegen dem Tod fürs Vaterland.
Sie drücken sich wie Brüder die Hand zum letzten Mal,
Dann stehn sie ernst und ruhig, die elfe an der Zahl.
Und hoch wirft Hans von Flemming die Mütze in die Luft;
„Es lebe Preußens König!" die Schar einstimmig ruft. 10
Da knattern die Gewehre, es stürzt der Braven Reih',
Zehn treue Preußen liegen zerrissen von dem Blei.
Nur einer, Albert Wedell, trotzt jenem Blutgericht;
Verwundet nur am Arme, steht er und wanket nicht.
Da treten neue Schergen, auch ihn zu morden, vor, 15
Und: „Gebet Achtung! — Fertig!" schallt's schrecklich ihm ins Ohr.
„O zielet" — ruft er — „besser! hier sitzt das deutsche Herz!
Die Brüder überleben ist mir der größte Schmerz!"
Kaum hat er's ausgesprochen, die Mörder schlagen an;
Durchbohrt von ihren Kugeln liegt auch der letzte Mann. 20
So starben tapfre Preußen, durch Schande nie befleckt,
Die nun zu ew'gem Ruhme ein Stein zu Wesel deckt.
M. Schmidt.
46. Die drei Gesellen.
1. Es waren drei Gesellen,
Die stritten wider'n Feind
Und thäten stets sich stellen
In jedem Kampf vereint.
Der ein' ein Österreicher,
Der andr' ein Preuße hieß,
Davon sein Land mit gleicher
Gewalt ein jeder pries.
Woher war denn der dritte?
Nicht her von Östreichs Flur,
Auch nicht von Preußens Sitte,
Von Deutschland war er nur.
2. Und als die drei einst wieder
Standen im Kampf vereint,
Da warf in ihre Glieder
Kartätschensaat der Feind.
Da fielen alle dreie
Auf einen Schlag zugleich;
Der eine rief mit Schreie:
„Hoch lebe Österreich!"
Der andre, sich entfärbend,
Rief: „Preußen lebe hoch!"
Der dritte ruhig sterbend,
Was rief der dritte doch?
47.
1. Ich bin Husar gewesen,
Ein preußischer Husar,
Zur Zeit, als der Franzose
Bei uns im Lande war.
2. Der König rief: Wir wollen
Das Vaterland befrein!
Und alle riefen wieder:
Wohlan, so soll es sein!
3. Da bliesen die Trompeten:
Husaren, aufgesetzt!
3. Er rief: „Deutschland soll leben!"
Da hörten es die zwei,
Wie rechts und links daneben
Sie sanken nah dabei;
Da richteten im Sinken
Sich beide nach ihm hin,
Zur Rechten und zur Linken,
Und lehnten sich an ihn.
Da rief der in der Mitten
Noch einmal: „Deutschland hoch!"
Und beide mit dem dritten
Riefen's und lauter noch.
4. Da ging ein Todesengel
Im Kampfgewühl vorbei,
Mit einem Palmenstengel,
Und liegen sah die drei.
Er sah auf ihrem Munde
Die Spur des Wortes noch,
Wie sie im Todesbunde
Gerufen: „Deutschland hoch!"
Da schlug er seine Flügel
Um alle drei zugleich
Und trug zum höchsten Hügel
Sie auf in Gottes Reich.
Friedr. Rückert.
von Anno 13.
Frisch auf! frisch auf! die Feinde
Zum Land hinausgehetzt!
4. Da gab's ein großes Treiben
Wohl über Berg und Thal,
Und vorwärts ging's, denn Vorwärts
War unser General.*)
5. Da haben wir gejaget
Durch Feld und Wald und Au'n,
Da haben wir gefochten,
Geschossen und gehau'n.
47. Der Husar
*) Blücher als „Marschall Vorwärts", vgl. Nr. 50.
343
6. Und wenn's um uns geblitzt hat,
Gedonnert und gekracht,
Juchhe! da hat uns allen
Das Herz im Leib gelacht.
7. Und wenn die Kugeln pfiffen,
Was machten wir uns draus?
Wir sind drauf los geritten,
Als ging's zum Kirmesschmaus.
8. Und unsers Königs Aufruf
Blieb uns ein heilig Wort;
Wir jagten die Franzosen
Aus unserm Lande fort.
9. Und ruft der König wieder,
Ich schwör's bei Bart und Haar,
Noch heute werd' ich wieder
Ein preußischer Husar.
Hoffmann von Fallersleben.
48. Auf Scharnhorsts Tod.
1. In dem wilden Kriegestanze
Brach die schönste Heldenlanze,
Preußen, euer General.
Lustig auf dem Feld bei Lützen
Sah er Freiheitswaffen blitzen,
Doch ihn traf der Todesstrahl.
2. „Kugel, raffst mich doch nicht
nieder!
Dien' euch blutend, werte Brüder;
Führt in Eile mich gen Prag!
Will mit Blut um Östreich werben;
Jst's beschlossen, will ich sterben,
Wo Schwerin im Blute lag."
5.. „Grüß euch Gott, ihr teuern
Helden!
Kann euch frohe Zeitung melden:
Unser Volk ist aufgewacht;
Deutschland hat sein Recht gefunden,
Schaut, ich trage Sühnungswunden
Aus der heil'gen Opferschlacht!"
6. Solches hat er dort verkündet,
Und wir alle stehn verbündet,
Daß dies Wort nicht Lüge sei.
Heer, aus seinem Geist geboren,
Jäger, die sein Mut erkoren,
Wählet ihn zum Feldgeschrei!
3. Arge Stadt, wo Helden kranken,
Heil'ge von den Brücken sanken,
Reißest alle Blüten ab.
Nennen dich mit leisen Schauern;
Heil'ge Stadt, nach deinen Mauern
Zieht uns manches teure Grab!
4. Aus dem irdischen Getümmel
Haben Engel in den Himmel
Seine Seele sanft geführt,
Zu dem alten deutschen Rate,
Den im ritterlichen Staate
Ewig Kaiser Karl regiert.
7. Zu den höchsten Bergesforsten,
Wo die freien Adler horsten,
Hat sich früh sein Blick gewandt;
Nur dem Höchsten galt sein Streben,
Nur in Freiheit konnt' er leben,
Scharnhorst ist er drum genannt.
8. Keiner war wohl treuer, reiner,
Näher stand dem König keiner,
Doch dem Volke schlug sein Herz.
Ewig auf den Lippen schweben
Wird er, wird im Volke leben,
Besser als in Stein und Erz.
Max v. Schenkendorf.
344
49. Die Leipziger Schlacht.
1. „Wo kommst du her in dem roten Kleid
Und färbst das Gras auf dem grünen Plan?" —
Ich komm' aus dem blutigen Männerstreit,
Ich komme rot von der Ehrenbahn:
Wir haben die blutige Schlacht geschlagen,
Drob müssen die Mütter und Bräute klagen,
Da ward ich so rot. —
2. „Sag' an, Gesell, und verkünde mir,
Wie heißt das Land, wo ihr schlugt die Schlacht?" —
Bei Leipzig trauert das Mordrevier,
Das manches Auge voll Thränen macht;
Da flogen die Kugeln wie Winterflocken,
Und Tausenden mußte der Atem stocken
Bei Leipzig, der Stadt. —
3. „Wie heißen, die zogen ins Todesfeld
Und ließen fliegende Banner aus?" —
Es kamen Völker aus aller Welt,
Die zogen gegen Franzosen aus,
Die Russen, die Schweden, die tapfern Preußen
Und die nach dem glorreichen Östreich heißen,
Die zogen all aus. —
4. „Wem ward der Sieg in dem harten Streit?
Wem ward der Preis mit der Eisenhand?" —
Die Welschen hat Gott wie die Spreu zerstreut,
Die Welschen hat Gott verweht wie den Sand;
Viele Tausende decken den grünen Rasen,
Die Übriggebliebnen entflohen wie Hasen,
Napoleon mit. —
5. „Nimm Gottes Lohn! habe Dank, Gesell!
Das war ein Klang, der das Herz erfreut!
Das klang wie himmlische Zimbeln hell,
Habe Dank der Mär' von dem blutigen Streit!
Laß Witwen und Bräute die Toten klagen!
Wir singen noch fröhlich in spätesten Tagen
Die Leipziger Schlacht.
t
— 345 —
6. O Leipzig, freundliche Lindenstadt,
Dir ward ein leuchtendes Ehrenmal!
Solange rollet der Jahre Rad,
Solange scheinet der Sonnenstrahl,
Solange die Ströme zum Meere reisen,
Wird noch der späteste Enkel preisen
Die Leipziger Schlacht." Ernst Moritz Arndt.
50. Vor Michers Standbild.
1. Hut ab, ihr Burschen! Habt Respekt vor einem deutschen Mann;
Der alte Marschall Vorwärts ist's, seht euch den Helden an
Und lernt von ihm, was deutscher Sinn und deutsche Treue heißt,
Und neigt das Haupt mit Demut tief vor seinem Heldengeist!
2. Das war ein Mann voll Mut und Kraft, ein echter Mann der That,
Fest, ehrenhaft und treu wie Gold, und jeder Zoll Soldat;
Im Kampfe wie ein Löwe kühn, so grimmig und so wild,
Doch gegen den besiegten Feind als wie ein Lamm so mild.
3. Die Katzbach, Jungen, kennt ihr doch 2 Dort war sein schönster Tag,
Da gab es Feinde übergenug, da traf wohl jeder Schlag;
Dort tanzte er dem Heer voran in lust'gem Siegeslauf.
„Heut, Vater Blücher, geht es gut!" — „'s kommt besser, paßt man auf!"
4. Und besser kam's. „Gewehre um! So spart ihr manchen Schuß."
Die Franzen hüpften dutzendweis gleich Fröschen in den Fluß.
An dreißigtausend kamen um, da war die Jagd vorbei;
Der Blücher wischte ab sein Schwert, und Schlesien war ftei.
5. Und dann bei Leipzig! Jungen, seht den Alten näher an!
Wer ihn und diesen Tag vergißt, der ist kein deutscher Mann.
Er war die Seele von dem Heer, er war das Herz der Schlacht,
Der Schlacht, die unsre Ketten brach und Deutschland ftei gemacht.
6. Dann vorwärts ging's, fort nach Paris, wo man den Frieden schloß,
Der, weil er gar zu zahm und mild, den Feldmarschall verdroß;
Er brummte zornig, und er zog die Heldenstirne kraus
Und fand nur im Gedanken Trost, daß noch das Ding nicht aus.
7. Und kurze Zeit, da war geschehn, was er sich wohl gedacht,
Da zog der greise Feldmarschall noch einmal in die Schlacht,
Bekämpfte mit dem Wellington den Feind bei Belle-Alliance
Und tanzte dort, mit Sieg gekrönt, den letzten Ehrentanz.
346
8. Und als er merkte, daß es bald mit seinem Leben aus,
Da trieb es ihn nach Rostock fort in seiner Eltern Haus;
Und dort sah man auch abends spät still auf dem Kirchhof ihn
In fromm-andächtigem Gebet an ihrem Grabe knien.
9. Und als er sterben ging, da sprach der Held: „Nun sterb' ich gern,
Ich bin nichts nutz mehr auf der Welt; geht, sagt das meinem Herrn,
Und sagt ihm, daß mich treu für ihn und für mein Vaterland,
Wie ich's im Leben immer war, die Sterbestunde fand.
10. Und ihr, die ihr von mir gelernt so manches in der Schlacht,
Lernt eines noch zuletzt von mir, woran ihr nicht gedacht —
Ich meine, wie man ruhig stirbt. Sargt ohne Prunk mich ein,
Und dort, wo die drei Linden stehn, will ich begraben sein."
Julius Sturm.
51. 1)n8 Yolk in Waffen.
1. Es braust ein Sturm durchs deutsche Land,
Vom Dünengras am Nordseestrand
Bis in des Schwarzwalds Föhren
Läßt er sein Sausen hören.
2. Er scheucht mich auf, er jagt mich her;
Fahr wohl, du weites, blaues Meer!
Muß heim, bei solchem Stürmen
Weib, Kind und Herd zu schirmen.
3. Die Straßen wie laut, die Wege wie eng
Yon Waffenlärm und Kriegsgedräng;
Die Losung allwärts eine:
Zum Rheine, zum heil’gen Rheine!
4. Durchs grüne Holstein geht die Fahrt,
Da kommen sie, truppweis geschart,
Die Enkel der Nordseeriesen,
Die blonden, blauäugigen Friesen.
5. Und als ich durchs stolze Hamburg fuhr,
Da herrschte Mars anstatt Merkur;
Noch denken die Hanseaten
Der alten Heldenthaten.
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6. Und über die Heide bei Lüneburg,
Die schwüle Wettemacht hindurch,
Erklangen die Fanfaren
Der lustigen Husaren.
7. Und als ich gen Hannover kam,
Weg war der alte Groll und Gram;
Gilt’s wider den Franzmann zu helfen,
Da trutzen sie nimmer, die Welfen.
8. Und als ich fuhr durchs Hessenland,
Die Kattenjugend in Waffen stand,
Dumpf dröhnten die Straßen von Kassel
Von nacht’gern Geschützegerassel.
9. Und wo von Leipzig mündet die Bahn,
Da brausten singend die Sachsen heran,
Da kamen in prächtigen Scharen
Die strammen Preußen gefahren.
10. Und geht’s so munter rechts vom Main,
Will’s Gott, wird’s links nicht schlechter sein;
Schon seh’ ich Dragoner rücken
Zu Frankfurt über die Brücken. *
11. Und auf der Bahn von Würzburg, schau,
Da wogt’s heran in hellem Blau,
Wie trügen’s die rüstigen Bayern,
Beim großen Raufen zu feiern?
12. Grüß Gott, mein schönes Heidelberg!
Leb wohl, der Musen Friedens werk!
Der Bursche vertauscht den Schläger
Mit der Büchse der tapferen Jäger.
13. Und nun mein Neckarthal entlang,
Nach Haus, mir wird so wohl und bang;
Zur Fahne eilen die Schwaben,
Und die Mütter segnen die Knaben.
14. Und wie ich betrete mein eigen Haus,
Da kommt ein junger Krieger heraus,
Da kommt mein Sohn mir entgegen:
„Grüß Gott, und gieb mir den Segen!"
I
— 348 —
15. So segne dich Gott mit fröhlichem Mnt
Und segne euch all, ihr wackeres Blut,
Und schütz’ euch im heiligen Kriege
Und führ’ euch zum herrlichen Siege!
16. Im heiligen Krieg mit dem alten Feind,
Zum herrlichen Sieg mit den Brüdern vereint,
Zieht aus denn in Gottes Namen,
Er helf euch und segne euch! Amen! Karl Gerok.
52. Gei Spichern.
1. Es reitet in der Sommernacht,
Da alles still geworden,
Ein Offizier durchs Feld der Schlacht,
Die Brust voll hoher Orden.
2. Da trifft er in dem Dämmerlicht,
Am Wege nach Saarbrücken,
Soldaten, die mit Kreuzen schlicht
Die Totenhügel schmücken.
3. Da hält der Reiter still im Thal
Und fragt die fleiß’gen Krieger.
„Hier ruht mein Chef, Herr General!"
Spricht ernst ein junger Sieger.
4. Da weint der greise Reitersmann,
Held Manstein, heiße Thränen,
Der Alsen einst im Sturm gewann
Im Kampfe mit den Dänen.*)
5. Ergriffen schaun die Krieger all
Auf den berühmten Reiter.
„Auf, schaufelt fort den hohen Wall!
Flink, flink, ihr wackern Streiter!
53. Gei Mars-!a-Tour.
1. Es brüllt die Schlacht von
Mars-la-Tour
Und hagelt Blei und Tod.
Dort stehn die Brandenburger nur
Und leiden große Not.
Da sprengt und ruft ein
Offizier
Durch Dampf und Donner durch:
„Vor, Halberstädter Kürassier’,
Und rettet Brandenburg!"
6. Der gestern euch zum Sieg
geführt,
Zum Heldentod erlesen,
Den ihr geliebt, wie sich’s gebührt —
Er ist mein Sohn gewesen!"
7. Da schaufeln sie die Erde fort
Und legen bloß die Leiche; —
Der Vater starrt dem Sohne dort
Ins Angesicht, ins bleiche.
8. Und als sie aus der Stadt ins
Thal
Mit schlichtem Sarg gelangen,
Da küßt bewegt der General
Dem Sohn die bleichen Wangen.
9. Dann steigt er wieder still zu
Roß;
Der Mond blitzt auf der Wehre.
Zur Heimat zieht der Leichentroß,
Der Vater still zum Heere.
Wilhelm Petsch.
*) Am 29. Juni 1864.
349
2. Sein Testament schreibt der
Major
Auf seinem Sattelknopf,
Die Reiter biegen weit sich vor
Bis auf den Pferdekopf.
Hell jauchzen die Trompeten anst
Und die Standarte fliegt.
„Marsch! Marsch! in Gottes Namen
drauf!
Haut ein, bis alles liegt!"
3. So geht es drauf. — Als
Schmettow sie
Zum Sammeln wieder ruft,
Ist stumm des Feindes Batterie,
Und Brandenburg hat Luft.
Doch was ist das? In Frankreich
hat
Es im August geschneit?
Da liegt das halbe Halberstadt
Im weißen Waffenkleid.
4. Da liegen sie, da schlafen sie
Den ehrenreichen Schlaf,
Wie sie der Blitz der Batterie,
Der Säbelhieb sie traf.
Doch über ihren Häuptern fliegt
Die Fahne hoch im Wind,
Und König Wilhelm hat gesiegt,
Und Deutschland, das gewinnt.
Verfasser unbekannt.
54. M Gravelotte.
1. Das war ein heißer, ein blutiger Tagt
Wohl manchem Helden das Auge brach.
Wie reifes Korn vor der Sense Wucht,
So sinken die Reihen hinab in die Schlucht.
Bataillone werden hinweggemäht,
Schwadronen vernichtet — die Schlacht, sie steht!
Mit Trauern sieht es der König.
2. Die Kugel zischt, die Granate kracht,
Die Mitrailleuse zerschmettert mit Macht;
Schon sind Regimenter in Splitter zerspellt,
Und immer neue rücken ins Feld;
Sie stürmen hinan die tödlichen Höhn,
Sie stürmen und fallen — die Schlacht bleibt stehn!
Mit Trauern sieht es der König.
3. Die Sonne neigt sich, — noch steht die Schlacht! —
Was dröhnt bort dumpf aus des Waldes Nacht?
In blauen Säulen, lautlos und stumm,
Bricht's vor und schwenkt sich mächtig herum.
Die Erde zittert — Feind, zitt're mit 1 —
Es ist der wuchtige Massenschritt
Der pommerschen Grenadiere.
350
s
4. In breiten Kolonnen, Mann an Mann,
Im Sturmschritt geht es die Höhen hinan.
Es kracht keine Salve, es fällt kein Schuß,
Bajonett und Kolben, sie machen den Schluß.
Die Schlacht rückt vorwärts, es weicht der Feind; —
Sie haben's ihm gar zu ernst gemeint,
Die pommerschen Grenadiere.
5. Und nun mit Hurra hinter ihm drein,
Und werft ihn vollends nach Metz hinein!
Kanonen noch blitzen durch die Nacht;
Das grause, das blutige Werk ist vollbracht:
Die Schlacht ist gewonnen, verloren Bazaine! —
Im Auge des Königs die Thränen stehn:
Gott lohn' euch, ihr tapferen Toten! Franz Iah
55. General Werder.
1. Bourbaki naht sich mit fliegender Hast,
Belfort, die Stadt, zu entsetzen;
Es läßt ihm im Herzen nicht Ruh noch Rast,
Von Metz die Scharte zu wetzen.
Er kommt mit gewaltiger Heeresmacht;
Er will durchbrechen die deutsche Wacht,
Will über den Rhein nach Deutschland hinein
Sich werfen mit seinen siegenden Reih'n.
2. Das höret der Werder, der graue Held.
Schnell sammelt er seine Scharen,
Die das Elsaß erobert und Straßburg gefällt,
Sie sollen die Grenzen wahren.
Aus Dijon bricht er hervor in Eil
Und schiebt sein Heer als wuchtigen Keil
Vor Belforts Thor dem Treskow vor —
Ein deutsches gegen vier fränkische Korps!
3. Kaum hat er gebaut den lebendigen Wall
Dem mächtigen Feinde entgegen,
Da dröhnt schon der fränkischen Trommeln Schall
Herüber auf allen Wegen.
Nun, deutsche Herzen, bewahret Mut!
Mit euren Leibern haltet die Hut
Und kämpft und wacht bei Tag und Nacht
Wider die fränkische Übermacht!
351
4. Drei Tage stürmten, ein brandendes Meer,
Heran die gallischen Säulen;
Drei Tage sandte das deutsche Heer
Sie heim mit Wunden und Beulen.
Und als an Werders eherner Wand
Bourbaki sich dreimal den Kopf zerrannt,
Da endlich sucht in wilder Flucht
Er Rettung vor deutscher Hiebe Wucht. —
5. Dank euch, ihr Helden, die fest und treu
Gehalten die Wacht am Rheine!
Dank eurem Führer! Er stand wie ein Leu
Auf hoher Warte alleine.
Sein Kaiser, er hat ihn hoch geehrt;
Germania reicht ihm Schild und Schwert;
Und Lied und Wort soll fort und fort
Den Werder preisen von Ort zu Ort! Franz Jahn.
56. Kaiser Wilhelm bei Krupp.
1. Der Kaiser kommt! Vernehmt es, ihr alle, Mann für Mann,
Ihn würdig zu empfangen, strengt euer Bestes an.
Er naht, der Held, der einstens mit scharfem Schwertesstreich,
Mit wucht'gem Hieb geschmiedet im Felde das Deutsche Reich.
2. So schallt bei Krupp in Essen der freudenvolle Ruf;
Man fragt: „Wie ehrt man würdig ihn, der das Reich erschuf?"
Im Feierkleide nimmer: „Am Amboß sollt ihr stehn,
Es soll in rüst'ger Arbeit der Held der Arbeit uns sehn."
3. Und wie er kommt, der Kaiser, da bricht es brausend los,
Es jubeln laut die Männer, und jubelnd aus dem Schoß
Der Feueresse schwingt sich die Flammenglut empor,
Die Funken sprühn, es schlagen die Hümmer den Takt im Chor.
4. Kanonenrohre, mächtig, und Schienen und Schiffsbelag,
Erstehn aus der Schmiede Händen gleichwie auf Zauberschlag.
Und wie er sinnend schauet die Kraft und das Geschick,
Weilt auf dem Riesenhammer voll Staunen des Kaisers Blick.
5. „Gewaltig Werk! Doch sagt mir, wie bändigt ihr die Kraft,
Daß nicht herniederschmetternd der Hammer Verderben schafft?"
Da hält der Schmied den Hammer: „Gesorgt ist, Majestät,
Daß fest er, wo Ihr gebietet, auf Haaresbreite steht.
352
6. Er knackt die Nuß auf dem Amboß, der Kern bleibt unverletzt."
„Wohl, kannst du solches leisten, mein Schmied, bewähr' es jetzt!
Die goldne Uhr hier, die ich in zwanzig Schlachten trug,
Dein ist sie, wenn dein Hammer sie nicht zu Staub zerschlug.
7. Das sei die Nuß auf dem Amboß. Nun schlag' und triff sie nicht!"
Rasch stellt der Schmied den Zapfen, zieht los — und das Gewicht
Des Hammers saust hernieder, berührt die Uhr ums Haar,
Hält an, steigt auf — da liegt sie, goldstrahlend, hell und klar.
8. „Dank wackrer Schmied! Dein ist sie und dein des Kaisers Dank!
Euch allen Dank, die schaffen im Werke, frisch und stank.
So wirket freudig weiter mit Kraft und Maß zugleich,
Steht treulich einer für alle und alle für Kaiser und Reich."
E. Schauenburg.
II. Lyrische Dichtung.
57. Grüß Gott!
1. „Grüß Gott!" aus deutschem
Wie herzig klingt der Gruß! Munde
Auf heimatlichem Grunde
Fühlt wieder sich mein Fuß;
„Grüß Gott!" ich komm' als Wandrer
Aus fernen Landen her,
Doch tönt so lieb kein andrer,
Kein Gruß der Welt wie der!
2. Italische Zunge grüßte
Melodisch mich und weich,
Der bärtige Sohn der Wüste
Sprach: „Friede sei mit euch!"
Ich hörte Palmen rauschen,
Ich sah den Lorbeer stehn:
Nun darf ich wieder lauschen
Der deutschen Linde Wehn.
3. „Grüß Gott!" mir hat's geklungen
So freundlich und so fromm,
Als wie von Engelzungen
Ein himmlischer Willkomm;
So wunderlieblich segnet
Den Wandersmann der Gruß,
Wie wenn's ihm Blüten regnet
Vom Baum auf Haupt und Fuß.
4. „Grüß Gott!" das klingt am
Wie muntrer Lerchenton Morgen
Und scheucht des Wandrers Sorgen
Wie Nachtgewölk davon;
„Grüß Gott!" das tönt am Abend
Wie sanfter Drosselschlag
Und kühlt wie Tau so labend
Nach schwülem Arbeitstag.
5. „Grüß Gott" am Tag der
Er würze dir dein Brot! ^Freude:
„Grüß Gott" in Kreuz und Leide:
Er tröste dich in Not!
„Grüß Gott" uns all auf Erden
Mit seiner Gnade Strahl,
Bis wir ihn grüßen werden
Daheim im Himmelssaal!
Karl Gerok.
353
58. Halte PU, halte fest, halte aus!
1. Halte still in deinem Leide!
Trag' gefaßt, was Gott dir schenkt!
Sieh, er geht dir treu zur Seite,
Der des Lebens Steuer lenkt.
Die Getreuen allerenden
Mit dem Sieg er krönen will;
Auch die Leiden wird er wenden —
Halte still!
2. Halte fest an feinem Worte!
Seinem Rate mußt du trau'n;
Dann aus dunkler Leidenspforte
Führt er dich zu lichten Au'n.
O, er ist ein treuer Hirte,
Der die Seinen nicht verläßt;
Er macht leicht die schwere Bürde —
Halte fest!
3. Halte aus im Kampf des Lebens!
In den Stürmen fasse Mut,
Und du kämpfest nicht vergebens
Um der Menschheit höchstes Gut.
Sieh, die steilen, dunklen Bahnen
Führen zu dem Vaterhaus,
Freundlich wehen Friedensfahnen —
Halte aus!
Hofmann von Nauborn.
59. wenn der Herr ein Kreuze schickt.
1. Wenn der Herr ein Kreuze schickt,
Laßt es uns geduldig tragen!
Betend zu ihm aufgeblickt!
Er wird nicht uns Trost versagen.
Drum, es komme, wie es will,
In dem Herren bin ich still.
2. Ist auch oftmals unser Herz
Schwach und will gar wohl verzagen,
Wenn es in dem stärksten Schmerz
Keinen Tag der Freud' sieht tagen,
Sagt ihm: Komm' es, wie es will,
In dem Herren bin ich still.
3. Darum bitt' ich, Herr mein Gott,
Laß mich immer glaubend hoffen!
Denn dann kenn' ich keine Not,
Gottes Gnadenhand ist offen.
Drum, es komme, wie es will,
In dem Herren bin ich still.
Gedichtet am 22. Oktober 1872 von dem 12jährigen Schüler Ernst v. Will ich,
Lieblingslied Kaiser Friedrichs III.
Lesebuch für höhere Lehranstalten. (Preuß. Ausg.) m.
23
354
60. Cm geistlich Iöendlied.
1. Es ist so still geworden,
Verrauscht des Abends Wehn;
Nun hört man allerorten
Der Engel Füße gehn.
Rings in die Thäte senket
Sich Finsternis mit Macht —
Wirf ab, Herz, was dich kränket
Und was dir bange macht!
2. Es ruht die Welt im Schweigen,
Ihr Tosen ist vorbei,
Stumm ihrer Freude Reigen
Und stumm ihr Schmerzensschrei.
Hat Rosen sie geschenket,
Hat Dornen sie gebracht —
Wirf ab, Herz, was dich kränket
Und was dir bange macht!
3. Und hast du heut gefehlet,
O schaue nicht zurück;
Empfinde dich beseelet
Von freier Gnade Glück!
Auch des Verirrten denket
Der Hirt auf hoher Wacht —
Wirf ab, Herz, was dich kränket
Und was dir bange macht!
4. Nun stehn im Himmelskreise
Die Stern' in Majestät;
In gleichem, festem Gleise
Der goldne Wagen geht.
Und gleich den Sternen lenket
Er deinen Weg durch Nacht —
Wirf ab, Herz, was dich kränket
Und was dir bange macht!
Gottfr. Kinkel.
61. Mrndfriede.
1. Abend wird es wieder:
Über Wald und Feld
Säuselt Frieden nieder,
Und es ruht die Welt.
2. Nur der Bach ergießet
Sich am Felsen dort,
Und er braust und fließet
Immer, immer fort.
3. Und kein Abend bringet
Frieden ihm und Ruh,
Keine Glocke klinget
Ihm ein Rastlied zu.
4. So in deinem Streben
Bist, mein Herz, auch du:
Gott nur kann dir geben
Wahre Abendruh.
Hoffmann von Fallersleben.
62. Morgenlied.
1. Wer schlägt so rasch an die Fenster mir
Mit schwanken, grünen Zweigen?
Der junge Morgenwind ist hier
Und will sich lustig zeigen.
2. „Heraus, heraus, du Menschensohn!"
So ruft der kecke Geselle,
„Es schwärmt von Frühlingswonnen schon
Vor deiner Kainmerschwelle.
355
3. Hörst du die Käfer summen nicht?
Hörst du das Glas nicht klirren,
Wenn sie, betäubt von Duft und Licht,
Hart an die Scheiben schwirren?
4. Die Sonnenstrahlen stehlen sich
Behende durch Blätter und Ranken
Und necken auf deinem Lager dich
Mit blendendem Schweben und Schwanken.
5. Die Nachtigall ist heiser fast,
So lang' hat sie gesungen;
Und weil du sie gehört nicht hast,
Ist sie vom Baum gesprungen.
6. Da schlug ich mit dem leeren Zweig
An deine Fensterscheiben:
Heraus, heraus in das Frühlingsreich!
Er wird nicht lange mehr bleiben." Wilhelm Müllen
63. Schönheit der Natur.
1. Freuet euch der schönen Erde,
Denn sie ist wohl wert der Freud';
O, was hat für Herrlichkeiten
Unser Gott da ausgestreut!
2. Und doch ist sie seiner Füße
Reich geschmückter Schemel nur,
Ist nur eine schön begabte,
Wunderreiche Kreatur.
3. Freuet euch an Mond und Sonne
Und den Sternen allzumal,
Wie sie wandeln, wie sie leuchten
Über unsrem Erdenthal!
4. Und doch sind sie nur Geschöpfe
Von des höchsten Gottes Hand,
Hingesät auf seines Thrones
Weites, glänzendes Gewand.
5. Wenn am Schemel seiner Füße
Und am Thron schon solcher Schein,
O, was muß an seinem Herzen
Erst für Glanz und Wonne sein!
Philipp Spitts
64. Sonntags am Rhein.
1. Des Sonntags in der Morgen-
stund'
Wie wandert's sich so schön
Am Rhein, wenn rings in weiter
Rund'
Die Morgenglocken gehn!
2. Ein Schifflein zieht auf blauer
Flut,
Da singt's und jubelt's drein;
Du Schifflein, gelt, das fährt sich
gut
In all die Lust hinein?
23*
356
3. Vom Dorfe hallet Orgelton,
Es tönt ein frommes Lied,
Andächtig dort die Prozession
Aus der Kapelle zieht.
4. Und ernst in all die Herrlichkeit
Die Burg herniederschaut
Und spricht von alter, starker Zeit,
Die auf den Fels gebaut.
5. Das alles beut der prücht'ge
An seinem Rebenstrand Mein
Und spiegelt recht in hellem Schein
Das ganze Vaterland,
6. Das fromme, treue Vaterland
In seiner vollen Pracht,
Mit Lust und Liedern allerhand
Vom lieben Gott bedacht.
Robert Reinick.
65. Der Wald.
1. Wo Büsche stehn und Bäume
Voll tausend schöner Träume,
Und Laub und Gras und Blumenduft
Ringsum erfüllt die frische Luft:
Im Wald, im Wald,
Da ist mein Aufenthalt,
Mein liebster Aufenthalt.
2. Wo's lustig hüpft und springet,
Und schwirrt und ruft und singet,
Und nah und fern das Jagdhorn schallt,
Und nah und fern die Büchse knallt:
Im Wald, im Wald,
Da ist mein Aufenthalt,
Mein liebster Aufenthalt.
3. Wo's bald so stille lauschet,
Bald wunderseltsam rauschet,
Bald süß und süßer spielt und kost,
Bald wild und wilder saust und tost:
Im Wald, im Wald,
Da ist mein Aufenthalt,
Mein liebster Aufenthalt.
R. Chr. Tenner.
66. Waldlied.
1. Ein sanfter Morgenwind durchzieht
Des Forstes grüne Hallen,
Hell wirbelt der Vögel muntres Lied,
Die jungen Birken wallen.
2. Das Eichhorn schwingt sich von Baum zu Baum,
Das Reh durchschlüpft die Büsche,
Viel hundert Käfer im schattigen Raum
Erfreun sich der Morgenfrische.
3. Und wie ich so schreit' in dem lustigen Wald,
Und alle Bäum' erklingen,
Rings um mich alles singet und schallt:
Wie sollt' ich allein nicht singen?
357
4. Ich singe mit starkem, freudigem Laut
Dem, der die Wälder säet,
Der droben die luftige Kuppel gebaut
Und Wärm' und Kühlung wehet. K. E. Ebert.
67. Wanderlied.
1. Erwacht, erwacht! Schon dampft das Thal,
Schon taucht empor im Morgenstrahl
Ein Berghaupt nach dem andern.
O Lust, wenn rings die Welt noch schweigt,
Nur jubelnd eine Lerche steigt,
In goldener Frühe zu wandern.
2. Die Ährenfelder wogen sacht,
Es hebt sich das Land aus den Schleiern der Nacht,
Ein prangender Frühlingsgarten.
Aus wallenden Nebeln blitzt schimmernd der See,
Und drüben leuchten von waldiger Höh
Der Felsburg ragende Warten.
3. „Hol' über, Freund Fährmann!" Schon gleitet der Kahn
Dahin auf der glitzernden Wasserbahn,
Auf dunkelsmaragdenem Grunde.
Die Nebel steigen im Morgenwehn,
Und rings an den blühenden Ufern gehn
Die Glocken in weiter Runde.
4. Wir stoßen zum Strande, wir steigen hinan,
Hinan durch den dunklen, den schweigenden Tann,
Die Trümmer der Waldburg zu grüßen.
O kühnes Begehren, o wonniges Graun,
Vom Turm in die schwindelnde Tiefe zu schaun,
Die rauschenden Wipfel zu Füßen!
5. Empor in die Berge so licht und so frei,
Empor, an dem tosenden Wildbach vorbei,
Auf dem Felspfad, dem flutenbestüubten!
Ich grüß' dich, du schweigende Bergeinsamkeit,
Tief unten die Lande so still und so weit,
Und die strahlende Sonne zu Häupten.
358
6. Hinauf bis zur Spitze mit klopfender Brust!
Schon schwing' ich mein Hütlein in jubelnder Lust,
Als könnt' in den Himmel ich greifen,
Und jauchz' in den tiefblauen Äther hinein:
O selig, ein fröhlicher Wandrer zu sein,
Die herrliche Welt zu durchschweifen! Julius Lohmeyer
68. Wanderlied.
1. Wohlauf, noch getrunken
Den funkelnden Wein!
Ade nun, ihr Lieben!
Geschieden muß sein.
Ade nun, ihr Berge,
Du väterlich Haus!
Es treibt in die Ferne
Mich mächtig hinaus.
2. Die Sonne, sie bleibet
Am Himmel nicht stehn;
Es treibt sie, durch Länder
Und Meere zu gehn.
Die Woge nicht haftet
Am einsamen Strand,
Die Stürme, sie brausen
Mit Macht durch das Land.
3. Mit eilenden Wolken
Der Vogel dort zieht
Und singt in der Ferne
Ein heimatlich Lied.
So treibt es den Burschen
Durch Wälder und Feld,
Zu gleichen der Mutter,
Der wandernden Welt.
4. Da grüßen ihn Vögel
Bekannt überm Meer,
Sie flogen von Fluren
Der Heimat hierher;
Da duften die Blumen
Vertraulich um ihn,
Sie trieben vom Lande
Die Lüfte dahin.
5. Die Vögel, die kennen
Sein väterlich Haus,
Die Blumen einst pflanzt’ er
Der Liebe zum Strauß,
Und Liebe, die folgt ihm,
Sie geht ihm zur Hand:
So wird ihm zur Heimat
Das ferneste Land.
Justinus Kerner.
69. Der Zigeunrrbube im Norden.
1. Fern im Süd das schöne Spanien,
Spanien ist mein Heimatland,
Wo die schattigen Kastanien
Rauschen an des Ebro Strand,
Wo die Mandeln rötlich blühen,
Wo die heiße Traube winkt,
Und die Rosen schöner glühen,
Und das Mondlicht goldner blinkt.
2. Und nun wandr'ich mit der Laute
Traurig hier von Haus zu Haus,
Doch kein helles Auge schaute
Freundlich noch nach mir heraus.
Spärlich reicht man mir die Gaben,
Mürrisch heißet man mich gehn;
Ach, den armen braunen Knaben
Will kein einziger verstehn.
359
3. Dieser Nebel drückt mich nieder,
Der die Sonne mir entfernt,
Und die alten, lust'gen Lieder
Hab' ich alle fast verlernt.
Immer in die Melodieen
Schleicht der eine Klang sich ein:
In die Heimat möcht' ich ziehen,
In das Land voll Sonnenschein!
4. Als beim letzten Erntefeste
Man den großen Reigen hielt,
Hab' ich jüngst das allerbeste
Meiner Lieder aufgespielt.
Doch wie sich die Paare schwangen
In der Abendsonne Gold,
Sind auf meine dunkeln Wangen
Heiße Thränen hingerollt.
5. Ach, ich dachte bei dem Tanze
An des Vaterlandes Lust,
Wo im duft'gen Mondenglanze
Freier atmet jede Brust,
Wo sich bei der Zither Tönen
Jeder Fuß beflügelt schwingt,
Und der Knabe mit der Schönen
Glühend den Fandango*) schlingt.
6. Nein! des Herzens sehnend
Schlagen,
Länger halt' ich's nicht zurück;
Will ja jeder Lust entsagen,
Laßt mir nur der Heimat Glück!
Fort zum Süden! fort nach Spanien!
In das Land voll Sonnenschein!
Unterm Schatten der Kastanien
Muß ich einst begraben sein.
Emanuel Geibel.
70. Heimkehr.
1. Seh' ich dich wieder, mein Vaterhaus!
Die ganze Natur bricht in Jubel aus,
Alle Büsche und Bäume klingen und blühn,
Die schwellenden Wiesen blitzen und glühn,
Die Blumen duften, die Drossel schlügt,
Als fühlten sie mit, was mein Herz bewegt.
2. Ich blicke dankend zum Himmel empor,
Hell jubelnd schmettert der Lerchen Chor,
Und wie Wanderburschen lustig und frei
Ziehn oben die lichthellen Wölkchen vorbei,
Und Käfer und Bienen umschwirren mich,
Als wären sie alle so glücklich wie ich.
3. Die Mütze mit Eichengrün umlaubt,
Ich schwinge sie jubelnd empor vom Haupt,
Und den Stab hoch in der andren Hand
Grüß' ich Vaterhaus und Heimatland.
Schon seh' ich die Mutter, — wie wallt mir die Brust!
O Stunde der Heimkehr, o seligste Lust!
Friedr. Badenstedt
*) Spanischer Tanz.
360
71. Zn -er Heimat.
\
1. Wo blühen die Blumen so schön,
Wo singen die Vöglein so hell,
Wo rauscht von den felsigen Höhn
So munter der plätschernde Quell,
Wo leuchtet so golden der Sonne
Strahl
Wie hier im Thal?
2. Wo stehen die Hütten gebaut
So friedlich im sonnigen Grund,
Wo klingen so lockend und traut
Die Worte der Liebe vom Mund,
Wo grüßt so freundlicher Augen
Strahl
Wie hier im Thal?
3. Hab' fröhlich durchwandert die
Welt,
Und viel ist mir Holdes geschehn;
Was Augen und Ohren gefällt,
Ich hab' es gehört und gesehn;
Doch grüß' ich vor allem viel tausend-
mal
Mein Heimatthal.
Julius Sturm.
72. Mein Heimatland.
1. Von des Rheines Strand, wo die Rebe blüht,
Bis zur Weichsel, die gen Norden zieht;
Von der Alpe Rand, frei und felsenfest,
Bis zur Möve wildem Felsennest:
Liegt ein schönes Land, 's ist mein Heimatland,
's ist mein liebes, deutsches Vaterland.
2. Wo die Eiche kühn auf gen Himmel strebt,
Und die Treue tief im Herzen lebt;
Wo der Buche Grün um uns Tempel baut,
Und die Lieb' aus jeder Hütte schaut:
Ach, dies schöne Land ist mein Heimatland,
Ist mein liebes, deutsches Vaterland.
3. Auf, du deutsches Land, wahre deutschen Mut,
Deutsche Treu' und deutscher Liebe Glut!
Wehre welschem Tand, Trug und Heuchelschein,
Laß sie fern von deinen Hütten sein!
Fern von dir, o Land, du mein Heimatland,
Du mein liebes, deutsches Vaterland. K. v. Niebusch.
73. Abschied von -er Heimat.
1. Nun ade, du mein lieb Heimatland,
Lieb Heimatland, ade!
Es geht jetzt fort zum fremden Strand,
Lieb Heimatland, ade!
361
Und so sing' ich denn mit srohem Mut,
Wie man singet, wenn man wandern thut,
Lieb Heimatland, ade!
2. Wie du lachst mit deines Himmels Blau,
Lieb Heimatland, ade!
Wie du grüßest mich mit Feld und Au'.
Lieb Heimatland, ade!
Gott weiß, zu dir steht stets mein Sinn;
Doch jetzt zur Ferne zieht's mich hin,
Lieb Heimatland, ade!
3. Begleitest mich, du lieber Fluß,
Lieb Heimatland, ade!
Bist traurig, daß ich wandern muß,
Lieb Heimatland, ade!
Vom moos'gen Stein am wald'gen Thal,
Da grüß' ich dich zum letzten Mal,
Mein Heimatland, ade! A. Disselhof.
74. FrühUngslied.
1. Was ist das für ein Ahnen
So heimlich süß in mir?
Was ist das für ein Mahnen:
Heraus! heraus mit dir!
Du Träumer, aus der Wintergruft
Heraus! heraus zur Frühlingsluft!
Heraus!
2. Der rote Finke picket
Ans Fenster wunderlich
Und blickt mich an und nicket,
Als grüßt' er freundlich mich
Und rief': „Du finstres Menschenkind,
Heraus zum frischen Morgenwind!
Heraus!"
3. Sahst du das Hirtenknäblein,
Den Lenz, du kleiner Wicht?
Zerbrich mit deinem Schnäblein
Mir nur das Fenster nicht!
Trieb er schon aus dem Weidenhaus
Die Silberschäfchen klein und kraus
Heraus?
4. Du meinst: Die Fischlein springen
Am warmen Uferrand,
Wir wollten aber singen
So frei durchs ganze Land,
Durch grünen Zaun und Blütenbusch,
Durch Wälder und durch Auen, husch
Hinaus?
5. Ade, mein Frühlingsbote!
Laß mich, laß mich allein!
Grämt' ich mich auch zu Tode,
Bei dir könnt' ich nicht sein!
Denn deine Flügel fehlen mir:
Wie gerne flög' ich doch mit dir
Hinaus!
Julius Mosen.
862
75. Frühling überall.
1. An meinem Fenster sang der Fink:
„Heraus ins Freie, frisch und flink!
Der Frühling ist ja gekommen!"
Ich ging noch in der Mauern Kluft,
Da kam schon leis und lau die Luft
Entgegen mir geschwommen.
2. Und wie ich schreite durch das Thor,
Steigt jubelnd eine Lerch' empor,
Als flog' sie in den Himmel.
Lustwandelnd lenk' ich querfeldein,
Blauveilchen duftet schon am Rain,
Am Bach die goldne Primel.
3. Wohin ich schau', die Bäume weiß,
Und laubig schon der Busche Reis
Und sammetgrün die Halde.
Und wie ich wieder steh' und horch',
Am Weiher klappert laut der Storch,
Der Kuckuck ruft im Walde.
4. So lug' und lausch' ich, bis von fern
Am Himmel blinkt der Abendstern
Und rings die Glocken gehen.
Nun tracht' ich heim, o Nachtigall,
Da bringt mir deines Liedes Hall
Der Nachtluft sanftes Wehen.
5. Und so ich nochmals rückwärts schau',
Erglühen Wald und Strom und Au'
Im goldnen Abendröte. —
O Finke, des gedenk' ich lang,
Wie mich herausgelockt dein Sang,
Du lieber Frühlingsbote. Friedrich Gült.
76. Sommerstille.
1. Die Sonne brennt, des Himmels
Blau
Erglänzt so hell dort oben.
Voll goldner Saaten glänzt die Au',
Mit Wiesengrün durchwoben.
2. So feierlich darüber geht
Geheimnisvolles Wallen.
Es rauscht kein Blatt; kein Lüftchen
weht;
Kein Vogellied will schallen.
3. Soweit, soweit das Auge reicht,
Herrscht stiller Gottesfrieden,
Und alles ruht und alles schweigt,
Als wandle Gott hienieden.
4. Wie zum Gebete neigen sich
Die goldnen Halme nieder
Und wogen still und feierlich
Voll Andacht hin und wieder.
5. O hohe, heil'ge Himmelsruh,
Geheimnisvolles Wallen!
Ich muß vor dir, o Vater du,
Anbetend niederfallen.
Georg Christ. Dieffenbach.
77. Das Ährenfeld.
1. Es regt auf dem reifenden Korngesild
Sich kaum ein Lüftchen leis und mild;
Wie fromme Beter, still beglückt,
Im Gotteshause stehn gebückt,
So scheinen, von ihrem Segen trunken,
Die Ähren im Gebet versunken.
2. Und zwischen ihnen dort und hier
Der blauen Blümchen süße Zier,
Als ob ein jedes hold und hehr
Ein Liebesblick des Himmels wär';
Drum mag die Lerche mit frommem Vertrauen
Bei ihnen gern ihr Nestlein bauen.
3. Hier wohnet sie in Demut still;
Doch wenn sie zum Schöpfer reden will,
Schwingt sie sich auf und singt ihr Lied,
Wo sie nur Gottes Auge sieht,
Und wer sie höret ihr Hochamt halten,
Den drängt es, betend die Hände zu falten.
4. Dein Segen, Herr, wie reich und hold!
Wie lacht und glänzt der Ähren Gold!
O, gieb den Armen ihr täglich Brot
Und lindre ihre Sorg' und Not,
Daß froh, wie Lerchengesänge schweben,
Sich aller Seelen zu dir erheben. Julius Hammer.
364
78. Vas Gewitter.
1. Ihr Kinder, kommt herein vom Spiel,
Die Lüfte wehn so dumpf und schwül,
Die Wolken stehn so schwarz zuhauf,
Ein schwer Gewitter zieht herauf:
Behüt' uns Gott in Gnaden!
Schauet, schon kommen die Winde geflogen,
Himmelan wirbelt erstickender Staub,
Pappeln erbrausen, vom Sturme gebogen,
Silbern erzittert das rauschende Laub;
Dampfend noch in die geöffnete Scheuer-
Ziehen die Rosse das duftende Heu,
Und in dem Neste am Giebelgemäuer
Duckt sich das Vögelein schweigend und scheu.
2. Ihr Kinder, duckt euch nicht so scheu,
Seid unverzagt, kommt all herbei,
Ein treues Vaterauge wacht
Auch über schwarzer Wolkennacht. —
Behüt' uns Gott in Gnaden!
Sehet, wie schaurig die Lüfte sich schwärzen,
Mittag verkehrt sich in dämmernde Nacht;
Stille wird's draußen, es klopfen die Herzen,
Mächtige Tropfen schon melden sich sacht;
Plötzlich ein Blitz, der mit feuriger Lohe
Blendet das Aug' und erhellt das Gemach,
Und durch das Himmelsgewölbe, das hohe,
Rollet der Donner mit dumpfem Gekrach.
3. Ihr Kinder, fleht zum starken Gott:
Erbarme dich, Herr Zebaoth!
In Donnerhall und Blitzesschein
Vertrauen dir die Kindlein dein;
Behüt' uns Gott in Gnaden!
Habt ihr die feurige Schlange gesehen?
Hört ihr den plötzlichen, schmetternden Streich?
Ist in der Stadt wo ein Unglück geschehen?
Wimmert vom Turme das Glöcklein sogleich?
Nein, es ist stille; — auf feurigem Wagen
Fuhr uns im Wetter Jehovah vorbei;
Aber nicht wollt' er mit Jammer uns schlagen,
Denn er ist gnädig, barmherzig und treu.
365
4. Ihr Kinder, fleht im Blitzeslicht:
Herr, geh mit uns nicht ins Gericht!
Mit Wetterschlag und Feuersnot
Verschon', verschon' uns, lieber Gott!
Behüt' uns Gott in Gnaden!
Wo jetzt im Feld sich ein Wandrer noch eilet,
Fern auf der Heide noch hütet ein Hirt,
Unter dem Baum sich ein Mähder verweilet,
Weinend im Wald sich ein Kind hat verirrt:
Laßt uns der Fernen, Verlassenen, Armen
Betend gedenken im sichern Gemach,
Schütze der Herr sie mit mildem Erbarmen
Unterm unendlichen himmlischen Dach!
5. Ihr Kinder, ruft zur Himmelshöh:
Du Herrscher über Land und See,
Den Pilger schütz' in Sturmesnot,
Auf wildem Meer das schwanke Boot!
Behüt' uns Gott in Gnaden!
Siehe, nun stürzen die himmlischen Quellen,
Strömend ergießen die Wolken den Schoß;
Dächer, sie traufen, und Bäche, sie schwellen,
Alle die Schleusen des Himmels sind los;
Dämmernd verschwindet im düsteren Regen
Himmel und Erde, die weite Natur;
Aber den süßen, befruchtenden Segen,
Durstig verschluckt ihn die lechzende Flur.
6. Ihr Kinder, lobt den Herrn der Welt,
Er tränkt die Flur, er labt das Feld,
Er schmückt das Blümlein, speist den Wurm
Und segnet auch im Wettersturm. —
Behüt' uns Gott in Gnaden!
Milder schon fallen die silbernen Tropfen,
Munter schon zwitschert ein Sperling vom Dach,
Frisch in der Werkstatt vernimmt man das Klopfen,
All das verschüchterte Leben wird wach.
Fern am Gebirge, dahin er gezogen,
Murrt noch der Donner, ein fliehender Leu;
Aber am Himmel der leuchtende Bogen
Kündet's der Erde: Der Herr ist getreu!
366
7. Ihr Kinder, auf, hinaus ins Feld!
Wie weht's und duftet's durch die Welt!
Wie glänzt die Luft, wie perlt die Flur!
Hab' Dank, o Herr der Kreatur!
Behüt' uns Gott in Gnaden! Karl Gerok.
79. Der Regenbogen.
1. Das Wetter zieht hernieder
An ferner Bergeswand;
Die Vöglein singen wieder,
Frisch duftet Flur und Land;
Am Himmel, noch umzogen
Vom grauen Wolkenflor,
Thut schon der Regenbogen
Mildleuchtend sich hervor.
2. Er steht mit einem Fuße
Im nassen Wiesengras;
Das brennt im goldnen Gusse
Wie feuriger Topas;
Er schwingt gleich einer Brücken
Von lauter Edelstein
Am dunklen Waldesrücken
Sich in die Luft hinein.
3. Und in den Wolken schimmert's
Wie mit Juwelenschrift,
Und auf den Gräsern flimmert's
Mich an von Flur und Trift:
„Herz, traue deinem Retter,
Der seines Bunds gedenkt
Und Sonnenschein auf Wetter
Und Trost in Thränen schenkt!"
Karl Gerok.
80. Herbst.
1. Schon ins Land der Pyramiden
Flohn die Störche übers Meer;
Schwalbenflug ist längst geschieden,
Auch die Lerche singt nicht mehr.
2. Seufzend in geheimer Klage
Streift der Wind das letzte Grün;
Und die süßen Sommertage,
Ach, sie sind dahin, dahin!
3. Nur noch einmal bricht die Sonne
Unaufhaltsam durch den Duft,
Und ein Strahl der alten Wonne
Rieselt über Thal und Kluft.
4. Und es leuchten Wald und Heide,
Daß man sicher glauben mag,
Hinter allem Winterleide
Lieg' ein ferner Frühlingstag.
Theod. Storm.
81. Winternacht.
1. Verschneit liegt rings die ganze
Welt, "
Ich hab' nichts, was mich freuet;
Verlassen steht der Baum im Feld,
Hat längst sein Laub verstreuet.
2. Der Wind nur geht bei stiller
Nacht
Und rüttelt an dem Baume,
Da rührt er seinen Wipfel sacht
Und redet wie im Traume.
367
3. Er träumt von künftiger Frühlingszeit,
Von Grün und Quellenrauschen,
Wo er im neuen Blütenkleid
Zu Gottes Lob wird rauschen. Joseph v. Eichendorff.
82. Im Vaterland.
1. Der Lieder Lust ist mir erwacht,
Wer hat mir solchen Lenz gebracht? —
Das Vaterland!
Ich schweifte in der Welt umher
Zum schönen Süden übers Meer;
Doch was ich nirgend wiederfand:
Dein Odem war's, o Vaterland!
2. Und ach, des Südens Wunderglanz
Verdunkelte dem Auge ganz
Das Vaterland!
Ich glaubt', in solchem Sonnenschein
Da müßt' ich ewig glücklich sein,
Und vor den trunknen Sinnen schwand
Dein treues Bild, mein Vaterland!
3. Wie sang der lieben Vöglein Schar
Im Frühling doch so hell und klar
Im Vaterland!
So singen sie dort draußen nicht,
Dort strahlt der Tag zu heiß und licht;
Drum haben sie sich fortgewandt
Zu dir, mein grünes Vaterland!
4. Auch ich sang einst aus frischer Brust
In deines Frühlings milde Lust,
Mein Vaterland!
Der Süd hat mir kein Lied gebracht,
An Frühling hab' ich kaum gedacht,
Ein Zauber hielt mein Herz umspannt,
Du löstest ihn, o Vaterland!
5. Was hilft doch alle Herrlichkeit,
Giebt Lieb' und Treu' nicht das Geleit,
O Vaterland!
368
Du gabst sie, als ich von dir schied,
Mir als den besten Segen mit;
Die haben mir das Herz gewandt
Zurück zu dir, mein Vaterland! Robert Rein ick
(Gekürzt.)
83. Lin Volkein Herz, ein Yaterland.
1. Ob wir in Not und Schmach versunken,
In blut’gem Hader uns entzweit,
Uns blieb ein lichter Gottesfunken —
Der Traum der deutschen Herrlichkeit;
Und häuften sich die Leidenstage,
Daß schon der Treusten Hoffnung schwand,
Fort klang’s wie eine heil’ge Sage:
Ein Yolk, ein Herz, ein Vaterland!
2. Das klang durch unsre schönsten Lieder,
Das traf die deutsche Brust mit Macht,
Von Strom und Bergen hallt es wieder,
An unsern Marken hielt es Wacht.
Und als des Kampfes wilde Flammen
Entlohten von verruchter Hand,
Da standen endlich wir zusammen,
Ein Yolk, ein Herz, ein Vaterland!
3. Und herrlich ist das Werk gelungen,
Der Feind geworfen in den Staub,
Mit unserm Blut ihm abgerungen
Der nie verjährte schnöde Raub;
Des Sieges volle Kränze schlingen
Um uns ein unzerreißbar Band —
Nun soll’s in Ewigkeit erklingen:
Ein Yolk, ein Herz, ein Yaterland!
Albert Träger.
84. Kriegslied.
1. Und wenn uns nichts mehr übrig blieb,
So blieb uns doch ein Schwert,
Das zorngemut mit scharfem Hieb
Dem Trutz des Fremdlings wehrt;
So blieb die Schlacht als letzt Gericht
Auf Leben und auf Tod;
Und wenn die Not nicht Eisen bricht —
Das Eisen bricht die Not.
369
I
2. Wohlauf, du kleine Schar, wohlauf!
Vertrau auf Gott den Herrn!
Es geht ein Stern am Himmel auf,
Das ist der Freiheit Stern.
Als wie ein Frühlingssturm erbraust
Der Völker Aufgebot;
Da fährt ans Eisen jede Faust —
Das Eisen bricht die Not.
3. Und ob der fremden Söldner Schar
Wie Dünensand sich mehrt:
Getrost, je größer die Gefahr,
Je höher Herz und Schwert!
Und ob aus seiner Höllenburg
Der Teufel selber droht,
Ein kühner Mut geht mitten durch —
Das Eisen bricht die Not.
4. Schon hallt des Feinds Trompetenruf,
Kanonen brummen drein —
Wohlauf, wohlauf mit raschem Huf
In seine Lanzenreihn!
Es klingt der Stahl, es steigt der Brand,
Die Bronnen springen rot —
So grüß dich Gott, mein deutsches Land!
Das Eisen bricht die Not. Emanuel Geibel.
85. Marschgesang. (18. Juli 1870.)
1. Nun weg mit Feder und Papier,
Und Säbel her und Flinte!
Die deutschen Noten schreiben wir
Mit Stahl und roter Tinte.
2. Die deutsche Landessprache kunnt'
Der Franzmann nicht begreifen —
Nun brüllt sie der Kanonenmund,
Die Kugel soll sie pfeifen!
3. Und daß das Lied ihn richtig packt,
Frisch auf, ihr Kriegerscharen,
So schlagt dazu den richt'gen Takt,
Dragoner und Husaren!
Lesebuch für höhere Lehranstalten. (Prenß. Ausg ) III.
24
370
4. Du kannst kein Deutsch — wir lehren's dich!
Marschiere, Feind, marschiere!
Und ihr macht den Gedankenstrich
Recht derb, ihr Kürassiere!
5. Wie Deutsch man schreibt, das lernt ihr heut',
Französische Soldaten!
Flugs auf die blut'ge Schrift gestreut
Als Streusand die Granaten!
6. Ulanen her in flottem Trab!
Herbei mit euren Lanzen!
Ihr haltet mit dem langen Stab
Die Ordnung bei dem Tanzen! —
7. Hurra! Die Trommel wirbelt schon,
Trompete bläst zum Reigen —
Und tanzen soll Napoleon,
Wie wir zum Tanze geigen!
8. Und geben soll er's all' heraus,
Was welsche List gestohlen,
Und früher geh'n wir nicht nach Haus,
Und damit Gott befohlen! Emil Rittershaus.
86. Bas Nheinlied.
1. Sie sollen ihn nicht haben,
Den freien, deutschen Rhein,
Ob sie wie gier'ge Raben
Sich heiser darnach schrein;
So lang er ruhig wallend
Sein grünes Kleid noch trägt,
So lang ein Ruder schallend
In seine Woge schlägt!
3. Sie sollen ihn nicht haben,
Den steten, deutschen Rhein,
So lang dort kühne Knaben
Und schlanke Dirnen stein;
So lang die Flosse hebet
Ein Fisch auf seinem Grund,
So lang ein Lied noch lebet
In seiner Sänger Mund!
Den freien, deutschen Rhein,
So lang sich Herzen laben
An seinem Feuerwein;
2. Sie sollen ihn nicht haben,
4. Sie sollen ihn nicht haben,
Den freien, deutschen Rhein,
Bis seine Flut begraben
Des letzten Manns Gebein!
So lang in seinem Strome
Noch fest die Felsen stehn,
So lang sich hohe Dome
In seinem Spiegel sehn!
Niklas Becker. (1840.)
371
87. Der Kaiser Napoleon gefangen.
1. Noch erbebt vom Donner der Schlachten das Ohr —
Da bricht ein Freudengeschrei hervor,
Aus tausend Kehlen ergangen;
Wie ein Blitzstrahl wandert das zündende Wort
Von Mund zu Mund durch die Reihen fort:
„Der Kaiser, der Kaiser gefangen!"
2. Da schwellen die Herzen, es hebt sich die Brust,
Und begeistert, des herrlichen Sieges bewußt,
Erglühen die Augen und Wangen;
Viktoria! donnert's zum Himmel empor,
Und die Helden verkündend in brausendem Chor:
„Der Kaiser, der Kaiser gefangen!"
3. Und vom blutigen Felde es wiederhallt,
Und sie richten sich auf mit Riesengewalt,
Die da sterbend am Boden rangen;
Nach den Brüdern blickt das verklärte Gesicht,
Und sie jubeln laut, bis das Auge bricht:
„Der Kaiser, der Kaiser gefangen!"
4. Durch Deutschland zuckt es und zündet es schnell,
Die Herzen, die Fenster werden hell,
Die Siegesfahnen prangen;
In den Armen liegen sich Freund und Feind,
Der Freudenschrei hat die Stimmen vereint:
„Der Kaiser, der Kaiser gefangen!"
5. All-Deutschland, wie bist du herrlich und stark!
O, möge doch ewig die heilige Mark
Ein Band der Treue umfangen!
Ein einig Volk, ein deutscher Rhein!
Und der soll Deutschlands Schirmherr sein,
Der den fränkischen Kaiser gefangen! Fritz Brentano.
1. Du warfest auf, Herr, dein
Panier
Für unser Volk und Vaterland,
Und deinem Rufe folgten wir,
Und nach dem Schwerte griff die Hand,
Und bei des Herzens bangem Schlag
Sah weinend uns die Liebe nach.
Der Tag war schwül, und kalt
die Nacht,
Wir litten Hunger, Durst und Not,
Von Späheraugen rings umwacht
Und von dem grimmen Feind bedroht.
Doch keine Klage wurde laut,
Weil wir auf deine Macht vertraut.
24*
88. Lied der Krieger beim Friedensschluß.
2.
372
3. Nun kamen Tage blutig heiß,
Voll Schlachtenlärm und Pulver-
dampf,
Von allen Stirnen troff der Schweiß,
Und immer wilder ward der Kampf;
Aus tiefen Wunden floß das Blut,
Doch ungebrochen blieb der Mut.
4. Die Feinde flohen fern und nah
In wirren, aufgelösten Reihn,
Es schmetterten Viktoria
Die Hörner jubelnd hinterdrein;
Doch mancher brave Kamerad
Lag tot an unserm Siegespfad.
5. Herr, unser Gott, wir danken dir,
Geendet ist der blut'ge Krieg,
Du selber trügest das Panier
Und gabst in unsre Hand den Sieg.
Für uns hast du gewandt die Schlacht
Und Herz und Arm uns stark gemacht.
6. Erhöre gnädig unser Flehn,
Vertrauend sind wir dir genaht:
Laß die ersehnte Frucht erstehn
Aus blut'ger, thränenreicher Saat,
Daß Deutschland einig, stark und frei
Ein Hort des Völkerfriedens sei.
Julius Sturm.
89. Des Kaisers Heimkehr. (17. März 1871.)
1. Mit Ruhm und Preis gekrönet
Kommst du aus blut'gem Feld,
Von Jubelruf umtönet,
Geliebter Fürst und Held!
Du bringst uns, was hienieden
Das Beste jederzeit,
Du bringest Sieg und Frieden
Nach hartem Völkerstreit.
2. Du zogest nicht um Ehre
Und Waffenruhm hinaus,
Du tratest nur zur Wehre
Für unser Land und Haus.
Und doch, mit welcher Beute,
Wie reich an Siegesglück
Kommst du als Kaiser heute
Zu deinem Volk zurück!
3. Was unterging in Schanden,
Es ist durch deine Hand
Mit Ehren auferstanden —
Das eine Vaterland;
Was wir im Traum geschauet,
Dem ewig Fernen gleich,
Du hast es aufgebauet,
Des deutschen Volkes Reich.
4. Die abgerissnen Glieder
An jenem Strand des Rheins,
Sie wachsen endlich wieder
Mit unserm Volk in eins.
Wir sehen ohne Schämen
Des Münsters hohen Dom,
Und manches alte Grämen
Versinkt in seinem Strom.
5. Ja, nach so vielen Sorgen
Steigt aus dem Nebelstor
Ein goldner Frühlingsmorgen,
Ein neuer Tag empor.
Die Luft ist nun gereinigt
Vom alten Hadergeist,
Nord ist mit Süd geeinigt
Und Frieden allermeist.
6. Mit fröhlichem Vertrauen
Rührt sich des Bürgers Hand,
Zu schaffen und zu bauen
Im neuen Vaterland;
Und sicher allerwegen
Gedeiht der Fluren Saat —
Wer wagt es, Hand zu legen
An deinen Kaiserstaat?
373
7. Die Friedensglocken schallen
Die deutschen Thäler lang,
Und durch die Kirchenhallen
Braust voller Lobgesang;
Denn in des Feindes Landen
Und in der Schlachten Graun
Hat Gott zu dir gestanden,
Er half das Reich erbaun.
8. Dies Reich, in Kampf geboren,
Geweiht durch so viel Blut,
Es bleib' uns unverloren
Das höchste Erdengut,
Der Tapferen Vermächtnis
Aus diesem Heldenkrieg,
Ein ewiges Gedächtnis
An Kaiser Wilhelms Sieg!
Ernst Curtius.
90. Im Mär) 1871.
1. Es kommt der Lenz, es schmilzt der Schnee,
Der Rhein hebt an zu brausen;
Mit Jauchzen wirst er vom Geklipp
Hinab sich bei Schaffhausen.
2. Und als er fürder wallt im Thal,
Den Wasgau sieht er winken;
„Nun grüß dich Gott, du deutsches Land
Zur Rechten und zur Linken!
3. Nun grüß dich Gott, du Münsterturm,
Was schaust du trüb hernieder?
Die Wunden, die die Liebe schlug,
Die Liebe heilt sie wieder."
4. Und als er kommt hinab zum Main,
Ta sieht er hoch im Bogen
Die Brücke zwischen Nord und Süd,
Der Eintracht Mal, gezogen.
5. Mit Blut gekittet steht der Bau
Aus tausend Heldenwunden.
„Nun scheidet keine Macht hinfort,
Was Not und Tod verbunden!"
6. Und als er kommt zum Königsstuhl
An Rhenses Traubenhügeln,
Da donnert's hoch aus blauer Luft,
Da rauscht es wie von Flügeln.
I
— 374 —
7. Glückauf! Das ist der Flügelschlag
Des Adlers vom Kyffhäuser,
Das ist der Donnerhall des Siegs!
Erstanden ist der Kaiser.
8. Nun jauchze, jauchze, deutsches Volk,
Dem jungen Reich entgegen,
Und Friede sei mit dir und Heil
Und aller Freiheit Segen! Emanuel Gerbel.
91. Germanins Märchen.
1. In alten Sagen und Märchen
Viel Wundersames geschah;
Drin ward dein Schicksal geweissagt,
Du Fürstin Germania!
2. Wie Aschenbrödel so saßest
Du lange in Schmach und Not,
Verhöhnt von den stolzen Geschwistern,
Und aßest dein Thränenbrot.
3. Und wie Schneewittchen, das holde,
Am giftigen Apfel erstarb,
So dir vom Apfel der Zwietracht
Ach! Schönheit und Leben verdarb.
4. Wie einst Dornröschen entschlummert,
Als zaubernd die Spindel sie traf,
So spannst du dich selber oft träumrisch
Jahrhunderte lang in den Schlaf.
5. Ja wie Brunhild, die Walküre,
Von wabernden Lohen umflammt,
Lagst du in den schrecklichsten Brünsten
Der Kriege zur Ohnmacht verdammt.
6. Verwunschen wie manche Prinzessin,
Von Drachen und Zaubrern bewacht,
So hielten dich rings die Feinde
Gebannt mit Listen und Macht.---------
7. Doch sieh, in allen den Märchen
Da endet zuletzt das Leid:
Die Toten erwachen, die armen
Verzauberten werden befreit.
I
8. Ein Heldenprinz kommt, der kämpfet
So trutzig und küsset so traut,
Er bricht durch Dornen und Mauern,
Und herrlich gewinnt er die Braut. —
9. Auch dir ist ja endlich erschienen
Die Retter- und Heldenschar:
Mit den herrlichen Paladinen
Der König im Silberhaar.
10. Dreimal hat er mächtig gezücket
Das Schwert und dich siegend befreit,
Und köstlich als Braut dich geschmücket
Mit Krone und Kaisergeschmeid! —
11. Was immer in alten Mären
Weissagend an Wundern geschah:
Das herrlichste Wunder von allen —
Dir ist es doch zugefallen,
Du Fürstin Germania! M. Evers.
92. Zum 27. Januar.
1. Auf des Ahnherrn hehrem
Thron
Hält ein junger Zollernsohn
Fest des Reiches Zügel.
Kühnen Auges blickt er fest
Nach dem Osten, nach dem West,
Straff den Fuß im Bügel.
2. Doch er geizt um Ehre nicht,
Die des Sieges Lorbeer flicht
Auf zerstampften Auen.
Von dem Fels zum Meeresstrand
Soll des Fleißes ems'ge Hand
Friedlich Dach sich bauen.
3. Mög' er, uns ein starker Schutz,
Jedem Feind zu kühnem Trutz,
Lang das Scepter schwingen,
Und sein Lob in fernste Zeit,
Von des Volkes Dank geweiht,
Jubelnd hoch erklingen!
Aus Bongaertz.
93. Grüß Gott dich. Kaiser!
1. Grüß Gott, grüß Gott viel tausendmal
Dich, Kaiser, Herr und Held!
Erglühn im jungen Morgenstrahl
Sieht deinen Thron die Welt.
Wie dunkel, weiternächtig
Uns auch die Zukunft war,
Aufging die Sonne prächtig.
Hinan denn, Kaiseraar!
376
2. Hinan, hinan im Sonnenflug
Zu Deutschlands Schirm und Wehr!
Es zieht vor deinem Siegeszug
Der Friedensengel her.
Wie Wilhelm schwertgewaltig,
Wie Friedrich friedensmild:
So kraft- und lichtgestaltig
Erstrahlt dein Kaiserbild.
3. Glückauf! Glückauf! Des Höchsten Hand
Sei mit dir allezeit!
So führe Volk und Vaterland
Zu Heil und Herrlichkeit!
Wir schwören heut aufs neue,
Von heiliger Glut durchloht,
Dir, Kaiser, Lieb' und Treue,
Ja, Treue bis zum Tod. H. Jahnke.
94. Das deutsche Gauner.
1. Lasset es leuchten im Sonnenschein,
Laßt stolz im Wind es wallen!
Am Belt und am Rhein,
In der Mark und am Main
Ein Banner uns allen.
2. Edeles Banner, schwarz-weiß-rot!
Du führtest uns zum Siege
Aus Schmach und aus Not
Durch Schlachten und Tod
In herrlichem Kriege.
3. Glorreich Banner, in Feindesland
Vom Himmel uns gegeben!
Wir hüten vor Schand
Mit Mund dich und Hand,
Mit Leib und Leben.
4. Heiliges Banner, weh' hinfort
Voran im Kampf uns weiter!
Dem Recht bleib ein Hort,
Der Freiheit ein Port,
Der Wahrheit Streiter!
377
5. Über die Lande und über das Meer,
Mein deutsches Banner, fliege!
Dem Reiche zur Wehr,
Dem Kaiser zur Ehr',
Im Frieden und Kriege! R. Rackwitz.
95. Heil Kaiser und Reich!
1. Glorreich auf dem Erdenrunde
Steht das deutsche Vaterland;
Nord und Süd zum ew'gen Bunde
Sind vereint mit Herz und Hand!
Von den Alpen bis zum Meere
Herrscht des Kaiserscepters Macht,
Für des Reiches Ruhm und Ehre
Gut und Blut sei dargebracht!
Heil dem Kaiser groß und hehr,
Heil dem Reich vom Fels zum Meer!
2. Stark in sich und fest gegründet,
Jst's der Freiheit sichrer Port!
Mit der Wahrheit treu verbündet,
Jst's des Rechtes heil'ger Hort!
Nicht den Lorbeer sucht's zu pflücken,
Der da sproßt auf blut'gem Feld,
Mit des Friedens Rosen schmücken
Möcht' es sich und alle Welt.
3. Doch wer Deutschlands Recht und Ehre
Zu bedrohen sich erkühnt,
Sei gewiß, daß Deutschlands Heere
Kämpfen, bis die Schmach gesühnt!
Alle werden Wacht wir halten
Ob dem Reich nach deutscher Art,
Wie. gethan vordem die Alten
Unter Kaiser Silberbart!
4. Hört ihr's rauschen in den Eichen,
Brausen stolz von Strom zu Strom?
Auf den Bergen Flammenzeichen,
Glockenklang von Dom zu Dom!
Zu der Sonne kühnlich schwinget
Deutschlands Adler sich empor,
Und in alle Lande dringet
Deutscher Herzen Jubelchor!
5. Sei, o Gott, du allerwegen
Deutschlands Burg und Deutschlands Hort!
Ströme nieder deinen Segen
Auf den Kaiser fort und fort!
Deutsche Sitte, deutsche Treue
Walt' in uns durch alle Zeit!
Blühe immerdar aufs neue,
Deutschlands Macht und Herrlichkeit!
Heil dem Kaiser groß und hehr,
Heil dem Reich vom Fels zum Meer!
III. Lehrdichtung.
Sprichwörter, Sprüche und Rätsel.
a. Sprichwörter und Sprüche.
1. Der gerade Weg ist der beste-
2. Lehrjahre sind keine Herrenjahre.
3. Zeit ist Geld.
4. Raten ist leichter denn helfen.
5. Gleich und gleich gesellt sich gern.
6. Ein Narr macht viele Narren.
7. Gelegenheit macht Diebe.
8. Viele Köche verderben den Brei.
9. Gestrenge Herren regieren nicht lange.
10. Hochmut kommt vor dem Fall.
11. Allzu scharf macht schartig.
12. Eine blinde Henne findet auch ein Korn.
13. Ein Unglück kommt selten allein.
14. Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.
15. Rom ist nicht an einem Tage erbaut worden.
16. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.
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17. Frisch gewagt ist halb gewonnen.
18. Morgenstunde hat Gold im Munde.
19. Ein Mann, ein Wort.
20. Trau, schau, wem!
21. Hilf dir selbst, so hilft dir Gott.
22. Wer schnell giebt, giebt doppelt.
23. Wer A sagt, muß auch B sagen.
24. Was ein Häkchen werden will, krümmt sich beizeiten.
25. Was einer einbrockt, das muß er auch ausessen.
26. Wie es in den Wald schallt, so schallt es wieder heraus.
27. Wie die Saat, so die Ernte.
28. Rast ich, so rost ich.
29. Kommt Zeit, kommt Rat.
30. Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht.
1. Wahl
Macht Qual.
2. Übermaß
Sprengt das Faß.
3. Träume
Sind Schäume.
4. Unverhofft
Kommt oft.
5. Viele Hände
Machen ein Ende.
6. Eigenlob stinkt,
Freundes Lob hinkt,
Fremdes Lob klingt.
7. Kart' und Kanne
Machen manchen zum armen Manne.
8. Einigkeit, ein festes Band,
Hält zusammen Leut' und Land.
9. Reiner Mund und treue Hand
Gehen durch das ganze Land.
10. Leiden währt nicht immer,
Ungeduld macht's schlimmer.
11. Vergleichen und vertragen
Ist besser als zanken und klagen.
12. Gott läßt uns wohl sinken,
Aber nicht ertrinken.
13. Die Alten zum Rat,
Die Jungen zur That.
14. Mit gegangen, mit gefangen;
Mit gestohlen, mit gehangen.
15. Wie gewonnen,
So zerronnen.
16. Wer seine Schuh kann selber
sticken,
Der soll sie nicht zum Schuster schicken.
17. Der Mann ist weis und wohl
gelehrt,
Der alle Dinge zum besten kehrt.
18. Willst du Wildbret bringen
nach Haus,
So schieß nicht nach Spatzen die
Ladung aus.
19. Hüte dich vor den Katzen,
Die vorn lecken und hinten kratzen.
20. Erst besinn's,
Dann beginn's! Georg-Ec'-n-institut
für internationale
SchulbiJchfor3chur.g
380
1. Ein Freund, der dir den Spiegel zeiget,
Den kleinsten Flecken nicht verschweiget,
Dich freundlich warnt, dich herzlich schilt,
Wenn du nicht deine Pflicht erfüllt:
Der ist dein Freund,
So wenig er's auch scheint.
Doch wenn dich einer schmeichelnd preiset,
Dich immer lobt, dir nichts verweiset,
Zu Fehlern gar die Hände beut:
Der ist dein Feind,
So freundlich er auch scheint. Gellert.
2. Thu, was jeder loben müßte,
Wenn die ganze Welt es wüßte;
Thu es, daß es niemand weiß,
Und gedoppelt ist sein Preis. Rückert.
3. Was dir der Himmel schickt, das nimm du dankbar an,
Und ist es minder gut, so ist's doch so gethan,
Daß es ein guter Mut zum besten wenden kann. Rückert.
4. Zwei Hälften machen zwar ein Ganzes, aber merk:
Aus halb und halb gethan entsteht kein ganzes Werk. Rückert.
5. Viel gejaget, wenig gefangen,
Viel gehöret, wenig verstanden,
Viel gesehen, nichts gemerkt:
Sind drei vergebliche Werk'. Herder.
6. Wer ist ein unbrauchbarer Mann?
Der nicht befehlen und auch nicht gehorchen kann. Goethe.
7. Was verkürzt die Zeit?
Thätigkeit.
Was macht sie unerträglich lang?
Müßiggang.
Was bringt in Schulden?
Harren und Dulden.
Was macht gewinnen?
Nicht lange besinnen.
Was bringt zu Ehren?
Sich wehren.
Goethe.
381
8. Gut verloren — etwas verloren!
Mußt rasch dich besinnen und Neues gewinnen.
Ehre verloren — viel verloren!
Mußt Ruhm gewinnen,
Da werden die Leute sich anders besinnen.
Mut verloren — alles verloren!
Da wär es besser nicht geboren. Goethe.
9. Wohl unglückselig ist der Mann,
Der unterläßt das, was er kann,
Und unterfängt sich, was er nicht versteht;
Kein Wunder, daß er zu Grunde geht. Goethe.
10. Auf jede Rede wieder Gegenrede:
O, mach dir diese Kunst nicht eigen!
Wort wider Wort entfacht nur neu die Fehde,
Und Frieden endlich macht nur — Schweigen. Güll.
b. Mtsel.
Büsumer*) Scherzrätsel.
1.
Es kommt eine Tonne aus warmem Land,
Ohne Boden und ohne Band,
Darin giebt's zweierlei Bier
Und schläft ein ganzes Tier.
2.
Eine Jungfer sitzt hoch auf dem Baume,
Im Rotröcklein von weichem Flaume.
Wenn du sie drückst, gleich Thränen sie weint,
Und hat doch ein Herz ganz hart und versteint.
3.
Aus fernem Osten da kommt ein Mann,
Hat 'nen Rock aus lausend Flicken an;
Er hat ein knöchern Angesicht,
Und hat 'nen Kamm und kämmt sich nicht.
Er achtet der Zeit; nach Wetter und Wind
Da dreht er den Kopf und den Mantel geschwind.
Ihm gehorcht sein buntes Jngesind.
*) Vergl. Nr. 5: Die Histörchen, B. 133 ff.
— 382 —
4.
Es fliegt ein Vogel federlos
Und sitzt auf dem Baume blattlos;
Da kommt eine Jungfrau mundlos
Und frißt den Vogel federlos
Von dem Baume blattlos.
5.
Der Baum der trägt ein Meisterstück,
Wie mein kleiner Finger dick.
Daraus mache ich zwei Seiten Speck,
Einen Backtrog, einen Freßtrog
Und ein Milchfaß.
6.
Höher als ein Haus,
Kleiner als 'ne Maus,
Grüner als Gras,
Weißer als Flachs,
Bitter wie Gall',
Und doch mögt ihr's all.
7.
Im Garten steht eine Kutsche,
In der Kutsche ist eine Taube,
Von der Taube fliegt eine Feder,
Von der Feder wird ein Bett,
In dem Bette schläft der Knecht,
Vor dem Bett steht eine Wiege,
In der Wiege schläft ein Kind.
8.
Der Küster und seine Schwester,
Der Pastor und seine Frau,
Die spazierten am Weiher,
Fanden ein Nest mit 4 Eiern,
Jeder nahm eins,
Und eins blieb noch drin.
9.
Eine Büsumerin wollte 2 Eier in 3 Kesseln sieden, und
sollte in jedem Kessel 1 Ei sein. Wie machte sie's?
— 383 —
10.
Es ruft in tausendstimmigem Chor
Meine Erste immer aufs neue:
„Hinaus, hinaus ans dem engen Thor,
Ihr Städter, hinaus ins Freie!
Seht, wie ich die Zweite neu geschmückt,
Es prangen Auen und Felder;
Wohin das entzückte Auge blickt,
Sieht's grünende Wiesen und Wälder." —
Das Ganze ein kostbarer Edelstein,
Italiens König nenn.t ihn sein. Löwicke.
11.
Wer läuft mit dem Flinksten in die Wette,
Und liegt zu derselbigen Zeit im Bette?
Wer ist bald hier und ist bald dort,
Und bleibt doch stets an demselben Ort? Sutermeister.
12.
Er hat 'neu Fuß und keinen Stiefel dran,
Er hat ein Haupt und darauf keinen Hut;
Man dichtet ihm auch einen Mantel an,
Den er nur selten ganz herunterthut.
Wen er getragen je auf seinem Rücken,
Gedenkt der Stunde allzeit mit Entzücken. Güll.
13.
Für mich allein bin ich ein gar vieldeutig Wesen;
Setz' Geld mir vor, gleich wird, wozu ich da bin, klar.
Doch ist am wohlsten mir in meiner Haut gewesen,
Wenn, oftmals ohne Geld, ich hinterm Winde war.
14.
Durch dunkle Nacht drängt sich das erste Silbenpaar;
Auf zartem Weiß stellt sich das zweit' am schönsten dar.
Mög' oft das Ganze dein erwachend Aug' erfreuen
Und ungetrübt die Lust des Lebens dir erneuen.
15.
Als Pflanze steig' ich aus der Erde,
Du formest mich zu hartem Stein;
Und soll ich dir recht nutzbar sein,
So machst du, daß ich Wasser werde,
Simrock.
— 384 —
16.
In meinem ersten lebt die ganze Welt;
In meinem letzten wohnen große Herren;
Auch kann man Haus und Hof damit versperren.
Mein Ganzes ist leicht aufgestellt,
Doch schnell es auch zusammenfällt.
17.
Drei Worte giebt ein R und E,
Ein doppelt N, ein O und D;
Das eine brüllt, das andre sticht,
Dem dritten fehlt's an Kälte nicht. —
18.
Ein Vogel ist es, und an Schnelle
Buhlt es mit eines Adlers Flug;
Ein Fisch ist's und zerteilt die Welle,
Die noch kein größres Untier trug.
Ein Elefant ist's, welcher Türme
Auf seinem schweren Rücken trägt;
Der Spinnen kriechendem Gewürme
Gleicht es, wenn es die Füße regt;
Und hat es fest sich eingebissen
Mit seinem spitz'gen Eisenzahn,
So steht's gleichwie auf festen Füßen
Und trotzt dem wütenden Orkan. Schiller.
Auflösungen der Rätsel.
1. Das Ei. 2. Die Kirsche. 3. Der Hahn. 4. Der Schnee und
die Sonne. 5. Die Eichel. 6. Die Walnuß. 7. Die große Bohne.
8. Des Küsters Schwester war des Pastors Frau. 9. Weißt du's nicht?
Ich erst recht nicht. — 10. Mailand. 11. Gedanke. 12. Berg.
13. Geld- und Windbeutel. 14. Morgenröte. 15. Zucker. 16. Luftschloß.
17. Donner, Dornen, Norden. 18. Schiff.
Die griechischen und lateinischen Namen und Wörter
samt ihrer Aussprache.
Bemerkungen.
1. Weggelassen ist die ausdrückliche Bezeichnung der Aussprache höchstens bei solchen Namen,
deren Aussprache und Betonung sich auch im Deutschen von selbst ergiebt, wie Agis, Hellas,
Phocis, Titus und ähnliche.
2. Beibehalten ist die jetzt übliche Aussprache. Bei drei- und mehrsilbigen Namen wird
meistens die vorletzte Silbe betont, wenn sie lang ist, sonst die drittletzte; etwaige Ausnahmen
sind ausdrücklich bezeichnet. " bedeutet die Länge, ” die Kürze, ' die Betonung.
3. Auch für die griechischen Namen ist in der Regel die übliche lateinische Form und
Aussprache angegeben.
A. ----- Aulus
Achilles, Achill
Adherbal
Adimäntus
Ädrl
Ägrna
Ägospötämoi
Äinilius, —änus
Äschines
Äschylus
Äskulap
Äthiöpen
Agesilaus
Agis
Agrippa
Äkiium
Alcibiades
Alexander
Alexandria
Ambröneu
Amulett
Anaxagoras
Antiochus
Antipater
Antisthenes
Apelles
Apollo
App. — Appius
Äquä Sêxtiâ
Araber
Arbela
Archias
Archont
Areopag
Argolis
Ariovist
Aristides
Aristokratie
Aristoteles
Arkadier
Arminius
Arpinum
Artemis
Artemisium
Artaphernes
Assyrer
Athen
Athone
Athlet
Athos
Britannien
Brutus
Bucephalus
Bulla
C. = Cajus
(Gajus)
Cäsar
Cannä
Capreä
Cäpua
Cato
Cätulus
Charonda
Chalcidice
Charon
Chilon
Cicero
Datis
Delos
Demagog
Demokratie
Demosthenes
Diadochen
Diakrier
Diktator,
Diogenes
Dionysus
Diskus
Divus
Drachme
Drakon
Drusus
Duilius
Ekbatana
ur
Gades
Gallien
Gaugamela
Gedrosien
Germanen, —isch
Gerönt, —en
Gordium
Granikus
Gymnasien
Halikarnaß
Hamilkar Barkas
Hannibal
Häsdrubal
Hegemonie
Hellas
Hellespont
Helvetisch
Atilius Cilicien Llernêntu Hephästion
Attika Cimbern Epaminondas Herculaneum
Ausldus Cn. = Cnejus Ephesus Hermes
Augüstus (Gnäus) Ephiâltes Herodöt
cohortes urbânae (gpliör en Heröstratus
Babylon commilitones Eretria Hiempsal
Babylonier Cornelius Euboa HiPP^is
Baktrien, —er Crassus Euklides Hippokrätes
Barkas Crepundia Eupatriden Homer
Bessus Cunctator Euripides Honorar
Bias Cykladen Eurybiades Hoplit
Bithhner, —ien Cyniker Eurymedon Horäz
Bochus Böötcr Cyzikus Fabius Hyphasis
Böötien D. ----- Decimus festina, ldnte Janus
Bosporus Darius Forum Iden, Idus
Lesebuch für höhere Lehranstalten. ITI.
Jktrnus Libyer Olympia, —ier Priene Susa
Ilios Liktor Olynth Propontis Syrakus
Imperator Livia Optimaten Propyläen Syrien
Jonien, —ier Lokris, Lokrer Orbilius Prüsias
Jphigenie Lutatius Ostracismus Prytanen, —eum T. ----- Titus
Jronie Lyder Punier Tacitus
Jsaus Lykürg P. ----- Publius Pyrrhus Talent
Jsokrates Issus Isthmus Lysander Pädagog, —us Palastra Pythia Tarsus Terentius
M. — Marcus Paphlagöner Qu. ---- Quintus Teütoboch
M'. ---- Manius Paraler Quästor, —ür Teütoburger
Jthome Macédonien Parmenion Quinctilius Teutonen
Jugurtha Mâcênas Parrhasius Quinquätrus, Thales
Julius Maller Parthenon —ien Thapsus
Iulus Mantinea Parther Quinten Theben
Juventas Marathon Patroklus Themistokles
Kadmea Mardonius Pelopidas Regulus Thermopyla,
Marius Peloponnes, Republik —pylen
Kalauria Massilia —esisch Rhetorik Thespier
Kallikrates Masinissa Penaten Rhodanus Thessâlien
Kallikratidas Mauretânien Periander Rhödus Thrâcien
Kallimachus Mausolus,—êum Pêrikles, —eisch Romulus Thucydides
Kambyses Megara Persepolis Rubikon Ti., Tib. -- Tibe-
Kapitol Megareer Phalanx rius
Kappadocier Messene, —ier Pharsalus S. --- Sextus Ticinus (Tessin)
Karieu Metellus Pharus Sagartier Tigris
Karthago Micipsa Pheidippides Sagünt Tirocinium
Kaspier Midas Phidias Säken Toga, toga virilis
Kissier rnllitäs Philipp, —ippus Salamis Trasimenisch
Kleobulus Miltiades Philotas Samos Tre'bia
Kleombrotus Minucius Phocion Saturnälien Triumvir, —at
Klitus Misenum Phocis, Phoker Scipio Tyrannis
Kodomannus Mnesikles Phonizien Scutica Tyrus
Kodrus Munda Phrygien, —er Scythen
Kommilitonen Mylä Phyle Seisächtheia Varro
Konsul, —at Myser Phyllidas Semiramis Varus
Korinth Mytilene Piraus Senat Vercellâ
Krater Pittakus Sicilien Verona
Kriton Neäpel Plataa Simonides Vergil, Virgil
Nearch Plato Sogdiäner Vesüv
L. = Lucius Nictas Plinius Sokrates
Lakonien, —isch Nike Polemarch Solon Xanthippe
Lampsakus Nola Polygnot Sophist Lenokrâtes
Laren Octavianus Pompejus Sophokles Xenophon
Leonidas Pompeji Spartaner Xerxes
Leontiades Odeon Porus Stabiä
Leuktra Odyssee Prator, -ur Strate'g Zâma
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zum Unterricht im Deutschen:
Lyon, Dr. Otto, Handbuch der deutschen Sprache für höhere
Schulen. 2 Teile, gr. 8. In Leinwand geb. jeder Teil JC 2.80.
I. Teil. Mit Übungsaufgaben. Sexta bis Tertia. 6. Anst. [VIII ll. 286 S.] 1897.
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1. Abt. Kurzgefaßte deutsche Stilistik. 3. Aufl. [VIIIu. 9t©.] 1893. iart. Jil.—
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Lehrern der deutschen Sprache an dem Königlichen Realgymnasium zu
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III. — Quarta. 3. Auflage [X u. 350 ©.] 1898. Ji 2.—
IV. — 1. Abt.: Unter-Tertia. 2. Ausl. [X u. 826 ©.^ 1892. Ji 2.—
2. — Ober-Tertia. 2. Aufl. [VIII u. 404 S.s 1893. Ji 2.40.
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V. — Sekunda. A. u. d. T.: Handvuch zur Einführung in die deutsche Litteratur
mit Proben aus Poesie und Prosa ausgestattet und berausgegeben von
Dr. C. Hentschel. »r. G. Hey und I)r. O. Lyon. 2., vbllig umgearb.
Aufl. [XII ll. 590 ©.] 1895. Ji 3.60.
Zeitschrift für den deutschen Unterricht. Begründet unter Mitwirkung von
Prof. Dr. Rudolf Hildebrand (1887) und herausgegeben von Dr.
Otto Lyon. gr. 8. 13. Jahrgang. 1899. Preis für den Jahrgang
von 12 Heften zu 4—5 Druckbogen JC 12.—
Hildcbrand, Rudolf, gesammelte Aufsätze und Vorträge (zum deutschen
Unterricht und zur deutschen Philologie). [VIII u. 335 ©.]
gr. 8. 1890. geh. JC 8.—
Beiträge zum deutschen Unterricht. Aus Otto Lyons
Zeitschrift für den deutschen Unterricht. Mit Sach- und Namenregister,
sowie dem Bilde und der Nachbildung eines Tagebuchblattes Rudolf
Hildebrands. [X u. 446 ©.] gr. 8. 1897. In Original-Leinwandbd.
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ürulltbach, Dr. C. Ä., Oberlehrer am Königl. Gymnasium zu Wurzen,
Geschichte und Kritik der deutschen Schnllesebücher. In
2 Teilen, gr. 8. geh.
I. Teil. [IV ll. 81 ©.] 1894. Ji 1.20.
II. — [VI u. 212 ©.] 1896. Ji 3.60.
Lyon, Dr. Otto, die Lektüre als Grundlage eines einheitlichen und
naturgemäßen Unterrichts in der deutschen Sprache, sowie
als Mittelpunkt nationaler Bildung. Deutsche Prvsastücke und
Gedichte erläutert und behandelt. In 2 Teilen. Erster Teil: Sexla
bis Tertia. 2., Verb. Aufl. sX u. 439 S.^s gr. 8. 1896. geh. JC 5.20.
— Zweiter Teil: Obertertia bis Oberprima. In 2 Liefe-
rungen. 1. Lfg.: Obertertia. [VI n. 299 ©.] gr. 8. 1897. geh. JC 3.60.
Die 2. Lieferung des II. Teils folgt demnächst. *
i»
Lindel, Karl, Dispositionen zu deutschen Aufsätzen für die Tertia
der höheren Lehranstalten. 2 Bändchen. 8. geh. jedes Bändchen X 2.—
I. Bändchen. [XVI u. 228 ®.] 1884. II. Bändchen. [XX u. 289 ©.] 1888.
Cholevius, Dr. f., Professor am Kueiphöfischen Gymnasium zu Königsberg i.Pr.,
Dispositionen und Materialien zu deutschen Aufsätzen
über Themata für die beiden ersten Klassen höherer Lehranstalten.
Vier Hefte in zwei Bändchen. Wohlfeile Auflagen. 8. 1898.
Jedes Heft geh. X 1.—
I. Bdchen. 1. Heft. 11. Aufl. [XXI II. 160 ©.] I II. Bdchen. I.Hest. 9. Anfl. [XIII u. 218 ©.]
I. — 2. — 11. Stuss. [Vu.S. 161—826.] I II. — 2. — 9. Stuft. [VI u. @. 219—390-1
-----------Dispositionen und Materialien zu 25 deutschen Aufsätzen
über Themata für die beiden ersten Klassen höherer Lehranstalten.
[122 ©.] 8. 1864. geh. X 1.20.
Dispositionen und Materialien zu 50 deutschen Auf-
sätzen über Themata für die beiden ersten Klassen höherer Lehranstalten.
[82 ©.]. 8. 1867. geh. X 1.20.
----------- praktische Anleitung zur Abfassung deutscher Aufsätze
in Briefen an einen jungen Freund. 6. Aufl. [VI u. 194 S.j 8.
1893. geh. X 2.40.
Gelbe, Dr. Theodor, Direktor der II. städtischen Realschule in Leipzig.
Stilarbeiten. Anleitung und Dispositionen. [VIII u. 239 S.j
8. 1891. geh. X 2.40.
Hofflimrm, Dr. Ferd., 5OThemata zu deutschen Aufsätzen für die obersten
Klassen höherer Lehranstalten. [VII u. 68 S.j 8. 1882. geh. X 1.—
Krumbach, Carl Julius, Oberlehrer, deutsche Aufsätze. Für die unteren
Klassen höherer Lehranstalten, sowie für Volks-, Bürger- und Mittelschulen.
In 8 Bändchen, gr. 8. geh. je X 1.60.
I. Bändchen: Erzählungen. [X u. 188 S.] 1890.
II. — Betreibungen und Schilderungen. [X u. 184 ©.] 1890.
III. — Briefe. [XIV u. 200 S.] 1892. [In Leinwand geb. a. u.
d. T.: Briefe für Knaben und Mädchen, geb. Ji 2.—]
Kühner, Dr. Adolf, Gymnasiallehrer, praktische Anleitung zur Ver-
meidung der hauptsächlichsten Fehler in Anlage und Aus-
führung deutscher Aufsätze für die Schüler der mittleren und
oberen Klassen der Gymnasien, Realschulen und andrer höherer
Lehranstalten, sowie zum Selbststudium bei der Vorbereitung auf
schriftliche Prüfungen im Deutschen. 2. Auflage. Reu bearbeitet von
Dr. Otto Lyon. [88 S.j gr. 8. 1891. kart.^1.—
Menge» Dr. Kor!, Rektor des Progymnasiums zu Boppard, aus-
führliche Dispositionen und Musterentwürfe zu deutschen
Aufsätzen für obere Klassen höherer Lehranstalten. [XX u. 215 S.j
8. 1890. geh. X 2,—
Naumann, Dr. Julius, Direktor des Realgymnasiums zu Osterode a/H.,
theoretisch-praktische Anleitung zur Abfassung deutscher
Aufsätze in Regeln, Musterbeispielen und Dispositionen besonders im
Anschluß an die Lektüre klassischer Werke nebst Aufgaben zu Klasseu-
arbeiten für die mittleren und oberen Klassen höherer Schulen. 6. Auslage.
[XVI u. 548 S.j 8. 1897. geh. X 3.60.
25 Themata mit ausführlichen Dispositionen zu deut-
schen Aussätzen und Stoffe zu freien Vorträgen für die oberen
Klassen höherer Schulen. [IV v. 126 S.j 8. 1882. geh. X 1.60.
Ntlrich, Dr. Hermann, Oberlehrer, Deutsche Musteraufsützc für alle
Arten höherer Schulen. [X u. 268 S.j gr. 8. Dauerhaft geb. X 2.40.
Zurborg, Dr. H., Gymnasiallehrer in Zerbst, hundert Themata für
deutsche Aufsätze. Ein Hilssbuch für den deutschen Unterricht auf der
Sekundaner-Stufe. [64 S.j 8. 1881. kart. X —.60.
Bismarcks Reden uitb Briefe nebst einer Darstellung des Lebens und der
Sprache Bismarcks. Für Schule und Haus herausgegeben und bearbeitet
von Dr. Otto Lyon. Mit einem Bildnis Bismarcks. [TI u. 243 ©.]
gr. 8. 1895. In Leinwand geb. JL 2.—
Cholcvius, Dr. L., weil. Professor am Kneiphöf'schen Stadtgymnasinm zu
Königsberg i. Pr., ästhetische und historische Einleitung nebst
fortlaufender Erläuterung zu Goethes Hermann und
Dorothea. 3., verbesserte Auflage, von Dr. Gotthold Klee, Prof,
am Gymnasium zu Bautzen. [XVIII u. 252 SZ 8. 1897. In Leinw.
geb. JL 3.—
Goethe's Götz von Berlichingen mit besonderer Rücksicht auf die Schüler
der oberen Klassen höherer Schulen herausgegeben u. erläutert von Dr.
I. Naumann, Direktor des Realgymnasiums zu Osterode a. H. [IV u.
164 @.] 8. 1877. geh. X 1.20.
—---------Hermann und Dorothea erläutert von Eholevius, siehe: E h o l e v i u s rc..
Hartmann von Aue, sechs Lieder und der arme Heinrich,
herausgegeben und mit Anmerkungen und einem Glossar versehen
von Bernhard Schulz. [VIII u. 83 S.] 8. 1871. geh. X —.75.
Homers Ilias und Odyssee in verkürzter Form nach Johann Heinrich
Boß, bearbeitet von Dr. Edmund Weißenborn, Professor am Gym-
nasium zu Mühlhausen i. Th. In 2 Bändchen. 8. geb.
I. Bändchen: Ilias, [»it Titelbild.) 2. Aufl. [XXXV u. 164®.] 1896. geb.1.60.
II. — Odyssee. [Mit Titelbild.] [XVI u. 152®.] 1895. geb. M. 1.40.
Jung, Schillers Briese ü. d. ästhetische Erziehung, siehe: Schillers Briese.
Bamd's, Charles, Shakespeare-Erzählungen. Deutsch von Dr. Karl
Heinrich Keck, Gymnasial-Direktor a. D. Mit Titelbild. [X und
359 S.^s 8. 1888. geh. JL 3. — ; reich gebunden i 4.—
Nanmann, Julius, Goethe's Götz v. Berlichingen, siehe: Goethe.
Quellenbüchlein zur Kulturgeschichte des deutschen Mittel-
alters aus mittelhochdeutschen Dichtern mit Ausschluis des
Nibelungen- und Gudrunliedes und Walthers von der Vogelweide
zusammengestellt und mit einem Wörterverzeichnis versehen von
Theodor Schauffler. 2. Ausg., mit einem Anhang: Erläuterungen.
[VIII u. 170 S.] gr. 8. 1894. geh. JL 1.60.
Zchiller's Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen.
Zunächst für die oberste Klasse höherer Lehranstalten mit einer Einleitung
und erklärenden Anmerkungen herausgegeben von Dr. Arthur Jung,
ordentlichem Lehrer am Königl. Gymnasium zu Jnowrazlaw. [VII u.
374 S.s 8. 1875. geh. 2.40.
Schilling, Georg, Oberlehrer am Pädagogium zu Züllichau, Laokoon-
ParaPhrasen. _ Umschreibungen und Erweiterungen der wichtigsten
Kapitel von Lessings „Laokoon", aus der Schulpraxis hervorgegangen
und zusammengestellt. [180 ©.] gr. 8. 1887. geh. ^ 2.80.
Kchlrusner, W.»I. ord.Lehrer am Gymnasium zu Höxter, zur Uhlandlectüre.
Leitfaden für Lehrer höherer Schulen. [IVu.35S.j 8.1878. geh. X—.35.
Walther von der Vogelweide. Auswahl aus den Gedichten Walthers v. der
Vogelweide, herausgegeben u. mit Anmerkungen u. einem Glossar ver-
sehen von B.ScncLz. 3. Aufl. [XVI u. 138 S.] gr. 8. 1893. geh. X 1.20.
tflclfe, Prof. Dr. O., unsere Muttersprache, ihr Werden und ihr
Wesen. 3., verbess. Aufl. [VIII u. 270 S.s gr. 8. 1897. In
Leinwand geb. JL 2.60.