322 Diese großartige Erfassung der Ziele des menschlichen Lebens, diese Erweiterung des Horizontes seiner Zeit wäre Wolfram nicht mög¬ lich gewesen, wofern er nicht an der Volksdichtung, an dem Erbe germa¬ nischen Geistes, wäre genährt und herangezogen worden. Das steckt nun bei ihm nicht so sehr in den Anspielungen auf die deutsche Helden- sage, in vereinzelten Namen daraus, es ist in den innersten Kern seiner Dichtung aufgenommen. Wie Parzival endlich wird, nachdem er durch das prüfende Feuer gekommen ist, so hat das alte Volksepos sich'seine größten Helden gedacht. Die Milde, die Weichheit, welche Parzival auszeichnet, das ist die Frucht des Christentums; dadurch scheiden sich Germanen und Deutsche. Am genauesten erkennen wir den Anteil der Volkspoesie an Wolfram in seinem Stil. Zwar ist dieser so persön¬ lich, als er irgend sein kann, aber seine innersten Grundsätze und seine äußerlichsten Eigenschaften verdankt er doch gleichermaßen der Volks¬ dichtung. Wolframs Bildkraft ist so energisch und üppig, daß sie sich selbst schädigt. Wenn er sich bemüht, alle inneren Vorgänge in äußere umzubilden, (natürlich entnimmt er seine Vergleiche dem, was ihm zunächst liegt, und darum hat man wohl gesagt, er „verwittere" die Welt), daß er zuerst und zuletzt nach Anschaulichkeit seiner Darstellung ringt, das lernt er doch wieder von der Poesie der Fahrenden, die Wolfram in ihrem Wert erkannte, die aber die höfischen Epiker un¬ beachtet am Wege verdorren ließen. In anderen Mitteln seines Stiles, in. dem breiten Dialekt, tritt Wolframs persönliche Art stärker heraus und nicht zu seinem Vorteile. Man merkt überall bei ihm, daß die Bildung seiner Sätze sich der Aussicht seines Auges entzog: verwickelte Konstruktionen, die anders auslausen, als sie ansangen. Doppelbezüge von Worten und Phrasen, verworrene Übergänge sind bei ihm ganz gewöhnlich. Die. Dunkelheiten des Ausdruckes, welche dadurch ent¬ stehen — wenngleich sie den Ernst seines Wesens dem Leser tiefer ein¬ prägen — sind doch eilt wirkliches Hindernis der Verständigung mit ihm. Das ist aber auch das einzige, was die Deutschen von heute zu ihrer Entschuldigung vorzubring.en wüßten, wenn man sie bezichtigte, daß sie den größten Dichter ihrer Vorzeit vernachlässigt im Winkel stehen lassen, statt sich seiner in gerechtem Stolze vor aller Welt zu erfreuen. Wolfram fordert Studium, er fordert Eifer und Hingabe, er lohnt hinwiederum königlich; die Gegenwart aber ist so bequem, daß sie sich der Mühe entschlägt, einen Dichter sich anzueignen, dessen Werke das Eigentum aller Kulturvölker wären, hätte er das Glück gehabt, in Dantes tvohlsließender Sprache zu reden.