Und „wie schön!“ rufst du aus. — Aber der deutsche Albrecht Dürer meint treuherzig: „Was das Schöne ist, das weiß ich nicht.“ Wohl hat es Zeiten gegeben, da hat man mit dem gelehrten Winckel- mann behauptet: „Es kann nur ein einziger Begriff der Schönheit, welcher der höchste und sich immer gleich ist, gedacht werden.“ Und da stellte man denn eine Schönheitsschablone auf, da gab man Schönheitsregeln, nach denen der Bildnismaler seine Gesichter zu malen, Regeln, nach denen der Landschaftsmaler seine Natur zu „gruppieren“, der religiöse Maler seine Gestalten zu „drapieren“ hatte. Aber das Wesen der Schönheit hatte man dadurch getötet; die äußere Schale war geblieben, die Seele geflohen, die Unwahr¬ heiten in die Kunst eingezogen. „Was das Schöne ist, das weiß ich nicht!“ Ja, es ist auch ein zartes, ein ewiges sich wandelndes Geheimnis. Soll die Idee, der Inhalt die Form gebären, so gibt es kein feststehendes Formenideal. Ist die Kunst Dichtung einer Künstlerseele, so wird, so muß sie immer wieder verschieden sein, so unendlich verschieden, wie der Menschensinn in andern Persönlichkeiten und Zeitaltern ist, oder sie ist leere Nachahmung, sie ist Phrase. Der echte Dichter, der echte Künstler wird sich selbst geben; er dichtet, wovon ihm das Herz voll ist. Wir verlangen von einem Kunstwerk, daß es die eigenste Schöpfung einer Menschenseele sei. Darum aber auch Ehrfurcht vor der Persönlichkeit des Künstlers! Laß sie zu Worte kommen, ehe du ihr Werk aburteilst. Wie wir Menschen alle verschieden sind und jeder seine Welt, seine eigenen Leitbilder in sich trägt, so dürfen wir am allerwenigsten das Schaffen eines Künstlers - an eine bindende Regel, eine eisern herrschende Norm fesseln wollen. Nur das eine verlangen wir von ihm: er sei wahr! — „Der Meister darf die Form zerbrechen.“ Der große, kühne Michelangelo wagt Formen, die in keinem Regelbuche stehen, schafft Gestalten, die über die Natur hinausgehen. Muten sie dich unnatürlich an? Sie sind* doch Wahrheit: gigantische Persönlichkeiten haben gigantische Ideen, gigantische Ideen schaffen gigantische Formen. Die Kunst ist in stetem Wandel begriffen. Sie ist es nicht nur, weil verschiedene Künstlerpersönlichkeiten schaffen. Sie ist es, weil diese in Formen dichtenden Künstler Kinder ihrer Zeit sind. Weil, je mehr sie die geheimnisvolle Hellseherkraft, die Feinfühligkeit des Genius, des Dichters besitzen, desto mehr sie ihre geistige Nahrung, ihre Ideen aus ihrer Zeit holen, aber auch wieder ihren Zeitgenossen vorangehen werden, indem sie das geheime Sehen, das Ziel, das jenen unbewußt vorschwebt, offenbaren. Die Kunst ist verkörperter Zeitgeist, das große Bilderbuch der Weltgeschichte. Willst du Zeiten und Völkern ins Herz schauen, 24*