301. Abenddämmerung. 1826. äm blassen Meeresstrande saß ich gedankenbekümmert und einsam. Die Sonne neigte sich tiefer und warf glührote Streifen ans das Wasser, 5 und die weißen, weilen Wellen, von der Flut gedrängt, schäumten und rauschten näher und näher — ein seltsam Geräusch, ein Flüstern und Pfeifen, ein Lachen und Murmeln, Seufzen und Sausen, io dazwischen ein wiegenliedheimliches Singen — mir war, als hört' ich verschollne Sagen, uralte, liebliche Märchen, die ich einst als Knabe von Nachbarskindern vernahm, lvenn wir am Sommerabend is auf den Treppensteinen der Haustür zum stillen Erzählen niederkauerten mit kleinen, horchenden Herzen und neugierklugen Augen, während die großen Mädchen 20 neben duftenden Blumentöpfen gegenüber am Fenster saßen, Rosengesichter, lächelnd und mondbeglänzt. 302. Leise zieht durch mein Gemüt. 1831. äeise zieht durch mein Gemüt liebliches Geläute. Klinge, kleines Frühlingslied, kling hinaus ins Weite. 2. Kling hinaus bis an das Haus, wo die Blumen sprießen. Wenn du eine Rose schaust, sag', ich lass' sie grüßen. 3. Nikolaus lienciu. Nikolaus Franz Niembsch Edler von Strehlenan, mit Dichternamen Nikolaus Lenau, wurde am 13. August 1802 zu Tschatad bei Temesvar in Ungarn geboren: er entstammte einem deutschen Patriziergeschlecht aus Strahlen in Schlesien. Seinen ersten Unterricht erhielt er in Ofen, wohin sein tiefgesnnkner, haltloser Vater nach Aufgabe seines Anits verzogen war. Nach dessen frühem Tode (23. April 1807) vermählte sich die Mutter mit vr. Vogel (23. April 1811) und die Familie zog im März 1816 nach Tokay. Schon 1817 zogen sie wegen der Ausbildung der Kinder nach Ofen zurück. Seit Herbst 1819 studierte Nikolaus in Wien Philosophie, dann in Preschurg Rechtswissenschaft, die er bald mit dem Studium der Landwirtschaft auf der Ackerbauschule zu Ungarisch-Altenburg vertauschte. 1823 wandte sich sein unbefriedigter Geist wieder der Rechtswissenschaft zu, dis er nach dreijährigem Studium (1824 bis 1826) plötzlich zur Medizin überging, der er vier Jahre (1827 dis 1830) treu blieb. In diese'Zeit fällt der Verkehr im „Silbernen Kaffeehaus" des „Neuners" (Johann Gabriel Seidl. Eduard von Bauernfeld, Johann Christian von Zedlitz, Ferdinand Raimund, Johann Nepomuk Vogl und andre)'. . 30*