248 Vili. Aus der Erd- und Völkerkunde. 82. Deutsche Burgen und Kirchen. Friedrich Ratzel. Deutschland. Leipzig. Überall in Deutschland haben die zwei das Land beherrschenden Stände des Mittelalters, Kirche und Landadel, die freien, aussichts¬ reichen Lagen zuerst herausgefunden und verwertet. Daher auch hier die lang nachwirkende Verbindung zwischen den Klöstern, Kirchen, Kapellen, Burgen imd den malerischsten Punkten der Landschaft. Das östliche Mitteldeutschland zeigt davon nicht so viel wie das westliche, wo schon die Römer mit ihren Warttürmen und Merkurstempeln vor¬ angegangen waren. Aber die Katharinenkirche über Wunsiedel, die heute als der schönste unter den leicht erreichbaren Aussichtspunkten des Fichtelgebirges gilt, oder die Trümmer von Paulinzelle im Thüringerwald, die Rudelsburg und der Giebichenstein an der Saale, die hochragende Landeskrone bei Görlitz sind mit ihrer Anziehungskraft aus vielen Hunderten herausgegriffene Beispiele, wie das moderne Natur- gefühl und Erholungsbedürfnis die Wohnstätten der Alten aufsucht. Diese Alten stellten nicht nur ihre Bauten mit Vorliebe auf er¬ habene Punkte, sie bauten auch selbst hochstrebende Türme und Giebel. „Scharfsinnige" Gassen sind stir Städte wie Nürnberg, Hildesheim, Lübeck ebenso bezeichnend wie eine gewisse Flachheit für die jüngeren. Kein Stil hat die deutsche Landschaft so beeinflußt wie der gotische. Kinder der Gotik sind nicht nur die hochragenden Türme von Köln, Straßburg, Freiburg, Ulm, Regensburg und die einfacheren Türme der großen Backsteinkirchen des Nordens; auch die schlanken, spitzen Tünne einfacher Dorfkirchen gehören zu dieser Familie. Der herrliche durchbrochene Turm des Straßburger Münsters herrscht königlich über der Landschaft des mittlern Elsasses. Er ist in dem ebenen Tal des Oberrheines sichtbar vom Fuß der Vogesen bis zum Fuß des Schwarz¬ waldes. So beherrscht aber auch jeder Kirchturm seinen Umkreis, in dem er das hervorragendste und idealste Bauwerk ist. Im ganzen hat Oberdeutschland mehr hochragende spitze Kirch¬ türme als Niederdeutschland, und vielleicht sind die schlanksten von allen am Rande der Alpen zu finden. Die grüne Farbe der schmalen spitzen Kirchtürme ist einer der freundlichsten Züge in der Voralpen¬ landschaft. Anr Neckar und am Oberrhein herrschen die Kuppen und Zwiebeltürme mit oft sehr feinen Kurven vor. Unter den nieder¬ deutschen sind dagegen die Türme der vorpommerschen und rügi- schen Dorfkirchen massig; Eckkrönungen sind häufig angebracht, um den schweren Eindruck zu mildern. Fast kastellartig sind in Mittel- deutschland die Kirchtürme des Werralandes, während weiter östlich die Mannigfaltigkeit der Kirchturmformen manch einförmiges Bild des