6 0. Tie junge Schwalbe. „Was macht ihr da?" fragte eine junge Schwalbe die ge¬ schäftigen Ameisen. „Wir sammeln Vorrat für den Winter!" war die geschwinde Antwort. „Das ist klug", sagte die Schwalbe; „das will ich auch thun." Und sogleich fing sie an, eine Menge toter Spinnen in ihr Nest zu tragen. „Aber wozu das?" fragte endlich die Mutter. „Das ist Vorrat für den bösen Winter, liebe Mutter! Sammle doch auch! Die Ameisen haben mich diese Vorsicht gelehrt." „Laß nur die Ameisen!" versetzte die Alte. „Uns Schwalben hat die Natur ein holderes Los gegeben; wenn der reiche Sommer sich endet, so ziehen wir fort von hier." Lessing. 10. Der wilde Apfelbaum. In dem hohlen Stamme eines wilden Apfelbaumes ließ sich ein Schwarm Bienen nieder. Sie füllten ihn mit den Schätzen ihres Honigs, und der Baum war so stolz darauf, daß er alle andern Bäume gegen sich verachtete. Da rief ihm ein Rosenstock zu: „Elender Stolz auf geliehene Süßigkeiten! Ist deine Frucht darum weniger herbe? In diese treibe den Honig hinauf, wenn du es vermagst; und dann erst wird der Mensch dich segnen." Lessing. 11. Ter Affe und der Fuchs. „Nenne mir ein so geschicktes Tier, dem ich nicht nachahmen könnte!" So prahlte der Affe gegen den Fuchs. Der Fuchs aber erwiderte: „Und nenne du mir ein so geringschätziges Tier, dem es einfallen könnte, dir nachzuahmen." Lcssing. 12. Die Hunde. „Wie ausgeartet ist choch hier zu Lande unser Geschlecht!" sagte ein weitgereister Pudel. „In dem fernen Weltteile, welchen die Menschen Indien nennen, da, da giebt es noch rechte Hunde, Hunde, meine Brüder — ihr werdet es mir nicht glauben, und doch habe ich es mit meinen Augen gesehen, — die auch einen Löwen nicht fürchten und kühn mit ihm anbinden." „Aber," fragte den Pudel ein gesetzter Jagdhund, „überwinden sie ihn denn auch, den Löwen?" „Überwinden? — Das kann ich nun eben nicht sagen. Gleichwohl bedenke nur, einen Löwen anfallen!"