70 „Mutter!" sagte er noch einmal, „gebt mir Eure Hand!" Sie gab sie ihm; er schüttelte sie und sagte: „Lebt wohl^ lebt wohl!" „Amen, Amen!" sagte sie, als hörte sie zu beten auf. Dann wandte sich der Knabe gegen die Eltern; das Herz war ihm so sehr emporgeschwollen; er sagte nichts, sondern mit eins hing er am Halse der Mutter, und sie, heiß weinend, küßte ihn auf beide Wangen und schob ihm noch ein Geldstück zu, das sie einst als Patengeschenk empfangen und immer aufgehoben hatte; allein er nahm es nicht. Dem Vater reichte er bloß die Hauch weil er sich nicht getraute, ihn zu umarmen. Dieser machte ihm ein Kreuz auf die Stirne, auf den Mund und die Brust, und als hierbei seine rauhe Hand zitterte und um den harten Mund ein heftiges Zucken ging, da hielt sich der Knabe nicht mehr. Mit einem Thränengusse warf er sich an die Brust des Vaters, und dessen linker Arm umkrampfte ihn eine Sekunde, dann ließ er ihn los und schob ihn wortlos gegen die Heide. Die Mutter aber rief ihn noch einmal und sagte, er möge doch auch das kleine Schwesterchen gesegnen, die man in ihrem Bettlein ganz vergessen habe. Drei Kreuze machte er über den schlafenden Engel, dann schritt er schnell hinaus und trotzig vorwärts gegen die Heide. Stifter. II!. JriAkn. Erster Abschnitt. 62. Niobe, v 'Niobe war die Gemahlin des Königs Amphion in Theben, die Tochter des Tantalus. Wie ihr Vater war sie von den Göt¬ tern geliebt und gesegnet; aber sie war auch übermütig und ver¬ messen wie er, so daß sie sich selbst mit den Göttern zu wetteifern unterstand, und zertrümmerte dadurch all ihr Glück. Stolz brüstete