196 geregt und von der Melodie getragen, findet der nächste die dritte, und sofort singen sie, glücklich ihres Fundes, das Lied im Chore. Sprungweise, rasch, oft unvermittelt, der plötzlichen Anregung fol¬ gend, setzen sich die Teile des Liedes zusammen, wie Kristalle, die plötzlich aneinander schießen. Wenig Rücksicht wird auf die Form ge¬ nommen. Wie wäre bei der Entstehungsart dieser Lieder die Mutze zu einer sorgfältigen Ausführung dagewesen! Der Hauptton liegt stets auf der Empfindung, für die das bezeichnende Wort mit überraschender Wirkung gefunden wird. Und mit dem Worte die Melodie. Mochte doch die Form in ihren Teilen unvermittelt sein, die Melodie, ohne die das Volkslied nicht zu denken ist, verband und vermittelte den springenden Gang der Darstellung. Es gibt keine innigere Verschmel¬ zung von Wort und Weise, als im Volksliede, und diese ist eben nur aus dem gemeinsamen Ursprung zu erklären. Das Volkslied will gesungen sein, und die es entstehen sahen, dachten nicht daran, es aufzuschreiben. Auf dem Papier, gelesen und ohne Melodie, entbehrt es der Hälfte seines Wesens, wie eine Blume, die man mit farblosem Griffel nachgezeichnet hat. Wie die Empfindung im Volksliede plötzlich und unerwartet her¬ vorbricht, so auch wird die Örtlichkeit mit einem Schlage hingeworfen: ein Wirtshaus, eine Linde im Tal, eine verborgene Mühle, so datz man die Handlung zugleich mit einem landschaftlichen Hintergrund er¬ blickt. Das unbefangene Naturleben brauchte nicht nach dem Bilde zu suchen, es nahm seine Anschauungen aus der Wirklichkeit und ließ sie auf dem Strom des Gefühls widerspiegeln. Und die Wirklichkeit, das eigne Erlebnis, das Leben mit seinen Leiden und Freuden ist es, was, ver¬ klärt von der Innigkeit des Gemüts, durch das Volkslied geht. Ohne Vorbereitung versetzt es sich mit sinnlicher Anschaulichkeit mitten in die Lage, geht rasch auf die entsprechende über,' und weiß, halb andeutend und verschleiernd, eine Stimmung hervorzurufen, die unwiderstehlich fesselt. Das Menschliche, Ursprüngliche, Natürliche und Naturgemäße ist überall auch das Poetische, und so gehört das Volkslied, bei der treffenden Wahrheit seines Ausdrucks, zu dem Schönsten und Be¬ wunderungswürdigsten, was die deutsche Dichtung hervorgebracht hat. Den Anschauungen des Volkes ist es gemäß, die umgebende Natur zu beleben, sie dem menschlichen Treiben zu verähnlichen. Die Eule sitzt und spinnt, Nachtigallen fliegen auf Botschaft, das Mädchen unter¬ hält sich mit der Haselstaude, als einer Frau Haselin, und die Liebe