306 und mit Recht führt er als Mann in „den Liedern der Vorzeit" feine Begabung für historischen Sang zurück auf seine Knabenzeit: Als Knabe stieg ich in den Hallen Verlass'ner Burgen oft hinan; Durch alte Städte tat ich wallen Und sah die hohen Münster an. Da war es, daß mit stillem Mahnen Der Geist der Vorwelt bei mir stand, Da liest er frühe schon mich ahnen, Was später ich in Büchern fand. — Und was Uhland später in Büchern fand, die Stoffe seiner Balladen und Romanzen, hat er mit künstlerischer Hand zu vollendeten Dich¬ tungen umgeschafsen; dabei verfuhr er außerordentlich sorgfältig; nicht nebelhafte Figuren wollte er schaffen, eigenem Hirn entsprungen, sondern es war stets sein Bestreben, in historischen Gedichten ein möglichst getreues Kolorit herzustellen, und zu diesem Zwecke studierte er die einschlägigen Quellen, benutzte sie aber nicht als Historiker, sondern nach poetischem Bedürfnis. Die Quellen, aus denen er schöpfte, waren zuvörderst der reiche Sagenschatz seines deutschen Vaterlandes und besonders seiner engeren Heimat, die schwäbischen Annalen des Crusius, Sattlers historische Be¬ schreibung des Herzogtums Württemberg, Spittlers Geschichte Württem¬ bergs und französische und spanische Volkssagen und Volkslieder. Die Einzelheiten würden zu weit führen. Hier kommt es hauptsächlich darauf an, wie sich Uhland dem rohen Stoff gegenüber verhielt. Und da lassen wir den Dichter am besten selbst reden. „Wenn ich", so sagt er einmal, „mich nach poetischem Stofs umsehe, so geschieht es ganz vorzüglich darum, weil bloß idealische Gestalten (also Gestalten, der dichterischen Phantasie allein entsprungen) nicht so leicht vollkommene Objektivität erhalten, wie solche, die dem Dichter schon lebendig entgegentreten, aber ihr höheres Leben erst von ihm erwarten. Er wird durch die letzteren in angenehme Selbsttäuschung versetzt, sein unbestimmtes Schweifen erhält eine Begrenzung, seine peinigende Willkür wird gebunden, zwar nicht mit Fesseln, aber durch die Arme der Geliebten". Diese Stoffe, die sich dem Dichter bieten, können nun verschiedener Natur sein. Sie können bereits bestehen in klaren, charakteristischen Situationen, getragen von Gestalten, die dem Dichter lebendig entgegen¬ treten. Dann hat er nur die Form zu schaffen, hie und da der mangelnden