220 dem Kreuze versammelten Freunde, oder sie führt UNS, mit symbolischem Beiwerk geschmückt, die Hinrichtungsszene vor die Augen. Mit Recht haben die Italiener die schier unerschöpfliche Frucht¬ barkeit der Dürerschen Phantasie gepriesen und ihm als Erfinder die Palme gereicht. Uns aber steht noch höher als die Fruchtbarkeit das unverbrüchliche Festhalten an einem einheitlichen Grundton in den ver- schiednen Folgen. Dem Bildner ging der Dichter zur Seite. Ehe er an die einzelnen Darstellungen schritt, erwog er im Geiste, welchen Ein¬ druck und welche Empfindung das ganze Werk im Betrachter hervorrufen soll. Es kann dessen Sinn in ruhigem Gleichmaste durch die Erzählung der Ereignisse bewegt oder seine Phantasie durch Vorführung leidenschaftlicher Szenen, mächtiger innerer und äusterer Kämpfe gepackt werden. Es kann weiter als Ziel die Erweckung tiefer Teilnahme an den Schicksalen des Helden vorschweben. In der Dicht¬ kunst wird die natürliche Scheidung in drei Gattungen, die epische, dramatische und lyrische Poesie, längst anerkannt und geübt. Auch im Kreise der bildenden Kunst stoßen wir bald auf wirksame Dramatiker, ergreifende Lyriker und fesselnde Erzähler. Was an Dürer neu ist, unsere Bewunderung erregt und ihn in die Reihe der großen, die Welt umfassenden Dichter setzt, das ist die kühne Tat, einen und denselben Gegenstand sowohl episch, wie dramatisch und lyrisch erfolgreich zu be¬ handeln. Man braucht nur, wie richtig bemerkt wurde, die Titelblätter der drei Passionen zu betrachten, um den poetischen Standpunkt Dürers in jeder der drei Folgen klar zu erkennen. Einsam sitzend, in bittern Schmerz versunken, erblicken wir Christum aus dem Titelbilde zur kleinen Holzschnittpassion. Es nennt und schildert den Helden, dessen Schicksale er erzählen will. In der großen Holzschnittpassion wird dem dornen¬ gekrönten Christus der Peiniger, der ihn verhöhnt und verspottet, gegen¬ übergestellt und dadurch schon der wogende Kampf, seine Zuspitzung zu einer Katastrophe angedeutet. Am Anfang der Kupferstichpassion endlich gewahren wir Christus an einer Säule auf erhöhtem Boden stehend, zu dem Maria und Johannes voll der tiefsten Teilnahme und des innigsten Mitgefühls emporblicken. Die äußern Vorgänge spiegeln sich in den innern Empfindungen wider, die Schilderung dieser wird zur Hauptsache. Was die Titelblätter versprechen, halten die Bilderfolgen. In den Blättern einer jeden Folge klingt der gemeinsame poetische Grundton hell an, erscheint Komposition, Stimmung und Ausdruck dem einmal