O Geistliche Dichtung von Heinemann. 13 den Sachsen das Christentum näher zu bringen und sie zu christianisieren. Der Dichter aber germanisierte die Juden des Neuen Testaments. Jesus ist der machtvolle Herrscher, der germanische Volkskönig, abstammend von Davidsburg und Mariens altem Ahnenhaus, der Herr der Völker, der heilige Vogt. Die Hochzeit zu Kana wird in dem Saal der Herrlichkeit ge¬ feiert, d. h. in der „hölzemen Halle mit dem Hochsitze des Hausherm" in der Mitte. Der Himmel ist die Gottesaue oder des Vaters Heimgarten; die Engel sind die allwaltenden Himmelsboten. Der Tod ist die altgermanische Nome Würd, das Feuer des Jüngsten Gerichts das Mudspil. Pilatus ist der Herzog, der Herrenbote der Römerburg, Josef ein Adelmann, Maria und Martha Freifrauen, Johannes der Täufer Erbwart des Gotteshelden, Amtmann Gottes. Die Jünger sind die tapfern und treuen Degen, Dienst- und Edelmänner des Schirmherm des Reiches. Von tapferen Taten ist freilich nur eine zu berichten, aber bei ihr verweilt der Dichter mit offenbarer Freude: „Des Mannes schwerster Schmerz ist, wenn er lassen muß seinen guten Herrn." Deshalb wird der Verrat des Herm, der nach deutschem Gefühl abscheulich war, durch Schicksals- und Prophetenbestimmung entschuldigt. Was germanischer An- schauung widerspricht, wird verschwiegen oder geändert. So darf Christus nicht auf einem Esel in Jerusalem einziehen, er darf Gott nicht bitten, den Kelch an ihm vorübergehen zu lassen, auch nicht von seinen Jüngern verlangen, die rechte Backe dem darzureichen, der die linke geschlagen hat. Nur die Juden, nicht die Heiden treffen die Vorwürfe des Dichters. Von den Gleichnissen fehlen die vom barmherzigen Samariter, vom verlorenen Sohn und vom Schalksknecht, offenbar weil in ihnen dem germanischen Empfinden zu viel zugemutet wird. Dagegen wird über die Bibel hinaus die Verwerflichkeit von Fehde und Blutschuld, Geiz und Habsucht betont und besonders scharf hervor¬ gehoben, daß man Verbrechen auch nicht im Interesse der Sippe begehen darf. Mit dem Verhältnis der Mannen zum Herm schien dem Dichter das Wort Christi zu Petrus: „Hebe dich weg von mir, Satanas", nicht vereinbar. Die Mannes¬ treue wird überall hervorgehoben, auch da, wo die Vorlage nichts davon weiß, wie im Missionswerk und der Verbreitung der reinen Lehre Christi. Neben dieser Absicht zeigt sich das Bestreben, für das Papsttum einzutreten. Nicht allen Jüngem, sondem nur Petrus wird die Versöhnlichkeit und die Vergebung der Sünden zur Pflicht gemacht, weil der Herr ihn zu hoher Gewalt und Macht emporgehoben hat. Besonders bezeichnend sind die der Bibel hinzugefügten Worte des Herm zu Petrus: „Nach mir regieren sollst du mir das Christenreich." Das Unmögliche konnte freilich der Dichter nicht. Zwischen christlicher Demut und germanischer Heldenhaftigkeit klafft eine unüberbrückbare Kluft, aber dafür entschädigt er uns durch sein wahres Heimatsgefühl, naives Emp¬ finden und seine treuherzige Darstellung. Kaum läßt sich ein größerer Gegen¬ satz denken, als der zwischen dem Helianddichter und dem Verfasser der frän¬ kischen Evangelienharmonie, dem Mönche Otfried, der sein in fünf Bücher geteiltes Werk etwa um 868 im Benediktinerkloster zu Weißenburg nach langer, mühseliger Arbeit vollendete und es dem Könige Ludwig dem Deutschen widmete. Jener war ein Volksdichter, Otfried ein Kunstdichter und gelehrter Theologe. Beide haben denselben Stoff und dieselben Quellen. Aber was der Sachse aus freiem Empfinden für wahre Dichtung wegließ, gerade das war