60 A. Erzählende Prosa. IV. Sagen, k>) Griechische Sagen. geholt worden war und von dem Korinther sogleich als derjenige erkannt wurde, der ihm einst den Knaben auf dem Cithäron übergeben hatte. Der alte Hirt aber war ganz blaß vor Schrecken und wollte alles leugnen; nur auf die zornigen Drohungen des Ödipus, der ihn mit Stricken zu binden befahl, sagte er endlich die Wahrheit: wie Ödipus der Sohn des Laius und der Jokaste sei, wie der furchtbare Götterspruch, daß er den Vater ermorden werde, ihn in feine Hände geliefert, er aber ihn aus Mitleid erhalten habe. Aller Zweifel war nun gehoben und das Entsetzliche enthüllt. Mit einem wahnsinnigen Schrei stürzte Ödipus davon, irrte in dem Palast umher und verlangte nach einem Schwert, indem er fragte, wo die Gattin — wo die Mutter sei. Da ihm wie einem Rasenden alles aus dem Wege ging, suchte er gräßlich heulend sein Schlaf¬ gemach auf, sprengte das verschlossene Doppelthor und brach hinein. Ein grauenhafter Anblick hemmte seinen Lauf. Mit fliegendem und zerrauftem Haupthaar erblickte er hier, hoch über dem Lager schwebend, Jokaste, die sich mit einem Strang die Kehle zugeschnürt und sich erhängt hatte. Nach langem Hinstarren nahte sich Ödipus der Leiche mit brüllendem Stöhnen, ließ das hochaufgezogene Seil zur Erde herab, daß sich die Leiche auf den Boden senkte, und wie sie nun vor ihm ausgestreckt lag, riß er die goldgetriebenen Brustspangen aus dem Gewände der Frau. Diese hob er hoch in der Rechten auf, fluchte seinen Augen, daß sie nimmer schauen sollten, was er that und duldete, und wühlte mit dem spitzen Gold in denselben, bis die Augäpfel durchbohrt waren und ein Blutstrom aus den Höhlen drang. Dann verlangte er, daß ihm, dem Geblendeten, das Thor geöffnet werde, ihn hinauszuführen, ihn dem ganzen Thebanervolk als den Vatermörder, als den Muttergatten, als einen Fluch des Himmels und ein Scheusal der Erde vorzustellen. Die Diener erfüllten sein Verlangen, aber das Volk empfing den einst so geliebten und verehrten Herrscher nicht mit Abscheu, sondern mit innigem Mitleid. Kreon selbst, sein Schwager, den sein ungerechter Verdacht gekränkt hatte, eilte herbei, nicht um ihn zu verspotten, wohl aber um den fluchbelasteten Mann dem Sonnen¬ licht und dem Auge des Volkes zu entziehen und ihn dem Kreise seiner Kinder anzuempfehlen. Den gebeugten Ödipus rührte so viel Güte. Er übergab seinem Schwager den Thron, den er seinen jungen Söhnen aufbewahren sollte, und erbat sich für seine unselige Mutter ein Grab, für seine verwaisten Töchter den Schutz des neuen Herrschers; für sich selbst aber begehrte er Ausstoßung aus dem Lande, das er mit doppeltem Frevel besudelt, und Verbannung auf den Berg Cithäron, den schon die Eltern ihm zum Grabe bestimmt hatten und wo er jetzt leben oder sterben wollte, je nach der Götter Willen. Dann ver¬ langte er nach seinen Töchtern, deren Stimme er noch einmal hören wollte, und legte seine Hand auf ihre unschuldigen Häupter. Den Kreon segnete er für alle Liebe, die dieser ihm, der es nicht um ihn verdient hätte, erwiesen, und wünschte ihm und allem Volke bessern Schutz der Götter, denn er selbst erfahren hatte.