Jahr ließ, nahm ihn wenig in Anspruch. Er verfügte daher vom Oktober 1770 ab über sehr viel freie Zeit. Eine weniger gediegene Natur als die seinige wäre bei so reichlicher Muße und so verführerischen Vorbedingungen, wie ausgiebige Geldmittel, ausge¬ dehnter und angeregter Verkehr, jugendliche Lebenslust und Frauengunst, entartet. Für die seinige waren sie ein Mittel, um die großartige Harmonie seines Geistes herzustellen. Einen guten Teil seiner freien Zeit verwendete er zur Erweiterung seiner medizinischen Kenntnisse. Für die Medizin war sein Interesse schon in Leipzig durch die Tischgesellschaft bei Hofrat Ludwig geweckt worden. In Frank¬ furt hatte er in der Krankenstube die Disziplin weiter verfolgt, und es hatte in Straßburg kaum des täglichen Umgangs mit Medizinern bedurft, um ihn anzu¬ reizen, sich in der ärztlichen Wissenschaft genauer als bisher umzusehen. In einem Umfange, als ob die Medizin sein zukünftiger Beruf werden sollte, lag er vom Beginn des zweiten Semesters diesem Studium ob. Eine Nebenwirkung des medizinischen Studiums war ihm nicht unerwünscht. Es heilte ihn von jeg¬ lichem Widerwillen gegen das Häßliche und Ekelhafte am kranken oder toten Körper. Auch von anderen physischen und geistigen Schwächen suchte er sich zu befreien. So bekämpfte er das Schwindelgefühl, indem er den höchsten Gipfel des Münsters erstieg, in dem sogenannten Hals unmittelbar unter dem Knopf etwa eine Viertelstunde saß und dann ins Freie auf eine Platte trat, die kaum eine Quadratelle groß war, so daß es ihm war, als ob er in der Luft schwebe. Dies Experiment wiederholte er so oft, bis er auf den schwindelerregendsten Stellen sich mit gänzlicher Sicherheit bewegen konnte. In ähnlicher Weise be¬ seitigte er seine Empfindlichkeit gegen starken Schall. Abends beim Zapfenstreich ging er neben den Trommlern her, ob ihm auch deren Wirbel das Herz im Busen hätte zersprengen mögen. Auch die bangsame Furcht vor Kirchhöfen, Kirchen und anderen einsamen Orten, sobald sie im Dunkeln liegen, rottete er durch häufige nächtliche Besuche so mit der Wurzel aus, daß er späterhin mit allen Künsten der Einbildungskraft kaum wieder die Schauer der Jugend sich zurückrufen konnte. Es hätte nicht gelohnt, diese kleinen Züge dem Dichter nachzuerzählen, wenn sie nicht die strenge Selbsterziehung und die außerordentliche, gegen seine eigenen Schwächen gerichtete Energie bekundeten. Wer von den vielen tausend tapferen Männern, die an Schwindel leiden, würde ihm jene halsbrecherischen, verwegenen Abhärtungsversuche an der Spitze des Münsters nachmachen? Freilich schien es ihm des Lohnes wert, das Münster bis zur letzten Kreuzblume zu erklettern und alles, was ihn daran hinderte, rücksichtslos niederzukämpfen. Denn das herrliche Werk Erwins von Steinbach war vom ersten Augenblick an für ihn eine immer reicher fließende Quelle höchsten Genusses geworden. Hier begegnete er einem Kunstwerk von nie geschauter Größe, Erhabenheit und Schönheit.