1. Von der Freundschaft (Geliert, Moralische Vorlesungen.) Die Bande der Verwandtschaft werden von der Natur ge¬ knüpft und durch die Pflicht und den Umgang fester zusammen¬ gezogen. Die Verbindung durch Freundschaft ist zwar auch yon der Natur veranstaltet; allein sie ist doch mehr ein Werk unserer Wahl und moralisch guter Eigenschaften. Die wahre ■Freundschaft setzet allezeit gegenseitige Verdienste voraus, Wenigstens die Meinung derselben; in meinen Verwandten aber kann ich nicht stets das Verdienst lieben, und ihr Herz, wenn es auch gut ist, ist darum nicht mein Herz. Ich achte es hoch, über ich fühle im genauen Verstände nicht den Reiz der Liebe. Der Freund kann nicht Freund sein, ohne sich mit mir zur Fugend zu vereinigen; der Verwandte hingegen, dem ich Liebe ^huldig bin, bat darum nicht einerlei Neigungen und tugend¬ hafte Absichten mit mir. In diesem Verstände kann man be¬ haupten, dass die Freundschaft die höchste und edelste Verwandt¬ schaft fei, und dass ein treuer Freund oft fester als ein Bruder liebe. Sieht man die Freundschaft blos von der Seite der Natur au, so ist sie, insofern sie sich von der allgemeinen Liebe unter¬ scheidet, weder Tugend noch Laster. Betrachtet man sie von der Seite des Vergnügens, das sie uns gewährt, so ist sie das kostbarste Geschenk des gesellschaftlichen Lebens. Betrachtet Ulan sie als eine nähere Verbindung edler und gleichgesinnter Seelen, sich und andere glücklich zu machen, so ist sie Vergnügen Und Tugend zugleich. Man hat die Lobsprüche der Freundschaft oft auf Kosten der allgemeinen Menschenliebe übertrieben und die heftigsten Ausbrüche einer natürlichen Neigung, die Eines für das Andere gefühlt, zu einer heroischen Tugend gemacht. Man hat eine gewisse Verläugnung seiner selbst in der Freundschaft zum Wunder der Tugend erhoben, die doch oft nur ein glücklicher Eigensinn oder eine Frucht des Temperaments und der Selbstliebe gewesen 1St- Dass ich den liebe, bei dem ich eine gleiche Anlage des Verstandes und des Herzens finde, einen Charakter, der in den Hauptzügen dem meinigen gleicht, eine Gesichtsbildung, die mir ftoquette. Deutsches Lesebuch. II. 1