118 Märchen und Legenden. II. WrclM mul Isegenilen. 9. Die Thräne. Längst war vertrieben aus dem Paradies Der Menschen erstes Paar durch eigne Schuld, Uud Not und Elend, nie gekannte Schmerzen, Sie nagen an den gottverlass'nen Seelen. Doch wie sie auch verlassen, einer hegt Mit den Gefallenen Mitleid, sinnt und sinnt, Wie er die Nacht des Kummers könnte mildern Durch einen hellen, warmen Trostesstrahl. ’3 ist einer aus der Engelschar, und wie er sinnt, Schleicht leis' sich aus dem Auge eine Thräne. Er lächelt froh; wenn auch gering sein Können, Darf er doch eins dir geben, armer Erdensohn! Er steigt hernieder, bringt es, bringt die Thräne, Und leise löst sich von des. Menschen Herzen Der Gram, und heller wird sein Auge wieder, Verzweiflung weicht der frohen Zuversicht. Er faßt zum Kampfe Mut, faßt Mut zum Leben Und blickt zum Himmel auf mit frommen Augen, Dem Engel dankend, der die Thräne gab. Emil Peschkau. 10. Der Mönch von Heisterbach. Ein junger Mönch im Kloster Heisterbach Lustwandelt an des Gartens fernstem Ort; Der Ewigkeit sinnt tief und still er nach Und forscht dabei in Gottes heil'gem - Wort. Er liest, was Petrus, der Apostel, sprach: „Deni Herren ist ein Tag wie tausend Jahr', Und tausend Jahre sind ihm wie ein Tag." Doch wie er sinnt,es wird ihm nimmer klar. Und er verliert sich zweifelnd in den Wald; Was um ihn vorgeht, hört und sieht er nicht; Erst wie die fromme Vesperglocke schallt, Gemahnt es ihn der ernsten Klosterpflicht. Im Lauf erreichet er den Garten schnell; Ein Unbekannter öffnet ihm das Thor — Er stutzt — jedoch die Kirche ist schon hell, Und draus ertönt der Brüder heil'ger Chor. Nach seinem Stuhle gehend tritt er ein, Doch wunderbar — ein andrer sitzet dort, Er überblickt der Mönche lange Reih'n, Nur Unbekannte findet er am Ort. DerStauuende wird angestaunt ringsum, Man fragt nach Namen, fragt nach dem Begehr; Er sagi's — da murmelt man durchs Heiligtum: „Dreihundert Jahre hieß so niemand mehr." „Der letzte dieses Namens," tönt es laut, „Er war ein Zweifler und verschwand im Wald; Man hat den Namen keinem mehr ver¬ traut." Er hört das Wort, es überläuft ihn kalt. Er nennet nun den Abt und nennt das Jahr; Man nimmt das alteKlosterbuch zurHand, Da wird ein großes Gotteswunder klar: Er ist's,der dreiJahrhunderte verschwand.