99 Dietlein: Der Weinbau an der Mosel. neben einander stehenden Rebstöcke ist die ursprüngliche Mannigfaltigkeit der Vergformen fast ganz verloren gegangen. Ganz anders an der Mosel. Hier sind die Weingelände nicht nur beständig von Waldpartieen, Wiesen¬ land rc. unterbrochen, sondern bieten auch schon in sich selbst eine eben so außerordentliche wie überraschende Mannigfaltigkeit der Gruppierungen und landschaftlichen Scenen dar. Kein deutscher Fluß, weder Rhein, noch Donau, hat an seinen Ufern so hohe, buntgestaltete Bergabhänge. Da geht Stufe über Stufe, Terrasse über Terrasse hinaus, und selbst die höchsten zum Himmelsfirmamente emporragenden Spitzen zeigen noch Reben und erscheinen als Himmelstische, auf denen die schönsten Trauben aufgetragen sind. Die Bergpfade, welche vom Ufer des Flusses zu diesen hochgelegenen Terrassen hinaufführen, erfordern oft über eine Stunde mühsamen Anstrengens, und unwillkürlich wird man an die Senner und Älpler der Schweiz erinnert, welche ihre Milch kaum weiter herabholen als die Winzer der Mosel ihren Traubensaft. Mit welchen Mühen ist nicht der Weinbau in dieser Gegend verbunden! Erde und Dünger, in denen die Stöcke wachsen sollen, müssen vom Flusse aus hoch in die Felsenbrüche geschafft werden, und jene Bergesspitzen, die nur zum Nestbau des Adlers noch tauglich erscheinen, müssen noch das süße, goldene Blut der Traube erzeugen. Mit welcher Kühnheit tritt hier der Wein- gärtner allen Hindernissen entgegen, wie weiß er sie durch Fleiß und Ausdauer zu beseitigen! Schon bei Bremm glaubten wir die höchsten Weinberge gesehen zu haben, so daß wir sie mit dem Namen „Wein¬ alpen" belegten; aber bei Willingen entdeckten wir noch höhere, und an manchen Stellen der unteren Mosel scheinen sie sich so weit hinauf¬ zuwenden, daß sich kaum bestimmen läßt, welche die höchsten seien; denn eine Terrasse (hier Chor genannt) erhebt sich über der anderen, alle mit Reben besetzt, und ihre Zahl ist so beträchtlich, daß ich einmal nicht weniger als dreißig zählte, von denen sich die äußersten in den Wolken zu verlieren schienen. Alle diese Chöre sind auf die mannigfaltigste Weise angelegt, gerichtet und geformt, so daß der Weinbaukenner schon aus weiter Ferne beim Anblick der Chöre, sowie aus der Stellung der Rebstöcke, mit Bestimmtheit vieles über die Eigentünilichkeit der Kultur jeder Abteilung zu sagen vermag. Mannigfaltige Anstalten aller Art, ja selbst großartige Bauten mußten unternommen werden, unr Raum für die Rebstöcke zu gewinnen. Da giebt es große, von hoch emporragenden Pfeilern getragene Gewölbe, auf deren Decke dann das Chor oder der Weingarten geordnet wurde. Wie der frische Brunnenquell auf riesigen Wasser¬ leitungen oft in die fernen Weltstädte geführt ward, so wird auch hier an hundert Stellen der Weinstock an den steilsten Stellen herumgeführt, damit er das an ihren Wänden zurückprallende, warme Sonnenlicht ein¬ sauge. Die vielfach bewunderten hängenden Gärten der Semiramis können nicht mit jenen Wunderwerken verglichen werden, welche der Wein¬ bauer im Moselthale im Laufe der Zeit geschaffen hat. Bei engem, beschränktem Raume muß er sich unter den verschiedensten Umständen zu helfen suchen, sobald die Lage eines Bergvorsprunges eine günstige ist. Ein Gewölbe erhebt sich oft über dem andern, und Verbindungswegs 7*