273 Goethe: Drei lange, lange Nächte lang; Zuletzt heilt ihn Allgegemvärt'ger Balsam Allheilender Natur. Er schleicht aus dem Gebüsch hervor Und reckt die Flügel — ach! Die Schwingkraft weggeschnitten — Hebt sich mühsam kaum Am Boden weg Unwürdigem Raubbedürfnis nach Und ruht tieftrauernd Auf dem niedern Fels am Bach. Er blickt zur Eich hinauf. Hinauf zum Himmel, Und eine Thräne füllt sein hohes Aug'. Da kommt mutwillig durch die Myrtenäste Dahergerauscht ein Taubenpaar, Läßt sich herab und wandelt nickend Über goldnen Sand am Bach Und ruckt einander an; Ihr rötlich Auge buhlt umher. Erblickt den innig Trauernden. Der Tauber schwingt neugiergesellig sich Zum nahen Busch und blickt Mit Selbstgefälligkeit ihn freund- lich an. Nektartropfen. „Du trauerst," liebelt er; „Sei guten Mutes, Freund! Hast du zur ruhigen Glückseligkeit Nicht alles hier? Kannst du dich nicht des gold'nen Zweiges freun. Der vor des Tages Glut dich schützt? Kannst du der Abendsonne Schein Auf weichem Moos am Bache nicht Die Brust entgegenheben? Du wandelst durch der Blumen frischen Tau, Pflückst aus dem Überfluß Des Waldgebüsches dir Geleg'ne Speise, letzest Den leichten Durst am Silberquell. — O Freund, das wahre Glück Ist die Genügsamkeit Und die Genügsamkeit Hat überall genug." „O Weise!" sprach der Adler, und tief und ernst Versinkt er tiefer in sich selbst, „£) Weisheit! du red'st wie eine Taube!" Goethe. 62. Rektartrovfen. Als Minerva, jenen Liebling, Den Prometheus, zu begünst'gen. Eine volle Nektarschale Von dem Himmel niederbrachte. Seine Menschen zu beglücken Und den Trieb zu holden Künsten Ihrem Busen einzuflößen. Eilte sie mit schnellen Füßen, Daß sie Jupiter nicht sähe; Und die goldne Schale schwankte. Und es fielen wenig Tropfen Auf den grünen Boden nieder. Emsig waren drauf die Bienen Hinterher und saugten fleißig; Kam der Schmetterling geschäftig. Auch ein Tröpfchen zu erhaschen; Selbst die ungestalte Spinne Kroch herbei und sog gewaltig. Glücklich haben sie gekostet, Sie und andre zarte Tierchen; Denn sie teilen mit dem Menschen Nun das schönste Glück, die Kunst. Goethe. Deutsches Lesebuch f. h. Lehranst. IV. Teil. (Tertia.) 18