Georg-Eckert-Institut BS78
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Deutsches Lesebuch
für
die Ledürfnisse katholischer Volksschulen.
Im Anschlüsse an das-Lesebuch von
Joscph Lepke
für ' '
Hberktcrssen gehobenem Schuten
bearbeitet von
KlosSz
Äöniglichrm Leminardirektor in Liebenthal.
Mil >29 erläuternden Abbildungen ans der Natur-, Erd- lind Geschichlsknnde.
[ Bibliothek-exemplars
---------*ijuu .l.-i- 'Ji.mutt.itfr'
Jerdincrnd Kivi,
/königliche Universitäts- und Verlags-Buchhandlung,
örcslau, 1884.
Alle Rechte vorbehalten.
Georg-Ecke't-lreUtut
für in'.. ' 'iie
Schulb . mng
Braunst. .veig
Schulbuchbibiiothefc
WMlS
Barth und Comp. (W. Friedrich) in Breslau.
Vorbemerkung.
So sehr sich auch das Lepkefche Lesebuch seit seiner Einführung in die
Schuten als brauchbar erwiesen hat, so hat sich gleichwohl die Notwendigkeit
herausgestellt, demselben einen neuen Teil hinzuzufügen, um den Ledürfnisten
der Oberklassen gehobener Schulen gerecht zu werden. Wiederholter Auf-
forderung zufolge habe ich die Bearbeitung desselben unternommen. Am
'Einheit in Anordnung und Plan mit dem Lepkefchen Lesebuche festzuhalten,
habe ich naturgemäß den entsprechenden Teil des „Deutschen Lesebuches von
Eduard Dock" der Bearbeitung zugrunde gelegt, dabei aber stets den Zweck
im Auge behalten, daß die Schüler aus diesem Luche neben der Liebe zu
-König und Vaterland auch katholisches Leben, katholische Anschauungen
schöpfen sollen. Daher haben, soweit es möglich war, nicht nur katholische
Dichter und Schriftsteller eine größere Lerücksichtigung gefunden, sondern es
sind auch in Abteilung A: „Lebens fpiegel" mehrere Lesestücke, von echt
katholischem Geiste erfüllt, und in dem geschichtlichen Teile eine Menge
katholischer Geschichtsbilder aufgenommen worden. Was den naturkundlichen
und geographischen Teil des Luches anlangt, so haben bis auf wenige
Änderungen die Lefestücke des Lockfchen Luches Aufnahme gefunden.
Möge nun auch dieses Luch als brauchbar sich erweisen, in den jungen
-Herzen kirchlichen Geist und vaterländischen Sinn, diese beiden Grundpfeiler
wahrer Lildung, in gleicher Weife zu fördern.
Liebenthal, den 23. April 1883.
Klose.
IV
Übersicht des Inhalts.
Sinnt.: Ein * bezeichnet ein Gedicht, zwei bedeuten, daß das Gedicht flir Schulen singbar ist.
A. Deutscher Lebensspiegel.
1 .^Gelobt sei Jesus Christ!......................
2.*Aus der Jugendzeit.............................
Z.^Muttersprache...................................... Schenkendocf.
4. *Häusliches Leben nach dem Liede von der Glocke
5. *Der Löwe von Florenz............................ Bernhardt.
6. *Des fremden Kindes heiliger Christ.............. Rückert
7. *Der schönste Baum............................... Seros.
8. Gegrüßet seist du, Maria!........................ Alban Stolz
9. *Deö Deutschritters Ave.......................... E.
t 0.*Der Ring des PolykcateS.......................... Gi
11.*Lebensregeln ..................................... Rückert
4 2. Sprichwörter ..................................
13. *Erlkönig ..................................
14. Claudius an seinen Sohn Johannes............:,
15. Die Neujahrsnacht eines Unglücklichen.......
16. *Zum Jahresschluß...............................
17. Die Geschwister.................................
18. *Petrus......................................... Ä.
19. *Zwei Schwestern................................ O.
20. Wessen Licht brennt länger?.....................
21. *Der Todesengel . ..............................
22. *Für die armen Seelen .......................... Annette ».Droste-
23. *Lsterlied ..................•..................
24. Das Evangelium von den Spatzen............... Alban
25. Der Schneider in Pensa........................ Hebel
26. Wohlthun........................................
27 *Abdallah.............................................. Chamisso
28. *Parabel........................................ Rückert
29. *Zwei Sprüche .................................. Rückert
30 *Abendlied.........................................
31. *Heimat.........................................
32. *£te Bäume...................................... L.
33. *Hoffnung.......................................
34. *Du sonnige, wonnige Welt! .....................
35. *Schall der Nacht...............................
36. Aus der deutschen Heldensage: Das Nibelungenlied
37. *Arion.......................................... A.
38. *Die wiedergefundenen Söhne..................... I- v. Herder
:s. Seite 1
Rückert 1
Schenkendorf 2
Schiller 3
Bernhardt 5
Rückert 6
Gerok 7
Alban Stolz 8
E. Geibel 10
Gerok 12
Rückert 12 12
Goethe 13
14
Jean Paul 16
Gerok 17
Josephson 18
G. Kinkel 20
O. v. Redwitz 22
Stöber 23
Görres 27
Annettev.Dcoste-HülShoff 28
Gerok 29
Alban Stolz 30
Hebel 34
Claudius 38
Chamisso 40
Rückert 44
Rückert 45
Cl. Brentano 45
Grimme 46
L. Hensel 46
E. Geibel 47
Weber 47
Ch. v. Grimmelshausen 48
Hossmeyer und Hering 49
A. W. v. Schlegel. . - 53
I. G. v. Herder . - -. 56
Übersicht des Inhalts.
V
39. »Aus Hermann und Dorothea. (Schicksal und Anteil)
40. »Der Alpenjäger..................................
41. »Der Kampf mit dem Drachen.......................
42. »Die Kraniche des Jbykus.........................
43. »Die Bürgschaft..................................
44. »Der blinde König ...............................
45. »Das Glück von Edenhall..........................
46. »Des Sängers Fluch...............................
4 7.»Der Postillon...................................
48. »Das Grab im Busento.............................
49. Wiege und Sarg...................................
50. *®ct güldene Ring................................
51. »Bei dem Grabe meines Vaters.....................
52. *Wenn du noch eine Mutter hast...................
53. Madonna della Sedia..............................
54. Von Freiheit und Vaterland.......................
55. »Frühlingsgruß an das Vaterland, 1814............
56. »Deutscker Trost.................................
5 7.»Wer ist ein Mann?...............................
5 8.*Frühlingsmahnung ...............................
59. Sprüche..........................................
60. »Über ein Ctündlein..............................
61. »Trost...........................................
62. Der Tod des Gerechten............................
6 3 »Jenseits!.......................................
64.»Treue..............................................
Seite
v. Goethe . 57
Fr. v. Schiller . 61
v. Schiller . 61
v. Schiller . 66
v. Schiller . 68
L. Uhland . 71
Uhland . 72
Uhland . 73
N. Lenau . 74
A. Graf v. Platen . . 75
Würkert . 75
Chr. F. Scherenberg. . 77
M. Claudius . 78 79
Houwald . 79
E. M. Arndt . 82
M. v. Schenkendorf. . 83
E. M. Arndt . 84
E. M. Arndt ,. 84
Fr. Bodenstedt .... . . 85
Simrock
P. Heyse . . 86
F. A. Krummacher . . 86
Münst. Lesebuch . . . . . 86
L. Hensel . . 88
Novalis . . 89
B. Aus dem Haushalte der Natur.
1. Das Aufblühen der Schöpfung ......................
2. Der Bote im Junius................................
3. Der Wandertrieb...................................
4. Blumen und Insekten ..............................
5. Der Wind und die Blüte............................
6. Die Fülle des Sommers.............................
7. »Die Eintagsfliege am Johannistage (Abbild.)......
8. Die Ameise (Abbild.)..............................
9. Schädliche Forstschmetterlinge «Abbildungen)......
10. Schlaf und Wachen.................................
11. Krankheiten unserer Feldfrüchte...................
12. Vom innern Bau der Pflanzen (Abbildungen).........
13. Erden und Steine (Abbild.)........................
14. Das Leben im Gestein (Abbildungen)................
15. Wachsen die Steine? (Abbildungen).................
1 6. Ruhe und Bewegung der Körper (Abbild.)...........
17. Von der Wärme.....................................
18. Wasserdampf und Verdunstung.......................
19. Das Licht alö Maler (Abbild.).....................
20. »Rätsel...........................................
21. Das menschliche Auge und das Sehen (Abbild.) ...
22. Was sieht man durch das Mikroskop? (Abbild.)....
23. Vom Nutzen chemischer Kenntnisse..................
24. Natur des Wassers.................................
2 5. Bestandteile der atmosphärischen Luft (Abbild.)..
26. Chemische Bestandteile der Nahrungsmittel.........
27. Von der Garung und Essigbereitung.................
Nach Böhners Kosmos 89
M. Claudius............. 91
Nach Böhners Kosmos 91
R. Waeber............... 93
R. Waeber............... 95
Claus Harms............. 97
Rückert................. 97
Schilling .............. 98
Wagner.................. 98
Schubert.............. 100
Sandmeier u. Stein. . 101
Stöckhardt............. 103
Goltzsch.............. 106
Gude................... 108
Roßmäßler............. 112
Trappe................. 115
Trappe................. 121
Roßmäßler...........'. 124
Wagner u. Trappe... 127
Schiller............... 129
Trappe................ 129
Zöllner................ 132
Stöckhardt............ 134
Runkwitz............... 137
Runkwitz.............. 139
Runkwitz.............. 144
Tutschek............... 145
VI
Übersicht des Inhalts.
28. DaS Nordlicht (SIbbilb.).........
29. Die Zahl der Sterne..............
30. Auf dem Monde....................
31. Sternschnuppen-Ströme (Abbild.)
32. Von unserer Sonne................
33. *®rei Rätsel.....................
Seite
Hartwig............. 147
Nach Bohners Kosmos 148
R. Waeber............. 149
Mädler u. Rosenkranz 152
Mädler u. Preißinger. 154
Schiller.............. 150
C. Erzählungen ans der Geschichte.
1. Die Christenverfolgungen..............................
2. Die Völkerwanderung [1) Deutsche Völkervereine.
2) Die Hunnen. 3) Alarich der Westgote. 4) Geiserich
der Vandale. 5) Attila der Hunnenkönigs!..............
3. Muhamed..............................................
4. Leben der Mönche und ihre Wirksamkeit................
5. Die päpstliche Macht.................................
6. Flor der Städte im Mittelalter.......................
7. Der Dom zu Köln (Abbild.).............................
8. *Der Sänger..........................................
9. Gottesurteile im Mittelalter.........................
10. *Die Rache............................................
11. Rudolf von Habsburg (Abbild.)........................
12. *Kaiser Rudolfs Ritt zum Grabe........................
13. Der Schweizerbund ...................................
14. Aus dem Schauspiele „Wilhelm Tel!" (Abbild.) sl) 'Am
See. 2) Der Apfelschußs)..............................
15. *Graf Eberhard der Rauschebart sl) Der Überfall im
Wildbad. 2) Die drei Könige zu Heimsen. 3) Die
Schlacht bei Reutlingen. 4) Die Döfstnger Schlacht,!
16. Johann Huß und die Hussiten (Abbild.)................
17. *Aus der Jungfrau von Orleans sl) Johannas Abschied
von der Heimat. 2) Johanna vor König Karls!...
18. Erfindung der Uhren..................................
19. Die Entdeckungsfahrten der Portugiesen sl) Der Handel
mit dem Morgenlande. 2) Bartholomäus Diaz.
3) Vasko de Gamasj...................................
20. Segensvolles Wirken der katholischen Kirche im
Mittelalter...........................................
21u.Maximilian I..........................................
21d.Joachim I.............................................
22. *Der Pilgrim von St. Just.............................
23. Deutsches Stadtleben im Anfange des 17. Jahrh...
24. Beschaffenheit der Dörfer beim Beginn des 50jähr. Krieges
25. Der dreißigjährige Krieg sl) Der Anfang de-s Krieges.
2) Des Krieges Fortgangs!............................
26. WallensteinS Ermordung (Abbild.).....................
27. Rußland unter Peter dem Großen (Abbild.).............
28. Karl XII., König von Schweden (Abbild.)...............
29. Geliert vor Friedrich dem Großen (Abbild.)...........
30. Der Überfall bei Hochkirch...........................
31. Fürsorge Friedrichs des Großen für die 1772 neu
erworbenen Landesteile................................
32. Washington und Franklin (Abbild.) sl) Ansiedelungen
in Nordamerika. 2) Aufstand gegen die Engländer.
3) Washington, Präsident des Freistaates. 4- Der
Buchdrucker Franklins!................................
33. Die französische Revolution..........................
Münst. Lesebuch......... 157
Andrae.................. 158
Leipoldt............... 162
Nach Holzwarth........ 164
Robitsch................ 166
Weiter u. Keck........ 168
Nach Schöppner........ 170
Goethe................. 173
Klopp .................. 174
Uhland ................ 175
Becker.................. 175
Just. Kerner............ 177
Zschokke................ 178
Schiller :.............. 182
Uhland................. 190
..................... 197
Schiller............... 200
Grube................. 202
Andrae................. 203
Annegarn............... 204
Niedergesäß............ 206
Nach Schnabel......... 208
Platen................. 209
Gustav Freytag........ 209
Gustav Freytag........ 212
Nach Weiter und Grube 215
Wetter................. 218
Weller................. 219
Weiter................. 221
Vernaleken............. 223
Archen holz............ 225
Gustav Freytag........ 228
Andrae.............. 231
Haupt............... 234
Übersicht des Inhalts.
34. Hinrichtung Ludwigs XVI. und Schicksal der Seinigen
«Abbild.)..........................................
35. Die Königin Luise während des unglückl. Krieges «Abbild.)
36. Hofers Tod «Abbild.)................................
37. *Andreaö Hofer......................................
38. *Die Opfer von Wechsel «Abbild.)....................
39. Freiherr von Stein «Abbild.)........................
40. Breslau, den 17. März 1813..........................
41. Körner an seinen Vater..............................
42. Aus Körners Leben (Abbild.).........................
43. *Lützows wilde Jagd «Abbild.).......................
44. *Blücher am Rhein...................................
45. Ernst Moritz Arndt «Abbild.)........................
46. *Die hohle Weide....................................
47. *Geharnischtes Sonett...............................
48. Ein prophetisches Wort vom Turnvater Jahn «Abbild.)
49. Friedrich Wilhelm IV. «Abbild.) ....................
50. **Barbarossa........................................
51. Die Fahne vom 61. «achten pommerschen) Regiment
52. *Mein Lieben.. ..........;.........................
53. Wahlsprüche der Hohenzollern..........................
D. Erd- und Völkerkunde.
4. Bewohner des deutschen Hochgebirges «Abbild.)
5. Wien.......................................
VII
Seite
Leo und Weiter 234
Adami 237
Tschache 239
I. Mosen 240
W. Schmidt 240
Hahn und Körner ... 241
Haupt 243
244
Vernaleken 245
Theodor Körner 247
Kopisch 248
Vernaleken 249
Rückeri 251
Rückert 252
252
Schmettau 255
Quandt 257
Petermann 257
Hoffmann».Fallersleben 258
von Müstler, Staats-
minister 259
Kutzen 261
Kutzen 262
Kutzner 263
Kutzen 266
Gittermann 269
Falk 270
Krummacher 272
272
273
8. *Rätsel.........................................
9. Der Föhn .......................................... Tschudi
10. *Preis der Tanne.................................. Just. Kerner............. 274
11. Die Gotthardbahn «Abbild.)................................................. 274
12. Der Mont-Blanc «Abbild.).......................... Brissen ................. 277
13. Die Schiffswerften in Amsterdam................... E. M. Arndt.............. 279
14. Die Schwammfischerei . ^.......................... Buch der Erfindungen. 280
15. *Der Lotse........................................ Giesebrecht.............. 280
16. Neapel und der Vesuv ............................. Meyer.................... 281
17. Italien. Rom «Abbild.)............................ Württemb. Lesebuch .. 282
18. *Der Taucher...................................... Schiller................. 286
19. An dem Guadalquivir «Abbild.)..................... Willkomm................. 290
20. Straßen und Straßenleben in London................ F. Lewald................ 291
21. Norwegens Natur................................... Mügge.................... 292
22. Die lange Nacht in Hammerfest..................... Mügge.................... 293
23. Das Nordkap «Abbild.)............................. P. B. Du Chaillu, über-
setzt von Helms .. - 294
24. *Sehnen .......................................... Heine.................... 297
25. Die russischen Ostseeprovinzen ................... Kohl..................... 297
26. Der Kaukasus ..................................... Berthelt................. 299
27. Der Onega- und Ladoga-See und die Newa............ Etzel.................... 299
28. Der Stör «Abbild.)................................ Gude..................... 300
29. Sibirien.......................................... Mauer.................... 301
30. Die Steppen der Kirgisen (Abbild.)................ Berthelt................. 303
31. Mongolen ......................................... Mauer.................... 305
vin
Übersicht des Inhalts.
32. Pflanzen und Tiere in Indien.........................
1) Zuckerrohr, Reis, Bambus........................
2) Die Kokospalme (Abbild.)........................
3) Der Muskatnußbaum..............................
4) Die Tigerjagd (Abbild.)........................
5) Der Orang-Utang (Abbild.).......................
33. Japan (Abbild.)......................................
34. Der Theestrauch (Abbild.)............................
35. Auf einer Reise nach dem Sinai (Abbild.).............
36. Reise durch die Wüste (Abbild.)......................
37. *Löwenritt (Abbildungen).............................
38. Die Tierwelt Afrikas.................................
1) Charaktertiere (Abbild.).......................
2) Das Nilpferd...................................
3) Die Giraffe (Abbild.)..........................
4) Das Zebra (Abbild.)............................
39. Kautschuk und Guttapercha (Abbild.)..................
40. Die Hauptstadt der neuen Welt.......................
41. **iieb eines Landmanns in der Fremde.................
42. Die Prairien und Savannen (Abbild.).................
43. Cincinnati..........................................
44. Chicago.............................................
45. San Franzisko.......................................
46. Die Pacific-Eisenbahn ...............................
47. Der Niagarafall (Abbild.) ...........................
48. Das Petroleum.......................................
49. Wie es in Süd-Amerika aussieht (Abbildungen)....
50. Der Guano (Abbildungen).............................
51. Die Tiefe des Meeres ................................
52. Äquatorialstrom.............—........................
53. Das Leuchten des Meeres..........................
54. Die Koralleninseln (Abbild.)................... . .
55. Vulkanische Ausbrüche (Abbild.)......................
56. Bildung der Erdoberfläche (Abbildungen).............
57. Von der Entstehung und dem Bau der Erde (Ab-
bildungen) .............................................
58. Die Erde als Wohnsitz der Menschen (Abbildungen).
Seite
306
306
306
308
308
309
Heine u. Hofacker.... 310
Hauöbote . . . ....... 313
..................... 314
Brehm................. 315
Freiligrath........... 320
................'... 322
..................... 322
..................... 323
Buch der Erfindungen.
Berthelt.............
Salis................
Ulrici...............
Mauer................
Donais...............
Kannegießer...........
Bumüller.............
Duttenhofer u. Meyer
Runckwitz ...........
Nach A. v. Humboldt
Kühner ..............
Hartwig..............
Hartwig..............
Förster..............
Bumüller .. .........
Seydlitz ............
Nach Schubert........
324
324
325
326
328
329
330
331
333
334
335
337
338
342
344
345
347
348
350
352
Tutschek............... 357
NachSchillingu.Seydlitz 362
Verzeichnis der Abbildungen und Uebersicht der Gedichte Seite 366 und 367.
A. Deutscher Leliensspiegel.
1. *Gelobt sei Jesus Christus!
1. Sprich diesen Gruß aus Herzens-
grund,
den schönsten wohl von allen,
wenn du in früher Morgenstund'
die Glocken hörest schallen.
Hast du dein Tagewerk vollbracht,
dann lege fröhlich du
beim Zlcrnenschein der stillen Üacht
dich mit dem Gruß zur Uuh.
3. Sprich diesen Gruß, will dir in
Leid
des Lebens Stern versinken,
crgcbungsvoll und sei bereit,
den üclch mit ihm zu trinken.
Und wenn im Kampf die sünd'gc Lust
dich schier zu Loden zieht,
sprich diesen Gruß aus voller Srust —
und steh, — der Feind entflicht!
8. Siet diesen Gruß nur fort und fort
den Menschen allerwegen;
cs ruht auf diesem schlichten Wort
rin unermcjs'ner Segen.
Venn Gottes starke Vatcrhand
wird schützend dich umsah'n,
wenn seinen Sohn du treu bekannt
auf deiner Lebensbahn.
4. Wohl dir, war nur ein großes Lob
dem Herrn dein ganzes Leben!
dann kommt der Tod wohl, doch darob
darfst du nicht bang erbeben.
Sprich diesen Gruß zum letztenmal,
schon schwinden Raum und Zeit —
und Antwort tönt im Himmclssaal
dir zu: „3n Ewigkeit!"
2. Mus der Jugendzeit.
1. Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
klingt ein Lied mir immerdar;
o wie liegt so weit, o wie liegt so weit,
was mein einst war!
2. Was die Schwalbe sang, was die Schwalbe saug,
die den Herbst und Frühling bringt,
ob das Dorf entlang, ob das Dorf entlang
das jetzt noch klingt?
Deutsches Lesebuch für kath. Schulen. IV. Für Oberklassen.
1
2
3. Muttersprache.
3. „Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm,
waren Kisten und Kasten schwer;
als ich wieder kam, als ich wieder kam,
war alles leer."
4. O du Kindermund, o du Kindermund
unbewußter Weisheit froh,
vogelsprachekund, vogelsprachekund
wie Salomo.
5. O du Heimatflur, o du Heimatflur,
laß zu deinem Heilgen Raum
mich noch einmal nur, mich noch einmal nur
entfliehn im Traum!
6. Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm,
war die Welt mir voll so sehr;
als ich wieder kam, als ich wieder kam,
war alles ^er.
7. Wohl die Schwalbe kehrt, wohl die Schwalbe kehrt,
und der leere Kasten schwoll;
ist das Herz geleert, ist das Herz geleert,
wird's nie mehr voll.
8. Keine Schwalbe bringt, keine Schwalbe bringt
dir zurück, wonach du weinst;
doch die Schwalbe singt, doch die Schwalbe singt
im Dorf wie einst:
9. „Als ich Abschied nahm, als ich Abschied nahm,
waren Kisten und Kasten schwer;
als ich wieder kam, als ich wieder kam,
war alles leer."
Ruckert.
3. ^Muttersprache.
1. Muttersprache, Mutterlaut!
Wie so wonnesam, so traut!
Erstes Wort, das mir erschallet,
süßes, erstes Liebeswort,
erster Ton, den ich gelallet,
klingest ewig in mir fort!
2. Ach, wie trüb' ist meinem Sinn,
wenn ich in der Fremde bin,
wenn ich fremde Zungen üben,
fremde Worte brauchen muß,
die ich nimmermehr kann lieben,
die nicht klingen als ein Gruß!
3. Sprache, schön und wunderbar,
ach, wie klingest du so klar l
Will noch tiefer mich vertiefen
in den Reichtum, in die Pracht;
ist mir's doch, als ob mich riefen
Väter aus des Grabes Nacht.
4. Klinge, klinge fort und fort,
Heldensprache, Liebeswort!
steig' empor aus tiefen Grüften,
längst verschollnes altes Lied,
leb' aufs neu' in heil'gen Schriften,
daß dir jedes Herz erglüht!
4. Häusliches Seien, nach dem Siede von der Glocke.
3
5. Überall weht Gottes Hauch,
heilig ist wohl mancher Brauch;
aber soll ich beten, danken,
geb' ich meine Liebe kund,
meine seligsten Gedanken,
sprech' ich wie der Mutter Mund.
v. Schenkendorf.
4. *Häusliches Leben, nach dem Liede von der Glocke.
-Fest gemauert in der Erden
steht die Form, aus Lehm gebrannt.
Heute muß die Glocke werden!
Frisch, Gesellen, seid zur Hand!
Von der Stirne heiß
rinnen muß der Schweiß,
soll das Werk den Meister loben;
doch der Segen kommt von oben.
Zum Werke, das wir ernst bereiten,
geziemt sich wohl ein ernstes Wort;
wenn gute Reden sie begleiten,
dann fließt die Arbeit munter fort.
So laßt uns jetzt mit Fleiß betrachten,
was durch die schwache Kraft entspringt;
den schlechten Mann muß man verachten,
der nie bedacht, was er vollbringt.
Das ist's ja, was den Menschen zieret,
und dazu ward ihm der Verstand,
daß er im innern Herzen spüret,
was er erschafft mit seiner Hand.
Was in des Dammes tiefer Grube
die Hand mit Feuers Hilfe baut,
hoch auf des Turmes Glockenstube,
da wird es von uns zeugen laut.
Noch dauern wird's in späten Tagen
und rühren, vieler Menschen Ohr
und wird mit dem Betrübten klagen
und stimmen zu der Andacht Chor.
Was untön tief dem Erdensohne
das wechselnde Verhängnis bringt,
das schlägt an die metallne Krone,
die es erbaulich weiter klingt!
Denn mit der Freude Feierklange
begrüßt sie das geliebte Kind
auf seines Lebens erstem Gange,
den es in Schlafes Arm beginnt;
ihm ruhen noch im Zeitenschoße
die schwarzen und die heitern Lose;
der Mutterliebe zarte Sorgen
bewachen seinen goldnen Morgen. --
Die Jahre fliehen pfeilgeschwind.
Vom Mädchen reißt sich stolz der Knabe;
er stürmt ins Leben wild hinaus,
durchmißt die Welt am Wanderstabe,
fremd kehrt er heim ins Vaterhaus.
Und herrlich in der Jugend Prangen,
wie ein Gebild aus Himmelshöh'n,
mit züchtigen, verschämten Wangen
sieht er die Jungfrau vor sich steh'n.
Da faßt ein namenloses Sehnen
des Jünglings Herz; er irrt allein;
aus seinen Augen brechen Thränen,
er flieht der Brüder wilden Reih'n.
Errötend folgt er ihren Spuren
und ist von ihrem Gruß beglückt;
das Schönste sucht er auf den Fluren,
womit er seine Liebe schmückt.
O zarte Sehnsucht, süßes Hoffen,
der ersten Liebe goldne Zeit!
Das Auge sieht den Himmel offen,
es schwelgt das Herz in Seligkeit.
O daß sie ewig grünen bliebe,
die schöne Zeit der jungen Liebe!
Drum prüfe, wer sich ewig bindet,
ob sich das Herz zum Herzen findet!
Der Wahn ist kurz, die Reu' ist lang. —
Lieblich in der Bräute Locken
spielt der jungfräuliche Kranz,
wenn die hellen Kirchcnglocken
laden zu des Festes Glanz.
Ach! des Lebens schönste Feier
endigt auch des Lebens Mai,
mit dem Gürtel, mit dem Schleier
reißt der schöne Wahn entzwei.
Die Leidenschaft flieht,
die Liebe muß bleiben ;
die Blume verblüht,
die Frucht muß treiben;
der Mann muß hinaus
ins feindliche Leben,
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4. Häusliches Leben, nach dem Liede von der Glocke.
muß wirken und streben
und pflanzen und schaffen,
erlisten, erraffen,
muß wetten und wagen,
das Glück zu erjagen.
Da strömet herbei die unendliche Gabe;
es füllt sich der Speicher mit köstlicher
Habe,
die Räume wachsen, es dehnt sich das
Haus.
Und drinnen waltet
die züchtige Hausfrau,
die Mutter der Kinder,
und herrschet weise
im häuslichen Kreise,
und lehret die Mädchen,
und wehret den Knaben,
und reget ohn' Ende
die fleißigen Hände,
und mehrt den Gewinn
mit ordnendem Sinn,
und füllet mit Schätzen die duftenden
Laden,
und dreht um die schnurrende Spindel
den Faden,
und sammelt im reinlich geglätteten
Schrein
die schimmernde Wolle, den schneeichten
Lein,
und füget zum Guten den Glanz und
den Schimmer,
und ruhet nimmer.
Und der Vater mit frohem Blick
von des Hauses weitschauendem Giebel
überzählet sein blühend Glück,
siehet der Pfosten ragende Bäume
und der Scheunen gefüllte Räume
und die Speicher, vom Segen gebogen,
und des Kornes bewegte Wogen,
rühmt sich mit stolzem Mund:
Fest, wie der Erde Grund,
gegen des Unglücks Macht
steht mir des Hauses Pracht! —
Doch mit des Geschickes Mächten
ist kein ew'ger Bund zu flechten,
und das Unglück schreitet schnell.
Wohlthätig ist des Feuers Macht,
wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht,
und was er bildet, was er schafft,
das dankt er dieser Himmelskraft;
doch furchtbar wird die Himmelskraft,
wenn sie der Fessel sich entrafft,
einhertritt auf der eignen Spur,
die freie Tochter der Natur.
Wehe, wenn sie losgelassen,
wachsend ohne Widerstand,
durch die volkbelebten Gaffen
wälzt den ungeheuren Brand!
Denn die Elemente hassen
Das Gebild' der Menschenhand.
Aus der Wolke
quillt der Segen,
strömt der Regen;
aus der Wolke, ohne Wahl,
zuckt der Strahl!
Hört ihr's wimmern hoch vom Turm?
Das ist Sturm!
Rot wie Blut
ist der Himmel;
das ist nicht des Tages Glut!
Welch Getümmel
Straßen auf!
Dampf wallt auf!
Flackernd steigt die Feuersäule;
durch der Straßen lange Zeile
wächst es fort mit Windeseile;
kochend wie aus Ofens Nachen
glüh'n die Lüfte, Balken krachen,
Pfosten stürzen, Fenster klirren,
Kinder jammern, Mütter irren,
Tiere wimmern
unter Trümmern;
alles rennet, rettet, flüchtet,
taghell ist die Nacht gelichtet;
durch der Hände lange Kette
um die Wette
fliegt der Eimer; hoch im Bogen
spritzen Quellen Wasserwogen.
Heulend kommt der Sturm geflogen,
der die Flamme brausend sucht.
Praffelnd in die dürre Frucht
füllt sie, in des Speichers Räume,
in der Sparren dürre Bäume,
und als wollte sie im Wehen
mit sich fort der Erde Wucht
reißen in gewalt'ger Flucht,
wächst sie in des Himmels Höhen
riesengroß!
5. Der Löwe von Florenz.
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Hoffnungslos
weicht der Mensch der Götterstärke,
müßig sieht er seine Werke
und bewundernd untergehen.
Leergebrannt
ist die Stätte,
wilder Stürme rauhes Bette.
In den öden Fensterhöhlen
wohnt das Grauen,
und des Himmels Wolken schauen
hoch hinein.
Einen Blick
nach dem Grabe
seiner Habe
sendet noch der Mensch zurück, —
greift fröhlich dann zum Wanderstabe.
Was Feuers Wut ihm auch geraubt,
ein süßer Trost ist ihm geblieben:
Er zählt die Häupter seiner Lieben
und sieh! ihm fehlt kein teures Haupt.
Dem dunklen Schoß der heil'gen
Erde
vertrauen wir der Hände That,
vertraut der Sämann seine Saat
und hofft, daß sie entkeimen werde
zum Segen nach des Himmels Rat.
Noch köstlicheren Samen bergen
wir trauernd in der Erde Schoß
und hoffen, daß er aus den Särgen
erblühen soll zu schönerm Los.
Von dem Dome
schwer und bang
tönt die Glocke
Grabgesang.
Ernst begleiten ihre Trauerschläge
einen Wand'rer auf dem letzten Wege.
Ach! die Gattin ist's, die teure,
ach! es ist die treue Mutter,
die der schwarze Fürst der Schatten
wegführt aus dem Arm des Gatten,
aus der zarten Kinder Schar,
die sie blühend ihm gebar,
die sie an der treuen Brust
wachsen sah mit Mutterlust!
Ach! des Hauses zarte Bande
sind gelöst auf immerdar;
denn sie wohnt im Schattenlande,
die des Hauses Mutter war;
denn es fehlt ihr treues Walten,
ihre Sorge wacht nicht mehr;
an verwaister Stätte schalten
wird die Fremde liebeleer.
Schiller.
5. *Der Löwe von Florenz.
„Her Löw' ist los! der Löw' ist frei!
Die ehernen Bande riß er entzwei!
Zurück, daß ihr den vergeblichen Mut
nicht schrecklich büßt mit dem eigenen Blut!"
Und jeder suchte mit scheuer Eil'
in des Hauses Jnnerm Schutz und Heil;
auf Markt und Straßen allumher
ward's plötzlich still und menschenleer.
Ein Kindlein nur, des unbewußt,
verloren in des Spieles Lust,
fern von der sorgenden Mutterhand
saß auf dem Markt am Brunnenrand.
Wohl viele schauten von oben herab,
sie schauten geöffnet des Kindleins Grab,
sie rangen die Hände und weinten sehr
und blickten nach Hilfe rings umher.
Doch keiner wagte, das eigene Leben
um des fremden willen dahinzugeben;
denn schon verkündet ein nahes Gebrüll
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6. Des fremden Kindes Heilger Christ.
das Verderben, das jeglicher meiden will.
Und schon mit der rollenden Augen Glut
erlechzt der Löwe des Kindleins Blut,
erhebt er drohend die grimmige Klau': —
O qualvoll', herzzerreißende Schau!
So rettet nichts das zarte Leben,
dem gräßlichsten Tode dahingegeben? —
Da plötzlich stürzt aus einem Haus
mit fliegenden Haaren ein Weib heraus: —
„Um Gotteswillen, o Weib, halt ein!
willst du dich selbst dem Verderben weih'n?
Unglückliche Mutter, zurück den Schritt!
Du kannst nicht retten, du stirbst nur mit!"
Doch furchtlos fällt sie den Löwen an,
und aus dem Nachen mit scharfem Zahn
nimmt sie das unversehrte Kind
in ihren rettenden Arm geschwind.
Der Löwe stutzt, und unverweilt
mit dem Kinde die Mutter von dannen eilt.
Da erkannte gerührt so jung wie alt
des Mutterherzens Allgewalt
und des Leuen großmütigen Sinn zugleich.
Doch manche Mutter, von Schrecken bleich,
sprach still: „Um des eigenen Lindes Leben
hätt' ich mich auch dahingegeben."
Bernhardt.
6. *Des fremden Kindes heiliger Christ.
1. Es läuft ein fremdes Kind
am Abend vor Weihnachten
durch eine Stadt geschwind,
die Lichter zu betrachten,
die angezündet sind.
2. Es steht vor jedem Haus
und sieht die hellen Räume;
die drinnen schau'n heraus,
die lampenvollen Bäume;
weh wird's ihm überaus.
3. Das Kindlein weint und spricht:
„Ein jedes Kind hat heute
ein Bäumchen und ein Licht
und hat dran seine Freude,
nur bloß ich armes nicht.
4. An der Geschwister Hand,
als ich daheim gesessen,
hat es mir auch gebrannt;
doch hier bin ich vergessen
in diesem fremden Land.
5. Läßt mich denn niemand ein,
und gönnt mir auch ein Fleckchen?
Zn all' den Häuserreih'n
ist denn für mich kein Eckchen,
und wär' es noch so klein?
6. Läßt mich denn niemand ein?
Ich will ja selbst nichts haben,
ich will ja nur am Schein
der fremden Weihnachtsgabcn
mich laben ganz allein!"
7. Es klopft an Thür und Thor,
an Fenster und an Laden;
doch niemand tritt hervor,
das Kindlein einzuladen;
sie haben drin kein Ohr.
8. Ein jeder Vater lenkt
den Sinn auf seine Kinder;
die Mutter sie beschenkt,
denkt sonst nichts mehr, nichts minder;
ans Kindlein niemand denkt.
7. Der schönste Baum.
7
9. „O lieber, heil'ger Christ!
nicht Mutter und nicht Vater
hab' ich, wenn du's nicht bist.
O, sei du mein Berater,
weil man mich hier vergißt!"
10. Das Kindlein reibt die Hand,
sie ist vor Frost erstarret;
es kriecht in sein Gewand
und in dem Gäßlein harret,
den Blick hinausgewandt.
11. Da kommt mit einem Licht
durchs Gäßlein hergewallet,
im weißen Kleide schlicht,
ein ander Kind; — wie schallet
es lieblich, da es spricht:
12. „Ich bin der heil'ge Christ,
war auch ein Kind vordesien,
wie du ein Kindlein bist.
Ich will dich nicht vergessen,
wenn alles dich vergißt.
13. Ich bin mit meinem Wort
bei allen gleichermaßen;
ich biete meinen Hort
so gut hier auf den Straßen
wie in den Zimmern dort.
14. Ich will dir deinen Baum,
fremd Kind, hier lassen schimmern
auf diesem offnen Raum,
so schön, daß sie in Zimmern
so schön sein sollen kaum!" —
15. Da deutet mit der Hand
Christkindlein auf zum Himmel,
und droben leuchtend stand
ein Baum voll Sterngewimmel,
vielästig ausgespannt.
16. So fern und doch so nah;
wie funkelten die Kerzen!
Wie ward dem Kindlein da,
dem fremden, still zu Herzen,
da's seinen Christbaum sah!
17. Es ward ihm wie ein Traum;
da langten hergebogen
Englein herab vom Baum
zum Kindlein, das sie zogen
hinauf zu lichtem Raum.
18. Das fremde Kindlein ist
zur Heimat jetzt gekehret
bei seinem heil'gen Christ,
und was hier wird bescheret,
es dorten leicht vergißt.
Lückert.
7. *Der schönste Baum.
Joh. 3. 16. Also ha
1. Sag an, wse heißt der schönste
Baum
auf diesem Erdenrund,
seit einst im Paradiesesraum
der Baum des Lebens stund?
2. Die Palme grüßt im Morgen-
land
des Pilgers Aug' entzückt,
wenn ragend er im Wüstensand
ihr hohes Haupt erblickt.
3. Schön ruht sich's an der Eiche
Fuß,
wenn durch den grünen Wald
der Jägerschar des Waldhorns Gruß
zum muntern Mahle schallt.
Gott die Welt gelicbt.l
4. Die Linde glüht im Abend-
glanz,
umweht von Blütenduft,
wenn durch das Dorf zum Erntetanz
des Spielmanns Fiedel ruft.
5. Doch schöner glänzt im Kerzen-
schein
der Tannenbaum fürwahr,
wenn nun der Vater ruft „herein!"
der frohen Kinderschar.
6. Wenn dann ins lichte Heilig-
tum,
geblendet und entzückt,
vor Freude bang, vor Staunen stumm,
das Kindervolk sich drückt."
8
8. Begrüßet seist du, Maria!
7. Wenn wonnevoll der Eltern
Blick
sich auf die Kleinen senkt
und an der eignen Kindheit Glück
mit süßer Wehmut denkt.
8. Da blüht in finstrer Winter-
nacht,
umstarrt von Schnee und Eis,
ein Frühling auf in bunter Pracht
am dunkeln Tannenreis.
9. Da bringt der schlichte Tannen-
baum
des Paradieses Glück,
der ersten Unschuld Kindheitstraum
der armen Welt zurück.
10. Und draußen blickt der Sterne
Schar
mit wunderholdem Schein,
wie Engelaugen mild und klar,
vom Himmel hoch herein.
11. Und aus der Himmel Himmel
sieht's
herab mit Vaterblick,
und durch die dunkeln Lüfte zieht's
wie himmlische Musik:
12. „Also hat Gott die Welt
geliebt,
daß er aus freiem Trieb
uns seinen Sohn zum Heiland giebt;
wie hat uns Gott so lieb!"
Gerok.
8. Gegrüßet seist du, Maria.
Dies leise Wort, gesprochen vom Engel zur Jungfrau in der stillen
Felsenkammer zu Nazareth in Asien drin, ist unterdessen laut geworden,
so daß es über die ganze Welt hinübertönt, wie eine Glocke vom Himmel,
und Tag und Nacht nie und nimmermehr still wird. Seit der Engel so
gesprochen, seitdem haben es schon mehr als tausend Millionen Menschen-
zungen nachgesprochen; ja es geht kein einziger Pendelschlag an der Uhr
vorüber, ohne daß jener Gruß irgendwo auf Erden gerade gesprochen wird.
Und wie jeden Augenblick auf Erden eine Seele aus sterbendem
Menschenleibe ausgeht ins Jenseits hinüber, so geht auch jeden Augenblick
ein Mariengruß von Menschenlippeu ins Jenseits hinüber.
Wenn in katholischen Gegenden ein Kind zur Taufe gebracht wird
und die Taufpaten den christlichen Glauben in seinem Namen geloben, so
sprechen sie im Namen des Kindes auch nach dem Vaterunser das: Ge-
grüßet seist du, Maria. Und wenn das Kind anfängt zu reden, so wird
es alsbald gelehrt zu beten: Gegrüßet seist du, Maria! und das Kind
wächst und wird groß und betet alle Tage ein paarmal so — und ist der
Mensch einmal alt, so hat er es viele Hunderttausendmal in seinem Leben
gebetet — und wenn er stirbt, so hört er noch mit auslöschendem Ohr,
wie sie noch um ihn beten: Gegrüßet seist du, Maria! —und wenn er tot
ist, so beten die frommen Verwandten und Nachbarsleute noch diesen Gruß
um seine Leiche herum, und beten ihn im Rosenkranz, wenn sie ihn zu
Grabe tragen: Gegrüßet seist du, Maria! Und so wird man beten, so
lange die katholische Kirche steht, d. h. bis ans Ende der Welt — und
8. Begrüßet seist du, Maria!
9
wenn schon das Weltgebäude aus seinen Angeln gehen will, und das
Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheint, und wenn die Erden-
menschen voll Bangen und Verzweiflung rufen werden: „Fallet über uns,
ihr Berge, decket uns, ihr Hügel!" — auch da wird man aus dem Mund
von zahllosen frommen Christen noch die Worte hören: Gegrüßet seist du,
Maria!
Wer muß denn die sein, die so vielmal gegrüßt wird, als Blätter
im Wald, als Gräser auf der Flur, als Tautropfen an den Gräsern
sind, oder als Schneeflocken im ganzen langen Winter über die weite
Erde hin streuen? Und ist es recht, ein Geschöpf so übermäßig viel zu
ehren und zu grüßen?
Zur Antwort auf diese Frage will ich ein wenig weiter ausholen,
wie jetzt folgt:
Die Sonne ist jetzt untergegangen. Wie wäre es, wenn sie gar nie
mehr herauskäme? — Es würden eben Lichter angezündet werden müssen,
und die Handwerksleute müßten bei der Öllampe arbeiten. Und das wäre
ein böses Arbeiten. Es wäre gar viele Verstörung überall und wäre
auch traurig und ängstlich, wenn es nicht mehr Tag würde. Am ärgsten
wär's aber auf dem Feld. Da müßte man vor allem die Arbeit ein-
stellen, denn wer kann im Finstern Kartoffeln setzen oder mähen? Du
thätst mit der Sense nur in die Grundschollen und Steine treffen.
Aber wenn man auch notdürftig mit Fackelschein auf dem Feld etwas
verrichten könnte, so wäre es bald nicht mehr der Mühe wert, daß man
hinausginge — denn was soll man draußen thun? Weil die Gewächse
kein Licht mehr zu trinken bekämen, so würden sie bald bleich und siech
und stürben an Erkältung und Abzehrung. Das wär's eben, was dem
Menschenvolk das größte leibliche Elend bereiten müßte. Ist es schon
geschehen, daß viele Länder Hunger gelitten, weil die Sonne und der
Regen nicht recht sich verteilt haben — wie ginge es erst, wenn die
Sonne gar nie mehr käme? Es könnte nichts mehr hervorsprießen aus
dem Boden; es würde kalt und kälter, es gefröre das Wasser und die
Grundschollen, und es gefröre Stein und Bein zusammen. Und die Tiere
und die Menschen müßten verhungern und erfrieren, eines nach dem
andern, bis alle tot wären — und zuletzt wäre die ganze Erde nur noch
ein ungeheurer finsterer, schwarzer, gefrorener Klotz, auf dem sich kein
Laubblatt mehr regt, und kein Wassertröpflein, und kein Lichtstrahl, und
kein lebendiger Odem — Alles wäre schwarz und tot und kalt, ein großer,
großer Kirchhof in ewigem Winter und ewiger Nacht.
Wenn es fast gar so weit gekommen wäre, aber noch nicht ganz so
weit und noch ein klein wenig Leben und Wärme in den Menschen wäre,
aber das letzte Fünklein Hoffnung wäre gestorben und ganz tot-------------
10
9. Des Deutschritters Ave.
aus einmal sieht man drüben am Gebirge ein schwaches Blinken, wie
wenn es hinter dem Wald brenne; es wird weiter und stärker, und
grauweiß gerinnt am Himmel ein neuer Tag; es wird blau und hell,
und endlich blitzt die Sonne wieder ihre Silberstrahlen über die Erde in
großer herrlicher Majestät! — O Gott, was für ein Jubel und Freude
wäre das — die Augen von Tausenden und Millionen von Menschen
sähen gegen Morgen — und viele, viele, die gemeint haben, es müsse
elend gestorben sein, fielen einander unter Thränen um den Hals und
riefen: „Gott Lob und Dank! Wir sind gerettet!"
Ohne die Sonne wäre nichts als Finsternis und Tod auf Erden,
und es ist darum kein Wunder, wenn schon Heidenvölker gemeint haben,
die Sonne sei selber Gott und sie darum als Gott angebetet haben.
Gott ist sie nun freilich nicht, aber sie ist der Röhrbrunnen am Himmel,
aus dem Gott für und für allen Kreaturen auf Erden Licht, Leben, Be-
stand, Wachstum, Schönheit und Freude zugießt. Dagegen wirst du
nichts einzuwenden haben.
Wenn es nun aber eine andere Kreatur gäbe, durch welche Gott
den Menschen auf Erden alle Erleuchtung, alles Leben und allen Segen
zeitlich und ewig für die Seele zusendet, so dürften wir zwar diese
Kreatur nicht anbeten, weil sie nicht Gott ist, aber wir dürsten doch an
ihr große Freude haben — und wenn sie eine vernünftige Kreatur ist
und selber noch dazu eingewilligt hat, daß Gott aus ihr so großes Heil
der Welt sende: so werden wir sie auch verehren und preisen dürfen.
Ohne Umstände gesagt: das Heil der Welt und aller Menschen ist Jesus
Christus — und die Kreatur, durch welche Gott den Heiland der Welt
gegeben hat, ist Maria. Darum haben wir recht, wenn wir beten:
Geqrüßet seist du, Maria!
P Alban SwI).
9. *Des Deutschritters Ave.
1. Herr Ott vom Bühl, nun drängt die Not,
nun zeigt, wie treu ihr's meint!
Das Feld ist rot und die Brüder sind tot,
und hinter uns rasselt der Feind.
2. Wohl klag' ich manch gebrochnen Speer,
manch Wappenschild zerspalten;
doch schmerzt's um den heiligen Kelch mich noch mehr
in meines Mantels Falten.
3. Im Schlachtfeld tranken wir alle daraus,
zu sühnen uns mit Gott;
soll nun beim wüsten Siegesschmaus
der Heid' ihn schwingen zum Spott?
9. DeS Deutschritters Ave.
11
4. Herr Ott, und fühlt ihr euch stark und jung,
noch einmal wendet bas Roß,
versucht mit scharfem Schwertesschwung
noch einmal zu hemmen den Troß.
5. Und haltet ihr nur so lang' ihn auf,
als ihr ein Ave sagt,
so rettet meines Hengstes Lauf
den Kelch, um den ihr's wagt.
6. Herrn Otts Besinnen war nicht groß,
sprach: Ja, und weiter nichts;
des Meisters Roß von dannen schoß
im Strahl des Mondenlichts.
7. Und als das Kreuz auf dem Mantel weiß
nicht mehr zu kennen war,
da sauste schon auf Gäulen heiß
heran der Litauer Schar.
8. Und als der Mantel fern im Schwung
nur schien wie ein fliegender Schwan,
da fielen sie den Ritter jung
mit grimmigen Streichen an.
9. Die krummen Schwerter blinkten frei,
es rasselten dumpf die Keulen,
dazwischen ging ihr Kampfgeschrei
wie hungriger Wölfe Heulen.
10. Herr Ott vom Bühl sprach: Ave Marie,
und führt' einen Hieb, der traf;
der Häuptling flog vom Sattel aufs Knie
mit durchgespalt'nem Schlaf.
11. Das zweite Wort der Held dann sprach
und hieb noch kräftiger schier;
der Bannerträger zusammenbrach
und über ihn fiel das Panier.
12. Und Wort um Wort, und Streich um Streich,
das war ein tapfer Gebet;
bei jedem Spruch lag alsogleich
ein Heide dahingemäht.
13. Und es klaffte dem Ritter das Stahlhemd weit,
und es färbten die Ringe sich rot,
er aber warb nicht laß im Streit,
und jeder Schlag war Tod.
14. Und es barst sein Schild, und es sank sein Pferd,
da kämpft' er fort zu Fuß;
mit beiden Händen schwang er das Schwert
und betete weiter den Gruß.
15. Doch als zu Ende das Ave ging,
er führte noch einen Streich,
und in getürmter Leichen Ring
hinsank er blutig und bleich.
12
10. Der Ring des Polykrates. 11. Lebensregeln. 12. Sprichwörter.
16. Sein Mund ward stumm, sein Arm ward schwer,
im Tode stand sein Herz;
nicht: Amen konnt' er sprechen mehr,
das war sein letzter Schmerz.
17. Doch die Litauer warfen die Renner herum,
kein Streit mehr lüstete sie.
Gerettet war das Heiligtum
durch des Ritters: Ave Marie.
18. Gott geb' ihm droben selige Statt
aufs tosende Schlachtgetümmel!
Wer so auf Erden gebetet hat,
mag Amen sagen im Himmel.
1£. Geibel.
10. *Der Ring des Polykrates.
Luk. 16, 9. Machet euch Freunde mit dem ungerechten Mammon.
1. Der glückliche Polykrates,
bang vor der Götter Neid,
hat seinen besten Fingerring
dem Ozean geweiht.
2. Und doch — versühnen kann er nicht
das zürnende Geschick,
ihm giebt das Meer in Fischesmund
sein Opfergeld zurück.
3. Du, weiser als der Griechenfürst,
nicht in die öde Flut,
ins arme Volk, ins Menschenmeer
wirf deines Danks Tribut.
4. So zahlst du dem gestrengen Glück
den rechten Zins und Zoll
und kehrst in Dank und Segen dir
der Brüder Neid und Groll.
Gcrc-k.
11. ”X6l)6I18r6g6lu.
1. Auswendiglernen sei, mein Sohn, dir eine Pflicht;
versäume nur dabei inwendiglernen nicht.
Auswendig ist gelernt, was dir vom Munde fließt;
inwendig, was im Sinn lebendig sich erschließt.
2. Kind, lerne zweierlei, so wirst du nicht verderben:
Zum ersten lerne was, um etwas zu erwerben;
zum andern lerne das, was niemand dich kann lehren:
Gern das, was du nicht kannst erwerben, zu entbehren.
3. Das Unkraut ausgerauft, wächst eben immer wieder,
und immer kämpfen mußt du neu das Böse nieder.
Wie du mußt jeden Tag neu waschen deine Glieder,
so die Gedanken auch an jedem Tage wieder.
Rückerr.
12. Sprichwörter.
Frohsinn, Mäßigkeit und Ruh' schließen dem Arzt die Thüre
zu. — Früh auf und späte nieder bringt verlorene Güter wieder.
— Stiller Mund und treue Hand gelten viel in jedem Land. —
13. Erlkönig.
13
Schweigen und denken thut niemand kränken. — Lust und Liebe zum
Dinge macht Mühe und Arbeit geringe. — Christen werden nicht ge-
boren, sondern wiedergeboren. — Doppelt giebt, wer bald giebt. — Wer
empfing, der rede; wer gab, der schweige. — Wer's Alter nicht ehrt, ist
des Alters nicht wert. — Der ist weis' und wohlgelehrt, der alle Ding'
zum besten kehrt. — Wer selbst einen Kopf hat, braucht keinen zu borgen.
— Wer's Licht scheuet, hat nichts Gutes im Sinne. — Wer vergangne
Ding' betracht't, Gegenwärtiges hält in acht, und Zukünft'ges ermessen
kann, ist gewiß ein kluger Mann. — Löwenmaul hat Hasenherz. — Der
Wolf ändert das Haar und bleibt, wie er war. — Einen jeden dünket
gut, was er am liebsten thut. — Wer sich nicht nach der Decke streckt,
dem bleiben die Füße unbedeckt. — Wer die Geiß anbindet, muß sie
hüten. — Wo man den Esel krönt, ist Stadt und Land gehöhnt. — Wo
Holz gehauen wird, da fallen Späne. — Was deines Amtes nicht ist,
da laß deinen Vorwitz. — Man muß den schönsten Tag nicht vor dem
Abend loben. — Aller Tage Abend ist noch nicht gekommen.
13. *Erlkönig.
1. Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der
Vater mit seinem Kind; er hat den Knaben wohl in dem Arm, er
faßt ihn sicher, er hält ihn warm.
2. „Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?" —
„ Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Krön'
und Schweif?" — „ Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif." —
3. „„Du liebes Kind, komm. geh mit mir! Gar schöne Spiele
spiel' ich mit dir; manch bunte Blumen sind an dem Strand; meine
Mutter hat manch gülden Gewand!"" —
4. „ Mein Vater, mein Vater! und hörest du nicht, was Erlen-
könig mir leise verspricht?" — „Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
in dürren Blättern säuselt der Wind!" —
5. „„Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn? Meine Töchter
sollen dich warten schön; meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
und wiegen und tanzen und singen dich ein!"" —
6. „Mein Vater, mein Vater! und siehst du nicht dort Erlkönigs
Töchter am düstern Ort?" — „Mein Sohn, mein Sohn, ich seh' es
genau: es scheinen die alten Weiden so grau." —
7. „„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; und bist du
nicht willig, so brauch' ich Gewalt."" — „Mein Vater, mein Vater,
jetzt faßt er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids gethan!" —
14
14. Claudius an feinen Sohn Johannes.
8. Dem Vater grauset's, er reitet geschwind; er hält in den
Armen das ächzende Kind, erreicht den Hof mit Mühe und Not; in
seinen Armen das Kind war tot. Goethe.
14. Claudius an seinen Sohn Johannes.
„Gold und Silber habe ich nicht;
was ich aber habe, gebe ich dir."
Lieber Johannes!
Äie Zeit kommt allgemach heran, daß ich den Weg gehen muß, den
man nicht wieder kommt. Ich kann dich nicht mitnehmen und lasse dich
in einer Welt zurück, wo guter Rat nicht überflüssig ist. — Niemand
ist weise von Mutterleibe an, Zeit und Erfahrung lehren hier und fegen
die Tenne. — Ich habe die Welt länger gesehen als du. — Es ist nicht
alles Gold, lieber Sohn, was glänzet, und ich habe manchen Stern vom
Himmel fallen und manchen Stab, worauf man sich verließ, brechen sehen.
— Darum will ich dir einigen Rat geben und dir sagen, was ich
gefunden habe, und was die Zeit mich gelehret hat. Es ist nichts groß,
was nicht gut ist, und nichts wahr, was nicht bestehet. — Der Mensch
ist hier nicht zu Hause und geht hier nicht von ungefähr in dem schlechten
Rocke umher. Denn siehe nur, alle andere Dinge hier, mit und neben
ihm, sind und gehen dahin, ohne es zu wissen; der Mensch ist sich bewußt
und wie eine hohe, bleibende Wand, an der die Schatten vorübergehen.
Alle Dinge mit und neben ihm gehen dahin, einer fremden Willkür und
Macht unterworfen; er ist sich selbst anvertraut und trägt sein Leben in
seiner Hand. — Und es ist nicht für ihn gleichgiltig, ob er rechts oder
links gehe. — Laß dir nicht weismachen, daß er sich raten könne und
selbst seinen Weg wisse. — Diese Welt ist für ihn zu wenig, und die
unsichtbare siehet er nicht und kennet sie nicht. — Spare dir denn ver-
gebliche Mühe, und thue dir kein Leid, und besinne dich dein. — Halte
dich zu gut, Böses .zu thun. — Hänge dein Herz an kein vergänglich
Ding. — Die Wahrheit richtet sich nicht nach uns, lieber Sohn, sondern
wir müssen uns nach ihr richten. — Was du sehen kannst, das siehe, und
brauche deine Augen, und über das Unsichtbare und Ewige halte dich an /
Gottes Wort. — Bleibe der Religion deiner Väter getreu und hasse die
Frei - und Flattergeister. — Scheue niemand so viel wie dich selbst. —
Inwendig in uns wohnt der Richter, der nicht trügt, und an dessen Stimme
uns mehr gelegen ist als an dem Beifall der ganzen Welt und der Weis-
heit der Griechen und Ägypter. Nimm es dir vor, mein Sohn, nicht
wider seine Stimme zu thun; und was du findest und vorhast, schlage
zuvor an deine Stirn und frage ihn um Rat. Er spricht anfangs nur
leise und stammelt wie ein unschuldig Kind ; doch wenn du seine Unschuld
ehrst, löset er gemach seine Zunge und wird dir vernehmlicher sprechen. —
Lerne gern von andern, und wo von Weisheit, Menschenglück, Licht,
14. Claudius an seinen Sohn Johannes.
15
Freiheit, Tugend u. s. w. geredet wird, da höre fleißig zu. Doch traue
nicht flugs und allerdings; denn die Wolken haben nicht alle Wasser, und
es giebt mancherlei Weise. Sie meinen auch, daß sie die Sachen hätten,
wenn sie davon reden können und davon reden. Das ist aber nicht,
Sohn. Man hat darum die Sache nicht, daß man davon reden kann
und davon redet. Worte sind nur Worte, und wo sie so gar leicht und
behende dahinfahren, da sei auf deiner Hut. Denn die Pferde, die den
Wagen mit Gütern hinter sich haben, gehen langsamen Schrittes. —
Erwarte nichts von dem Treiben und den Treibern; und wo Geräusch
auf der Gasse ist, da gehe fürbaß. — Wenn dich jemand will Weisheit
lehren, so siehe in sein Angesicht. Dünket er sich noch, und sei er noch
so gelehrt und noch so berühmt, laß ihn, und gehe seiner Kundschaft
müßig. Was einer nicht hat, das kann er auch nicht geben. Und der
ist nicht frei, der da will thun können, was er will; sondern der ist frei,
der da wollen kann, was er soll. Und der ist nicht weise, der sich dünket,
daß er wisse; sondern der ist weise, der seiner Unwissenheit innegeworden
und durch die Sache des Dünkels genesen ist. — Wenn es dir um Weis-
heit zu thun ist, so suche sie und nicht das deine, und brich deinen Willen,
und erwarte geduldig die Folgen. — Denke oft an heilige Dinge, und
sei gewiß, daß es nicht ohne Vorteil für dich abgehe und der Sauerteig
den ganzen Teig durchsäure. — Verachte keine Religion; denn sie ist dem
Geist gemeint*), und du weißt nicht, was unter unansehnlichen Bildern
verborgen sein könne. — Es ist leicht, zu verachten, Sohn, und verstehen
ist viel besser. — Lehre nicht andere, bis du selbst gelehrt bist. — Nimm
dich der Wahrheit an, wenn du kannst, und laß dich gerne ihretwegen
hassen; doch wisse, daß deine Sache nicht die Sache der Wahrheit ist,
und hüte dich, daß sie nicht in einander fließen; sonst hast du deinen Lohn
dahin. — Thue das Gute vor dich hin, und bekümmere dich nicht, was
daraus werden wird. — Wolle nur einerlei, und das wolle von Herzen. —
Sorge für deinen Leib, doch nicht so, als wenn er deine Seele wäre.
— Gehorche der Obrigkeit, und laß die andern über sie streiten. — Sei
rechtschaffen gegen jedermann; doch vertraue dich schwerlich. — Mische
dich nicht in fremde Dinge; aber die deinigen thue mit Fleiß. Schmeichle
niemandem, und laß dir nicht schmeicheln. — Ehre einen jeden nach seinem
Stande, und laß ihn sich schämen, wenn er's nicht verdient. Werde
niemandem etwas schuldig; doch sei zuvorkommend, als ob sie alle deine
Gläubiger wären. Wolle nicht immer großmütig sein; aber gerecht sei
immer. — Mache niemandem graue Haare; doch wenn du recht thust,
hast du um die Haare nicht zu sorgen. — Mißtraue der Verstellung und
gebärde dich schlecht und recht. — Hilf und gieb gerne, wenn du hast,
und dünke dir darum nicht mehr; und wenn du nicht hast, so habe den
Trunk kalten Wassers zur Hand, und dünke dir darum nicht weniger. —
Sage nicht alles, was du weißt; aber wisse immer, was du sagst. —
Hänge dich an keinen Großen. — Sitze nicht, wo die Spötter sitzen;
denn sie sind die elendesten unter allen Kreaturen. — Nicht die frömmelnden,
*) d. h. sic ist eine Sache des Geistes.
16
15. Die Neujahrsnacht etnei Unglücklichen.
aber die frommen Menschen achte und gehe ihnen nach. Ein Mensch, der
wahre Gottesfurcht im Herzen hat, ist wie die Sonne, die da scheint und
wärmt, wenn sie auch nicht redet. — Thue, was des Lohnes wert ist,
und begehre keinen. — Wenn du Not hast, so klage sie dir und keinem
andern. Habe immer etwas Gutes im Sinn. —
Wenn ich gestorben bin, so drücke mir die Augen zu und beweine
mich nicht. — Stehe deiner Mutter bei und ehre sie, so lange sie lebt,
und begrabe sie neben mir. — Und sinne täglich nach über Tod und
Leben, ob du es finden möchtest, und habe einen freudigen Mut; und
gehe nicht aus der Welt, ohne deine Liebe und Ehrfurcht für den Stifter
des Christentums durch irgend etwas öffentlich bezeugt zu haben.
Dein treuer Vater.
15. Die Ncujalirsnacht eines Unglücklichen.
Ein alter Mensch stand in der Neujahrsnacht am Fenster
und schaute mit dem Blicke einer bangen Verzweiflung auf zum
unbeweglichen, ewig blühenden Himmel und herab auf die stille,
reine, weiße Erde, auf welcher jetzt niemand so freuden- und
schlaflos war als er. Denn sein Grab stand nahe bei ihm; es
war bloß vom Schnee des Alters, nicht vom Grün der Jugend
verdeckt, und er brachte aus dem ganzen, reichen Leben nichts
mit als Irrtümer, Sünden und Krankheiten, einen verheerten
Körper, eine verödete Seele, die Brust voll Gift und ein Alter voll
Reue. Seine schönen Jugendtage wandten sich heute als Gespenster
um und zogen ihn wieder vor den holden Morgen hin, wo ihn
sein Vater zuerst auf den Scheideweg des Lebens gestellt hatte,
der rechts auf der Sonnenbahn der Tugend in ein weites, ruhiges
Land voll Licht und Ernten und voll Engel bringt, und welcher
links in die Maulwurfsgänge des Lasters hinabzieht, in eine schwarze
Höhle voll heruntertropfenden Giftes, voll zielender Schlangen und
finsterer, schwüler Dämpfe. Ach, die Schlangen hingen um seine
Brust und die Gifttropfen auf seiner Zunge, und er wußte nun,
wo er war. «
Sinnlos und mit unaussprechlichem Grame rief er zum Himmel
hinauf: »Gieb mir die Jugend wieder! O Vater; stelle mich auf
den Scheideweg wieder, damit ich anders wähle!« Aber sein
Vater und seine Jugend waren längst dahin. Er sah Irrlichter
auf Sümpfen tanzen und auf dem Gottesacker erlöschen, und er
sagte: »Es sind meine thörichten Tage!« Er sah einen Stern
aus dem Himmel fliehen und im Fallen schimmern und auf der
Erde zerrinnen. »Das bin ich!« sagte sein blutendes Herz, und
die Schlangenzähne der Reue gruben darin in den Wunden weiter.
Die lodernde Phantasie zeigte ihm fliehende Nachtwandler auf den
lö. Zum Jahresschluß.
17
Dächern, und die Windmühle hob drohend ihre Anne zum Zer-
schlagen auf, und eine im leeren Totenhause zurückgebliebene
Larve nahm allmählich seine Züge an.
Mitten in den Kampf floß plötzlich die Musik für das Neu-
jahr vom Turme hernieder wie ferner Kirchengesang. Er wurde
sanfter bewegt. Er schaute um den Horizont herum und über
die weite Erde, und er dachte an seine Jugendfreunde, die nun,
glücklicher und besser als er, Lehrer der Erde, Väter glücklicher
Kinder und gesegnete Menschen waren, und er sagte: »O, ich
könnte auch wie ihr diese erste Nacht mit trocknen Augen ver-
schlummern, wenn ich gewollt hätte! Ach, ich könnte glücklich
sein, ihr teuren Eltern, wenn ich eure Neujahrswünsche und
Lehren erfüllt hätte!« Im fieberhaften Erinnern an seine Jünglings-
zeit kam es ihm vor, als richte sich die Larve mit seinen Zügen
im Totenhause auf; endlich wurde sie durch den Aberglauben,
der in der Neujahrsnacht Geister der Zukunft erblickt, zu einem
lebendigen Jünglinge. Er konnte es nicht mehr sehen; er verhüllte
das Auge; tausend heiße Thränen strömten versiegend in den
Schnee; er seufzte nur noch leise, trostlos und sinnlos: »Komm
nur wieder, Jugend, komm wieder!«
— — Und sie kam wieder; denn er hatte in der Neujahrs-
nacht nur fürchterlich geträumt. Er war noch ein Jüngling; nur
seine Verirrungen waren kein T.num gewesen. Aber er dankte
Gott, daß er, noch jung, in den schmutzigen Gängen des Lasters
umkehren und sich auf die Sonnenbahn zurückbegeben konnte, die
in das reiche Land der Ernten leitet.
Kehre mit ihm, junger Leser, um, wenn du auf seinem Irr-
wege stehest! Dieser schreckende Traum wird künftig dein Richter
werden; aber wenn du einst jammervoll rufen würdest: Komm
wieder, schöne Jugend ! — so würde sie nicht wiederkommen !
Jean Paul.
16. *Zum Jahresschluß.
Marc. 7, 37. Er har alles wohl gemacht.
i. Äuf dunkeln Schwingen senkt sich
wieder
so ahnungsvoll, so tröstlich mild
des Jahres letzter Abend nieder
zum winterlichen Schneegefild;
der Abendglocken fromm Geläute
tönt hehren Klanges durch die Nacht
und predigt, wenn ich's recht mir
deute:
„Der Herr hat alles wohl gemacht!"
2. Verrauscht ist nun der bunte
Reigen
des Jahreslaufs mit Lust und Leid;
doch Gottes ew ge Sterne steigen
so tröstlich aus der Dunkelheit,
und freundlich blinkt aus blauen
Höhen
der Abendstern in milder Pracht:
„Ob Jahre kommen, Jahre gehen,
der Herr hat alles wohl gemacht I"
Deutsches Lesebuch sür kath. Schulen. IV. Für Oberklassen. 2
18
17. Die Geschwister.
3. Habt Dank! Wie seid ihr schnell
entschwunden,
ihr Freuden, die das Jahr mir bot!
Fahr hin! Nun bist du überwunden,
all dieses Jahres Müh' und Not!
Schlaft wohl, ihr abgeschiednen Lieben!
Ob einmal noch der Schmerz erwacht,
mir ist ein süßer Trost geblieben:
„Der Herr hat alles wohl gemacht!"
4. Und wenn auch ich in dumpfer
Bahre
jetzt bei den andern draußen schlief',
und wenn mich noch im alten Jahre
zur Rechnung Gottes Engel rief'?
Herr, deck' auf meiner Jahre Sünden
den Mantel dieser dunkeln Nacht;
dann darf ich's erst getrost verkünden:
„Der Herr hat alles wohl gemacht!"
5. Nun sammelt sich im Kreis der
Zecher
die Welt zum rauschenden Gelag
und übertäubt im Klang der Becher
der Mitternacht gewicht'gen Schlag;
ich aber will mich schlafen legen
und unter Gottes treuer Wacht
entschlummern mit dem Abendsegen:
„Der Herr hat alles wohl gemacht!"
6. In seinem Schatten ohne Sorgen
schlummr' ich hinein ins neue Jahr;
als Morgenstern erscheint er morgen,
der Abendstern mir heute war;
mein Pilgerstab ist Gottes Treue,
die gnädig mich hierher gebracht;
vom alten Jahr ererbt's das neue:
„Der Herr hat alles wohl gemacht!"
Gerok.
17. Die Geschwister.
Äuf dem Bahnhof zu Harzburg war eine ältliche Dame aus
Elberfeld und erzählte von ihrer Reise mit gar trübem Herzen und
Sinn. Sie war als 18 jähriges Mädchen in den Ehestand getreten
und dem Mann ihrer Wahl in das ferne Land seiner Heimat ge-
folgt; Vater und Mutter waren früh gestorben und nur ein Bruder
in Braunschweig am Leben geblieben, den die Schwester und der
die Schwester mit der innigsten Liebe liebte. Briefe flogen hin und
her, utld mit den Briefen die Gedanken, und mit den Gedanken die
Sehnsucht nach einem Wiedersehen; aber die neue Heimat gab neue
Pflichten und neue Bande, und die Reise in die Heimat verschob sich
von einem Jahre ins andere Jahr, und auch der Bruder konnte nicht
abkommen von Haus und Geschäft. Auch gab's damals keine Eisen-
bahnen. und selbst Eilwagen waren in der ersten Zeit ihres Ehestandes
noch nicht eingeführt. Item, wer reisen will, muß Geld haben, auch
zur schnellsten Reise, und auch in dem lieben Elberfeld wohnen Leute I
genug und mehr als genug, denen es mangelt.
Aber seitdem die Dampfrosse hin- und herschnoben zwischen West
und Ost, Berlin und Köln, hatte die gute Frau an den geliebten
Bruder wieder mit aller jugendlichen Sehnsucht gedacht und manchen
Groschen zurückgelegt, und wurden Thaler daraus, und das Reisegeld
war endlich zusammen. Die Reise wurde dem Bruder angekündigt,
und mit dem fröhlichsten Herzen schrieb dieser von seinem Jubel über
die Nachricht, wie er nun keinen Tag mehr länger warten könne und
keine Nacht mehr schlafen werde, und wie auch die Eisenbahnreise ihm
noch zu langsam dünke, und er werde schon von Mittag an im Stations-
17. Die Geschwister.
19
;ebäude auf dem prachtvollen Bahnhöfe zu Braunschweig sein; der Zug
möchte vielleicht etwas früher kommen als um fünf Uhr.
Aber der Zug kam doch nicht früher und war auch der Schwester
viel zu langsam gefahren. Sie hatte nach den Türmen der alten
Welfenstadt schon lange, lange hinausgesehen, sich alle Bilder ihrer
Jugend neu belebt; und jedes Haus der Straße, in der sie gewohnt,
samt den Schaufenstern unten und den Erkern droben, trat wieder
in die Erinnerung, und wie der Bruder so lange an ihrem Halse ge-
weint, als sie abgereiset, wie er noch einmal den Wagen auf kürzerem
Wege eingeholt, um sie noch einmal zu sehen; und in ihrer Liebe
denkt sie daran: „Wenn er nur nicht jetzt mit der gewohnten Hast
schon dem ankommenden Zuge entgegenstürzt!" und sie lehnt sich zurück,
damit er nicht durch das Wiedersehen verleitet werde, sich zu früh zu
nahen, und in Gefahr komme. Ter Zug hat endlich Braunschweig
erreicht, und sind viele Hände bereit, zu helfen und Gepäcke anzu-
nehmen . — aber keine Bruderhand. Die Dame begiebt sich endlich
in das verabredete Wartezimmer und denkt: Der Zug ist zu früh an-
gekommen, und der Bruder ist daheim noch mit Zurüstungen beschäftigt
und weiß nicht, daß ich nichts suche als ihn und mit allem zufrieden
sein will, wenn ich ihn nur sehe und einmal noch in meiner Heimat
und in dem Hause bin. darin meine Wiege gestanden.
Das Wartezimmer ist mit den Ankommenden gefüllt; aber kein
Bruder ist da; der Strom der Reisenden verliert sich; Diener kommen
und gehen, und es wird sechs und sieben Uhr, und kommt noch kein
Bruder, und die Dame ist allein im großen Wartesaale, und außer
ihr sitzt nur noch ein altes Männlein, graues Hauptes und mit ge-
bücktem Rücken, nahe bei der Thür. Da ward es ihr doch schwer
ums Herz, und sie fragt, ob's denn hier in Braunschweig nicht längst
fünf Uhr sei? „Schon sieben," antwortet der Mann, „und ich wartete
auch schon seit Mittag, und ist mir lange geworden, denn ich hoffte,
meine Schwester wiederzusehen. die ich seit 42 Jahren nimmer ge-
sehen habe." „Und ich," versetzte jene, „hoffte hier meinen Bruder
zu sehen, meinen einzigen Bruder, den ich hier zurückließ, als ich vor
42 Jahren nach Elberfeld heiratete." „Da wohnt auch meine
Schwester," spricht jener, „und in diesem Wartezimmer wollten wir
uns treffen!" Aber der freundliche Leser merkt schon, was den beiden
erst nach und nach aufging: der Bruder und die Schwester waren
schon seit Stunden bei einander und kannten sich nicht. Denn wie sie
einander zuletzt gesehen in der Kraft und Fülle der Jugend, hatten sie
ihr Bild gegenseitig festgehalten und nicht bedacht, daß 42 Jahre den
Schnee des Alters auf das Haupt deffen legen, der, als sie anfingen,
noch Jüngling war, und die Gicht war dazu gekommen und die Sorge,
und was sonst noch für Haartinkturen in der Welt sind, nicht so aus-
posaunt, wie Schweizer Haaröl, aber fürwahr sicherer und unfehlbarer
in ihren Wirkungen als jenes. Desselbigengleichen die Schwester war
nicht die schlanke, blühende Hochzeiterin, wie an ihrem Brautmorgen;
3*
20
18. Petrus.
denn eine Großmama sieht anders aus als eine Braut, so gut in
Elberfeld, als in Braunschweig und in Stuttgart.
Gingen Hernachmals die zwei selbander schweigsam durch die
Straßen; denn der Schwester war alles unbekannt. Die Schloßkirche,
in der sie konfirmiert war, stand längst nicht mehr; die breite
Straße, in der sie geboren, hatte ein wildfremdes Ansehen, und war
kein Haus mehr, oder es trug ein anderes Gewand, und manche Hütte
war verschwunden, wie das ganze Bild ihrer Jugend. — Und ich
habe mich, erzählte die Dame weiter, recht überzeugt, daß ich keine
Heimat mehr in Braunschweig hatte, sondern daß Elberfeld meine
Heimat geworden ist; und ob ich wohl wußte, daß ich zum letzten
Male in meinem Leben hier war, ist mir dennoch der Abschied leichter
geworden als das erste Mal.
Der Brockenpilger aber fragte: „Sollte denn nun wirklich Elber-
feld Ihre Heimat sein? Wie, wenn Sie es nun auch auf 42 Jahre
verließen und kämen dann einmal wieder, wäre nicht auch diese Heimat
Ihnen fremd geworden? Und gedenken Sie nicht an das Wort der
Schrift: Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige
suchen wir?" Die beiden aber haben noch viel von dieser Heimat,
die droben ist, geredet, und wie da auch alles so ganz anders sein
werde, als wir es uns gedacht, und wie Brüder und Schwestern,
Eltern und Kinder dort ein ganz anderes Wiedersehen haben werden,
als das Fleisch der einen und der Geist der andern erwartet, und wie
das Herz sich dort nie wieder fremd fühlen werde.
Iosephson.
18. *Petrus.
1. „Weil verstockt der Jude Simon Romas Götter hat geschmähet,
weil verbotnen Bund er stiftet, Zwietracht in die Geister säet,
weil er einen Missethäter aller Reiche König glaubt:
Geb' ich morgen preis dem Volke an dem Kreuz sein frevelnd Haupt."
2. Kaiser Nero hat's gesprochen. Petrus kniet zu Nacht im Kerker;
betend wächst des Greises Glaube, Himmelssehnsucht regt sich stärker;
morgen wird das Wort erfüllet, das der Herr prophetisch sprach:
„Fremde Hand wird einst dich gürten, Simon, folge dann mir nach!"
3. Da — welch leis vorsichtig Klopfen? Durch die Riegel ächzt die Feile,
und die alte Pforte weichet vor dem eingeklemmten Beile —
wird's zu lange dem Tyrannen? sendet er die Schlächter schon?
Nein, es spricht ein kühnes Wagstück seinem tollen Wüten Hohn.
4. Freunde sind's. Die Christen lagen im Gebet an heil'ger Stätte,
daß den alten treuen Diener noch einmal der Herr errette.
Doch umsonst Gebet und Zähre! Diesmal, ach, kein Engel naht —
da beschließen drei der kühnsten frisch auf eigne Hand die That.
18. Petrus.
21
5. Stark wohl sind die Römerkrieger, Wache haltend vor den Thüren,
stärker doch der Wein von Chios, den die dreie mit sich führen.
Mächtig sind des Kerkers Riegel, doch dem Eifer allzu schwach —
schau, mit stolzverklärten Blicken stehen die drei schon im Gemach.
6. „Rettung, Rettung, alter Vater! Stärker als der Tod ist Treue,
unsrer Lieb' und Christi Kirche ist dein Haupt geschenkt aufs neue!
Hier nur droht der Tod dir; auf denn, gürte deine Lenden, flieh,
Schiffe, stets bereit zur Abfahrt, triffst du in Puteoli."
7. Alter Jünger, kannst du wanken — den der Herr den Felsen nannte,
der soeben in der Sehnsucht heil'geu Liebesflammen brannte?
Ja, er giebt sich hin den Freunden, überrascht und halb im Traum;
frei schon auf dem Forum steht er, und er selber glaubt es kaum.
8. Eilends zu der Pforte lenken nun die vier die leisen Schritte —
unterm Thore kurzer Abschied, Bruderkuß nach Christensitte;
jene kehren zu den Ihren, Frohes kündend, schnell im Lauf,
diesen nimmt die Nacht beschirmend in den weiten Mantel auf.
9. Auf der Gräberstraße zieht er: wegeweisend stehn die Sterne;
Neros goldnes Haus verdämmert schon in nächtlich blauer Ferne —
aber hat die tiefe Mittnacht solcher leisen Wandrer mehr?
Ihm entgegen kommt ein andrer auf dem schmalen Weg daher.
10. Und es graust dem Alten: seitwärts biegt er aus mit schwankem Fuße,
schnell vorüber an dem Fremden schmiegt er sich mit flücht'gem Gruße —
grüßend schaut ihm der ins Antlitz, daß der Sternglanz auf ihn fällt —
Petrus, wie doch starrst du seltsam? sprich, was deine Furcht verhält?
11. Auf des Mannes hoher Stirne glänzen blut'gen Schweißes Tropfen,
wohl nicht von des Weges Mühe mag so bang das Herz ihm klopfen;
bleich zum Tod das schöne Antlitz — Petrus, kennst du die Gestalt?
Schon einmal vor deinen Augen ist sie also hingewallt.
12. Grüßend neigt er sich zum Jünger, seiner Augen helle Sonnen
sind von eines stillen Grames Regenwolken mild umronnen;
fest nun ruh'n sie auf dem Flüchtling — Petrus, kennst den Blick du nicht?
Schon einmal rief er dich Schwachen wieder zur vergess'ueu Pflicht.
13. Ja, das ist der Herr! So stand er vor dem ungerechten Heiden,
so blieb still und klar sein Antlitz mitten in den wilden Leiden.
Und der Jünger sinkt zur Erde, doch das Herz läßt ihm nicht Ruh',
und er ruft: „Mein Herr und Heiland, rede, wohin gehest du?"
22
19. Zwei Schwestern.
14. Und der Heiland spricht, das Auge unverwandt auf ihn gerichtet,
mit dem Blick, der an der Tage letztem Falsch und Wahrheit sichtet:
„Meine Kirche steht verödet, meine Treuen sind verirrt, —
zu der Stadt ist meine Straße, wo man neu mich kreuz'gen wird!"
15. Und der Herr verschwand: doch eil'ger, als er erst den Tod geflohen,
flieht der Jünger jetzt das Leben, dem des Meisters Blicke drohen.
Schnell den Lauf zurückgewendet! Über Hellas graut cs schon;
Neros gold'nes Haus erglänzet bald als gold'ner Sonnenthron!
16. Und die Sonne, die jetzt Freuden ausgießt über alle Landen,
trifft die Christen laut noch jubelnd, den Apostel doch in Banden.
Lauter weinend sah sie jene, als sie wieder sank zu Thal,
doch ein selig sterbend Antlitz traf am Kreuz ihr letzter Strahl.
®. Kinkel.
19. *Zwei Schwestern.
1. Es läutet still im Waldesgrund
der Engelgruß zur Ruhestund';
da hört's im Hüttlein arm und klein
ein altgebücktes Mütterlein.
Und tief im Forste hoch zu Roß
die Fürstin hört's im Jägertroß,
und senkt den Speer und winkt zur Ruh'
und horcht so still dem Läuten zu.
2. Und aus dem Hüttlein wanket bald
die Ahne mühsam durch den Wald.
So achtzig Jahr, da geht sich's schwer,
und ohn' Gebet ging's nimmermehr.
Und hinter ihr in stolzem Haus
zieht schimmernd hehr die Fürstin auf;
ein Page schlank den Zelter lenkt,
sie trägt gar fromm das Haupt gesenkt.
3. Und müde steht am Felsenhang
das Mütterlein und atmet lang;
und auf zum Kirchlein tief geneigt
sie wohl die hundert Staffeln steigt.
Und wie sie droben wankt durchs Thor,
da reitet hoch die Fürstin vor,
und neigt voll Zucht zum Pagen sich
und wallt hinauf so feierlich.
20. Wessen Licht brennt länger?
23
4. Das Mütterlein kniet ganz allein
verzückt vorm Muttergottesschrein,
lallt lächelnd wie ein Kind mit ihr.
O lalle nur! sie lauschet dir.
Und durchs Portal die Fürstin wallt,
neigt tief die blühende Gestalt,
und kniet der Witwe nah zur Seit',
und ringsum kniet ihr reich Geleit.
5. Es betet wohl das Mütterlein:
„Ich opfre dir all meine Pein,
o hilf mir dulden freudiglich!
Du Schmerzensmutter, bitt für mich!"
Die Fürstin fleht: „O Königin,
all meinen Schimmer nimm ihn hin!
Gieb Demut mir, ich rufe dich!
Du Himmelsherrin, bitt für mich!"
6. Und von dem armen Witwenkleid,
und von der Fürstin Perlgeschmeid'
rinnt eine Thräne still und klar
als gleiche Perle zum Altar.
Und leis die Fürstin sich erhebt —
das Mütterlein, das sieht's und bebt,
und scheu sie von der Herrin rückt;
doch mild sich diese niederbückt.
7. Löst demutsvoll ihr Perlenband
und legt es in der Witwe Hand:
„Lieb Mütterlein, was zitterst du?
Wie käm' ein reichster Platz mir zu?
Ist sie nicht Mutter mir und dir?
Als Schwestern knieten wir vor ihr.
O wär' wie du ich gnadenreich!
Im Haus des Herrn sind alle gleich."
<£>. v. Rcdwitz.
20. Westen Licht brennt länger?
Mitten im Böhmerwald, wo unter dem Moos die Gebeine
vieler Erschlagenen ruhen, denen keine Glocke zu Grabe geläutet hat,
steht der hohe Arber, ein Markstein zwischen dem deutschen Reiche und
dem Lande der Hussiten. In seinen Klüften und auf seinen Urwäldern
rasten die Wolken, die auf den südwestlichen Ebenen des Reiches nicht
24
20. Wessen Licht brennt länger?
finden, da sie ruhen können. Zum Dank dafür speisen sie seine Brunnen,
und die klaren Quellen sammeln sich am Fuße des Berges in einem
kleinen See.
An dem See stand vor vielen, vielen Jahren eine Fischerhütte
aus Holz und Stroh und einen Steinwurf davon auf dem Hügel ein
Schloß aus Granitquadern und mit einem kupfernen Dach, das Weid-
haus genannt. In der Hütte wohnte ein Fischer mit seinem Knaben,
und in das Schloß kam alle Jahre im Herbst oder Winter, je nachdem
es den Hirschen galt oder den Säuen, der Herr von Haldenstein auf
die Jagd, nicht allein, sondern immer mit einem wilden Haufen von
Jägern und Hunden, Junkern und Edelfrauen, die den Jagdspieß ge-
schickter führten als die Nadel, und die Reitpeitsche lieber als die
Spindel.
Dann war Belial Hauspatron im Schloß. Der Kellermeister
fluchte zwischen den Fässern, der Koch in der Küche, der Wildmeister
unter den Rüden, der Freiherr am Spieltische, wenn kein Jagdweiter
war, und seine Frau unter den Kammermägden. Ans dem Dache
knarrten die Windfahnen, auf den Stiegen sangen die Katzen, in den
Gängen dröhnte der Zugwind, die Hunde heulten im Hofe, und die
Thüren wurden fort und fort zugeschlagen, daß es lautete wie ein
Heckenfeuer vor der Schlacht. Auf der hohen Rüster neben dem Schloß
hatten zwei Elstern ihren Haushalt. Der Freiherr und seine Kumpane
zechten bis Mitternacht, die Leibjäger, wenn sie ihre Herren zu Bette
gebracht hatten, noch ein paar Stunden länger. Wenn der Tag graute,
kam die alte Schaffnerin, die Zecher auszutreiben aus ihrem Elysium,
und war dieses vermittels des Besens geschehen, dann rauschten die
Borstwische über die Tapeten, dann fegten die Bürsten und klirrten
die Gläser und schnatterten die Mägde, bis das Waldhorn wieder die
Schlafenden in dem untersten und obersten Stockwerk weckte. Ein
Sonntag aber stand in dem Kalender des Freiherrn nicht. Das Weid-
haus hatte auch keine Kapelle, wie andere christliche Schlösser, keinen
Altar und kein Meßbuch.
In der Hütte am See war es anders. Wenn im Winter auf
dem Herde und im Sommer das Feuer am Abendhimmel erloschen
war, hörte man unter dem Strohdache nichts mehr als ein Abcndlied,
ein Gebet und dann das leichte, ruhige Atmen des Fischers und seines
Sohnes im Schlafe. Zum Morgenlied meckerten die Geißen hinten
im Stall um ihr Futter, und den ganzen Tag über wurden der Alte
und sein Knabe nicht lauter als die Wellen im See, welche an die
Seiten des Nachens schlugen, weil sie nichts Besseres zu thun hatten.
Auf das Schloß ging der Fischer nicht gern. Denn er war einer
von den böhmischen Brüdern, die damals wegen ihrer Verborgenheit
und Zurückgezogenheit auch Grubenheimer genannt wurden, und die
Flüche und losen Worte, welche er im Waldhanse hören mußte, .waren
ihm so zuwider wie dem Ackergaul die schwirrenden Bremsen. Es
dünkte ihm zuweilen, als höre er durch den abscheulichen Lärm noch
20. Wessen Licht brennt länger?
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andere Töne, nämlich den Baß in der Höllenmusik, ohne daß man
sagen konnte, sie kämen daher oder dorther. Seinen Knaben, der ihm
immer die Fische im Lägel den Schloßberg hinauftragen half, nahm er
nie in das Weidhaus mit hinein, sondern ließ ihn draußen am Hof-
thore warten, bis er die Karpfen und Forellen dem.Koche vorgewogen
und dafür das Seine empfangen hatte. Mein Kopf und mein Herz,
dachte der fromme Mann, tanzen nicht mehr nach dieser Musik; aber
der Fuß meines Toni steht noch nicht so fest.
Aber einmal, es war am heiligen Christabend, rief die gnädige
Frau den Jungen, der, mit den Händen unter dem Hosenträger, am
Hofthore lehnte und Pfiff, zu sich in ihr Zimmer, legte ein schweres
böhmisches Goldstück in seine Hand und sprach zu ihm: „Toni, gehe
erlends hinunter nach Zwiesel zum Italiener und kaufe sechs Pfund
Wachskerzen; denn bei uns ist heute Bankett und Tanz, und den
Küchenjungen hat der Sultan gebissen."
Und der Knabe beurlaubte sich bei seinem Vater und lief hinab
in den Flecken, vor dem der große und kleine Regen zusammenkommen,
um nrit einander den weiten Umweg in die Donau zu machen. Es hatte
in diesem Jahre noch nicht geschneit. Die Meisen trieben in den Erlen-
und Weidenbüschen ihre lustigen Gaukeleien, und die Felsen sonnten sich
an der Sommerseite des Thales. Auch bei dem Krämer in Zwiesel war
heiteres Wetter. Er gab mit großer Freundlichkeit dem Knaben zu
den langen weißen Kerzen noch drei kleinere bunte darein und sagte:
„Toni, die zündest du heute abend dem Christkindlein an, und diesen
Pfefferkuchen im Fließpapier teilst du mit deinem Vater. Wenn die
Herrschaft im Weidhaus fort ist, soll er seine Fische wieder mir bringen
und dem geistlichen Herrn auf die Fasttage."
Den Knaben freute die Weihnachtsgabe, und ob es gleich heim-
wärts bergauf ging, so brauchte er doch zum Rückweg eine halbe Stunde
weniger als zum Hinweg. Auf Geheiß der Schloßfran bekam er als
wohlverdienten Botenlohn einen Mariengroschen und ein Krüglein Met.
Die brachte er seinem Vater.
Der hätte nun gern die Kerzen des Toni aufgehoben und nach
und nach angezündet; aber der Knabe meinte, man dürfe dem Jesus-
kinde schon etwas zu Ehren thun, machte Gestelle aus weichem Thon,
steckte die bunten Kerzen hinein und zündete sie, als sich der Tag geneigt
hatte, alle drei mit einander an, daß die Fischerstube noch nie so er-
leuchtet gewesen war, so lange sie stand. Mit seinen Fingern, die am
Ruder hart geworden waren, putzte er sie, und sein Vater las dabei
die zwei ersten Kapitel des Evangelisten Lukas. Darnach genossen sie
mit Danksagung den Met und den Pfefferkuchen.
Im Weidhaus aber wirbelten die Tanzenden im Kreise umher
wie Blätter und Federn in der Windsbraut, die einer Gewitterwolke
vorausläuft.
Was im Schlosse diente, versah sein Amt in der Schenke oder
gaffte durch die offenen Saalthüren auf die wirbelnden Frauen und
■
26 20. Wessen Licht brennt länger?
Herren. Nur der Wildmeister war ganz allein unten im Keller, der
fast durch das ganze Schloß hinlief.
Der alte Schlemmer hätte schon wissen mögen, was für Weine
in dem kleinen Seitengewölbe liegen, in welches man aus dem Haupt-
keller durch ein niederes Pförtlein gelangen konnte. Eine bessere Ge-
legenheit, den geheimnisvollen Inhalt der unterirdischen Zelle zu er-
forschen , konnte es nicht geben, als an diesem Abend. Er zündete I
daher die Ampel der Küchenmagd an, nahm das Schlüsselbund des
Kellermeisters und stieg in die Tiefe hinab. Die Lampe brannte ihm
zu trübe. Deswegen füllte er aus einem angezapften Fasse einen
Becher mit Frairzbranntwein, nahm aus dem Korbe des Kellermeisters
eine Hand voll Werg, zündete es an und warf es auf den Spiritus.
Nun erleuchtete eine große blaue Flamme das weite und hohe Ge-
wölbe. Dann öffnete er die Seitenzelle, wälzte eins von den zwanzig
Fäßlein, die darin auf einander lagen, heraus, bohrte ein Loch in
den Boden, steckte eine Holunderröhre hinein und legte dann die Tonne
auf ein Lager, um ihren Inhalt mit Muße zu kosten. Es war aber *
kein Wein darin, sondern schwarzes körniges Pulver, das durch die
Röhre herausrann, wie Streusand aus einer umgeworfenen Büchse.
Denn in dem Gewölbe lag noch von dem dreißigjährigen Kriege her
ein Vorrat von grobem Schießpulver , das man nicht in die Jagd-
flinten brauchen konnte.
Staunend glotzte der Wildmeister das rinnende Pulver an. Aber
nicht lange. Von der offenen Kellerthür herab kam ein Zugwind und
führte von dem brennenden Werg ein Fünklein in das auf dem Boden
liegende Pulver, welches sich entzündete.
In diesem Augenblicke flog das Dach auf dem Schloß von ein-
ander und machte einer Rauchsäule Platz. Ein dumpfer, schwerer
Knall folgte darauf. Der Engel des Herrn aber behütete die Hütte
des Fischers und wehrte die schweren, fliegenden Trümmer des Schlosses
von der Hütte ab, um das Leben ihrer Bewohner zu erhalteil.
Hätte er nicht seine Fittiche ausgebreitet, wie eine Henne über ihre
Küchlein, so würde der gewaltige Luftstoß das Hüttlein ergriffen und |
in den See geworfen haben. Auf den Knall eilten auch der Fischer
und sein Sohn bestürzt hinaus vor die Thür und sahen noch die
turmhohe Rauchgarbe, die sich allmählich senkte und über den See ,
hinlegte. Von dem Schlosse standen noch die vier Mauern, und durch
die offenen Fenster und Thüren schien von hinten her der Mond.
Drinnen und ringsumher glimmte kein Fünklein mehr, und alles war
totenstill. Nur der See war noch von den hineingeworfenen Trümmern
bewegt. Erschüttert kehrten die Leute unter ihr Strohdach zurück,
dankten dem Herrn für ihre gnadenvolle und wunderbare Erhaltung
und löschten ihre Lichter aus. Wessen Licht hatte also länger gebrannt?
Einige Monate darauf, als das Wasserhuhn im Schilfrohr am
See brütete, kamen Verwandte des Freiherrn von Haldenstein aus
Böhmen und suchten unter den Ruinen des Weidhauses. Aber obgleich
l
21. Der Todesengel.
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noch alles lag, wie es in der Schreckensnacht gefallen war, — der
Fischer hatte gewissenshalber nichts angerührt, so fanden sie doch
nichts von den Kostbarkeiten, die sonst in dem Hause gewesen waren,
nicht einmal ein Löfflein, das man in den Kaffee tauchte, geschweige
denn mehr. Nach der vergeblichen Mühe erquickten sie sich aus dem
wohlversehenen Behälter des Fischers mit Forellen und Karpfen. Bei
dem Mahle sagte der Älteste unter ihnen zu dem Knaben, der ihm
ein Körblein mit Erdbeeren vorgesetzt hatte: „Toni, was du noch von
den Sachen im Schloß finden solltest, mit Schaufel oder Hand oder
Netz, das sei dein. Gedenke dafür unser in deinem Gebet."
Mit Schaufel und Hand suchte nun zwar Toni auch, fand aber
nie etwas. Erst später, nach etlichen und mehreren Jahren, immer
wenn das alte Netz am Zerreißen war und ein neues geschafft werden
sollte, fügte es sich, daß er einen Pokal oder eine silberne Schüssel
oder etwas dergleichen aus der Tiefe des Wassers an das Land zog.
In Zwiesel, wo er seinen Vater begraben hatte, kaufte er Hanf dafür.
Sein Weib spann ihn, und er verstrickte das zubereitete Garn mitten
unter vier Knaben, von denen einer immer rotwangiger war und
munterer als der andere. srövrr.
21. *Der Todesengel.
1. Auf dem Throne saß der hohe Herrscher in -cm Ccistcrreich,
Lalomon -er weltberühmte, dem an Weisheit niemand gleich.
Mit ihm sprach -er Todcscngcl, von dem Herrn herahgcsandt,
-aß dem Lönig er verkünde, was beschloßen Gottes Hand.
8. Äls der finstre To-cocngcl von dem Fürsten Abschied nahm,
da gewahrte er den Kanzler, der zu raten eben kam.
Einen ölick -es größten Staunens warf -er Engel, eh' er ging,
auf den greisen alten Kanzler, daß er an zu zittern fing.
3. „Was soll mir der Klick bedeuten?" rief der Alte bang und bleich,
„will der Engel mich entführen in sein finst'rcs Totenrcich?
Hab' ich treulich dir gcdicnct, weiser, großer Salomont
Gieb das schnellste deiner Koste, hoher Herrscher, mir zum Lohn!
4. Nimmer laßt der ölick mich ruhen! G mein König, laß mich zieh'n!
Auf dem schnellsten deiner Koste laß -cm Engel mich cnlstich'n!" —
„Was du bittest", sprach der König, „sei von Herzen dir verlieh'«;
doch dem gottverhängtcn Lose wirst du nie, mein Sohn, cnlflich'n!" —
5. Aus des Morgens schnellstem Koste flog wie Wind der bange Greis
über ücrge, Meere, Länder, nach der Erde fernstem Kreis.
Viele, viele taufend Meilen war mit ihm das Tier gerannt,
als es müd' bei einem Steine abends in der Wüste stand.
6. La ergriff ein Schreck den Alten, daß das Leben ihm entschwand,
als er einsam aus dem Steine schon den Enget fitzend fand.
Sterbend sprach er zu dem Engel: „Eli' du führest mich zur Kuh',
sprich, warum du mir am Morgen warfst den ölick des Staunens zu?"
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22. Für die armen Seelen.
7. „Wunderbarlich", rief der Engel, „find, o Herr, die Wege dein!
Einsam hieß er mich erwarten abends dich auf diesem Stein.
Heute sah ich noch am Morgen staunend dich bei Salomon;
fieh' da bist du noch vor Abend zur bestimmten Stelle schon.
8. Staunend traut' ich nicht den Augen, weil ich's möglich nie gedacht,
-aß so viele tausend Meilen würd' ein schwacher Greis gebracht!" —
Also sprach der To-csengcl; sterbend sank der Alte hin,
der so fern herbcigcrittcn, um dem Lode zu entfiieh'n.
Görres.
22. *Für die armen Seelen.
1. Was Leben hat, das kennt die Zeit der Gnade,
der Liebe Pforten sind ihm aufgethan,
zum Himmel führen tausend lichte Pfade,
ein jeder Stand hat seine eigne Bahn.
2. Doch wenn mit Trauer Leib und Seel1 sich trennen,
dann, Mensch, ergreif den letzten Augenblick:
Bald kannst du nicht mehr dein die Stunde nennen,
aus deiner Hand entflohn ist dein Geschick.
3. Wohl dem, der reiches Gut vorausgesendet;
was er gewirkt, das trägt er sich nach Haus.
Doch in dem Sturme, der sein Leben endet,
löscht auch der Prüfung Gnadcnfackel aus.
4. Wie mancher schied, und kennt die Zeit der Reue,
und die Erlösung ist ihm noch so fern!
Wohlan mein Herz, zeig1 deine Christentreue;
ein gläubig Flehn dringt vor den Thron des Herrn!
5. 0 du, der sprach aus seines Dieners Munde:
„Es ist ein heiliger und frommer Brauch!“
Das Geisterreich kennt weder Zeit noch Stunde,
doch eine Stunde kennt und hofft es auch.
6. Mein Vater, sieh1 auf deine ärmsten Kinder
und denk an sie in ihrer großen Not,
sie waren, was wir sind, sie waren Sünder,
und ihre Gnadenpforte schloß der Tod!
7. Und haben sie auch deinen Weg verlassen,
und haben nicht auf deine Hand geschaut;
ach, ihre Sehnsucht kann kein Leben fassen,
und ihre Reue nennt kein Menschenlaut.
23. Osterlied.
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8. 0 Jesu, denk an deine bittern Schmerzen
und an den harten Tod am Kreuzesstamm!
Ach, alle trugst du sie an deinem Herzen,
für alle starb das unbefleckte Lamm!
9. Eröffne deine heiligen fünf Wunden!
Und auf fünf Strömen, glänzend, blutig rot,
send' her dein Kreuz, des mögen sie gesunden,
ein sichres Schiff in ihrer großen Not!
10. Maria, bitt' für sie bei deinem Sohne,
als Himmelsleiter aus dem finstern Reich;
beut ihnen seine blut’ge Dornenkrone
und nimm sie auf in deinen Mantel weich!
11. Ihr Heü’gen Gottes alle, helft uns flehen,
sie sind ja eure armen Brüder auch!
Herr, laß sie bald dein göttlich Antlitz sehen,
kühl ihre Glut mit deiner Milde Hauch!
12. Und wenn von denen, die mir teuer waren,
als noch um sie die Erdenhülle lag,
vielleicht noch mancher nicht dein Heil erfahren,
noch fruchtlos harrt auf der Erlösung Tag;
13. o Gott, ich ruf aus meiner tiefsten Seele,
steh ihnen bei, mein Gott, verlaß sie nicht!
Auf ihren Schmerz sieh, nicht auf ihre Fehle,
sieh auf mein einsam trauernd Angesicht!
14. Und ist es möglich, kann man Seelen retten,
durch Erdenleid, dem man sich willig beut,
kann ich mein Schicksal an das ihre ketten:
Gieb deinen Kelch, o Herr, ich bin bereit!
15. Was will doch alles Erdenleiden sagen,
bedenk ich Leid und Freud der Ewigkeit!
Was ich vermag, ich will es gerne tragen,
ich bin bereit, o Herr, ich bin bereit!
Annette v. Drostr-HülsHoff.
23. *08lerlieä.
2. lim. 2, 8. Halt im Gedächtnis Jesum Christum, welcher auferstanden ist von den Toten.
i. Osternacht, Ostemacht,
hast der Welt das Licht gebracht!
Da aus blut’gen Grabgewanden
in der Früh der Herr erstanden,
glühst du auf in Morgenpracht,
Osternacht! Osternacht!
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24. Das Evangelium von den Spatzen.
2. Ostertag, Ostertag,
wecke, was im Grabe lag!
Blumen sprossen, Quellen springen,
Kinder jubeln, Engel singen;
jauchze, was noch jauchzen mag:
Ostertag! Ostertag!
z. Osterlicht, Osterlicht,
das durch trübe Wolken bricht!
Silberschäfchen ziehn im Blauen,
Sonnenschein beglänzt die Auen;
leucht’ auch mir ins Angesicht,
Osterlicht! Osterlicht!
4. Ostergrün, Ostergrün,
brich aus tausend Ritzen kühn!
Schnee zerschmilzt in allen Ecken,
goldnes Grün umsäumt die Hecken:
, Hoffnung laß auf Gräbern blühn,
Ostergrün! Ostergrün!
5. Osterluft, Osterluft,
leis’ gewürzt mit Veilchenduft!
Weckst mit deinem süßen Weben
Greise wieder neu ins Leben,
zauberst Blumen aus der Gruft,
Osterluft! Osterluft!
6. Osterklang, Osterklang,
Glockenton und Lerchensang!
Schwinge deine Silberflügel
festlich über Thal und Hügel;
tröstend geh’ die Welt entlang,
Osterklang ! Osterklang!
7. Osterheld, Osterheld,
siegreich kommst du aus dem Feld!
Jauchzend klingt’s in allen Landen:
Christ, der Herr, ist auferstanden!
Segnend wandle durch die Welt,
Osterheld! Osterheld! «trof.
24. Das Evangelium von den Spatzen.
Es ist ein wundersames Evangelium, das Evangelium von den Sperlingen,
oder wie man bei uns sagt, von den Spatzen. Da steht nämlich geschrieben
(ich glaube, der Evangelist Matthäus hat's gesagt), also: „Kauft man nicht
zwei Sperlinge um einen Pfennig, und doch, sage ich euch, keiner derselben
fällt vom Dach ohne Wissen und Willen Gottes."
24. Das Evangelium von den Spatzen.
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Schau einmal so ein Tierchen an; man sollte meinen, es sei ein gar armes
Geschöpf in seinem unansehnlichen Rock und den kurzen ledernen Höslein ohne
Strümps und Schuh, wie ein armes Schulkind aus einem Walddorfe. Und er
kann nicht schön pfeifen, und hat ein schmales Gehirn und wenig Verstand, und
kann auch sonst nicht viel. Ein anderer Vogel verreist im Spätjahr und sieht sich
um in fremden Ländern, aber der Spatz bleibt das ganze Jahr und lebens-
länglich in seinem Dorf und wohnt daselbst auf den Hintergassen. Ein anderer
Vogel macht sein zierliches Nest, der Distelfink und die Schwalbe, jeder auf seine
Art gar kunstreich; aber der Spatz ist unter dem Volk der Vögel nur so ein
leichtfertiger Bursch, oder ein Lump. Er sucht gern in fremden Häusern Logis,
in einem Schwalbennest z. B., und zahlt hintennach doch keinen Hauszins, oder
postiert sein grobes Nest aus Thorheit in eine Spatzenfalle, zum größten Ver-
derbnis für ihn und seine Nachkommenschaft, und füttert's schlecht aus mit Stroh.
Und weil der Spatz nichts kennt, keine Schönheit hat, Kunst oder Handwerk
versteht und auch kein großer Sänger ist, so steht er auch nirgends in Respekt,
nicht bei den Menschen und nicht bei dem Getier; und man sieht ihn eben nur
an wie so ein Ungeziefer unter der Vogelschaft, wie den Ausschuß; zumal da er
gern viel frißt und arg schreit und nichts nutzt. Und man trifft ihn auch überall
an, und er säet nicht und erntet nicht und zehrt von dem, was andere
pflanzen. Darum sieht man es für keine Sünde an, so einen Spatz zu töten,
wenn man ihm beikommen kann.
Und doch ist es noch nie passiert, daß sich so ein Spatz gehenkt hätte oder
den Hals abgeschnitten oder mit einer Pistole tot geschossen, oder daß sich
einer nur viel um morgen oder gar um den nächsten Winter Bekümmernis
gemacht hätte. Und er hat ganz recht, der Sperling; wollt' er sich Grillen
machen, so wäre er ein Narr, auch wenn er das Verständnis dazu hätte. Denn
wäre ein solches Halbpfeuniggeschöpf, so ein Spatzenvögelein auch gar gering,
und wäre es auch gar kein Schade, nicht einmal ein kleiner, wenn einer derselben
umkommt, und sei er, selbst gegen eine' Schwalbe und ihren hoffärtigen Flug
verglichen, nur wie ein tölpelhafter Bauersmann: so könnte so ein Spatz doch
ganz wohl inne werden, daß er in der Pflege unseres Herrgotts steht und dieser
ihm alle Tage sein tägliches Brot zurichtet und vorlegt. Wir wollen einmal
einen Anschlag machen von den Verpflegungskosten, die auf den Unterhalt eines
Spatzes verwendet werden müssen.
1. Kosten der Speisung. Der Spatz braucht alle Tage seine Mehlspeise oder
seine Fleischspeise, und an Festtagen von allen beiden, sei es nun ein paar
Weizenkörner oder eine Speise von jungen Erbsen, oder sei es ein unvorsichtiger
Käfer oder ein Würstlein von einer Raupe, oder sonst so etwas. Und gar im
Winter ist oft die Versorgung von einem solchen Spatzentierlein keine leichte Sache;
wenn es z. B. einen Tag lang geschneit hat und alles mit Schnee zugedeckt ist:
da will eben doch der Spatz alle Tage sein Essen haben, und würde kein kleines
Geschrei anheben, wenn er seine Sache nicht bekäme. Wie ist aber das aufzu-
treiben, wenn alles zugedeckt ist? Graben kann der Spatz nicht und betteln mag
er auch nicht, und zum Stehlen giebt's nicht überall Gelegenheit. Was aber an
der Landstraße oder sonst an einem Ort, wo der Schnee zeitlich beiseite
32
24. Das Evangelium von den Spatzen.
geschafft worden ist, etwa zusammen zu lesen ist, das ist nicht viel, und kommen
auch andere Hungerleider, die größere Kröpfe haben und gewaltthätig sind
Finken, Goldammer und dickköpfige Krähen. Aber alle diese Schwierigkeiten
unbesehen kriegt so ein einfältiger Spatz alle Jahr 365 Tage sein Essen, und
im Schaltjahr noch Zulage für einen Tag. Man sieht es ihm deshalb von
weitem an, daß er vor lauter Sorglosigkeit ganz leichtsinnig ist.
2. Kleidung. So einem Spatz geht es eben wie andern Leuten auch; er
will auch nicht schlechter gekleidet sein, als seinesgleichen, sondern einherschreiten,
ganz wie es bei den Spatzen gerade die neueste Mode ist. Wenn man nur die
Sache recht betrachtet, so ist der Spatz hierin viel besser versorgt, als man nur
meinen sollte. Gott kleidet ihn gar sorglich; eine wohlhäbige Mutter kleidet ihr
Kind nicht bester, so daß er nicht leicht friert, wenn's kalt ist, und im Sommer
schwitzt er nicht (ich habe wenigstens noch nie Spatzenschweiß gesehen). Und dann
kann der Spatz oder die Spätzin erst noch wie eine Madam in ihrem Federnstaat
stolz einherschreiten oder auf dem Dach sich sehen lassen. Hat er nicht einen
braun gestreiften Frackrock an? Geht er nicht in kurzen seidenen Hosen sachte
einher, wie ein Vornehmer? Hat er nicht feine Halbstiefelein von rotem Juchten-
leder und sind alle Tage wie frisch gewichst? und hat doch keinen Diener und
keine Magd und keine Bürste! Und das Spatzenhaupt hat ein sammetnes Barett
auf, und ist alles in der Wolle gefärbt am Spatz; seine Kleidung schießt nicht ab,
nicht !m Sonnenschein und nicht im Regen, obschon er keinen Schirm fuhrt, und
kriegt auch keine Flecken und kommen keine Löcher hinein; es sei denn, daß einer
Streithändel bekomme und zerzaust werde. Im Frühjahr und Spätjahr läßt ihm
aber sein Pflegevater neue Kleider anmessen: der Spatz mausert sich nämlich. Im
Spätjahr fallen ihm die leichten Sommerfedern aus und im Frühjahr die dicken
Winterfedern, und er bekommt ein anderes Gewand, wie es die neue Jahreszeit
braucht. Er verkauft's nicht einmal dem Federnhändler, wirft's nur weg, denn
er ist sorglos wie ein junger Komödiant. Ein Bedienter oder Kutscher kriegt nur
alle zwei Jahr neue Kleidung von seinem Herrn, so ein Spatz aber zweimal im
Jahre, und dient doch nicht und kutschiert auch nicht. Und wie nett steht ihm
alles! Der ihm das Zeug zu seinem Kleide geschenkt hat, hat's ihm nämlich
auch selber zurecht geschnitten und genäht. Darum geht so ein Spatz nicht
einher, wie da und dort ein Krämer oder ein Wirt, dem der Pariser Dorf-
schneider den Rock verpfuscht hat, oder wie ein Soldat, der in eine Montur
schlupfen muß, die nicht für ihn gemacht ist, — es liegt ihm, nämlich dem
Herrn Spatz, die ganze Kleidung an, wie wenn sie angegossen oder angewachsen
wäre — und ist doch nur ein Spatz, unter Brüdern nur einen halben
Pfennig wert.
3. Unterricht und Vormundschaft. So ein Spatz hat von Natur einen
schwachen Kopf und leichten Sinn, er hat, wie man von vielen Studenten zu sagen
pflegt, kein Sitzleder und ist sehr flatterhaft. Darum weiß er nichts und versteht
er nichts, wenn er in die Welt hinauskommt, und von anderen Leuten nimmt
er keinen Rat an. Da ist aber die Katze, da ist die Eule, da ist der Marder,
da sind die Buben, da sind selber die elenden Hühner, die alle den Spatzen,
als wären sie nur Zigeuner und Scherenschleifervolk, aussätzig sind. — Wer
24. Das Evangelium von den Spatzen.
33
soll dem thörichten ungelehrten Spatz durchhelfen bei all diesen Nachstellungen
von Buben und vom Getier, das viel mehr Talente hat als er? Sieh, Gott
hat den kleinen, armen Vogel selber instruiert, wie er's machen müsse. Gott hat
ihm gezeigt, wenn ein Mensch kommt, so fliege etwa zehn Schritt weit ab in die
Höhe; wenn eine Katze kommt, so darfst du diese ein paar Schritte näher
kommen lassen, nur mußt du das Aug nicht von ihr verwenden, damit sie nicht
heimlicher Weise auf dich losfahre; vor einem Huhn brauchst du aber fast gar
keinen Respekt zu haben, vor so einer Krakeelerin; brauchst nicht einmal aufzu-
fliegen, sondern nur einen kleinen Seitensprung zu machen, wenn sie aus Brot-
neid beim Futterstreuen nach dir pickt.
Es ließe sich ferner noch von der Wohnung des Spatzes und von seiner
Gesundheit und Fröhlichkeit reden, und wie er auch noch Stroh geliefert bekommt
und Quartier dazu angewiesen erhält, und auch noch ein Federbett über dem
Strohsack, und größere Nationen, wenn er einmal Familie kriegt, und wie er
überhaupt zum wohlhäbigen Mittelstand gehört, d. h. sein Auskommen hat und
wohl zufrieden sein kann.
Liebes Kind, du meinst vielleicht, ich hätte jetzt lauter Scherz gemacht;
und es will dir gar nicht gefallen, so spaßiges Zeug zu lesen, wenn von
Religionssachen die Rede sein soll. Aber es ist mir mit dem Spaß ganz ernst
und ich hab eine genügende Ausrede dafür.
Sieh, unser Herr Gott hat Himmel und Erde erschaffen und das Meer,
und hat die ganze Natur wunderschön geziert und angestrichen, daß die
Menschen und Engel ihre Freude daran haben sollen. Es ist nämlich die ganze
sichtbare Welt eine große heilige Schrift, ganz voll Parabeln, Gleichnissen und
andern Lehrstücken. Alle Dinge, die man sieht, haben ihre schöne und tiefe
Bedeutung.
Die Sterne am Himmel, die schöne, weiße Wolke in dunkelblauer Lust,
das Abendrot, der Sturmwind und das leise Wehen des Blütenduftes am
Frühlingsmorgen, das Feuermeer der Sommersonne und das stille Funkeln der
Sterne in klarer Winternacht, das Donnern eines schwarzen Gewitters und das
heimliche Zirpen der Grillen hinter dem Ofen; alles das will mehr noch
sagen, als nur was man mit den Shren davon hört und mit den Augen
dran sieht.
Und der dunkle Bergwald und die hohe Eiche, der Pappelbaum am
Mühlbach, die Dornhecke, der Weinstock und das Kornfeld, die Blumen des
Feldes und der Kleeacker, das freundliche Veilchen und die duftige Rose, das
alles ist nicht bloß zur Nutznießung und zum Pläsier der Leute, es sind auch
Buchstaben einer geheimen wunderbaren Schrift, von Gott geschrieben, und
Gottesgedanken sind drin verborgen.
Und das Reh mit seinen sanften Angen, die Nachtigall im Wald am
Rain, die Kröte im Moosgraben und der Hornschröter, die Blindschleiche, das
Spiel der feinen Schnacken über dem Sumpfwasser; ja all diese und die andern
Tiere und Tierlein sind nicht bloß auf der Welt, daß sie essen und trinken und
wachsen und zuletzt umfallen und sterben oder jählings selber gefressen werden
Deutsches Lesebuch für kath. Schulen. IV. Für Oberklussen. Z
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25. Der Schneider in Pensa.
— sie sind lebendige, wandelnde und fliegende Schriftzeichen des Schöpfers.
Unser Herr Gott hat sie an die Tafel der Welt geschrieben, bevor es Menschen
gab, damit, wenn diese kämen, sie gleich daran buchstabieren und lernen
könnten.
Aber die Menschen haben rechten Sinn und Verständnis durch die
Sünde verloren und gaffen wie blöde und blind die Natur an in ihren
wunderbaren Gebilden, oder besehen sie auch gar nicht und meinen, es sei nur
alles auf der Welt zum Essen und zum Dung, zum Verbrennen und zum
Getüch und zum Handwerk. — Weil also alles Verständnis und die rechte Aus-
legung verloren gegangen ist, darum auch hat Gott seinen Sohn, den Lehrer
der Welt geschickt, „durch den alle Dinge gemacht sind, und ohne den nichts
gemacht ist." Dieser hat uns wieder Anleitung gegeben und Unterweisung, und
hat uns wieder buchstabieren gelehrt, und hat einiges selber ausgelegt und ins
rechte Licht gesetzt, wie es gemeint ist und zu verstehen.
So ist es auch mit unserer Geschichte von dem Spatz. Mancher
möchte sich verwundern, wie der Heiland so gemeine Gleichnisse habe nehmen
können; aber was der Vater geschaffen hat, das ist dem Sohn auch gut genug
zum Auslegen. Wir sind darum auch nicht zu vornehm, wenn wir bei dem
Lehrstück vom Sperling noch eine Weile sitzen bleiben.
Sieh, Gott weiß also von diesem Sperling und nimmt Rücksicht auf ihn;
das sagt Jesus Christus, und das sieht man dem Tierchen auch an seiner Aus-
stattung und an seiner Lebensart und Auskommen an, wenn man die Sache
unparteiisch betrachtet. Und wenn denn Gott für alles sorgt, auch für den
Sperling laut dem Worte Gottes und laut der Vernunft und dem Augenschein,
so sage ich nun weiter: Sollte denn Gott das nichtsnutzige thörichte Vögelein,
das nichts von Gott weiß und ihm in Ewigkeit nie dankt, väterlich versorgen —
und das edelste Geschöpf, sein Ebenbild, sein Kind, den teuer und schwer
erkauften Menschen vergessen? Aivan Srotz.
25. Der Schneider in Pensa.
Der Schneider in Pensa, was ist das für ein Männlein? Sechs-
undzwanzig Gesellen auf dem Brett jahraus, jahrein, für halb Rußland
Arbeit genug und doch kein Geld, aber einen frohen, heiteren Sinn, ein
Gemüt, treu und köstlich wie Gold, und mitten in Asien deutsches Blut,
rheinländische Gastfreundschaft.
Im Jahre 1812, als Rußland nimmer Straßen genug hatte für
die Kriegsgefangenen an der Be re si na oder in Wilna, ging eine auch
durch Pensa, welches für sich schon mehr als einhundert Tagereisen weit
von Lahr oder Pforzheim entfernt ist, und wo die beste deutsche oder
englische Uhr, wer eine hat, ninimer geht wie daheim, sondern ein paar
Stunden zu spät. In Pensa ist der Sitz des ersten russischen Statthalters in
25. Der Schneider in Pensa.
35.
Asien, wenn man von Europa aus hereinkommt. Also wurden dort
die Kriegsgefangenen abgegeben und dann weiter abgeführt in das
tiefe, fremde Asien hinein, wo die Christenheit ein Ende hat, und
niemand mehr das Vaterunser kennt, wenn's nicht einer gleichsam
als eine fremde Ware aus Europa mitbringt. Also kamen eines
Tages, mit Franzosen untermengt, auch sechzehn Rheinländer, badische
Offiziere, die damals unter den Fahnen Napoleons gedient hatten, über
die Schlachtfelder und Brandstätten von Europa, ermattet, krank, mit
erfrorenen Gliedmaßen und schlecht geheilten Wunden, ohne Geld, ohne
Kleidung, ohne Trost in Pensa an und fanden in diesem unheimlichen
Lande kein Ohr mehr, das ihre Sprache verstand, kein Herz mehr, das
sich über ihre Leiden erbarmte. Als aber einer den andern mit trostloser
Miene anblickte: „Was wird aus uns werden?" oder: „Wann wird der
Tod unserm Elend ein Ende machen?" und: „Wer wird den letzten begra-
ben?" — da vernahmen sie mitten durch das russische und kosakische Kau-
derwelsch wie ein Evangelium vom Himmel, unvermutet eine Stimme:
„Sind keine Deutsche da?"— Und es stand vor ihnen auf zwei ganz
gleichen Füßen eine liebe, freundliche Gestalt, das war der Schneider
von Pensa, Franz Anton Egetmeier, gebürtig aus Breiten im
Neckarkreise des Großherzogtums Baden. Hat er nicht im
Jahre 1799 das Handwerk gelernt in Mannheim? Hernach ging er auf
die Wanderschaft nach Nürnberg, hernach ein wenig nach Peters-
burg hinein. Ein deutscher Schneider schlägt sieben- bis achtmal
hundert Stunden Weges nicht hoch an, wenn's ihn inwendig treibt.
In Petersburg aber ließ er sich unter ein russisches Kavallerie-Regi-
ment als Regimentsschneider aufnehmen und ritt mit ihm in die fremde,
russische Welt hinein, wo alles anders ist, nach Pensa, bald mit der
Nadel stechend, bald mit dem Schwerte. In Pensa aber, wo er sich
nachher häuslich und bürgerlich niederließ, ist er jetzt ein angesehenes
Männlein. Will jemand in ganz Asien ein sauberes Kleid nach der Mode
haben, so schickt er nach dem deutschen Schneider in Pensa. Verlangt er
etwas von dem Statthalter, der doch ein vornehmer Herr ist und mit
dem Kaiser reden darf, so hat's ein guter Freund vom andern verlangt,
und hat auf dreißig Stunden Weges ein Mensch ein Unglück oder einen
Schmerz, so vertraut er sich dem Schneider von Pensa an; er findet bei
ihm, was ihm fehlt: Trost, Rat. Hilfe, ein Herz und ein Auge voll
Liebe, Obdach, Tisch und Bett, — nur kein Geld.
Einem Gemüte, wie dieses war. das nur in Liebe und Wohlthun
reich ist, blühte auf den Schlachtfeldern des Jahres 1812 eine schöne
Freudenernte. So oft ein Transport von unglücklichen Gefangenen kam,
warf er Schere und Elle weg und war der erste auf dem Platze, und:
„Sind keine Deutsche da?" war seine erste Frage. Denn er hoffte von
einem Tage zum andern, unter den Gefangenen Landsleute anzutreffen,
und freute sich, wie er ihnen Gutes thun wollte. „Wenn sie nur so oder
so aussähen!" dachte er. „Wenn ihnen nur auch recht viel fehlt, damit
ich ihnen recht viel Gutes ertveisen kann." Doch nahm er, wenn keine
36
25. Der Schneider in Pensa.
Deutsche da waren, auch mit Franzosen fürlieb und erleichterte ihnen,
bis sie weiter geführt wurden, ihr Elend nach Kräften. Diesmal aber,
und als er mitten unter so viele gefangene Landsleute, auch Darmstädter
und Badenser und andere, hineinrief: „Sind keine Deutsche da? — da mußte
er zum zweiten Male fragen, denn das erste Mal konnten sie vor Staunen
und Ungewißheit nicht antworten, sondern das süße, deutsche Wort in Asien
verklang in ihren Ohren wie ein Harfenton. Und als er hörte: „Deutsche
genug!" und von jedem erfragte, woher er sei, da sagte einer: „Von Mann-
heim am Rheinstrom," als wenn der Schneider nicht vor ihm gewußt
hätte, wo Mannheim liegt; der andere sagte: „Von B r u ch s a l," der dritte:
„Von Heidelberg," der vierte: „Von Gochs heim." — Da zog es wie
ein warmes, auflösendes Tauwetter durch den ganzen Schneider hindurch.
„Und ich bin von Breiten," sagte das herrliche Gemüt, „Franz Anton
Egetmeier von Breiten," wie Joseph in Ägypten zu den Söhnen Israels
sagte: „Ich bin Joseph, euer Bruder." — Und die. Thränen der Freude,
der Wehmut und heiligen Heimatliebe traten allen in die Augen, und
es war schwer zu sagen, ob sie einen freudigeren Fund an dem Schneider
machten, oder der Schneider an seinen Landsleuten, und welcher Teil am
gerührtesten war. Jetzt führte der gute Mensch seine teuren Landsleute
im Triumph in seine Wohnung und bewirtete sie mit einem erquicklichen
Mahl, wie in der Geschwindigkeit es aufzutreiben war.
Jetzt eilte er zum Statthalter und bat ihn um die Gnade, daß er
seine Landsleute in Pensa behalten dürfe. „Anton," sagte der Statt-
halter, „wann hab' ich Euch etwas abgeschlagen?" Jetzt lief er in der
Stadt herum und suchte für diejenigen, welche in seinem Hause nicht Platz
hatten, bei seinen Freunden und Bekannten die besten Quartiere aus. Jetzt
musterte er seineGäste, einen nach dem andern. „HerrLandsmann,"sagte
er zu einem, „mit Eurem Weißzeug sieht's windig ans ; ich werde noch für
ein halbes Dutzend neue Hemden sorgen." — „Ihr braucht auch ein
neues Röcklein," sagte er zu einem andern. — „Eures kann noch ge-
wendet und ausgebessert werden," zu einem dritten, und so zu allen, und
augenblicklich wurde zugeschnitten, und alle sechs und zwanzig Gesellen
arbeiteten Tag und Nacht an Kleidungsstücken für seine werten rhein-
ländischen Freunde. In wenig Tagen waren alle neu oder anständig
ausstaffiert. Ein guter Mensch, auch wenn er in Nöten ist, mißbraucht
niemals fremde Gutmütigkeit; deswegen sagten zu ihm die Rheinländer:
„Herr Landsmann, verrechnet Euch nicht! Ein Kriegsgefangener bringt
keine Münze mit; so wissen wir auch nicht, wie wir Euch für
Eure großen Auslagen werden schadlos halten können, und wann."
Darauf erwiderte der Schneider: „Ich finde hinlängliche Entschädigung
in dem Gefühl, euch helfen zu können. Benutzt alles, was ich habe!
Seht mein Haus und meinen Garten als das eurige an." So kurzweg
und ab, wie ein Kaiser oder König spricht, wenn eingefaßt in Würde die
Güte hervorblickt; — denn nicht nur die hohe fürstliche Geburt und Groß-
mut, sondern auch die liebe häusliche Demut giebt, ohne es zu wissen,
25. Der Schneider in Pensa.
37
bisweilen den Herzen königliche Sprüche ein. Jetzt führte er sie, freudig
wie ein Kind, in der Stadt bei seinen Freunden herum und machte
Staat mit ihnen.
Es ist hier nimmer Zeit und Raum genug, alles Gute zu rühmen,
was er seinen Freunden erwies. So sehr sie zufrieden waren, so wenig
war er es. Jeden Tag erfand er neue Mittel, ihnen den unangenehmen
Zustand der Kriegsgefangenschaft zu erleichtern und das fremde Leben in
Asien angenehm zu machen. War in der lieben Heimat ein hohes
Geburts- oder Namensfest, es wurde am nämlichen Tage von den Treuen
auch in Asien mit Gastmahl, mit Vivat und Freudenfeuer gehalten, nur
etwas früher, weil dort die Uhren anders gehen. Kam eine frohe Nachricht
von dem Vorrücken und dem Siege der hohen Verbündeten in Deutsch-
land an, der Schneider war der erste, der sie wußte und seinen Kindern
— er nannte sie nur noch seine Kinder — mit Freudenthränen zubrachte,
darum, daß sich ihre Erlösung nahte. Als einmal Geld zur Unterstützung
der Gefangenen aus dem Vaterlande ankam, war die erste Sorge, ihrem
Wohlthäter seine Auslagen zu vergüten. ..Kinder," sagte er, „verbittert
mir meine Freude nicht." — „Vater Egetmeier," sagten sie, „thut unserm
Herzen nicht wehe!" Also machte er ihnen zum Schein eine kleine Rech-
nuilg, nur um sie nicht zu betrüben, und um das Geld wieder zu ihrem
Vergnügen anzuwenden, bis die letzte Kopeke aus den Händen war. Als
endlich die Stunde der Erlösung schlug, gesellte sich zur Freude ohne
Maß der bittere Schmerz der Trennung und zu dem bitteren Schmerze
— die Not; denn es fehlte an allem, was zur Notdurft und zur Vor-
sorge ans eiire so lange Reise in den Schrecknissen des russischen Winters
und einer unwirtbaren Gegend nötig war, und ob auch auf den Mann,
so lange sie durch Rußland zu reisen hatten, täglich dreizehn Kreuzer
verabreicht wurden, so reichte doch das wenige nirgends hin. Darum
gitig in diesen letzten Tagen der Schneider — sonst so frohen, leichten
Mutes — still und nachdenkend herum, als der etwas im Sinn hat, und
war wenig mehr zu Hause. „Es geht ihm recht zu Herzen," sagten die
Herren Rheinländer und merkten nichts. Aber auf einmal kam er mit großen
Frendenschrittcn, ja mit verklärtem Antlitz zurück: „Kinder, es ist Rat!
Geld genug!" — Was war's? — Die gute Seele hatte für zweitausend
Rubel das Haus verkauft. „Ich will schon eine Unterkunft finden," sagte
er, „wenn nur ihr ohne Leid und Mangel nach Deutschland kommt." O
du heiliges, lebendig gewordenes Sprüchlein des Evangeliums und seiner
Liebe: „Verkaufe, was du hast, und gieb es denen, die es bedürftig sind,
so wirst du einen Schatz im Himmel haben." Der wird einst weit oben
rechts zu erfragen sein, wenn die Stimme gesprochen hat: „Kommet her.
ihr Gesegneten! Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeiset; ich
bin listest gewesen, und ihr habt mich gekleidet; ich bin krank und gefangen
gewesen, und ihr habt euch meiner angenommen!" Doch der Kauf wurde
zum großen Troste für die edlen Gefangenen wieder rückgängig gemacht.
Nichts desto weniger brachte er auf andere Art noch einige hundert Rubel
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26. Wohlthun.
für sie zusammen und nötigte sie, was er hatte von kostbarem russischen
Pelzwerk, mitzunehmen, um es unterwegs zu verkaufen, wenn sie Geldes
bedürftig wären oder einem ein Unglück widerführe. Sie schieden unter
tausend Segenswünschen und Thränen des Dankes und der Liebe, und
der Schneider gestand, daß dieses für ihn der schmerzlichste Tag seines
Lebens sei. Die Reisenden aber sprachen unterwegs unaufhörlich
noch immer von ihrem Vater in Pensa, und als sie in Bia ly stock in
Polen wohlbehalten ankamen unh Geld antrafen, schickten sie ihm dankbar
ihre Schuld zurück. Hrbri.
26. Wohlthun.
Da schreib' ich ihm schon wieder, und diesmal, halt' er mir nur
noch stand, mein lieber Andres; dann soll er auch für erst Ruhe
haben. Ich kann doch nicht so ins Blaue schießen, muß doch jemand
haben, nach dem ich ziele, und er ist mir so recht bequem und paß-
lich, nicht zu dumm und nicht zu klug, und sein Gemüt ist nicht böse.
Will auch Brüderschaft mit dir gemacht haben, Bruder Andres.
Was du mir von dem neuen Holzbein und der Bärenmütze
schreibst, die du dem alten lahmen Dietrich heimlich auf sein Stroh-
lager hast hinlegen lassen, hat mir nicht unrecht gefallen; darüber aber
muß ich recht lachen, daß dir nun nach seinem Dank 's Maul doch so
wässert, 's wässert einem denn so, Andres, mußt aber alles hübsch
hinterschlucken. Dietrich bleibt ja im Lande, kannst ja alle Tage,
wenn er vorbeihinkt, dein Holzbein noch sehen und deine Bärenmütze.
Aber dem Dank wollt'st du gar zu gern zuleibe? Run, reiß' dir
deshalb kein Haar nicht aus, 's geht andern ehrlichen Leuten auch so;
man meint wunder, was einem damit geholfen sein werde, und ist
nicht wahr; hab's auch wohl eher gemeint, aber seit Bartholomäi hab'
ich mich daraus gesetzt, daß ich von keinem Danke wissen will, und
wenn mir nun einer damit weitläufig angestiegen kommt, so karbatsch'
ich drauf los, und das alles aus purem, leidigem Interesse, wahr-
hastig aus purem Interesse. Denn sieh, Andres, du wirst's auch finden,
wenn die Sach' unter die Leut' ist und Dietrich gedankt hat, dann hat
man seinen Lohn dahin, und 's ist alles rein vorbei; und was ist es
denn groß zu geben, wenn man's hat? Wenn aber keine Seel' von
was weiß, sieh! dann hat man noch immer den Knopf auf'm Beutel;
dann ist's noch immer ein treuer Gefährte um Mitternacht und auf
Reisen, und man kann's ordentlich als 'n Helm auf'n Kops setzen, wenn
26. Wohlthun.
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ein Gewitter aufsteigt. Herzlicher Dank thut wohl sanft, alter Narre;
doch ist das auch keine Kleinigkeit, heimlich hinlegen, und dann dem
armen Volk unsichtbar hinterm Rücken stehn und zusehen, wie 's
wirkt, wie sie sich freuen und handschlagen und nach dem unbekannten
Wohlthäter suchen. Und da muß man sie suchen lassen, Andres, und
mit seinem Herzen in alle Welt gehen. Aber hör', man muß auch
nicht jedem Narren geben, der einen anpfeift. Die Leute wollen alle
gern haben, und ist doch nicht immer gut. Mangel ist überhaupt
gesünder als Überfluß, und traun, glaube mir, 's ist viel leichter zu
geben, als recht zu geben. Auf'n Kopf mußte Dietrich was haben
und 'n neues Bein auch, das versteht sich; aber es giebt sehr oft
Fälle, wo es besser und edler ist, abzuschlagen und hart zu thun.
Versteh' mich nicht unrecht; wir sollen nicht vergessen, wohlzuthun
und mitzuteilen, das hat uns unser Herr Christus auch gesagt,
und was der gesagt hat, Andres, da laß ich mich tot drauf
schlagen. —
Hast du wohl eher die Evangelisten mit Bedacht gelesen, Andres?
Wie alles, was er sagt und thut, so wohlthätig und sinnreich ist!
Klein und still, daß man's kaum glaubt, und zugleich so über alles
groß und herrlich, daß einen 's Kniebeugen ankommt, und man's nicht
begreifen kann. Und was meinst du von einem Lande, wo seine
herrliche Lehre in eines jedweden Menschen Herzen wäre? Möcht'st
wohl in dem Lande wohnen?
Ich habe mir einen hellen, schönen Stern am Himmel ausgesucht,
wo ich mir in meinen Gedanken vorstelle, daß er da sein Wesen mit
seinen Jüngern habe. Ich segne den Stern in meinem Herzen und
bete ihn an, und oft, wenn ich's Nachts unterwegen an den Rabbuni
denke und zu dem Sterne aussehe, überfällt mich ein Herzklopfen und
eine so kühne, überirdische Unruhe, daß ich wirklich manchmal denke,
ich sei zu etwas Besserm bestimmt als zum Brieftragen; ich trage in-
dessen immer den Weg hin und finde auch bald wieder, daß es mein
Beruf sei. Halt! 's wird schon Tag und der Morgen guckt durch die
Vorhänge ins Fenster! Junge, mir ist's so wohl dahier hinter den
Vorhängen in dieser Frühstund! möchte dich gleich umarmen. Leb'
wohl, und grüße deinen Herrn Pastor, vor dem ich Respekt habe,
weil er so'n lieber, guter Herr Pastor ist, und so fromm aussehend,
als ob er immer an etwas jenseit dieser Welt dächte.
Claudius.
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27. Abdallah.
27. * Abdallah.
1. Abdallah liegt behaglich am Quell der Wüste und ruht;
es weiden um ihn die Kamele, die achtzig, sein ganzes Gut.
Er hat mit Kaufmannsmaren Balsora glücklich erreicht;
Bagdad zurück zu gewinnen, wird, ledig, die Reise ihm leicht.
2. Da kommt zur selben Quelle zu Fuß am Wanderstab
ein Derwisch ihm entgegen, den Weg von Bagdad herab.
Sie grüßen einander, sie setzen beisammen sich zum Mahl
und loben den Trunk der Quelle und loben Allah zumal.
3. Sie haben um ihre Reise teilnehmend einander befragt,
was jeder verlangt zu wissen, willfährig einander gesagt;
sie haben einander erzählet von dem und jenem Ort;
da spricht zuletzt der Derwisch ein gar bedächtig Wort:
4. „Ich weiß in dieser Gegend, und kenne wohl den Platz
und könnte dahin dich führen, den unermeßlichsten Schatz.
Man möchte daraus belasten mit Gold und Edelgestein
wohl achtzig, wohl tausend Kamele, es würde zu merken nicht sein."
5. Abdallah lauscht betroffen, ihn blendet des Goldes Glanz;
es rieselt ihm kalt durch die Adern, und Gier erfüllt ihn ganz:
„Mein Bruder, hör', mein Bruder, o führ' dahin mich gleich!
Dir kann der Schatz nichts nützen, mich machst du glücklich und reich.
6. Laß dort mit Gold uns beladen die achtzig Kamele mein,
nur achtzig Kameleslasten! Es wird zu merken nicht sein.
Und dir, mein Bruder, verheiß' ich zu deines Dienstes Sold
das beste von allen, das stärkste, mit seiner Last von Gold."
7. Darauf der Derwisch: „Mein Bruder, ich hab es anders gemein
dir vierzig Kamele, mir vierzig, das ist, was billig mir scheint;
den Wert der vierzig Tiere empfängst du millionenfach,
und hätt' ich geschwiegen, mein Bruder, o denke, mein Bruder, doch nach
8. „Wohlan, wohlan, mein Bruder, laß gleich uns ziehn dahin,
wir teilen gleich die Kamele, wir teilen gleich den Gewinn!"
Er sprach's; doch thaten ihm heimlich die vierzig Lasten leid,
dem Geiz in seinem Herzen gesellte sich der Neid.
9. Und so erhoben die beiden vom Lager sich ohne Verzug,
Abdallah treibt die Kamele, der Derwisch leitet den Zug.
Sie kommen zu den Hügeln; dort öffnet eng und schmal
sich eine Schlucht zum Eingang in ein geräumig Thal.
19. Schroff überhangend umschließet die Felswand rings den Raum,
noch drang in diese Wildnis des Menschen Fuß wohl kaum.
?ie halten: bei den Tieren Abdallah sich verweilt,
?r sie, der Last gewärtig, in zwei Gefolge verteilt.
27. Abdallah.
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11. Indessen häuft der Derwisch am Fuß der Felsenwand
verdorrtes Gras und Reisig und steckt den Haufen in Brand;
er wirft, sowie die Flamme sich prasielnd erhebt, hinein
mit seltsamem Thun und Reden viel kräftige Spezerein.
12. In Wirbeln wallt der Rauch auf, verfinsternd schier den Tag,
die Erde bebt. es dröhnet ein starker Donnerschlag;
die Finsternis entweichet, der Tag bricht neu hervor,
es zeigt sich in dem Felsen ein weitgeöffnet Thor.
13. Es führt in prächtige Hallen, wie nimmer ein Aug' sie geschaut,
aus Edelgestein und Metallen von Geistern der Tiefen erbaut;
es. tragen goldne Pilaster ein hohes Gemölb' von Kristall,
hellfunkelnde Karfunkeln verbreiten Licht überall.
14. Es lieget zwischen den goldnen Pilastern unerhört
das Gold hoch aufgespeichert, des Glanz den Menschen bethört;
es wechseln mit den Haufen des Goldes die Hallen entlang
Demanten, Smaragden, Rubinen, dazwischen nur schmal der Gang.
15. Abdallah schaut's betroffen, ihn blendet des Goldes Glanz;
es rieselt ihm kalt durch die Adern, und Gier erfüllet ihn ganz.
Sie schreiten zum Werke: der Derwisch hat klug sich Demanten gewählt,
Abdallah wühlet im Golde, im Golde, das nur ihn beseelt.
16. Doch bald begreift er den Irrtum und wechselt die Last und tausch!,
für Edelgestein und Demanten das Gold, des Glanz ihn berauscht;
und was er fortzutragen die Kraft hat. minder ihn freut,
als, was er liegen muß lasten, ihn heimlich wurmt und reut.
17. Geladen sind die Kamele schier über ihre Kraft.
Abdallah sieht mit Staunen, was ferner der Derwisch schasst;
der geht den Gang zu Ende und öffnet eine Truh'
und nimmt daraus ein Büchschen und schlügt den Deckel zu.
18. Es ist von schlichtem Holze und. was darin verwahrt,
gleich wertlos, scheint nur Salbe, womit man salbt den Bart; j
er hat es prüfend betrachtet, das war das rechte Geschmeid;
er steckt es wohlgefällig in sein gefaltet Kleid.
19. Drauf schreiten hinaus die beiden, und draußen auf dem Plan
vollbringt der Derwisch die Bräuche, wie er's beim Eintritt gethan;
der Schatz verschließt sich donnernd, ein jeder übernimmt
die Hälfte der Kamele, die ihm das Los bestimmt.
20. Sie brechen auf und wallen zum Quell der Wüste vereint,
wo sich die Straßen trennen, die jeder zu nehmen meint;
dort scheiden sie und geben einander den Bruderkuß;
Abdallah zeigt sich erkenntlich mit tönender Worte Erguß.
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27. Abdallah.
21. Doch, wie er abwärts treibet, schwillt Neid in seiner Brust,
des andern vierzig Lasten, sie dünkten ihm eigner Verlust;
ein Derwisch solche Schätze, die eignen Kamele, — das kränkt,
und was bedarf der Schätze, wer nur an Allah denkt?
22. „Mein Bruder, hör', mein Bruder!" — so folgt er seiner Spur
„nicht um den eignen Vorteil, ich denk' an deinen nur;
du weißt nicht, welche Sorgen, und weißt nicht, welche Last
du, Guter, an vierzig Kamelen dir aufgebürdet hast.
23. Noch kennst du nicht die Tücke, die in den Tieren wohnt,
o glaub' es mir, der Mühen von Jugend auf gewohnt,
versuch' ich's wohl mit achtzig, dir wird's mit vierzig zu schwer;
du führst vielleicht noch dreißig, doch vierzig nimmermehr."
24. Darauf der Derwisch: ,Lch glaube, daß recht du haben magst;
schon dacht' ich bei mir selber, was du, mein Bruder, mir sagst.
Nimm, wie dein Herz begehret, von diesen Kamelen noch zehn,
du sollst von deinem Bruder nicht unbefriedigt gehn."
25. Abdallah dankt und scheidet und denkt in seiner Gier:
„Und wenn ich zwanzig begehrte, der Thor, er gäbe sie mir."
Er kehrt zurück im Laufe, es muß versuchet sein;
er ruft, ihn hört der Derwisch und harret gelassen sein.
26. „Mein Bruder, hör', mein Bruder, und traue meinem Wort,
du kommst, unkundig der Wartung, mit dreißig Kamelen nicht fort;
die widerspenstigen Tiere sind störriger, denn du denkst,
du machst es dir bequemer, wenn du mir zehen noch schenkst."
27. Darauf der Derwisch: ,Zch glaube, daß recht du haben magst;
schon dacht' ich bei mir selber, was du. mein Bruder, mir sagst.
Nimm, wie dein Herz begehret, von diesen Kamelen noch zehn,
Du sollst von deinem Bruder nicht unbefriedigt gehn."
28. Und wie so leicht gewähret, was kaum er sich gedacht,
da ist in seinem Herzen erst recht die Gier erwacht;
er hört nicht auf, er fordert, wohl ohne sich zu scheun,
noch zehen von den zwanzig und von den zehen neun.
29. Das eine nur. das letzte, dem Derwisch übrig bleibt,
noch dies ihm abzufordern des Herzens Gier ihn treibt.
Er wirft sich ihm zu Füßen, umfasset seine Knie':
„Du wirst nicht nein mir sagen, noch sagtest du nein mir nie."
30. „So nimm das Tier, mein Bruder, wonach dein Herz begehrt,
es ist, daß trauernd du scheidest von deinem Bruder, nicht wert;
sei fromm und weis' im Reichtum und beuge vor Allah dein Haupt,
der, wie er Schätze spendet, auch Schätze wieder raubt."
27. Abdallah.
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31. Abdallah dankt und scheidet und denkt in seinem Sinn:
„Wie mochte der Thor verscherzen so leicht den reichen Gewinn?"
Da fällt ihm ein das Büchschen: „Das ist das rechte Geschmeid,
wie barg er's wohlgefällig in sein gefaltet Kleid!"
32. Er kehrt zurück: „Mein Bruder, mein Bruder, auf ein Wort!
Was nimmst du doch das Büchschen, das schlechte, mit dir fort?
Was soll dem frommen Derwisch der weltlich eitle Tand?"
„So nimm es!" spricht der Derwisch und legt es in seine Hand.
33. Ein freudiges Erschrecken den Zitternden befällt,
wie er auch noch das Büchschen, das rätselhafte, hält;
er spricht kaum dankend weiter: „So lehre mich nun auch,
was hat denn diese Salbe für einen besondern Gebrauch?"
34. Der Derwisch: „Groß ist Allah, die Salbe wunderbar;
bestreichst du dein linkes Auge damit, durckstchauest du klar
die Schätze, die schlummernden alle, die unter der Erde sind;
bestreichst du dein rechtes Auge, so wirst du auf beiden blind."
35. Und selber zu versuchen die Tugend, die er kennt,
der wunderbaren Salbe, Abdallah nun entbrennt:
„Mein Bruder, hör', mein Bruder, du machst es bester, traun!
bestreiche mein Auge, das linke, und laß die Schätze mich schaun!"
36. Willfährig thut's der Derwisch; da schaut er unterwärts
das Gold in Kammern und Adern, das gleißende, schimmernde Erz,
Demanten, Smaragden. Rubinen, Metall und Edelgestein;
sie schlummern unten und leuchten mit seltsam lockendem Schein.
37. Er schaut's und starrt betroffen, ihn blendet des Goldes Glanz;
es rieselt ihm kalt burd) die Adern, und Gier erfüllt ihn ganz.
Er denkt: würd' auch bestrichen mein rechtes Auge zugleich,
vielleicht besüß' ich die Schätze und würd' unermeßlich reich.
38. „Mein Bruder, hör', mein Bruder, zum letzten Mal mich an,
bestreiche mein rechtes Auge, wie du das linke gethan;
noch diese meine Bitte, die letzte, gewähre du mir;
dann scheiden unsere Wege, und Allah sei mit dir!"
39. Darauf der Derwisch: „Mein Bruder, nur Wahrheit sprach mein Mund,
ich niachte dir die Kräfte von deiner Salbe kund;
ich will nach allem Guten, das ich dir schon erwies,
die strafende Hand nicht werden, die dich ins Elend stieß."
40. Nun hält er fest am Glauben und brennt vor Ungeduld,
den Neid, die Schuld des Herzens, giebt er dem Derwisch schuld,
daß dieser so sich weigert, das ist für ihn der Sporn,
der Gier in seinem Herzen gesellet sich der Zorn.
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28. Parabel.
41. Er spricht mit höhnischem Lachen: „Du hältst mich für ein Kind!
Was sehend auf einem Auge, macht nicht auf dem andern mich blind;
bestreiche mein rechtes Auge, wie du das linke gethan,
und wisse, daß, falls du mich reizest, Gewalt ich brauchen kann."
42. Und wie er noch der Drohung die That hinzugefügt,
da hat der Derwisch endlich stillschweigend ihm genügt:
Er nimmt zur Hand die Salbe, sein rechtes Aug' er bestreicht —
die Nacht ist angebrochen, die keinem Morgen weicht!
43. „O Derwisch, arger Derwisch, du doch die Wahrheit sprachst;
nun heile, kenntnisreicher, was selber du verbrachst."
„Ich habe nichts verbrochen, dir ward, was du gewollt,
du stehst in Allahs Händen, der alle Schulden zollt."
44. Er fleht und schreit vergebens und wälzet sich im Staub;
der Derwisch, abgewendet, bleibt seinen Klagen taub;
der sammelt die achtzig Kamele und gen Balsora treibt,
derweil Abdallah verzweifelnd am Quell der Wüste verbleibt.
45. Die nicht er schaut, die Sonne, vollbringet ihren Lauf,
sie ging am andern Morgen, am dritten wieder auf,
noch lag er da verschmachtend; ein Kaufmann endlich kam,
der nach Bagdad aus Mitleid den blinden Bettler nahm.
«Lhamiffo.
28. ^Parabel.
Es ging ein Mann im Syrerland,
führt' ein'Kamel am Halfterband.
Das Tier mit grimmigen Gebärden
urplötzlich anfing scheu zu werde»
und that so ganz entsetzlich schnaufen,
der Führer vor ihm mußt' entlaufen.
Er lief und einen Brunnen sah
von ungefähr am Wege da.
Das Tier hört' er im Rücken schnauben,
das mußt' ihm die Besinnung rauben.
Er in den Schacht des Brunnens kroch,
er stürzte nicht, er schwebte noch.
Gewachsen war ein Brombeerstrauch
aus des geborstnen Brunnens Bauch,
daran der Mann sich fest that klammern
und seinen Zustand drauf bejammern.
Er blickte in die Höh' und sah
dort das Kamelhaupt furchtbar nah,
das ihn wollt' oben fassen wieder.
Dann blickt' er in den Brunnen nieder;
da sah am Grund er einen Drachen
aufgähnen mit entsperrtem Nachen,
der drunten ihn verschlingen wollte,
wenn er hinunter fallen sollte.
So schwebend in der beiden Mitte,
da sah der Arme noch das dritte.
Wo in die Mauerspalte ging
des Sträuchleins Wurzel, dran er hing,
da sah er still ein Mäusepaar;
schwarz eine, weiß die andre war.
Er sah die schwarze mit der weißen
abwechselnd an der Wurzel beißen.
Sie nagten, zausten, gruben, wühlten,
die Erd' ab von der Wurzel spülten;
und wie sie rieselnd niederrann,
der Drach' im Grund aufblickte dann,
zu sehn, wie bald mit seiner Bürde
der Strauch entwurzelt fallen würde.
Der Mann, in Angst und Furcht und Not,
umstellt, umlagert und nmdroht,
im Stand des jammerhaften Schwedens,
sah sich nach Rettung um vergebens.
Und da er also um sich blickte,
sah er ein Zweiglein, welches nickte
vom Brombeerstrauch mit reifen Beeren;
da konnt' er doch der Lust nicht wehren.
Er sah nicht des Kameles Wut
und nicht den Drachen in der Flut
und nicht der Mäuse Tückespiel,
als ihm die Beer' ins Auge fiel.
Er ließ das Tier von oben rauschen
und unter sich den Drachen lauschen
29. Zwei Sprüche. 30. Abendlied.
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und neben sich die Mäuse nagen,
griff nach den Beerlein mit Behagen.
Sie beuchten ihm zu essen gut,
aß Beer' auf Beerlein wohlgemut,
und durch die Süßigkeit im Essen
war alle seine Furcht vergessen. —
Du fragst: Wer ist der thöricht' Mann,
der so die Furcht vergessen kann?
So wiss', o Freund, der Mann bist du;
vernimm die Deutung auch dazu!
Es ist der Drach' im Brunnengrund
des Todes aufgesperrter Schlund;
und das Kamel, das oben droht,
es ist des Lebens Angst und Not.
Du bist's, der zwischen Tod und Leben
am grünen Strauch der Welt muß
schweben.
Die beiden, so die Wurzel nagen,
dich samt den Zweigen, die dich tragen,
zu liefern in des Todes Macht,
die Mäuse heißen Tag und Nacht.
Es nagt die schwarze wohl verborgen
vom Abend heimlich bis zum Morgen.
Es nagt vom Morgen bis znm Abend
die weiße, wurzeluntergrabend.
Und zwischen diesem Graus und Wust
lockt dich die Beere Sinnenlust,
daß du Kamel, die Lebensnot,
daß du im Grund den Drachen Tod,
daß dn die Mäuse Tag und Nacht
vergissest und auf nichts hast acht,
als daß du recht viel Beerlein haschest,
aus Grabes Brunnenritzen naschest.
Rückrrr.
29. *Zwei Spruche.
Wenn es d!r übel geht, nimm es für gut nur immer;
wenn du es übel nimmst, so geht es dir noch schlimmer.
Und wenn der Freund dich kränkt, ver;eih's ihm, und versteh':
Cs ist ihm selbst nicht wohl, sonst that er dir nicht weh.
Rücke«.
30.
1. Wie so leis' die Blätter weh'»
in dem lieben, stillen Hain!
Sonne will schon schlafe» geh'n,
säht ihr gold'nes henidelein
sinken ans den grünen Aasen,
wo die schlanken Hirsche grasen
in dem roten Abendschein.
2. Sn der Duellen klaren Slut
treibt kein Sischlein mehr sein Spiel;
jedes suchet, wo es ruht,
sein gewöhnlich Drt und Siel
und entschlummert iibcr'm Lauschen
aus der wellen leises Kauschen
zwischen bunten Kieseln kühl.
*Abendlied.
3. Schlank schaut auf der Sclscnwand
sich die Glockenblume um;
denn verspätet über Land
will ein Bienchen mit Gesumm
sich zur Aachlherberge melden
in den blauen zarten Sellen,
schlüpft hinein und wird ganz stumm.
4. vöglein, euer schwaches Aest,
ist das Abendlied vollbracht,
wird wie eine Burg so fest!
Sromme vöglein schützt zur Aachk
gegen Aatz' und lllarderkrallen,
die im Schlaf sie überfallen,
Sott, der über alle wacht.
5. Treuer Gott, du bist nicht weit,
und so zieh'« wir ohne Harm
in die wilde Einsamkeit
aus der Menschen eitlem Schwarm.
Du wirst uns die hülle bauen,
dast wir fromm und voll vertrauen
sicher ruhn in deinem Arm.
CI. Brentano.
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31. Heimat. 32. Die Bäume.
31. '
1. (D zimm're dir dein Haus im
Herrn
und laß die Flügel seiner Liebe
das Dach dir decken: und du haft
die Heimat, wenn auch nichts dir bliebe.
'Heimat.
3. Und Zeiten kommen, die sind
schwer,
und Zeiten, wo wir fremd erscheinen
im Vaterland, im Vaterhaus
fremd und verlassen stehn und weinen.
2. Das wanket schnell, was sonst
wir ban'n,
und wenn wir uns gebettet halten,
so fällt der Strahl ins feste Haus,
um selbst die Pfosten zu zerspalten.
4. Und wo dn heimisch warst im
Glück,
da bist du fremd mit deinen Schmerzen.
Doch Zeiten kommen schwerer noch:
Da bist du fremd im eig'nen Herzen.
5. Drum zimm're dir dein Haus
im Herrn,
und laß die Flügel seiner Liebe
das Dach dir decken: und du hast
die Heimat, wenn auch nichts dir bliebe. «trimme.
32. "Die Baume.
1. Wohl alle Werke meines Herrn
find gnrtj vollkommen schön,
doch mag ich fast vor allen gern
die lieben Läuine sehn.
8. Sic lehren mich manch heilsam
3 t iick
für meinen pilgcrlaus
und sichn wohl oftmals meinen Llick
;um Himmel hoch hinauf.
3. Die alte, hohe Eiche spricht:
„Sei stark, o Mcnschcnhcr;!
3m Glauben steh' und wanke nicht
und streck' dich himmelwärts."
4. Die Dinde sagt: „Sei mild gesinnt,
sei friedlich sonder Harm,
und breite jedem Müden lind
den schallenrcichcn Hrm."
5. Mir winkt der Apfelbäume Frucht:
„Dein Glaube sei nicht Schein,
und wenn der Gärtner Früchte sucht,
so ernt' er reichlich ein."
6. Die Tanne rauscht: „Sei ernst,
sei treu,
o Seel', in Freud' und Weh,
dasselbe Kleid im linden Mai,
dassclb' in Sturm und Schnee."
7. Doch Dirke, du mein liebster Daum,
in bräutlich schönster Zier,
erblick' ich dich im weiten Raum,
so lacht das Her; in mir.
8. 3m meisten Kleid, in grüner Krön',
o Läumlein, stehst du hier;
o ständ' ich, Herr! an deinem Thron
dereinst in solcher Zier! —
9. 3hr lieben Säume, mahnet noch
recht oft mein irdisch Her;
und wendet meine Seele doch
in Sehnsucht himmelwärts I
L. Mensel.
33. Hoffnung. 34. Du sonnige, wonnige Welt!
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33. *Hoffnung.
linb dräut der Winter noch so sehr
mit trotzigen Gebärden,
und streut er Gis und Schnee umher,
es muß doch Frühling werden.
Und drängen die Nebel noch so dicht
sich vor dem Blick der Sonne,
sie wecket doch mit ihrem Licht
einmal die Welt zur Wonne.
Blast nur, ihr Stürme, blast mit Macht!
Mir soll darob nicht bangen!
Auf leisen Sohlen über Nacht
kommt doch der Lenz gegangen.
Da wacht die Erde grünend auf,
weiß nicht, wie ihr geschehen,
und lacht in den sonnigen Himmel hinauf
und möchte vor Lust vergehen.
Sie flicht sich blühende Kränze ins Haar
und schmückt sich mit Rosen und Ähren
und läßt die Brünnlein rieseln klar,
als wären es Freudenzähren.
Drum still! und wie es frieren mag,
o Herz, gieb dich zufrieden!
Es ist ein großer Maientag
der ganzen Welt beschieden.
Und wenn dir oft auch bangt und graut,
als sei die Höll' auf Erden,
nur unverzagt, auf Gott vertraut!
Es muß doch Frühling werden! &. ©cibei.
34. *Du sonnige, wonnige Welt!
1. Das ist des Lenzes belebender Hauch,
der atmet durch Flur und Feld!
schon schlägt die Drossel im Erlenstrauch,
die Lerche singt und der Buchfink auch:
0 du sonnige, wonnige Welt!
2. Bald kommt der Mai und der Wald wird grün
und wölbt sein duftiges Zelt.
Die weißen Wolken am Himmel zieh’n,
der Apfelbaum und die Rose blühn:
0 du sonnige, wonnige Welt!
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35. Schall der Nacht.
3. Ihr Knaben und Mädchen, nun kränzt das Haupt,
zum Tanz um die Linde gesellt.
Was heute prangt, ist morgen entlaubt,
und es schneit und stürmt, bevor ihr es glaubt,
in die sonnige, wonnige Welt!
4. Die Tage verrauschen in Lust und Leid,
wie Pfeile, vom Bogen geschnellt:
0 jubelt und lacht, denn es kommt die Zeit,
bevor ihr es glaubt, wo es stürmet und schneit
in die sonnige, wonnige Welt.
5. Mein alter Klausner, wie heiß in den Bart
die heimliche Thräne dir fällt!
Du seufzest in Trauer am Ende der Fahrt:
Ihr sonnigen Lenze, wie schön ihr war’tl
Leb' wohl, du wonnige Welt! Weder.
35. * Schall der Nacht.
1. Komm, Trost der Nacht, o Nach-
tigall!
tast deine Stimm' mit Freudenschall
aufs lieblichste erklingen;
hemmt, komm und tob' den Schöpfer dein,
weil andre Vögel schsascn sein
und nicht mehr mögen singen:
tast dein St im m lein laut erschallen,
denn vor allen
kannst du losten
Gott im Himmel hoch dort osten.
2. Gbschon ist hin der Sonnenschein,
und wir im Finstern müssen sein,
so können wir doch singen
von Gottes Gut' und seiner Nacht,
weil uns kann hindern keine Macht,
sein tosten zu vollstringen.
Orum dein Stimmlein last erschallen ic.
3. Echo, der wilde wiederhall,
will sein stei diesem Freudenschall,
und lässet sich auch hören;
verweist uns alle Müdigkeit,
der wir ergesten allezeit,
lehrt uns den Schlaf stelhören.
Orum dein Slimmlein last erschallen ic
4. Oie Sterne, so am Himmel stehn,
sich lassen zum tost' Gottes sehn
und Ehre ihm beweisen;
die Eul' auch, die nicht singen kann,
zeigt doch mit ihrem heulen an,
dast sie Gott auch thu' preisen.
Drum dein Slimmlein last erschallen ic.
5. Nur her, mein liebstes vögelein
wir wollen nicht die faulsten fein
und schlafend liegen bleiben;
sondern, bis daß die Morgenröt'
erfreuet diese Wälder öd',
in Gottes tost vertreiben.
tast dein Slimmlein laut erschallen ic.
LH. v. Griiiimelshauscn.
36. Aus der deutschen Heldensage: Das Nibelungenlied.
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36. Aus der deutschen Heldensage: Das Nibelungenlied.
1. 3luf der alten Königsburg zu Worms am Rhein wuchs in
der Hut ihrer Mutter Ute uud ihrer drei Brüder Günther, Giselher
und Gernot die edle Kriemhilde zur blühenden Jungfrau heran, alle
Weiber an Tugend und Schönheit überstrahlend. Zu derselben Zeit
ward aus Siegfried, des Königs Siegmund und Sigelindes Sohn zu
Santen in den Niederlanden, ein Held, stark in frischem Mannesmute,
gewaltig in kühner Kraft. Er hörte von der holden Jungfrau und
beschloß, um sie zu werben, trotz der warnenden Ahnungen des Vaters
und trotz der entschiedenen Abneigung Kriemhildens gegen alle Freier.
Diese hatte nämlich einst ein beängstigendes Traumbild, in welchem sie
sah, wie ihr sorgsam aufgezogener Falke von zwei Adlern zerrissen
wurde. Der stattliche Jüngling in seiner prächtigen Ausrüstung ward
in Worins staunend und freundlich empfangen; staunend, denn keiner
am Königshofe hatte ihn bisher gesehen, nur der Ruf von Siegfrieds
Thaten war bis hierher gedrungen. Hagen, Günthers treuer Lehns-
mann, hatte diesen Ruf vernommen, und aus seinem Munde erfahren
wir die Jugeudabenteuer des Helden: wie er dem finstern Geschlechte
der Könige Nibelung uud Schilbung einen unerschöpflichen Schatz, den
Nibelungenhort und das kostbare Schwert Balmung, uud dem Zwerge
Alberich dabei die unsichtbarmachende Tarnkappe abgenommen, dann
einen Lindwurm getötet und durch ein Bad in dessen Blute eine
unverwundbare Hornhaut erhalten habe. Es sollte indessen lange
dauern, ehe Siegfried den eigentlichen Zweck seiner Fahrt erreichte;
denn ein ganzes Jahr verweilte er in Worms, freilich gastlich behandelt,
aber ohne Kriemhilde auch nur ein einziges Mal zu sehen. Erst als
er den Königsbrüdern in einem Kriege gegen Lüdegast von Dänemark
mit tapferem Arme geholfen und den Sieg herbeigeführt hatte, fand
er bei den Siegesfeierlichkeiten Gelegenheit, Kriemhilde zu sehen. Da
konnte es denn auch dem Jünglinge nicht fehlen, das Herz der edlen
Jungfrau zu gewinnen. Sie hatte ihn schon vor dem Feldzuge und
während der ihm zu Ehren veranstalteten Ritterspiele verstohlen be-
trachtet und seine Kühnheit und Schönheit bewundert. Indessen hielt
ihn seine Bescheidenheit, in der er Kriemhilde nur bewundernd an-
schauen konnte, vor einer Werbung zurück.
„Er sprach in seinem Sinne: Wie dacht ich je daran,
daß ich minnen sollte? Das ist ein eitler Wahn."
Ein Ereignis kam ihm zuhilfe. Günther wollte Brunhilde, eine
jungfräuliche Königin auf Island, für sich erwerben. Uni sie zu ge-
winnen, mußte er einen schweren Wettkampf mit der riesenhaften
Königin bestehen, in dem bis jetzt noch jeder Freier erlegen war.
Auch Günther wäre diesem Schicksale verfallen, hätte er nicht Sieg-
frieds Hilfe angerufen. Siegfried, zu jedem Kampfe stets bereit, sagte
unter der Bedingung zu, nach glücklicher Heimfahrt Kriemhilde als
Gattin besitzen zu dürfen. In dem Kampfe selbst hüllte sich Siegfried
Deutsches Lesebuch für kath. Schulen. IV. Für Oberklaffen. 4
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36. AuS der deutschen Heldensage: DaL Nibelungenlied.
in seine Tarnkappe und besiegte, während Günther nur die Gebärde
des Kämpsenden machte, die übermenschliche Kraft Brunhildens. Sie
wurde Günthers, Kriemhilde Siegfrieds Weib. Schon während der
Hochzeitsfeierlichkeiten hebt das Lied an, die geheimnisvollen Fäden» zu
spinnen, welche sich späterhin zum unheilvollsten Knoten schürzen sollen.
Brunhilde nämlich sitzt verstimmt und thränenden Auges an der Tafel
und spricht zu Günther: „Um Kriemhilde, deine Schwester, thut's mir
leid, daß du sie einem Dienstmanne zum Weibe gegeben hast." So
rächt sich Günthers Lüge, mit der er Siegfried als Dienstmann hin-
gestellt hatte, um dessen Erscheinen beim Kampfe mit Brunhilde zu be-
gründen. Als nun vollends Siegfried in seiner Arglosigkeit Kriemhilde
den Betrug bei der Erwerbung Brunhildens erzählt, da muß das Leid
unerbittlich seine Wege gehen.
„Darum nachher der Kühne lag zu großem Jammer tot."
2. Zehn Jahre lebten nun Siegfried und Kriemhilde in un-
getrübtem Glücke in den Niederlanden. Dann besuchten sie auf
Günthers Einladung die Verwandten in Worms. Doch bald sollte
hier durch die Hellen Töne der Festesfreude die heisere Stimme des
langgenährten Hasses klingen. Bruuhilde läßt es Kriemhilde fühlen,
daß sie Siegfried nur als Dienstmann Günthers betrachtet habe und
betrachten werde. Kriemhilde überhört anfangs die Beleidigungen,
durchdrungen von dem Werte ihres Mannes und von den Pflichten
des Gastes gegen den Wirt. Als aber Brunhilde bei einem Kirch-
gänge Kriemhilden zurückweist mit den Worten:
„Es soll vor Königs Weib kein Weib des Eigenen gehn",
da flammte der Zorn der sanften Kriemhilde auf: „Wisse, Siegfried
hat dich bezwungen und nicht Günther." Brunhilde hält sich für
öffentlich auf den Tod beleidigt, Siegfrieds Tod ist beschlossene Sache.
Untröstlich und Rache brütend sitzt sie in ihrem Gemache, als Hagen
zu ihr tritt, den Grund ihrer Traurigkeit erfährt und die Ermordung
Siegfrieds auf sich nimmt, bloß das Geheimnis muß er noch erkunden,
wo die einzige verwundbare Stelle Siegfrieds sich befinde. Bei jenem
Bade in des Lindwurms Blute war dem Badenden nämlich ein
Lindenblatt zwischen die Schulterblätter gefallen und deshalb diese Stelle
nicht von der Hornhaut überzogen. Kriemhilde selbst bezeichnet dem
listigen Hagen die Stelle durch ein in das Gewand ihres Mannes ge-
nähtes Kreuz, mit der rührenden Bitte, im Kampf diese Stelle im
Auge zu behalten und nur sie vor Schaden zu hüten. Das war ja,
was Hagen wollte. Auf einer Jagd zwischen Oden- und Vogesen-
walde setzen sich die Helden, müde von Anstrengungen, zum Essen,
und Siegfried empfindet brennenden Durst. Da Hagen absichtlich den
Wein zurückgelassen hat, eilen die Helden im Wettlauf zum nahen
Quell. Siegfried bleibt auch hier Sieger, lehnt seine Waffen an eine
Linde und erwartet die übrigen, um den König zuerst trinken zu lassen.
Während er selbst dann zum langentbehrten Trunk sich bückt, durch-
36. Aus der deutschen Heldensage: DaS Nibelungenlied.
51
stößt ihn Hagen an der mit dem Kreuze bezeichneten Stelle. Der
Zorn des zum Tode getroffenen ist ohnmächtig, denn alle Waffen hat
Hagen schnell beseitigt. Da faßt der Held seinen Schild und schlägt
so grimmig auf den Mörder ein, daß der Wald von Schlägen wieder-
hallt. Dann stürzt er kraftlos zusammen. Es bleibt dem Armen
nichts übrig, als die herzergreifende Klage über die Treulosigkeit seiner
Freunde und über das ungewisse Schicksal seiner Witwe und seines
Söhnchens. Sterbend spricht er zu Günther:
„Wollt ihr, edler König, noch irgend auf der Welt
an jemand Treue üben, so laßt euch befohlen sein
auf eure Huld und Gnade die liebe Traute mein."
Um die Rache an Kriemhilden aufs grausamste zu vollenden, ließ
der entsetzliche Hagen den Leichnam des Nachts ihr vor die Kammer-
thür legen. Als sie am andern Morgen zur Messe gehen wollte,
fand sie den teuren Toten; ihr Jammer hatte kein Maß. Sie ließ
ihn in einen Sarg von Gold und Silber legen und blieb drei Tage
im Dome bei der Leiche. Dann hieß sie Günther und Hagen heran-
treten, wenn sie sich unschuldig fühlten. Als Hagen zur Leiche kam,
blutete die Wunde und so wurde der Mörder entdeckt, der nun auch
offen den Mord eingestaud. Als der Sarg hinweggetragen werden
sollte, ließ Kriemhilde ihn noch einmal öffnen, umschloß mit ihren
weißen Armen die teure Leiche und küßte den bleichen Mund zum
letzten Male. Der greise Vater Siegfrieds verließ mit seinen Nibe-
lungen das Land der Burgunder, wo ihm das Teuerste geraubt war,
Kriemhilde blieb dann dreizehn Jahre am Hose ihrer Brüder. Auf
der Liebe Leid folgt des Leides blutige Rache.
3. Etzels Gemahlin, Frau Helche, war gestorben; als neue
Gattin begehrte der Witwer Kriemhilde. Rüdiger von Bechlarn, sein
treuester Dienstmann, übernahm die Werbung. Kriemhilde nahm die-
selbe zuerst als Verspottung einer armen Witwe auf, aber unter der
Aussicht auf die endliche Befriedigung ihres Rachegefühls und nachdem
ihr Rüdiger unbedingten Beistand im Falle der Not geschworen, willigte
sie ein. Etzel empfing sie dann mit der ausgesuchtesten Pracht und
umgeben von 20 dienstpflichtigen Königen als Gattin. In dem Ge-
folge Etzels befand sich auch der Gotenkönig Dietrich von Bern, neben
Siegfried der größte Sagenheld unseres Volkes, als Heerführer der
Amelungen. Nur mit Widerwillen hatte Kriemhilde den Etzel, die
Christin den Heiden, geheiratet; die Liebe zu Siegfried, den Gedanken
an Rache konnte sie nicht überwinden.
Auf Kriemhildcns Wunsch erschienen nach dreizehn Jahren ihre
Verwandten in Etzels Burg. Hagen hatte abgeraten, der Einladung
zu folgen und zog nur mit, um nicht den Verdacht der Feigheit auf
sich zu laden, aber mit den allertrübsten Erwartungen. Kriemhilde
jubelte in entsetzlicher Freude, als sie die baldige Ankunft der Bur-
gunden vernahni. Nach mancherlei Abenteuern und nach einer köst-
4*
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36. Aus der deutschen Heldensage: Das Nibelungenlied.
lichen Bewirtung in den Marken Rüdigers von Bechlarn, dessen
blühende Tochter Ditelinde sich mit Giselher verlobte, gelangte die
Heldenschar an Etzels Hos. Kriemhilde trug ihr altes Herzeleid um
Siegfried offen zur Schau; sie küßte nur den jüngsten Bruder Giselher
und würdigte Hagen keines Blickes. Da bindet Hagen seinen Helm
fester und
„Nach so gethanem Gruße", sprach Hagen deswegen,
„mögen sich bedenken diese schnellen Degen."
Hagen beschließt mit Volker, dem Sänger, einen Freundesbund für
Leben und Tod. Den Bund haben sie gehalten im heißen Kampf
und in treuer gemeinsamer Wacht für die anderen.
Kriemhilde kann die Stunde der Rache nicht abwarten. Mit
einem Haufen Hunnen eilt sie selbst, die Königskrone auf dem Haupte,
gegen Hagen. Der zeigt indessen nur auf Siegfrieds nachgelassene
Waffe, den Balmung, und die Feinde weichen feige zurück. Vor der
Thür des Saales läßt Volker, der stets bereite Sänger, das Saiten-
spiel noch einmal in die Nacht hinansklingen, den schlafenden Brüdern
zum Trost:
„Süßer, immer süßer zu geigen hub er an:
so spielt er in den Schlummer gar manchen sorgenden Mann."
Am folgenden Morgen eröffnet Blödel, der Bruder Etzels, den Kampf,
indem er den niederen Adel und die Knechte in der Herberge über-
fällt. Dankwart freilich stemmt sich den andrängenden Hunnen helden-
mütig entgegen und schlägt Blödel zuerst nieder; aber alle seine Dienst-
mannen werden von der Übermacht erdrückt und er allein rettet sich
unter Verlust seines treuen Schildes nach dem Königssaal zu den
Helden.
„Ihr sitzet allzulange, Herr Bruder, bei dem Mahl;
euch und dem Gott im Himmel klag' ich die große Not:
die Ritter und die Knechte sind in der Herberge tot"
ruft er Hagen zu. In schäumendem Grimme springt da der Entsetz-
liche von seinem Sitze auf und ruft:
„Nun trinken wir die Minne mit König Etzels Wein,
der junge Vogt der Hunnen muß der allererste sein."
Ein Schlag und der Kopf Ortliebs, Kriemhildens und Etzels Sohn,
rollt der Mutter in den Schoß. Der Eingang des Saales wird von
den Burgunden besetzt und das Morden beginnt. Wo bleibt da die
warnende Stimme Dietrichs und ob sie gleich dröhnt wie ein Büffel-
horn! Nichts erreicht sie, als freien Abzug für die Unbeteiligten.
Dann beginnt von neuem das Schwert zu wüten, und wo es ermattet
niedersinkt, stachelt es Kriemhilde unter Verheißung großer Schätze zu
neuer Wut an. Jrwing, der tapfere Markgraf im Dänenlande, läuft
alle an und wird von Hagen erschlagen. Als die Nacht dem Streite
vorläufig ein Ende macht, verlangt Kriemhilde die Auslieferung Hägens,
aber „Wir sterben mit Hagen!" ruft Gernot. Das steigert Kriem-
37. Arion.
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Hildens Rachewut aufs äußerste. Sie läßt den Saal an allen vier
Ecken anzünden. Ranch, Feuer, Flammen und niederstürzende Balken
bringen die Helden in die äußerste Todesnot. Den brennenden Durst
rät Hagen im Blute zu löschen, das sei besser als Wein. Aber wer
beschreibt den Schrecken der Bnrgunden, als auch Rüdiger von Bechlarn,
freilich mit blutendem Herzen, aber durch frühere Eide gebunden, seine
Mannen gegen sie führt. Damit schwindet die letzte Rücksicht auf die
Bande des Blutes. Gernot und Rüdiger liegen nebeneinander, Volker
fällt von Hildebrands, Giselher von Wolfhards gewaltiger Hand.
Günther und Hagen stehen allein noch auf den Leichen ihrer Kampf-
genossen. Beide bezwingt Dietrich von Bern und bringt sie gefesselt
zu Kriemhilde. Das „Teufelsweib" rast weiter und beide Helden
fallen von Kriemhildens eigener Hand. Da springt der alte Hilde-
brand herzu und auch Kriemhilde sinkt, von seinem Schwerte getroffen,
neben der Leiche ihres Todfeindes nieder.
„Hier hat Die Mär ein Ende: das ist das Nibelungenlied."
Hoffmeycr und gering.
37. * Arion.
1. Ärion war der Töne Meister,
die Zither lebt' in seiner Hand;
damit ergötzt' er alle Geister,
und gern empfing ihn jedes Land.
Er schiffte goldbeladen
jetzt von Tarents Gestaden
zum schönen Hellas heimgewandt.
2. Zum Freunde zieht ihn sein Ver-
langen,
ihn liebt der Herrscher von Korinth.
Eh' in die Fremd' er ausgegangen,
bat der ihn, brüderlich gesinnt:
„Laß dir's in meinen Hallen
doch ruhig Wohlgefallen!
Viel kann verlieren, wer gewinnt."
3. Arion sprach: „Ein wandernd
Leben
gefällt der freien Dichterbrust.
Die Knust, die mir ein Gott gegeben,
sie sei auch vieler tausend Lust.
An wohlerworb'nen Gaben,
wie werd' ich einst mich laben,
des weiten Ruhmes froh bewußt!"
4. Er steht im Schiff am zweiten
Morgen,
die Lüfte wehen lind und warm.
„O Periander, eitle Sorgen!
Vergiß sie nun in meinem Arm!
Wir wollen mit Geschenken
die Götter reich bedenken
und jubeln in der Gäste Schwarm!" —
5. Es bleibenWind undSee gewogen,
auch nicht ein fernes Wölkchen graut.
Er hat nicht allzuviel den Wogen,
den Menschen allzuviel vertraut.
Er hört die Schiffer flüstern,
nach seinen Schätzen lüstern,
doch bald umringen sie ihn laut:
6. „Du darfst, Arion, nicht mehr
leben!
Begehrst du auf dem Land ein Grab,
so mußt du hier den Tod dir geben;
sonst wirf dich in das Meer hinab!" —
„So wollt ihr mich verderben?
Ihr mögt mein Gold erwerben,
ich kaufe gern mein Blut euch ab." —
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37. Arion.
7. „Nein, nein, wir lassen dich
nicht wandern,
du wärst ein zu gefährlich Haupt.
Wo blieben wir vor Periandern,
verriet'st du, daß wir dich beraubt?
Uns kann dein Gold nicht frommen,
wenn wieder heim zu kommen
uns nimmermehr die Furcht er-
laubt." —
8. „Gewährt mir denn noch eine
Bitte,
gilt, mich zu retten, kein Bertrag, —
daß ich nach Zitherspieler-Sitte,
wie ich gelebet, sterben mag.
Wenn ich mein Lied gesungen,
die Saiten ausgeklungen,
dann fahre hin des Lebens Tag!"
9. Die Bitte kann sie nicht beschämen,
sie denken nur an den Gewinn;
doch solchen Sänger zu vernehmen,
das reizet ihren wilden Sinn.
„Und wollt ihr ruhig lauschen,
laßt mich die Kleider tauschen!
Im Schmuck nur reißt Apoll mich
hin." —
10. Der Jüngling hüllt die schönen
Glieder
in Gold und Purpur wunderbar;
bis auf die Sohlen wallt hernieder
ein leichter, faltiger Talar,
die Arme zieren Spangen,
um Hals und Stirn und Wangen
fliegt duftend das bekränzte Haar.
11. Die Zither ruht in seiner
Linken,
die Rechte hält das Elfenbein.
Er scheint erquickt die Luft zu trinken,
er strahlt im Morgensonnenschein;
es staunt der Schiffer Bande,
er schreitet vorn zum Rande
und sieht ins blaue Meer hinein.
12. Er sang: „Gefährtin meiner
Stimme,
komm, folge mir ins Schattenreich!
Ob auch der Höllenhund ergrimme,
die Macht der Töne zähmt ihn gleich.
Elysiums Heroen,
dem dunkeln Strom entflohen,
ihr friedlichen, schon grüß' ich euch!
13. Doch könnt' ihr mich des Grams
entbinden?
Ich lasse meinen Freund zurück.
Du gingst Eurydicen zu finden,
der Hades barg sein süßes Glück.
Da wie ein Traum zerronnen,
was dir dein Lied gewonnen,
verfluchtest du der Sonne Blick.
14. Ich muß hinab, ich will nicht
zagen!
Die Götter schauen aus der Höh'.
Die ihr mich wehrlos habt erschlagen,
erblasset, wenn ich untergeh'!
Den Gast, zu euch gebettet,
ihr Nereiden, rettet!" —
So sprang er in die tiefe See.
15. Ihn decken alsobald die Wogen,
die sichern Schiffer segeln fort.
Delphine waren nachgezogen,
als lockte sie ein Zauberwort.
Eh' Fluten ihn ersticken,
beut einer ihm den Rücken
und trügt ihn sorgsam hin zum
Port.
16. Des Meers verworrenes Ge-
brause
ward stummen Fischen nur verliehn;
doch lockt Musik aus salz'gem Hause
zu frohen Sprüngen den Delphin.
Sie konnt' ihn oft bestricken,
mit sehnsuchtsvollen Blicken
dem falschen Jäger nachzuziehn.
I
37. Arion.
17. So trügt den Sänger mit
Entzücken
das menschenliedend sinn'ge Tier,
er schwebt auf dem gewölbten Rücken,
hält im Triumph der Leier Zier,
und kleine Wellen springen,
wie nach der Saiten Klingen,
rings in dem bläulichen Revier.
18. Wo der Delphin sich sein entladen,
der ihn gerettet uferwürts,
da wird dereinst an Felsgestaden
das Wunder aufgestellt in Erz.
Jetzt, da sich jedes trennte
zu seinem Elemente,
grüßt ihn Arions volles Herz:
19. „Leb' wohl, und könnt' ich dich
belohnen,
du treuer, freundlicher Delphin!
Du kannst nur hier, ich dort nur
wohnen,
Gemeinschaft ist uns nicht verliehn.
Dich wird auf feuchten Spiegeln
noch Galatea zügeln,
du wirst sie stolz und heilig ziehn."
20. Arion eilt nun leicht von hinnen,
wie einst er in die Fremde fuhr;
schon glänzen ihm Korinthus Zinnen,
er wandelt singend durch die Flur.
Mit Lieb' und Lust geboren,
vergißt er, was verloren,
bleibt ihm der Freund, die Zither,
nur.
21. Er tritt hinein: „Vom Wander-
leben
nun ruh' ich, Freund, an deiner Brust.
Die Kunst, die mir ein Gott gegeben,
sie wurde vieler tausend Lust.
Zwar falsche Räuber haben
die wohlerworb'ncn Gaben,
doch bin ich mir des Ruhms bewußt."
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22. Dann spricht er von den Wunder-
dingen,
daß Periander staunend horcht.
„Soll jenen solch ein Raub gelingen?
Ich hätt' umsonst die Macht geborgt?
Die Thäter zu entdecken,
mußt du dich hier verstecken,
so nah'n sie sich wohl unbesorgt."
23. Und als im Hafen Schiffer
kommen,
bescheidet er sie zu sich her:
„Habt vom Arion ihr vernommen?
mich kümmert seine Wiederkehr."
„Wir ließen recht im Glücke
ihn zu Tarent zurücke." —
Da, siehe! tritt Arion her.
24. Gehüllt sind seine schönen
Glieder
in Gold und Purpur wunderbar,
bis auf die Sohlen wallt hernieder
ein leichter, faltiger Talar,
die Arme zieren Spangen,
um Hals und Stirn und Wangen
fliegt duftend das bekränzte Haar.
25. Die Zither ruht in seiner Linken,
die Rechte hält das Elfenbein.
Sie müsien ihm zu Füßen sinken,
es trifft sie wie des Blitzes Schein:
.Zhn wollten wir ermorden;
er ist zum Gotte worden!
O, schläng' uns nur die Erd' hinein!"
26. „Er lebet noch, der Töne
Meister;
der Sänger steht in heil'ger Hut.
Ich rufe nicht der Rache Geister:
Arion will nickt euer Blut.
Fern mögt ihr zu Barbaren,
des Geizes Knechte, fahren:
nie labe Schönes euren Mut!"
August Wilhelm v. Schlegel.
56
38. Die wiedergefundenen Söhne.
38. *Die wiedergefundenen Soline,
1. Was die Schickung schickt,
ertrage!
wer ausharret, wird gekrönt.
Reichlich weiß sie zu vergelten,
herrlich lohnt sie stillen Sinn.
Tapfer ist der Löwensieger,
tapfer ist der Weltbezwinger,
tapfrer, wer sich selbst bezwang.
2. Placidus, ein edler Feld-
herr,
reich an Tugend und Verdienst,
Beistand war er jedem Armen,
Unterdrückten half er auf.
Wie er einst den Feind be-
zwungen,
wie er einst das Reich gerettet,
rettet’ er, wer zu ihm floh.
3. Aber ihn verfolgt’ das
Schicksal,
Armut und der Bösen Neid.
„Laß dem Neid uns und der Armut
still entgehn!“ sprach Placidus.
„Auf! laß uns dem Fleiße
dienen!“
sprach sein Weib, „und gute
Knaben,
tapfre Knaben! folget uns!“
4. Also gingen sie; im Walde
traf sie eine Räuberschar,
trennet Vater, Mutter, Kinder.
Lange sucht der Held sie auf.
Placidus! rief eine Stimme
ihm im hochbeherzten Busen,
dulde dich! du findest sie.
5. Und er kam vor eine Hütte.
„Kehre, Wandrer! bei mir ein!“
sprach der Landmann, „du bist
traurig;
auf! und fasse neuen Mut!
Wen das Schicksal drückt, den
liebt es,
wem’s entzieht, dem will’s ver-
gelten ;
wer die Zeit erharret, siegt.“
6. Und er ward des Mannes
Gärtner,
dient’ ihm unerkannt und treu,
pflegend tief in seinem Herzen
eine bittre Frucht, Geduld.
Placidus! rief eine Stimme
ihm im tiefbedrängten Busen,
dulde dich! du findest sie.
7. So verstrichen Jahr’ auf
Jahre,
bis ein wilder Krieg entsprang.
„Wo ist Placidus, mein Feldherr?“
sprach der Kaiser, „suchet ihn! “
Und man sucht’ ihn nicht ver-
gebens ;
denn die Prüfzeit war vorüber,
und des Schicksals Stunde schlug.
8. Zweeen seiner alten Diener
kommen vor der Hütte Thür,
sahn den Gärtner und erkannten
an der Narb’ ihn im Gesicht,
an der Narbe, die dem Feldherrn
statt der Schätze, statt der
Lorbeern
einzig blieb als Ehrenmal.
I
39. Aus: Hermann und Dorothea.
9. Alsobald ward er gerufen;
es erjauclizt das ganze Heer.
Vor ihm ging der Feinde
Schrecken,
ihm zur Seite Sieg und Ruhm.
Stillen Sinn’s nahm er den Palm-
zweig,
gab die Lorbeern seinen Treuen,
seinen Tapfersten im Heer.
10. Als nach ausgefocht’nem
Kriege
jetzt der Siegestanz begann,
drängt mit zweeen seiner Helden
eine Mutter sich hervor:
„Vater! nimm hier deine Kinder!
Feldherr! sieh hier deine Söhne,
mich, dein Weib, Eugenia!
11. WiedieLöwinihreJungen,
jagt’ ich sie den Räubern ab.
Nachbarlich in dieser Hütte —
komm und schau! — erzog ich sie.
Glaubte dich uns längst verloren,
deine Söhne mir statt deiner;
deiner wert erzog ich sie.
57
12. Als die Post erscholl vom
Kriege,
rufend deinen Namen aus,
auferweckt vom Totentraume,
rüstet’ ich die Jünglinge:
Zieht, verdienet euren Vater!
streitet unerkannt, und werdet,
werdet eures Vaters wert!
13. Und ich seh’, sie tragen
Kränze,
Ehrenkränze dir zum Ruhm,
die du unerkannt den Söhnen,
nicht als Söhnen, zuerkannt.
Vater! nimm jetzt deine Kinder!
Feldherr! sieh hier deine Söhne
und dein Weib Eugenia!“
14. Was die Schickung schickt,
ertrage!
wer ausharret, wird gekrönt.
Placidus, der stillgesinnte,
lebet noch in Hymnen jetzt;
christlich wandt’ er seinen Namen:
seinen Namen nennt die Kirche
preisend Sankt Eustachius.
I. G. v. Herder.
39. *Ans: Hermann und Dorothea.
(Schicksal und Anteil.)
„Hab ich den Markt und die Straßen doch nie so einsam gesehen!
Ist doch die Stadt wie gekehrt, wie ansgestorben! Nicht fünfzig,
dünkt mir, blieben zurück von allen unsern Bewohnern.
Was die Neugier nicht thut! So rennt und läuft nun ein jeder,
um den traurigen Zug der armen Vertriebnen zu sehen.
Bis zum Dammweg, welchen sie ziehn, ist's immer ein Stündchen,
und da läuft man hinab im heißen Staube des Mittags.
Möcht’ ich mich doch nicht rühren vom Platz, um zu sehen das Elend
guter fliehender Menschen, die nun, mit geretteter Habe
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39. Aus: Hermann und Dorothea.
leider das überrheinische Land, das schöne, verlasiend,
zu uns herüber kommen und durch den glücklichen Winkel
dieses fruchtbaren Thals und seiner Krümmungen wandern.
Trefflich hast du gehandelt, o Frau, daß du milde den Sohn fort
schicktest mit altem Linnen und etwas Effen und Trinken,
um es den Armen zu spenden; denn Geben ist Sache des Reichen.
Was der Junge doch fährt! und wie er bändigt die Hengste!
Sehr gut nimmt das Kütschchen sich aus, das neue; bequemlich
säßen viere darin und auf dem Bocke der Kutscher.
Diesmal fuhr er allein; wie rollt es leicht um die Ecke!"
So sprach, unter dem Thore des Hauses sitzend am Markte
wohlbehaglich, zur Frau der Wirt zum goldenen Löwen.
Und es versetzte darauf die kluge, verständige Hausfrau:
„Vater, nicht gerne verschenk ich die abgetragene Leinwand;
denn sie ist zu manchem Gebrauch und für Geld nicht zu haben,
wenn man ihrer bedarf. Doch heute gab ich so gerne
manches bessere Stück an Überzügen und Hemden;
denn ich hörte von Kindern und Alten, die nackend daher gehn.
Wirst du mir aber verzeihn? Denn auch dein Schrank ist geplündert.
Und besonders den Schlafrock mit indianischen Blumen,
von dem feinsten Kattun, mit feinem Flanelle gefüttert,
gab ich hin; er ist dünn und alt und ganz aus der Mode."
Aber es lächelte drauf der treffliche Hauswirt und sagte:
„Ungern vermiß ich ihn doch, den alten kattunenen Schlafrock
echt ostindischen Stoffs; so etwas kriegt man nicht wieder.
Wohl! ich trug ihn nicht mehr. Man will jetzt freilich, der Mann soll
immer gehn im Sürtout und in der Pekesche sich zeigen,
immer gestiefelt sein; verbannt ist Pantoffel und Mütze."
„Siehe," versetzte die Frau, „dort kommen schon einige wieder,
die den Zug mit gesehn; er muß doch wohl schon vorbei sein.
Seht, wie allen die Schuhe so staubig sind! wie die Gesichter
glühen! Und jeglicher führt das Schnupftuch und wischt sich den Schweiß ab.
Möcht' ich doch auch in der Hitze nach solchem Schauspiel so weit nicht
laufen und leiden! Fürwahr, ich habe genug am Erzählten."
Und es sagte darauf der gute Vater mit Nachdruck:
„Solch ein Wetter ist selten zu solcher Ernte gekommen,
und wir bringen die Frucht herein, wie das Heu schon herein ist,
trocken; der Himmel ist hell, es ist kein Wölkchen zu sehen,
und von Morgen wehet der Wind mit lieblicher Kühlung.
Das ist beständiges Wetter, und überreif ist das Korn schon;
morgen fangen wir an zu schneiden die reichliche Ernte."
Als er so sprach, vermehrten sich immer die Scharen der Männer
und der Weiber, die über den Markt sich nach Hause begaben.
Und so kam auch zurück mit seinen Töchtern gefahren
rasch an die andere Seite des Markts der begüterte Nachbar,
39. Aus: Hermann und Dorothea.
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an sein erneuertes Haus, der erste Kaufmann des Ortes,
im geöffneten Wagen (er war in Landau verfertigt!.
Lebhaft wurden die Gaffen, denn wohl war bevölkert das Städtchen;
mancher Fabriken befliß man sich da und manches Gewerbes. —
Und so saß das trauliche Paar, sich unter dem Thorweg
über das wandernde Bolk mit niancher Bemerkung ergötzend.
Endlich aber begann die würdige Hausfrau und sagte:
„Seht, dort kommt der Prediger her; es kommt auch der Nachbar
Apotheker mit — die sollen uns alles erzählen,
was sie draußen gesehn, und was zu schauen nicht froh macht."
Freundlich kamen heran die beiden und grüßten das Ehpaar,
setzten sich auf die Bänke, die hölzernen, unter dem Thorweg,
Staub von den Füßen schüttelnd und Luft mit dem Tuche sich fächelnd.
Da begann denn zuerst nach wechselseitigen Grüßen
der Apotheker zu sprechen und sagte, beinahe verdrießlich:
„So sind die Menschen fürwahr! und einer ist doch wie der andre,
daß er zu gaffen sich freut, wenn den Nächsten ein Unglück befüllet!
Läuft doch jeder, die Flamme zu sehn, die verderblich emporschlägt —-
jeder, den armen Verbrecher, der peinlich zum Tode geführt wird.
Jeder spaziert nun hinaus zu schauen der guten Vertriebnen
Elend, und niemand bedenkt, daß ihn das ähnliche Schicksal
auch, vielleicht zunächst, betreffen kann, oder doch künftig.
Unverzeihlich find' ich den Leichtsinn; doch liegt er im Menschen."
Und es sagte darauf der edle, verständige Pfarrherr
er, die Zierde der Stadt, ein Jüngling näher dem Manne.
Dieser kannte das Leben und kannte der Hörer Bedürfnis,
war vom hohen Werte der heiligen Schriften durchdrungen,
die uns der Menschen Geschick enthüllen und ihre Gesinnung;
und so kannt' er auch wohl die besten weltlichen Schriften.
Dieser sprach: „Ich tadle nicht gern, was immer dem Menschen
für unschädliche Triebe die gute Mutter Natur gab;
denn was Verstand und Vernunft nicht immer vermögen, vermag oft
solch ein glücklicher Hang. der unwiderstehlich uns leitet.
Lockte die Neugier nicht den Menschen mit heftigen Reizen,
sagt, erführ' er wohl je, wie schön sich die weltlichen Dinge
gegen einander verhalten? Denn erst verlangt er das Neue,
suchet das Nützliche dann mit unermüdetem Fleiße;
endlich begehrt er das Gute, das ihn erhebet und wert macht.
In der Jugend ist ihm ein froher Gefährte der Leichtsinn,
der die Gefahr ihm verbirgt und heilsam geschwinde die Spuren
tilget des schmerzlichen Übels, sobald es nur irgend vorbeizog.
Freilich ist er zu preisen, der Mann, dem in reiferen Jahren
sich der gesetzte Verstand aus solchem Frohsinn entwickelt,
der im Glück wie im Unglück sich eifrig und thätig bestrebet;
denn das Gute bringt er hervor und ersetzet den Schaden."
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39. Aus: Hermann und Dorothea.
Freundlich begann sogleich die ungeduldige Hausfrau:
„Saget uns, was ihr gesehn; denn das begehrt' ich zu wissen."
„Schwerlich," versetzte darauf der Apotheker mit Nachdruck,
„werd' ich so bald mich freuen nach dem, was ich alles erfahren.
Und wer erzählet es wohl, das mannigfaltigste Elend!
Schon von ferne sahn wir den Staub, noch eh wir die Wiesen
abwärts kamen; der Zug war schon von Hügel zu Hügel
unabsehlich dahin, man konnte wenig erkennen.
Als wir nun aber den Weg, der quer durchs Thal geht, erreichten,
war Gedrüng und Getümmel noch groß der Wandrer und Wagen.
Leider sahen wir noch genug der Armen vorbeiziehn,
konnten einzeln erfahren, wie bitter die schmerzliche Flucht sei,
und wie froh das Gefühl des eilig geretteten Lebens.
Traurig war es zu sehn — die mannigfaltige Habe,
die ein Haus nur verbirgt, das wohlversehne, und die ein
guter Wirt umher an die rechten Stellen gesetzt hat,
immer bereit zum Gebrauche, denn alles ist nötig und nützlich,
nun zu sehen das alles, auf mancherlei Wagen und Karren
durcheinander geladen, mit Übereilung geflüchtet.
Über dem Schranke lieget das Sieb und die wollene Decke,
in dem Backtrog das Bett und das Leintuch über dem Spiegel.
Ach, und es nimmt die Gefahr, die wir beim Brande vor zwanzig
Jahren auch wohl gesehn, dem Menschen alle Besinnung,
daß er das Unbedeutende faßt und das Teure zurückläßt.
Also führten auch hier mit unbesonnener Sorgfalt
schlechte Dinge sie fort, die Ochsen und Pferde beschwerend:
alte Bretter und Fässer, den Günsestall und den Käfig.
Auch so keuchten die Weiber und Kinder, mit Bündeln sich schleppend,
unter Körben und Butten voll Sachen keines Gebrauches;
denn es verläßt der Mensch so ungern das letzte der Habe.
Und so zog auf dem staubigen Weg der drängende Zug fort,
ordnungslos und verwirrt. Mit schwächeren Tieren der eine
wünschte langsam zu fahren, ein andrer emsig zu eilen.
Da entstand ein Geschrei der gequetschten Weiber und Kinder,
und ein Blöken des Viehes, dazwischen der Hunde Gebelfer,
und ein Wehlaut der Alten und Kranken, die hoch auf dem schweren
übergepackten Wagen auf Betten saßen und schwankten.
Aber, aus dem Gleise gedrängt, nach dem Rande des Hochwegs
irrte das knarrende Rad; es stürzt' in den Graben das Fuhrwerk,
umgeschlagen, und weithin entstürzten im Schwünge die Menschen
mit entsetzlichem Schrein in das Feld hin. aber doch glücklich.
Später stürzten die Kasten und fielen näher dem Wagen.
Wahrlich, wer im Fallen sie sah, der erwartete nun sie
unter der Last der Kisten und Schränke zerschmettert zu schauen.
Und so lag zerbrochen der Wagen und hilflos die Menschen;
40. Der Alpenjäger. 41. Der Kampf mit dem Drachen.
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denn die übrigen gingen und zogen eilig vorüber,
nur sich selber bedenkend und hingerisien vom Strome.
Und wir eilten hinzu und fanden die Kranken und Alten,
die zu Haus und im Bett schon kaum ihr dauerndes Leiden
trügen, hier auf dem Boden beschädigt ächzen und jammern,
von der Sonne verbrannt und erstickt vom wogenden Staube." —
v. Goethe.
40. *Der Alpenjäger.
1. willst du nicht das Lamm lein hüten?
Lämmtcin ist so fromm und sanft,
»ährt sich non des Grases Llütcn,
spielen- an -cs Lachcs Uanft.
„Müller, Mutter! laß mich gehen,
jagen nach -es Lcrgcs Höhen!"
8. Willst -u nicht -ic Herde locken
mit -cs Hornes munterm klang?
Lieblich tönt der Schall der Glocken
in des Waldes Lnstgcsaug.
„Mutter, Mutter! las; mich gehen,
schweifen ans den wilden Höhen!"
3. Willst du nicht der ölümlcin warten,
die im Lcctc freundlich stehn?
Oransien ladet dich kein Garten,
wild ist's auf den wilden Höhn!
„Last die Llümlcin, laß sic blühen!
Mutter, Mutter! last mich ziehen!"
4. Und der Knabe ging zu jagen,
und es treibt und reißt ihn fort,
rastlos fort mit blindem Wagen
an des Lcrgcs finstern Ort;
vor ihm her mit Windcsfchnelle
sticht die zitternde Gazelle.
5. Auf der Felsen nackte Nippen
klettert sic mit leichtem Schwung,
durch den Nist geborstncr Klippen
trägt sie der gewagte Sprung;
aber hinter ihr vermögen
folgt er mit dem Todcsbogcn.
6. Zctzo auf den schroffen Zinken
hängt sic, ans dem höchsten Grat,
wo die Felsen jäh versinken
und verschwunden ist der Pfad;
unter sich die steile Höhe,
hinter sich des Feindes Nähe.
7. Mit des Jammers stummen Llicken
steht sic zu dem harten Mann,
steht umsonst, denn loszudrücken
legt er schon den Logen an;
plötzlich aus der öergcsfpaltc
tritt der Geist, der öcrgcsalte.
8. Und mit seinen Götterhändrn
schützt er das gequälte Tier.
„Mußt du Tod und Jammer senden,"
ruft er, „bis herauf zu mir?
Raum für alle hat die Erde:
was verfolgst du meine Herde?"
Hr. v. Schiller.
41. *ver Kampf mit dem Drachen,
1. Was rennt das Volk, was
wälzt sich dort
die langen Gassen brausend fort?
Stürzt Rhodus unterFeuersFlammen?
Es rottet sich im Sturm zusammen,
und einen Ritter, hoch zu Roß,
gewahr’ ich aus dem Menschentroß;
und hinter ihm, welch Abenteuer!
bringt man geschleppt ein Unge-
heuer.
Ein Drache scheint es von Gestalt,
mit weitem Krokodilesrachen,
und alles blickt verwundert bald
den Ritter an und bald den Drachen.
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41. Der Kampf mit dem Drachen.
2. Und tausend Stimmen werden
laut:
„Das ist der Lindwurm, kommt und
schaut,
der Hirt und Herden uns ver-
schlungen !
Das ist der Held, der ihn bezwungen!
Viel' andre zogen vor ihm aus,
zu wagen den gewalt’gen Strauß;
doch keinen sah man wiederkehren:
den kühnen Ritter soll man ehren!“
Und nach dem Kloster geht der Zug,
wo Sankt Johanns des Täufers Orden,
die Ritter des Spitals, im Flug
zu Rate sind versammelt worden.
3. Und vor den edlen Meister tritt
der Jüngling mit bescheidnem
Schritt;
nachdrängt das Volk, mit wildem
Rufen,
erfüllend des Geländers Stufen.
Und jener nimmt das Wort und
spricht:
„Ich hab’ erfüllt die Ritterpflicht.
Der Drache, der das Land verödet,
er liegt von meiner Hand getötet;
frei ist dem Wanderer der Weg,
der Hirte treibe ins Gefilde,
froh walle auf dem Felsensteg
der Pilger zu dem Gnadenhilde!“
4. Doch strenge blickt der Fürst
ihn an
und spricht: „Du hast als Held
gethan;
der Mut ist’s, der den Ritter ehret,
du hast den kühnen Geist bewähret;
doch sprich : was ist die erste Pflicht
des Ritters, der für Christum ficht,
sich schmücket mit des Kreuzes
Zeichen ?“
Und alle rings herum erbleichen.
Doch er mit edlem Anstand spricht,
indem er sich errötend neiget:
„Gehorsam ist die erste Pflicht,
die ihn des Schmuckes würdig
zeiget.“ —
5. „Und diese Pflicht, mein Sohn,“
versetzt
der Meister, „hast du frech verletzt,
den Kampf, den das Gesetz versaget,
hast du mit frevelm Mut ge-
waget I“ —
„Herr! richte, wenn du alles weißt,“
spricht jener mit gesetztem Geist,
„denn des Gesetzes Sinn und Willen
vermeint’ ich treulich zu erfüllen.
Nicht unbedachtsam zog ich hin,
das Ungeheuer zu bekriegen;
durch List und kluggewandten Sinn
versucht’ ichs, in dem Kampf zu
siegen.
6. Fünf unsers Ordens waren
schon,
die Zierden der Religion,
des kühnen Mutes Opfer worden; —
da wehrtest du den Kampf dem
Orden.
Doch an dem Herzen nagte mir
der Unmut und die Streitbegier,
ja, selbst im Traum der stillen Nächte
fand ich mich keuchend im Gefechte ;
und wenn der Morgen dämmernd
kam
und Kunde gab von neuen Plagen,
da faßte mich ein wilder Gram,
und ich beschloß, es frisch zu wagen.
7. Und zu mir selber sprach
ich dann:
Was schmückt den Jüngling, ehrt
den Mann?
Was leisteten die tapfern Helden,
von denen uns die Lieder melden,
die zu der Götter Glanz und Ruhm
erhub das blinde Heidentum?
Sie reinigten von Ungeheuern
die Welt in kühnen Abenteuern,
41. Der Kampf mit dem Drachen.
63
begegneten im Kampf dem Leu’n
und rangen mit dem Minotauren,
die armen Opfer zu befrein,
und ließen sich das Blut nicht dauren.
8. Ist nur der Sarazen es ■wert,
daß ihn bekämpft des Christen
Schwert?
Bekriegt er nur die falschen Götter?
Gesandt ist er der Welt zum Better;
von jeder Not und jedem Harm
befreien muß sein starker Arm;
doch seinen Mut muß Weisheit
leiten,
und List muß mit der Stärke streiten.
So sprach ich oft und zog allein,
des Baubtiers Fährte zu erkunden;
da flößte mir der Geist es ein,
froh rief ich aus: Ich hab’s gefunden !
9. Und trat zu dir und sprach
dies Wort:
Mich zieht es nach der Heimat fort.
Du, Herr! willfahrte ü meinen Bitten,
und glücklich war das Meer durch-
schnitten.
Kaum stieg ich aus am heim’schen
Strand,
gleich ließ ich durch des Künstlers
Hand,
getreu den wohlgemerkten Zügen,
ein Drachenbild zusammenfügen.
Auf kurzen Füßen wird die Last
des langen Leibes aufgetürmet,
ein schuppicht Panzerhemd umfaßt
den Bücken, den es furchtbar
schirmet.
10. Lang strecket sich der Hals
hervor,
und gräßlich, wie ein Höllenthor,
als schnappt’ es gierig nach der Beute,
eröffnet sich des Bachens Weite,
und aus dem schwarzen Schlunde
dräun
der Zähne stachelichte Beihn;
die Zunge gleich des Schwertes
Spitze,
die kleinen Augen sprühen Blitze;
in einer Schlange endigt sich
des Bückens ungeheure Länge,
rollt um sich selber fürchterlich,
daß es um Mann und Boß sich
schlänge.
11. Und alles bild’ ich nach genau
und kleid’ es in ein scheußlich Grau;
halb Wurm erschient, halb Molch
und Drache,
gezeuget in der gift’gen Lache;
und als das Bild vollendet war,
erwähl’ ich mir ein Doggenpaar,
gewaltig, schnell, von flinken Läufen,
gewohnt, den wilden Ur zu greifen,
die hetz’ ich auf den Lindwurm an,
erhitze sie zu wildem Grimme,
zu fassen ihn mit scharfem Zahn,
und lenke sie mit meiner Stimme.
12. Und wo des Bauches weiches
Vließ
den scharfen Bissen Blöße ließ,
da reiz’ ich sie, den Wurm zu packen,
die spitzen Zähne einzuhacken.
Ich selbst, bewaffnet mit Geschoß,
besteige mein arabisch Boß,
von adeliger Zucht entstammet;
und als ich seinen Zorn entflammet,
rasch auf den Drachen spreng’ ich’s
los
undstachl’ es mit den scharfen Sporen
und werfe zielend mein Geschoß,
als wollt’ ich die Gestalt durchbohren.
13. Ob auch das Boß sich grauend
bäumt
und knirscht und in den Zügel
schäumt,
und meine Doggen ängstlich stöhnen,
nicht rast’ ich, bis sie sich gewöhnen.
So üb’ ich’s aus mit Emsigkeit,
bis dreimal sich der Mond erneut;
und als sie jedes recht begriffen, /
64
41. Der Kampf mit dem Drachen.
führ’ ich sie her auf schnellen
Schiffen.
Der dritte Morgen ist es nun,
daß mir’s gelungen, hier zu landen;
den Gliedern gönnt’ ich kaum zu
ruhn,
bis ich das große "Werk bestanden.
14. Denn heiß erregte mir das
Herz
des Landes frisch erneuter Schmerz,
zerrissen fand man jüngst die Hirten,
die nach dem Sumpfe sich verirrten.
Und ich beschließe rasch die That,
nur von dem Herzen nehm’ ich Rat.
Flugs unterricht’ich meine Knappen,
besteige den versuchten Rappen,
und von dem edlen Doggenpaar
begleitet, auf geheimen Wegen,
wo meiner That kein Zeuge war,
reit’ ich dem Feinde frisch entgegen.
15. Das Kirchlein kennst du,
Herr I das hoch
auf eines Felsenberges Joch,
der weit die Insel überschauet,
des Meisters kühner Geist erbauet.
Verächtlich scheint es, arm und klein;
doch ein Mirakel schließt es ein,
die Mutter mit dem Jesusknaben,
den die drei Könige begaben.
Auf dreimal dreißig Stufen steigt
der Pilgrim nach der steilen Höhe;
doch hat er schwindelnd sie erreicht,
erquickt ihn seines Heilands Nähe.
» 16. Tief in den Fels, auf dem
es hängt,
ist eine Grotte eingesprengt,
vom Tau des nahen Moors be-
feuchtet,
wohin des Himmels Strahl nicht
leuchtet.
Hier hausete der Wurm und lag,
den Raub erspähend Nacht und Tag.
So hielt er, wie der Höllendrache,
am Fuß des Gotteshauses Wache;
und kam der Pilgrim hergewallt
und lenkte in die Unglücksstraße,
hervorbrach aus dem Hinterhalt
der Feind und trug ihn fort zum
Fraße.
17. Den Felsen stieg ich jetzt
hinan,
eh’ ich den schweren Strauß begann;
hin kniet’ ich vor dem Christuskinde
und reinigte mein Herz von Sünde.
Drauf gürt’ ich mir im Heiligtum
den blanken Schmuck der Waffen um,
bewehre mit dem Spieß die Rechte,
und nieder steig’ ich zum Gefechte.
Zurücke bleibt der Knappen Troß;
ich gebe scheidend die Befehle
und schwinge mich behend aufs Roß,
und Gott empfehl’ ich meine Seele.
18. Kaum seh’ ich mich im
ebnen Plan,
flugs schlagen meine Doggen an,
und bang beginnt das Roß zu keuchen
und bäumet sich und will nicht
weichen;
denn nahe liegt, zum Knäul geballt,
des Feindes scheußliche Gestalt
und sonnet sich auf warmem Grunde.
Auf jagen ihn die flinken Hunde;
doch wenden sie sich pfeilgeschwind,
als es den Rachen gähnend teilet
und von sich haucht den gift’gen
Wind
und winselnd, wie der Schakal,
heulet.
19. Doch schnell erfrisch’ ich
ihren Mut,
sie fassen ihren Feind mit Wut,
indem ich nach des Tieres Lende
mit starker Faust den Speer entsende;
doch machtlos, wie ein dünner Stab,
prallt er vom Schuppenpanzer ab,
und eh’ ich meinen Wurf erneuet,
da bäumet sich mein Roß und scheuet
an seinem Basiliskenblick
41. Der Kampf mit dem Drachen.
65
und seines Atems gift’gem Wehen,
und mit Entsetzen springt's zurück,
und jetzo war’s um mich ge-
schehen. —
20. Da schwing’ ich mich behend
vom Roß,
schnell ist des Schwertes Schneide
bloß;
doch alle Streiche sind verloren,
den Felsenharnisch zu durchbohren,
und wütend mit des Schweifes Kraft
hat es zur Erde mich gerafft.
Schon seh’ ich seinen Rachen gähnen,
es haut nach mir mit grimmen
Zähnen,
als meine Hunde, wutentbrannt,
an seinen Bauch mit grimm’gen
Bissen
sich werfen, daß es heulend stand,
von ungeheurem Schmerz zerrissen.
21. Und eh’ es ihren Bissen sich
entwindet, rasch erheb’ ich mich,
erspähe mir des Feindes Blöße
und stoße tief ihm ins Gekröse,
nachbohrend bis ans Heft den Stahl.
Schwarzquellend springt des Blutes
Strahl,
hin sinkt es und begräbt im Falle
mich mit des Leibes Riesenballe,
daß schnell dieSinne mir vergehn; —
und als ich neugestärkt erwache,
seh’ ich die Knappen um mich stehn,
und tot im Blute liegt der Drache.“ —
22. Des Beifalls lang’ gehemmte
Lust
befreit jetzt aller Hörer Brust,
so wie der Ritter dies gesprochen;
und, zehnfach am Gewölb’ gebrochen
wälzt der vermischten Stimmen
Schall
sich brausend fort im Wiederhall.
Lautfordern selbst des Ordens Söhne,
Deutsches Lesebuch für kath. Lcbulen. IV.
daß man die Heldenstirne kröne,
und dankbar im Triumphgepräng’
will ihn das Volk dem Volke zeigen;
da faltet seine Stirne streng
der Meister und gebietet Schweigen.
23. Und spricht: „Den Drachen,
der dies Land
verheert, schlugst du mit tapfrer
Hand;
ein Gott bist du dem Volke worden,
ein Feind kommst du zurück dem
Orden.
Und einen schlimmern Wurm gebar
dein Herz, als dieser Drache war.
Die Schlange, die das Herz vergiftet,
die Zwietracht und Verderben stiftet,
das ist der widerspenst’ge Geist,
der gegen Zucht sich frech empöret,
der Ordnung heilig Band zerreißt;
denn der ist’s, der die Welt zerstöret.
24. Mut zeiget auch der Mame-
luck,
Gehorsam ist des Christen Schmuck;
denn wo der Herr in seiner Größe
gewandelt hat in Knechtes Blöße,
da stifteten, auf heil’gem Grund,
die Väter dieses Ordens Bund,
der Pflichten schwerste zu erfüllen,
zu bändigen den eignen Willen!
Dich hat der eitle Ruhm bewegt,
drum wende dich aus meinen
Blicken;
denn wer des Herren Joch nicht trägt,
darf sich mit seinem Kreuz nicht
schmücken.“
25. Da bricht die Menge tobend
aus,
gewalt'ger Sturm bewegt das Haus,
um Gnade flehen alle Brüder;
doch schweigend blickt der Jüng-
ling nieder, —
Für Oberklasieu. f)
66
42. Die Kraniche des Jbykus.
still legt er von sich das Gewand
und küßt des Meisters strenge
- Hand
und geht. Der folgt ihm mit dem
Blicke,
dann ruft er liebend ihn zurücke
und spricht: „Umarme mich, meii
Sohn!
dir ist der härtre Kampf gelungen.
Nimm dieses Kreuz: es ist der Lohn
der Demut, die sich selbst be-
zwungen."
v. Schiller.
42. *Die Kraniche des JtyknS.
1. -Bunt Kampf der Wagen und
Gesänge,
der auf Korinthus Landesenge
der Grieä)en Stämme froh vereint,
zog Jbpkus, der Götterfreund.
Ihm schenkte des Gesanges Gabe,
der Lieder süßen Mund Apoll;
so wandert' er, an leichtem Stabe,
aus Rhegium, des Gottes voll.
2. Schon winkt aus hohem Berges-
rücken
Akrokorinth des Wandrers Blicken,
und in Poseidons Fichtenhain
tritt er mit frommem Schauder ein.
Nichts regt sich um ihn her, nur
Schwärme
von Kranichen begleiten ihn,
die fernhin nach des Südens Wärme
in graulichem Geschwader ziehn.
3. „Seid mir gegrüßt, befreund'te
Scharen!
die mir zur See Begleiter waren,
zum guten Zeichen nehm' ich euch!
Mein Los, es ist dem euren gleich, —
von fern her kommen wir gezogen
und flehen um ein wirtlich Dach. —
Sei uns der Gastliche gewogen,
der von dem Fremdling wehrt die
Schmach!"
4. Und munter fördert er die Schritte
und sieht sich in des Waldes Mitte;
da sperren auf gedrangem Steg
zwei Mörder plötzlich seinen Weg.
Zum Kampfe muß er sich bereiten,
doch bald ermattet sinkt die Hand;
sie hat der Leier zarte Saiten,
doch nie des Bogens Kraft gespannt.
5. Er ruft die Menschen an, die
Götter.
sein Flehen dringt zu keinem Netter;
wie weit er auch die Stimme schickt,
nichts Lebendes wird hier erblickt.
„So muß ich hier verlassen sterben,
auf fremdem Boden, unbeweint,
durch böser Buben Hand verderben,
wo auch kein Rächer mir erscheint!"
6. Und schwer getroffen sinkt er
nieder.
Da rauscht der Kraniche Gefieder;
er hört, schon kann er nicht mehr sehn,
die nahen Stimmen furchtbar krähn.
„Bon euch, ihr Kraniche dort oben!
wenn keine andre Stimme spricht,
sei meines Mordes Klag' erhoben!"
Er ruft es, und sein Auge bricht.
7. Der nackte Leichnam wird ge-
funden,
und bald, obgleich entstellt von Wunden,
erkennt der Gastfreund in Korinth
die Züge, die ihm teuer sind.
„Und muß ich so dich wieder finden
und hoffte, mit der Fichte Kranz
des Sängers Schläfe zu umwinden,
bestrahlt von seines Ruhmes Glanz!"
42. Die Kraniche des JbykuS.
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8. Und jammernd hören's alle Gäste,
versammelt zu Poseidons Feste. —
ganz Griechenland ergreift devSchmerz,
verloren hat ihn jedes Herz.
Und stürmend drängt sich zum Prytanen
das Volk, es fordert seine Wut,
zu rächen des Erschlag'nen Manen,
zu sühnen mit des Mörders Blut.
9. Doch wo die Spür, die aus der
Menge,
der Völker flutendem Gedränge,
gelocket von der Spiele Pracht,
den schwarzen Thäter kenntlich macht?
Sind's Räuber, die ihn feig erschlagen?
That's neidisch ein verborgner Feind?
Nur Helios vermag's zu sagen,
der alles Irdische bescheint.
10. Er geht vielleicht mit frechem
Schritte,
jetzt eben durch der Griechen Mitte,
und während ihn die Rache sucht,
genießt er seines Frevels Frucht.
Aus ihres eignen Tempels Schwelle
trotzt er vielleicht den Göttern, mengt
sich dreist in jene Menschenwelle,
die dort sich zum Theater drängt.
11. Denn Bank an Bank gedränget
sitzen —
es brechen fast der Bühne Stützen —
herbeigeströmt von fern und nah,
der Griechen Völker wartend da.
Dumpf brausend, wie des Meeres
Wogen,
von Menschen wimmelnd, wächst der
Bau
in weiter stets geschweiftem Bogen
hinauf bis in des Himmels Blau.
12. Wer zählt die Völker, nennt die
Namen.
die gastlich hier zusammen kamen?
Von Theseus' Stadt, von Aulis' Strand,
von Phocis, vom Spartanerland,
von Asiens entlegner Küste,
von allen Inseln kamen sie,
und horchen von dem Schaugerüste
des Chores grauser Melodie,
13. der streng und ernst, nach alter
Sitte,
mit langsam abgemessnem Schritte
hervortritt aus dem Hintergrund,
umwandelnd des Theaters Rund.
So schreiten keine ird'schen Weiber,
die zeugete kein sterblich Haus!
Es steigt das Riesenmaß der Leiber
hoch über menschliches hinaus.
14. Ein schwarzer Mantel schlägt die
Lenden,
sie schwingen in entfleischten Händen
der Fackel düsterrote Glut,
in ihren Wangen fließt kein Blut:
und wo die Haare lieblich flattern,
um Menschenstirnen freundlich wehn,
da sieht man Schlangen hier und
Nattern
die giftgeschwollnen Bäuche blähn.
15. Und schauerlich, gedreht im
Kreise.
beginnen sie des Hymnus Weise,
der durch das Herz zerreißend dringt,
die Bande um den Sünder schlingt.
Besinnung raubend, herzbethörend
schallt der Erinnyen Gesang,
er schallt, des Hörers Mark verzehrend,
und duldet nicht der Leier Klang:
16. „Wohl dem, der frei von Schuld
und Fehle
bewahrt die kindlich reine Seele!
Ihm dürfen wir nicht rächend nahn,
er wandelt frei des Lebens Bahn.
Doch wehe. wehe. wer verstohlen
des Mordes schwere That vollbracht;
wir heften uns an seine Sohlen,
das furchtbare Geschlecht der Nacht.
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43. Die Bürgschaft.
17. „Und glaubt er fliehend zu ent-
springen,
geflügelt sind wir da, die Schlingen
ihm werfend um den flücht'gen Fuß,
daß er zu Boden fallen muß.
So jagen wir ihn ohn' Ermatten,
versöhnen kann uns keine Reu',
ihn fort und fort bis zu den Schatten
und geben ihn auch dort nicht frei."
18. So singend tanzen sie den Reigen,
und Stille, wie des Todes Schweigen,
liegt überm ganzen Hause schwer,
als ob die Gottheit nahe wär'.
Und feierlich, nach alter Sitte,
umwandelnd des Theaters Rund,
mit langsam abgemessnem Schritte
verschwinden sie im Hintergrund.
19. Und zwischen Trug und Wahr-
heit schwebet
noch zweifelnd jede Brust und bebet
und huldiget der furchtbarn Macht,
die richtend im Berborgnen wacht,
die unerforschlich, unergründet
des Schicksals dunkeln Knäuel flicht,
dem tiefen Herzen sich verkündet,
doch fliehet vor dem Sonnenlicht.
20. Da hört man auf den höchsten
Stufen
auf einmal eine Stimme rufen:
„Sieh da, sieh da, Timotheus,
die Kraniche des Jbykus!" —
Und finster plötzlich wird der Himmel,
und über dem Theater hin
sieht man in graulichem Gewimmel
ein Kranichheer vorüberziehn.
21. „Des Jbykus!" — Der teure
Name
rührt jede Brust mit neuem Grame,
und wie im Meere Well' auf Well',
so läuft's von Mund zu Munde schnell:
„Des Jbykus, den wir beweinen,
den eine Mörderhand erschlug!
Was ist's mit dem? Was kann er
meinen?
Was ist's mit diesem Kranichzug?"
22. Und lauter immer wird die
Frage,
und ahnend fliegt's mit Blitzesschlage
durch alle Herzen: „Gebet acht,
das ist der Eumeniden Macht!
Der fromme Dichter wird gerochen,
der Mörder bietet selbst sich dar! —
Ergreift ihn, der das Wort gesprochen,
und ihn, an den's gerichtet war!"
23. Doch dem war kaum das Wort
entfahren,
möcht' er's im Busen gern bewahren; —
umsonst! der schreckenbleiche Mund
macht schnell die Schuldbewußten kund.
Man reißt und schleppt sie vor den
Richter,
die Scene wird zum Tribunal,
und es gestehn die Bösewichter,
getroffen von der Rache Strahl.
v. Schiller.
43. *Die
1. Zu Dionys, dem Tyrannen,
schlich
Möros, den Dolch im Gewände;
ihn schlugen die Häscher in Bande.
„Was wolltest du mit dem Dolche,
sprich!"
entgegnet ihm finster der Wüterich. —
„„Die Stadt vom Tyrannen befreien!""
„Das sollst du am Kreuze bereuen!" —
Bürgschaft.
2. ,„Zch bin,"" spricht jener, „„zu
sterben bereit
und bitte nicht um mein Leben;
doch willst du Gnade mir geben,
ich flehe dich um drei Tage Zeit,
bis ich die Schwester dem Gatten ge-
freit ;
ich laste den Freund dir als Bürgen,
ihn magst du, entrinn' ich, erwürgen.""
48. Die Bürgschaft.
69
3. Da lächelt der König mit arger List
und spricht nach kurzem Bedenken:
„Drei Tage will ich dir schenken.
Doch wisse, wenn sie verstrichen, die
Frist,
eh' du zurück mir gegeben bist,
so muß er statt deiner erblasien;
doch dir ist die Strafe erlassen."
4. Und er kommt zum Freunde: „„Der
König gebeut,
daß ich am Kreuz mit dem Leben
bezahle das frevelnde Streben;
doch will er mir gönnen drei Tage Zeit,
bis ich die Schwester dem Gatten ge-
freit ;
so bleib' du dem König zum Pfande,
bis ich komme, zu lösen die Bande.""
5. Und schweigend umarmt ihn der
treue Freund
und liefert sich aus dem Tyrannen;
der andere ziehet von dannen.
Und ehe das dritte Morgenrot scheint,
hat er schnell mit dem Gatten die
Schwester vereint,
eilt heim mit sorgender Seele,
damit er die Frist nicht verfehle.
6. Da gießt unendlicher Regen herab,
von den Bergen stürzen die Quellen,
und die Bäche, die Ströme schwellen.
Und er kommt ans Ufer mit wandern-
dem Stab,
da reißet die Brücke der Strudel hinab,
und donnernd sprengen die Wogen
des Gewölbes krachenden Bogen.
7. Und rastlos irrt er an Ufers Rand.
Wie weit er auch spähet und blicket
und die Stimme, die rufende, schicket,
da stößet kein Nachen vom sichern
Strand,
der ihn setze an das gewünschte Land,
kein Schiffer lenket die Fähre, —
und der wilde Strom wird zum Meere.
8. Da sinkt er ans Ufer und weint
und fleht,
die Hände zum Zeus erhoben:
„O, hemme des Stromes Toben!
Es eilen die Stunden, im Mittag steht
die Sonne, und wenn sie niedergeht,
und ich kann die Stadt nicht erreichen,
so muß der Freund mir erbleichen."
9. Doch wachsend erneut sich des
Stromes Wut,
und Welle auf Welle zerrinnet,
und Stunde an Stunde entrinnet.
Da treibt ihn die Angst, da faßt er
sich Mut
und wirft sich hinein in die brausende
Flut.
und teilt mit gewaltigen Armen
den Strom, — und ein Gott hat Er-
barmen.
10. Und gewinnt das Ufer und eilet
fort
und danket dem rettenden Gotte;
da stürzet die raubende Rotte
hervor aus des Waldes nächtlichem Ort,
den Pfad ihm sperrend, und schnaubet
Mord
und hemmet des Wanderers Eile
mit drohend geschwungener Keule.
11. „Was wollt ihr?" ruft er, vor
Schrecken bleich,
„ich habe nichts, als mein Leben,
das muß ich dem Könige geben!"
Und entreißt die Keule dem nächsten
gleich:
„Um des Freundes willen erbarmet
euch!"
Und drei, mit gewaltigen Streichen,
erlegt er, die andern entweichen.
12. Und die Sonne versendet glühen-
den Brand,
und von der unendlichen Mühe
ermattet, sinken die Kniee:
70
43. Die Bürgschaft.
„O hast du mich gnädig aus Räubers
Hand,
aus dem Strom mich gerettet ans
heilige Land,
und soll hier verschmachtend verderben,
und der Freund mir, der liebende.
sterben!"
13. Und horch! da sprudelt es silber-
hell.
ganz nahe wie rieselndes Rauschen,
und stille hält er, zu lauschen.
Und sieh, aus dem Felsen, geschwätzig
schnell,
springt murmelnd hervor ein lebendiger
Quell,
und freudig bückt er sich nieder
und erfrischet die brennenden Glieder.
14. Und die Sonne blickt durch der
Zweige Grün
und malt auf den glänzenden Matten
der Bäume gigantische Schatten,
und zwei Wanderer sieht er die Straße
ziehn,
will eilenden Laufes vorüber fliehn,
da hört er die Worte sie sagen:
,Letzt wird er ans Kreuz geschlagen!"
15. Und die Angst beflügelt den
eilenden Fuß,
ihn jagen der Sorge Qualen;
da schimmern in Abendrots Strahlen
von ferne die Zinnen von Syrakus,
und entgegen kommt ihm Philostratus,
des Hauses redlicher Hüter,
der erkennet entsetzt den Gebieter:
16. „Zurück! du rettest den Freund
nicht mehr,
so rette das eigene Leben!
Den Tod erleidet er eben.
Bon Stunde zu Stunde gewartet' er
mit hassender Seele der Wiederkehr,
V
ihm konnte den mutigen Glauben
der Hohn des Tyrannen nicht rauben!"—
17. „„Und ist es zu spät, und kann
ich ihm nicht
ein Netter willkommen erscheinen,
so soll mich der Tod ihm vereinen.
Des rühme der blut'ge Tyrann sich nicht,
daß der Freund dem Freunde gebrochen
die Pflicht.
er schlachte der Opfer zweie
und glaube an Liebe und Treue!""
18. Und die Sonne geht unter, da
steht er am Thor
und sieht das Kreuz schon erhöhet,
das die Menge gaffend umstehet;
an dem Seile schon zieht man den
Freund empor,
da zertrennt er gewaltig den dichten
Chor:
„Mich, Henker!" ruft er, „erwürget!
Da bin ich, für den er gebürget!"
19. Und Erstaunen ergreifet das Volk
umher.
2n den Armen liegen sich beide
und meinen vor Schmerzen und Freude.
Da sieht man kein Auge thränenleer,
und zum Könige bringt man die Wun-
dermär,
der fühlt ein menschliches Rühren,
läßt schnell vor den Thron sie führen.
20. Und blicket sie lange verwundert
an;
draus spricht er: „Es ist euch gelungen,
ihr habt das Herz mir bezwungen; —
und die Treue, sie ist doch kein leerer
Wahn!
So nehmet auch mich zum Genossen an!
Ich sei, gewährt mir die Bitte,
in eurem Bunde der dritte!"
v. Schiller.
44. Der blinde König.
71
44. *Der blinde König.
1. Was steht der nord’schen Fechter
Schar
hoch auf des Meeres Bord?
Was will in seinem grauen Haar
der blinde König dort?
Er ruft, in bittrem Harme
auf seinen Stab gelehnt,
daß überm Meeresarme
das Eiland .wiedertönt:
2. „Gieb, Räuber! aus dem Fels-
verlies
die Tochter mir zurück!
Ihr Harfenspiel, ihr Lied so süß,
war meines Alters Glück.
Vom Tanz auf grünem Strande
hast du sie weggeraubt;
dir ist es ewig Schande,
mir beugt’s das graue Haupt.“
3. Da tritt aus seiner Kluft hervor
der Räuber, groß und wild;
er schwingt sein Hünenschwert empor
und schlägt an seinen Schild:
„Du hast ja viele Wächter,
warum denn litten’s die?
Dir dient so mancher Fechter,
und keiner kämpft um sie?“
4. Noch stehn die Fechter alle
stumm,
tritt keiner aus den Reih’n,
der blinde König kehrt sich um:
„Bin ich denn ganz allein?“
Da faßt des Vaters Rechte
sein junger Sohn so warm:
„Vergönn mir’s, daß ich fechte!
Wohl fühl’ ich Kraft im Arm.“
5. „O Sohn! der Feind ist riesen-
stark,
ihm hielt noch keiner stand,
und doch! in dir ist edles Mark,
ich fühl’s am Druck der Hand.
Nimm hier die alte Klinge!
Sie ist der Skalden Preis,
und fällst du, so verschlinge
die Flut mich armen Greis!“
6. Und horch I es rudert und es
rauscht
der Nachen übers Meer;
der blinde König steht und lauscht,
und alles schweigt umher,
bis drüben sich erhoben
der Schild’ und Schwerter Schall
und Kampfgeschrei und Toben
und dumpfer Wiederhall.
7. Da ruft der Greis so freudig bang:
„Sagt an, was ihr erschaut!
Mein Schwert (ich kenn’s am guten
Klang),
es gab so scharfen Laut.“ —
„Der Räuber ist gefallen,
er hat den blut’gen Lohn.
Heil dir, du Held vor allen,
du starker Königssohn I“
8. Und wieder wird es still umher,
der König steht und lauscht:
„Was hör’ ich kommen übers Meer?
Es rudert und es rauscht.“
„Sie kommen angefahren,
dein Sohn mit Schwert und Schild,
in sonnenhellen Haaren
dein Töchterlein Gunild.“
9. „Willkommen!“ ruft vom hohen
Stein
der blinde Greis hinab,
„nun wird mein Alter wonnig sein
und ehrenvoll mein Grab.
Du legst mir, Sohn, zur Seite
das Schwert von gutem Klang,
Gunilde, du Befreite,
singst mir den Grabgesang.“
L. UHIand.
72
45. Das Glück von Edcnhall.
45. ^Das Glück von Edenhall.
1. üon Ldenhall -er junge Lord
läßt schmettern Festdrommetcnschall,
er hebt sich an -cs Tisches Kord
und ruft in trunknrr Gäste Schwall:
„llun her mit dem Glücke von Ldenhall!"
2. Der Schenk vernimmt ungern den
Spruch,
-es Hauses ältester Vasall,
nimmt zögern- aus -cm sci-nen Tuch
das hohe Trinkglas von Lristall,
sic nennen'-: -as Glück von Ldeu-
hall.
3. Daraus -er Lord: „Dem Glas zum
Preis
schenk roten ein ans Portugal I"
Mit Händezittern gießt -er Greis,
und purpurn Licht wird überall,
es strahlt aus -cm Glück von E-rnhall.
4. Da spricht -er Lord und schwingt's
dabei:
„Dies Glas von leuchtendem Kristall
gab meinem Ahn am Eucll die Fei,
drein schrieb sie: Kommt dies Glas ;» Fall,
fahr wohl dann, o Glück von Ldenhall l
5. Lin Kelchglas ward znm Los mit Fug
dem frrnd'gtn Stamm von Ldenhall!
Wir schlürfen gern in vollem Zug,
wir läuten gern mit lautem Schall;
stoßt an mit dem Stücke von Ldenhall!"
6. Lrst klingt es milde, tief und voll,
gleich dem Gesang der Nachtigall,
dann wie des Wal-stroms laut Geröll,
zuletzt erdröhnt, wie Donnerhall,
das herrliche Glück von Ldenhall.
7. „Zum Horte nimmt ein kühn
Geschlecht
sich -cn zerbrechlichen Kristall;
es dauert länger schon, als recht,
stoßt an! Mit diesem kräftigen prall
versuch' ich das Glück von Ldenhall."
8. Und als das Trinkglas gellend
springt,
springt das Gcwölb mit jähem Knall,
und ans dem Niß die Flamme dringt;
die Gäste sind zerstoben all
mit dem brechenden Glück von Ldenhall.
9. Einstürmt -er Feind, mit Kran-
und Mord,
der in der Nacht erstieg den Wall,
vom Schwerte fällt der junge Lord,
hätt in der Hand noch den Kristall,
das zersprungene Glück von Ldenhall.
Ist. Am Morgen irrt der Schenk allein,
der Greis, in der zerstörten Ha»',
er sucht des Herrn verbrannt Gebein,
er sucht im grausen Trümmersall
die Scherben des Glücks von Ldenhall.
11. „Die Stcinwand" — spricht er —
„springt zu Stück,
die hohe Säule muß zu Fall,
Glas ist der Lrde Stolz und Glück,
in Splitter fällt der Lrdenball
einst gleich dem Glücke von Ldenhall."
Uhlcmd.
46. Des Sängers Fluch.
73
46. *Des Sängers Fluch.
1. Es stand in alten Zeiten ein Schloß, so hoch und hehr,
weit glänzt' es über die Lande bis in das blaue Meer,
und rings von duft'gen Gärten ein blütenreicher Kranz,
drin sprangen frische Brunnen im Regenbogenglanz.
2. Dort saß ein stolzer König, an Land und Siegen reich;
er saß auf seinem Throne so finster und so bleich;
denn was er sinnt, ist Schrecken, und was er blickt, ist Wut;
und was er spricht, ist Geißel, und was er schreibt, ist Blut.
3. Einst zog nach diesem Schlofie ein edles Sängerpaar,
der ein' in goldnen Locken, der andre grau von Haar;
der Alte mit der Harfe, der saß auf schmuckem Roß,
es schritt ihm frisch zur Seite der blühende Genoß.
4. Der Alte sprach zum Jungen: „Run sei bereit, mein Sohn,
denk' unsrer tiefsten Liever, stimm an den vollsten Ton;
nimm alle Kraft zusammen, die Lust und auch den Schmerz!
Es gilt uns heut, zu rühren des Königs steinern Herz."
5. Schon stehn die beiden Sänger im hohen Säulcnsaal,
und auf dem Throne sitzen der König und sein Gemahl;
der König, furchtbar prächtig, wie blut'ger Nordlichtschein,
die Königin süß und milde, als blickte Vollmond drein.
6. Da schlug der Greis die Saiten; er schlug sie wundervoll,
daß reicher, immer reicher der Klang zum Ohre schwoll;
* dann strömte himmlisch helle des Jünglings Stimme vor,
des Alten Sang dazwischen, wie dumpfer Geisterchor.
7. Sie singen von Lenz und Liebe, von sel'ger, goldner Zeit,
von Freiheit, Männerwürde, von Treu' und Heiligkeit,
sie singen von allem Süßen, was Menschenbrust durchbebt,
sie singen von allem Hohen, was Menschenherz erhebt.
8. Die Höflingsschar im Kreise verlernet jeden Spott,
des Königs trotz'ge Krieger, sie beugen sich vor Gott,
die Königin, zerflosien in Wehmut und in Lust,
sie wirft den Sängern nieder die Rose von ihrer Brust.
9. „Ihr habt mein Volk verführet, verlockt ihr nun mein Weib?"
Der König schreit es wütend, er bebt am ganzen Leib;
er wirft sein Schwert, das blitzend des Jünglings Brust durchdringt,
draus statt der goldnen Lieder ein Blutstrahl hoch aufspringt.
10. Und wie vom Sturm zerstoben ist all' der Hörer Schwarm;
der Jüngling hat verröchelt in seines Meisters Arm,
der schlägt um ihn den Mantel und setzt ihn auf das Roß,
er bind't ihn aufrecht feste, verläßt mit ihm das Schloß.
11. Doch vor dem hohen Thore, da hält der Sängergreis,
da faßt er seine Harfe, sie aller Harfen Preis,
an einer Marmorsäule, da hat er sie zerschellt,
dann ruft er, daß es schaurig durch Schloß und Gärten gellt:
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47. Der Postillon.
12. „Weh euch, ihr stolzen Hallen! Nie töne süßer Klang
durch eure Räume wieder, nie Saite noch Gesang,
nein, Seufzer nur und Stöhnen und scheuer Sklavenschritt,
bis euch zu Schutt und Moder der Rachegeist zertritt.
13. „Weh euch, ihr duft'gen Gärten im holden Maienlicht!
Euch zeig' ich dieses Toten entstelltes Angesicht,
daß ihr darob verdorret, daß jeder Quell versiegt,
daß ihr in künft'gen Tagen Versteint, verödet liegt.
14. „Weh' dir, verruchter Mörder! Du Fluch des Sängertums!
Umsonst sei all dein Ringen nach Kränzen blut'gen Ruhms!
Dein Name sei vergessen, in ew'ge Nacht getaucht,
sei, wie ein letztes Röcheln, in leere Luft verhaucht!"
15. Der Alte hat's gerufen, der Himmel hat's gehört:
die Mauern liegen nieder, die Hatten sind zerstört.
Noch eine hohe Säule zeugt von verschwund'ner Pracht,
auch diese, schon geborsten, kann stürzen über Nacht.
16. Und rings, statt duft'ger Gärten, ein ödes Heideland,
kein Baum verstreuet Schatten, kein Quell durchdringt den Sand,
des Königs Namen meldet kein Lied, kein Heldenbuch.
Versunken und vergessen! Das ist des Sängers Fluch.
Uhümd.
47. *Der Postillon.
lieblich war die Maiennacht,
Silberwölklein flogen,
ob der holden Frühlingspracht
freudig hingezogen.
Schlummernd lagen Wies' und Hain,
jeder Pfad verlassen;
niemand als der Mondenschein
wachte auf der Straßen.
Leise nur das Lüftchen sprach,
und es zog gelinder
durch das stille Schlafgemach
all der Frühlingskinder.
Heimlich nur das Bächlein schlich;
denn der Blüten Träume
dufteten gar wonniglich
durch die stillen Räume.
Rauher war mein Postillon,
ließ die Geißel knallen,
über Berg und Thal davon
frisch sein Horn erschallen.
Und von flinken Rossen vier
scholl der Hufe Schlagen,
die durchs blühende Revier
trabten mit Behagen.
Wald und Flur im schnellen Zug
kaum gegrüßt — gemieden;
und vorbei, wie Traumesflug,
schwand der Dörfer Frieden.
Mitten in dem Maienglück
lag ein Kirchhof innen,
der den raschen Wanderblick
hielt zu ernstem Sinnen.
Hingelehnt an Bergesrand
war die bleiche Mauer,
und das Kreuzbild Gottes stand
hoch in stummer Trauer.
Schwager ritt auf seiner Bahn
stiller jetzt und trüber —
und die Rosse hielt er an,
sah zum Kreuz hinüber:
48. Das Grab in Busento. 49. Wiege und Sarg.
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„Halten muß hier Roß und Rad —
uiag's euch nicht gefährden!
Drüben liegt mein Kamerad
in der kühlen Erden.
Ein gar herzlieber Gesell!
Herr, 's ist ewig schade!
Keiner blies das Horn so hell
wie mein Kamerade.
Hier ich immer halten muß,
dem dort unterm Rasen
zum getreuen Brudergruß
sein Leiblied zu blasen."
Und dem Kirchhof sandt' er zu
frohe Wandersäuge,
daß es in die Grabesruh
seinem Bruder dränge.
Und des Hornes heller Ton
klang voin Berge wieder,
ob der tote Postillon
stimmt' in seine Lieder. —
Weiter ging's durch Feld und Hag
mit verhängtem Zügel. —
Lang mir noch im Ohre lag
jener Klang vom Hügel.
n. Lenau.
48. *Das Grab im Busento.
1. Ilächtlich am Aufento lispeln, bei Cosenza, dumpfe Lieder,
aus den Wassern schallt es Antwort, und in Wirbeln klingt es wieder!
2. And den Fluh hinauf, hinunter, ziehn die Schatten tapfrer Goten,
die den Älarich beweinen, ihres Volkes besten Toten.
3. Allzufrüh und fern der Heimat muhten hier sie ihn begraben,
während noch die Lugendlocken seine Schulter blond umgaben.
4. And am Afer des Ausento reihten sie sich um die Wette,
um die Strömung abzuleiten, gruben sie ein frisches Aette.
5. Ln der wogenleeren Höhlung wühlten sie empor die Erde,
senkten tief hinein den Leichnam, mit der Aüstung, auf dem Pferde.
6. Deckten dann mit Erde wieder ihn und seine stolze Habe,
Last die hohen Ltromgewächse wüchsen aus dem Heldengrabe.
7. Abgelenkt zum zweitenmale, ward der Fluh herbeigezogen; —
mächtig in ihr altes Rette schäumten die Rusentowogen.
8. And es sang ein Chor von Männern: „Schlaf in deinen Heldenehren!
Keines Römers schnöde Habsucht soll dir se dein Grab versehren!"
9. Sangen's, und die Lobgesänge tönten fort im Gotenheere; —
wälze sie, Rusentowelle! wälze sie von Meer zu Meere!
A. Graf v. plalcn.
49. Wiege und Sarg.
Ruhestätten giebt es gar viele im Leben — und wer kennt
unter ihnen nicht die zwei wichtigsten? — Die eine steht an der
Eingangsschwelle des Lebens, die andere an der Ausgangsschwelle
desselben. Verschieden, sehr verschieden, ja völlig entgegen-
gesetzt scheinen sie in ihrem Zwecke zu sein, und doch sind
beide einander nahe verwandt.
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49. Wiege und Sarg.
Aus Brettern ist die Wiege gezimmert — und so auch der
Sarg. Im Walde stand einst ein Baum, von welchem die Bretter
genommen wurden. Frisch und grün streckte er seine Zweige
aus, und schon damals ruhte der müde Wanderer unter ihm.
Endlich wurde der Baum gefällt, sein Stamm zerschnitten und
in friedlicher Werkstätte verarbeitet. Eine Wiege vielleicht und
ein Sarg entstanden aus seinem Holze. Wiege und Sarg —
beide also wuchsen einst kräftig und voll als Waldbaum oder
als Obstbaum, auf dessen Zweigen die Vöglein sangen.
Beide wurden vom Frühling einst belaubt und vom Herbste
entblättert. Beide wurden gefällt durch Axt und Sturm.
Und in beiden schläft der Mensch. In beiden giebt’s Ruhe
und Frieden. Wie harmlos liegt der Säugling in der Wiege!
Keine Not ficht ihn an. Rein und ungetrübt ist der Himmel
seines Lebens. Verhält sich’s anders mit dem Sarge? Auch in
ihm schläft der Mensch und auch hier trifft den Menschen kein
Ungemach, keine Erdennot. Zwar ein anderer Schlaf ist’s, als
der Schlaf in der Wiege; denn jetzt ist er eisern, traumlos und
kalt — aber sicher doch und geborgen hält er den Schläfer.
In beide steigen wir selbst nicht. Man legt uns hinein.
Denn hilflos und schwach noch waren wir, als wir auf dem
Schooße der Mutter saßen. Von ihr erlangten wir, was wir
brauchten, auch die Ruhe. Die Mutter hob uns herab vom Arm
und Schooß, sie legte uns liebend und sanft in die Wiege. —
Starr und bleich und gebrochen an Kraft und Bewegung sind
wir im Tode. Man legt uns hinein in den Sarg; denn wir selbst
können uns nicht betten.
Wiege und Sarg — an beiden wird geweint. Wer kennt
nicht die Thränen der Freude, die im Vater- oder Mutterauge
glänzen, wenn es auf die Wiege des Kindes blickt? — Wer
kennt nicht die Thränen des Schmerzes, welche in dem Auge des
Kindes glänzen, wenn es am Sarge der Eltern steht? Eltern
legen ihre Kinder in die Wiege, und in der Regel legen
die Kinder ihre Eltern in den Sarg. Thränen giebt’s hier,
wie da.
Wiege und Sarg — an beiden wird gehofft. — Ja, Hoffnung
regt sich im Herzen, süße Hoffnung leuchtet uns entgegen, wenn
50. Der güldene Ring.
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wir an der Wiege unserer Lieblinge stehen. Mit ihnen hoffen
wir durchs Leben zu gehen. Durch sie gedenken wir ein reines
Band zu knüpfen für die Erde und Glück und Freude und Wonne
zu finden. — Im Tode ist dieses Band zerrissen; — aber wir
hoffen mit Zuversicht, es werde in der Höhe sich wieder dauer-
haft knüpfen. Und diese Hoffnung ist am Sarge unser Trost,
unser Anker, unser Rettungsstern.
Wiege und Sarg — an beiden wird gebetet. — Fromme
Wünsche, Gedanken und Gefühle steigen aus dem Herzen der
Eltern zum Himmel auf, wenn sie an dem harmlosen Lager des
Kindes stehen. Um Glück und Segen für den Liebling beten sie
zu Gott. Auch an dem Sarge beten wir. Wir beten für den
Toten. Wir beten für ihn um ein gnädiges Gericht, um Himmels-
frieden und Seligkeit. Wir beten für uns um Weisheit für das
Leben und Sterben.
Wiege und Sarg — immerdar werdet ihr Menschen bergen.
Oft, ach — steht ihr nahe aneinander, oft kaum eine Spanne
weit getrennt. Doch nahe oder fern, ihr beide seid Wiegen,
die eine: Wiege für die Erde — die andere: Wiege für den
Himmel. würkert.
50. *Der güldene Ring.
Der Herberg' mancher Gilden, der Burschen Burg und Ruh', der
wanderte spät abends ein Corps Gesellen zu. Der Drang war groß,
die Thür war klein, und jeder will der erste sein im Haus.
Der Herbergsvater guckt hinaus und spricht den Gruß: „Woher zu
wandern? Könnt ihr nicht alle Mann der erste sein, so sei es einer nach
dem andern. Wie's Handwerk folgt, so sprechet ein!" Nun will erst
recht ein jeder erster sein. Der Schuster spricht: „Wenn ich nicht wär',
wo kämen Stiefel zum Wandern her?" — „Vom Setter!" fiel der Gerber
ein. — „Nein von der Haut!" schlug Metzger drein. — „Was Stiefel?
Backe ich kein Brot, so seid ihr auch in Stiefeln tot." — „Und mahl' ich
nicht, so bäckst du Stroh; dann mein' ich, wär' es auch noch so." —
„Und schmied ich keinen Pflug, so mahlt der Müller Wind, dann sind
wir just so klug."
„Klug hin, klug her — der Maurer muß voraus! Wo wär'
die Herberg' hier, baut' ich kein Haus." — „Wie aber, Bruder, willst
ins Haus hinein, bringt nicht der Schlosser erst die Schlüssel rein?" —
„Pah, ohne Schlüssel bau ich erst und letztes Haus!" fuhr wie sein
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51. Bei dem Grabe meines Vaters.
Hobelspan der Schreiner raus. — „Und, Bruder, hast dein letztes
fertig du, dann komm ich Nagelschmied und schließe zu!" — Allein,
ganz fix, nähnadelfein bügelt der Schneider hinterdrein: „Ist Leut'
begraben eine Kunst? Nein, Leute machen, das ist ein'." — „Du
machst doch keine, kleiner Schneider." — „Nein, ich nicht, aber meine
Kleider! Mit Gunst!" Der kleine Schneider war hinein. Doch fest,
als that er einen Balken fassen, so griff der lange Zimmermann mal
aus: „Für'n Schneider hab' ich just das Loch gelassen. Kopf weg!"
und warf den Schneider wieder naus. —
„Sacht, Kinder, immer sacht!" ruft Herbergsvater steuernd jetzt
heraus. „Den Fehler hier hab' ich gemacht!" und hebt die Thüre
samt der Angel aus. „So wahr mein Haus hier steht in Gottes
Hand und ist zum güldenen Ring zubenannt, so sollt ihr herein mit-
sammen wandern; habt ihr doch Wert erst einer durch den andern.
Denn alle Gilden sind ein güldner Kranz, drin jedes Blatt hat seinen
Wert und Glanz. Jedwedes Reis, wo es auch Platz genommen, zum
güldnen Ringe ist es gleich willkommen. Drum kommt mir alle
Mann zugleich herein, soll keiner erster oder letzter sein."
Lhr. S• Schfrenbrrg.
51. *Bei dem Grabe meines Vaters.
Friede lei um diesen Grabstein her!
sanfter Friede Gottes! Äch, ste haben
einen guten Mann begraben,
und mir war er mehr.
Träufle mir von Legen dieser Mann,
wie ein milder L'tern aus bessern Welten!
And ich kann's ihm nicht vergelten,
was er mir gethan.
Er entschlief; sie gruben ihn hier ein.
Leiser, süßer Trost, von Gott gegeben,
und ein Ähnen von dem ew'gen Leben
düst' um sein Gebein!
•ßts ihn Jesus Christus, groß und hehr,
freundlich wird erwecken; ach, ste haben
einen guten Mann begraben,
und mir war er mehr.
NN Llaudtus.
52. Wentt du noch eine Mutter hast. 53. Madonna della Sedia. 79
52. *Wenn du noch eine Mutter hast.
1. Wenn du noch eine Mutter hast, so danke Gott und sei zufrieden!
nicht alten aus dem Erdenrund ist dieses hohe Glück tieschicdcn.
Wenn du noch eine Mutter hast, so sollst du stc mit Liebe pflegen,
daß stc dereinst ihr müdes Haupt in Frieden kann zur Nuhc legen.
2. Sie hat vom ersten Tage an für dich gelebt mit bangen Sorgen,
ste brachte abends dich zur Kuh' und weckte küssend dich am Morgen;
und warst du krank, flc pflegte dein, den fle mit tiefem Schmer; geboren;
und gaben alle dich schon auf, die Mutter gab dich nicht verloren.
3. Sie lehrte dir den frommen Spruch, fle lehrte dir zuerst das Neben;
flc faltete die Hände drin und lehrte dich zum Vater beten.
Sie lenkte deinen Lindcsflnn, fle wachte über deine Jugend.
Her Mutter danke es allein, wenn du noch gehst den Pfad der Tugend!
4. Und hast du keine Mutter mehr, und kannst du fle nicht mehr beglücken;
so kannst du doch ihr frühes Grab mit frischen ölumenkränzcn schmücken.
Ein Muttergrab rin heilig Grab! für dich die ewig hcil'ge Stelle!
G, wende dich an diesen Grt, wenn dich umtost des Lebens Welte!
53. Madonna della Sedia.
In einer öden, waldigen Bergschlucht lebte vor mehreren hundert
Jahren ein alter, frommer Einsiedler. Nach mancher schweren Prüfung,
nach manchem harten Verluste hatte er sich in diese Einöde zurück-
gezogen, um seine letzten Tage in ungestörter Andacht zu verleben.
Aber die Menschen suchten ihn auch hier auf; denn sie wollten seine
Weisheit und Frömmigkeit nicht entbehren, und kein tief bekümmertes,
trostloses Gemüt kehrte von ihm ohne Rat und Trost zurück. Deshalb
liebte und verehrte ihn die ganze Gegend wie einen Heiligen. Ob er
sich nun gleich von allem auf der Welt losgesagt hatte, so war die
Liebe zu irgend einem Wesen dennoch ein süßes Bedürfnis seines
Herzens geblieben, und er pflegte deshalb oft zu sagen: „Ich habe
hier in meiner Einsamkeit doch noch zwei Kinder, ein sprechendes und
ein stummes. Das erste war Maria, die kleine Tochter eines benach-
barten, wohlhabenden Winzers, die mit unsäglicher Zärtlichkeit an dem
Greise hing und auf dem einsamen Fußpfade oft allein in den dunkeln
Wald gelaufen kam, um den frommen Vater zu besuchen und in ihrer
kindlichen Einfalt still bei ihm zu spielen. Das stumme Kind war eine
schöne hohe Eiche, dicht an seiner Hütte stehend und sie mit Ästen
beschirmend. Wie er auf der einen Seite sich an dem Geplauder des
Kindes ergötzte, ihm manches Nützliche lehrte, es immer vertrauter mit
der Natur machte und den Samen des Guten sorgfältig in das kleine
Herz streute, so pflegte er auf der andern mit väterlicher Sorgfalt
80
53. Madonna della Sedia.
seine Eiche, trug mühsam in der trockenen Sommerszeit Wasser herbei,
um ihre Wurzeln zu erfrischen, fütterte und schützte die Vögelein, die
in den weiten Ästen brüteten, und hatte schon manche gierige Axt
durch sein Bitten von dem Leben des schönen Baumes zurückgehalten.
,.Grüne du immer, meine starke, kräftige Tochter!" sagte dann der
Greis, indem er den Baum liebend umfaßte; „ich verstehe das Flüstern
und Rauschen deiner Zweige wohl und werde dich schützen, bis du mein
Grab beschattest!"
Nach einem ungewöhnlich langen und harten Winter, der die
Gebirge mit tiefem Schnee bedeckte, brach einst ein so plötzliches Tau-
wetter ein, daß die Bergströme voller und gewaltiger als jemals in
die Thäler schossen und große Verwüstungen anrichteten.
„Ach, unser armer, frommer Einsiedler!" sagte Mariens Vater
eines Morgens; „wir werden ihn nicht sprechen! — Von meinen
Weinbergen habe ich gesehen, wie die Flut in sein Thal hinabbraust
und durch den Wald schäumt, und wie die Bäume schon bis an die
Äste unter Wasser stehen."
Marie weinte und beschwor den Vater, daß er dem Greise zu
Hilfe eilen möchte! — Aber das war unmöglich und auch wohl schon
zu spät; denn die Flut mußte längst über das Dach seiner Hütte
rauschen.
Doch der Einsiedler war gerettet, — nicht aber durch die Hand
eines Menschen, nein! — seine stumme, kräftige Tochter hielt ihn auf
ihren Armen sicher über den Wogen. Er war bei dem Aufschwellen
des Wassers auf das Dach seiner Hütte geflohen, und als es ihn auch
hier erreichte, mutig in die Äste der Eiche gestiegen, die, wie auch die
anströmende Gewalt sie erschütterte, dennoch widerstand, obgleich viele
der benachbarten Bäume entwurzelt mit fortgerissen wurden.
Drei Tage vergingen, ehe sich das Wasser wieder verlief; drei
Tage mußte der Greis in den Ästen hängen und nur von wenigem
trockenen Brote zehren, das er in der Eile zu sich gesteckt hatte.
Kraftlos und ganz erschöpft klomm er am Morgen des vierten Tages
wieder herab, sank auf die noch feuchte Erde hin und erwartete den Tod.
Aber statt seiner nahete ein rettender Engel. Die kleine Marie,
die zuhause weder Rast noch Ruhe gehabt, eilte durch den nassen,
schlammigen Wald herbei, den geliebten Greis aufzusuchen. Trotz der
Besorgnisse ihres Vaters für das Leben desselben, hatte sie doch in
süßer Hoffnung ein Körbchen voll Erfrischungen mitgebracht und warf
sich nun bei dem noch lebenden Greise nieder, umschlang ihn mit ihren
kleinen Armen und trieb den Tod von ihm zurück. Der Einsiedler
dankte im andächtigen Gebete Gott für die Erhaltung seines Lebens
und sprach mit begeisterter, halb verklärter Seele über seine beiden
Kinder, die der Allmächtige zu Werkzeugen seiner wunderbaren Rettung
erkoren, einen heiligen, kräftigen Segen aus und flehte den Himmel
5?. Madonna della Sedia.
81
an, sie zum Lohne für ihre Treue vor den andern Geschöpfen seiner
Erde zu verherrlichen! — Gestärkt und erquickt ließ er sich von Marie
hierauf zu ihrer Wohnung leiten, wo er so lange verharrte, bis er die
einsame Hütte wieder beziehen konnte.
Als Marie in Unschuld und Schönheit aufgeblühet und ein glück-
liches Weib geworden war, hatte man den Einsiedler längst begraben.
Seine Hütte war eingesunken, die schöne Eiche unter den Hieben der
Äxte gefallen und zu großen Weinfässern verarbeitet worden, welche
Mariens Vater gekauft hatte. — „Wo bleibt denn nun die Erfüllung
des Segens?" fragt ihr, meine Kinder, „da jetzt das Holz des geliebten
Baumes im dumpfen, finstern Keller vermodern soll?" — Hört nur
geduldig weiter. Eines dieser Fässer war leer geworden und wurde,
als die Weinlese wieder nahe war, hinauf und an die Vorlaube des
Hauses gewälzt, damit neue Reifen aufgeschlagen werden möchten.
Um den Morgen zu genießen, der eben in frischer Schönheit über die
Berge heraufstieg, setzte sich Marie, die jetzt Mutter zweier Knaben
war, in die Laube und schaute, den Säugling an ihrer Brust lieb-
kosend, indes der ältere Knabe zu ihren Füßen spielte, gerührt nach
dem Thale hin, welches der Einsiedler vormals bewohnt hatte, und
meinte, der Segen, den er verheißen, sei durch ihre Kinder wohl schon
in Erfüllung gegangen.
Da wandelte, in stille Träume versunken, ein Jüngling vorüber.
Es war Raphael Sanzio, der größte Maler aller Zeiten. Vor seiner
Seele schwebte lange schon ein Bild der Mutter Gottes mit dem Jesus-
kinde; aber noch vermochte er die Gestalten nicht würdig genug zu er-
fassen und hatte diesen frühen einsamen Gang unternommen, um seinen
Geist zu sammeln. Mit freundlichen Worten grüßte ihn Marie. Er
schaut auf, und als er die Mutter mit ihren Kindern erblickt, wird es
ihm, als erscheine ihm hier, was er so lange vergeblich ersehnt. Hier
war ja die Mutter, aus deren himmlischen Zügen die reinste, seligste
Liebe strahlte; hier ruhte ja das engelschöne Kind in ihren Armen,
das mit seinen milden, großen Augen freundlich und ahnungsvoll seine
Welt begrüßt; hier nahete ja der ältere Knabe, freudig ein Stäbchen
bringend, an welchem er ein Kreuzchen befestigt hatte. Der Künstler
verlangt in höchster Begeisterung, das lebendige, himmlische Bild fest-
zuhalten und es auf der Stelle zu entwerfen; aber er hat nichts zur
Hand als den Zeichenstift. Da glänzt in den ersten Strahlen der
Morgensonne der große platte Boden des nahen uns bekannten Fasses,
und Raphael säumt nicht und tritt rüstig hinzu, und nachdem er die
holde Marie mit ihren Kindern treu darauf entworfen hat, nimmt er
den Boden heraus und trägt ihn heim und läßt sich keine Rast, bis
er das göttliche Bild der heiligen Mutter Gottes mit dem Jesuskinde
und dem kleinen Johannes, der ein Kreuzchen bringt, als wolle er
den Christus-Knaben schon im Spiele damit vertraut machen, daraus
herrlich vollendet hat.
Deutsches Lesebuch für kath. Schulen. IV. Für Oberklafsen. 6
82
54. Von Freiheit und Vaterland.
Raphael Sanzio aus Urbino starb 1520, also schon vor 300
Jahren; aber sein Gemälde ist noch nicht vergangen und wird noch
als ein Heiligtum von Geschlecht zu Geschlecht aufbewahrt.
Seht ihr, so ist der Segen des frommen Mannes doch in Er-
füllung gegangen. Die Kunst hat seine beiden geliebten Kinder hier
wieder vereinigt, denn das Holz des geweihten Baumes trägt nun
Mariens und ihrer Kinder liebliche Züge in höherer Verklärung der
Nachwelt durch Jahrhunderte zu, und noch lange werden sich reine,
fromme Herzen durch den Zauber dieses Bildes ergriffen und er-
hoben fühlen, obgleich die wirklichen Gestalten längst in Staub zer-
fallen sind.
Vielleicht sind einige von euch so glücklich, einst das Vaterland
dieses herrlichen Gemäldes zu besuchen und es dort selbst zu sehen,
wo es unter dem Namen: „Madonna della Sedia" berühmt ist.
Houmald.
54. Von Freiheit und Vaterland.
0 Mensch, du hast ein Vaterland, heiliges Land, ein geliebtes
Land, eine Erde, wonach deine Sehnsucht ewig dichtet und
trachtet.
Wo dir Gottes Sonne zuerst schien, wo dir die Sterne des
Himmels zuerst leuchteten, wo seine Blitze dir zuerst seine All-
macht offenbarten und seine Sturmwinde dir mit heiligen Schrecken
durch die Seele brauseten, — da ist deine Liebe, da ist dein
Vaterland.
Wo das erste Menschenaug’ sich liebend über deine Wiege
neigte, wo deine Mutter dich zuerst mit Freuden auf dem Schoße
trug und dein Vater dir die Lehren der Weisheit und des
Christentums ins Herz grub, da ist deine Liebe, da ist dein
Vaterland.
Und seien es kahle Felsen und öde Inseln, und wohnte Armut
und Mühe dort mit dir, du mußt das Land ewig lieb haben; denn
du bist ein Mensch und sollst es nicht vergessen, sondern behalten
in deinem Herzen.
Auch ist die Freiheit kein leerer Traum und kein wüster
Wahn, sondern in ihr lebt dein Mut und dein Stolz und die Gewiß-
heit, daß du vom Himmel stammest.
Da ist Freiheit, wo du leben darfst, wie es dem tapfern Herzen
gefällt; wo du in den Sitten und Weisen und Gesetzen deiner Väter
leben darfst, wo dich beglücket, was schon deinen Urältervater
beglückte, wo keine fremden Henker über dich gebieten und keine
fremden Treiber dich treiben, wie man das Vieh mit dem Stecken
treibt.
55. FrühlingSgrup an das Vaterland, 1814.
83
Dieses Vaterland und diese Freiheit sind das Allerlieiligste auf
Erden, ein Schatz, der eine unendliche Liebe und Treue in sich
verschließt, das edelste Gut, was ein guter Mensch auf Erden be-
sitzt und zu besitzen begehrt.
Darum auch sind sie gemeinen Seelen ein Wahn, und eine
Thorheit allen, die für den Augenblick leben.
Aber die Tapferen heben sie zum Himmel empor und wirken
Wunder in den Herzen der Einfältigen.
Auf denn, redlicher Deutscher! bete täglich zu Gott, daß er
dir das Herz mit Stärke fülle und deine Seele entflamme mit
Zuversicht und Mut.
Daß keine Liebe dir heiliger sei als die Liebe des Vaterlandes,
und keine Freude dir süßer als die Freude der Freiheit.
E. M. Arndt.
55. * Frühlingsgruß an das Vaterland, 1814.
Wie mir deine Freuden winken
nach der Knechtschaft nach dem Streit!
Vaterland, ich muß versinken
hier in deiner Herrlichkeit.
Wo die hohen Eichen sausen,
himmelan das Haupt gewandt,
wo die starken Ströme brausen,
alles das ist deutsches Land.
Von dem Rheinfall hergegangen
komm ich, von der Donau Quell,
und in mir sind ausgegangen
Liebessterne mild und hell;
niedersteigen will ich, strahlen
soll von mir der Freudenschein
in des Neckars frohen Thalen
und am silbcrblauen Main.
Weiter, weiter mußt du dringen,
du mein deutscher Freiheitsgruß,
sollst vor meiner Hütte klingen
au dem fernen Memelfluß.
Wo noch deutsche Worte gelten,
wo die Herzen stark und weich,
zu dem Freiheitskampf sich stellten,
ist auch heil'ges deutsches Reich.
Alles ist in Grün gekleidet,
alles strahlt im jungen Licht,
Anger, wo die Herde weidet,
Hügel, wo mau Trauben bricht;
Vaterland, in tausend Jahren
kam dir solch ein Frühling kaum,
was die hohen Väter waren,
heißet nimmermehr ein Traum.
Aber einmal müßt ihr ringen
noch in ernster Geisterschlacht
und den letzten Feind bezwingen,
der im Innern drohend wacht.
Haß und Argwohn müßt ihr dämpfen,
Geiz und Neid und böse Lust —
dann nach schweren, langen Kämpfen
kannst du ruhen, deutsche Brust.
Jeder ist dann reich an Ehren,
reich an Demut und an Macht;
so nur kann sich recht verklären
unsres Kaisers heil'ge Pracht.
Alte Sünden müssen sterben
in der gottgesandten Flut,
uud an einen sel'gen Erben
fallen das entsühnte Gut.
6*
84
56. Deutscher Trost.
Segen Gottes auf den Feldern,
in des Weinstocks heil'ger Frucht,
Manneslust in grünen Wäldern,
in den Hütten frohe Zucht;
in der Brust ein frommes Sehnen,
ew'ger Freiheit Unterpfand,
Liebe spricht in zarten Tönen
nirgends wie im deutschen Land.
57. Wer ist ein Mann?
Ihr in Schlössern, ihr in Städten,
welche schmücken unser Land,
Ackersmann, der auf den Beeten
deutsche Frucht in Garben band,
traute deutsche Brüder höret
meine Worte, alt und neu:
Nimmer wird das Reich zerstöret,
wenn ihr einig seid und treu!
M. v. Schenkendorf.
56. * Deutsch er Trost.
Deutsches Herz, verzage nicht!
Thu, was dein Gewissen spricht,
dieser Strahl des Himmelslichts:
„Thue recht, und fürchte nichts!"
Baue nicht auf bunten Schein!
Lug und Trug ist dir zu fein.
schecht gerät dir List und Kunst,
Feinheit wird dir eitel Dunst.
Laß den Welschen Mmchelei,
du sei redlich, fromm und frei;
laß den Welschen Sklavenzier,
schlichte Treue sei mit dir!
Deutsche Freiheit, deutscher Gott,
deutscher Glaube ohne Spott,
deutsches Herz und deutscher Stahl
sind vier Helden allzumal.
Doch die Treue ehrenfest
und die Liebe, die nicht läßt,
Einfalt, Demut, Redlichkeit
steh'n dir wohl, o Sohn des Teut.
Wohl steht dir das grade Wort,
wohl der Speer, der grade bohrt,
wohl das Schwert, das offen ficht
und von vorn die Brust durchsticht.
Diese stehn wie Felsenburg,
diese fechten alles durch,
diese halten tapfer aus
in Gefahr und Todesbraus.
Dmm, o Herz, verzage nicht!
Thu, was dein Gewissen spricht,
redlich folge seiner Spur,
redlich hält es seinen Schwur.
E. ITT. Arndt.
57. *Wcr ist ein Mann?
Wer ist ein Mann? Wer beten
kann
und Gott dem Herrn vertraut;
wann alles bricht, er zaget nicht:
dem Frommen nimmer graut.
Wer ist ein Mann? Wer glauben
kann
inbrünstig, wahr und frei;
denn diese Wehr bricht nimmermehr,
sie bricht kein Mensch entzwei.
Wer ist ein Mann? Wer lieben
kann
von Herzen fromm und warm;
die heilige Glut giebt hohen Mut
und stärkt mit Stahl den Arm.
Dies ist der Mann, der streiten
kann
für Weib und liebes Kind;
der kalten Brust fehlt Kraft und Lust,
und ihre That wird Wind.
58. KrühlingSmahnung. 59. Sprüche.
85
Dies ist der Mann, der sterben
kann
für Freiheit, Pflicht und Recht;
dem frommen Mut deucht alles gut,
es geht ihm nimmer schlecht.
Dies ist der Mann, der sterben
kann
für Gott und Vaterland;
er läßt nicht ab bis an das Grab
mit Herz und Mund und Hand.
So, deutscher Mann, so, freier Mann.
mit Gott dem Herrn zum Krieg!
Denn Gott allein kann Helfer sein,
von Gott kommt Glück und Sieg.
E. M. Arndt.
58. * Frühlingsmahnung.
Nun ward von uns genommen
des Winters Leid und weh.
der Frühling ist gekommen,
es wirbelt Blütenfchnce.
Belebend zieht der Maienhauch
durchs Land und durch die herzen auch!
Es rauscht aus allen Bäumen,
schallt aus der Strome Lauf:
wach' auf aus deinen Träumen,
mein Vaterland! wach' auf!
Ans Berg und Thälern wallen
die Bäche hin zum Strom;
hoch wölbt sich über allen
der blaue himmelsdom.
Es rauscht manch Strom durchs deutsche
Reich,
allein im Siel sind alle gleich:
sie rauschen und sie schäumen
ins Meer in stolzem Lauf,
wach' auf aus deinen Traumen,
mein Vaterland! wach aus!
Es wurzeln tief im Grunde
die Bäume tausendfach,
doch krönt zu stolzem Bunde
sie nur ein Schattendach —
wie von Natur auch mannigsall:
sie bilden einen einz'gen Wald.
G lerne von den Bäumen,
lern' aus der Ströme Lauf:
Wach' auf aus deinen Träumen,
mein Vaterland! wach' aus!
Der Frühling ist erstanden,
die Winterhülle sprang,
gelöst sind alle Banden,
die uns gequält so lang.
O du, Europas grosies herz!
Die Feinde dräun dir allerwärls,
wie lange willst du säumen
zu neuem Siegeslauf?
Wach' auf aus deinen Träumen,
mein Vaterland! wach' auf!
Fr. Lsdeiistedt.
59. Sprüche.
Nicht zu starr und nicht zu zart, ist der Deutschen Schlag
und Art.
Verpflanz’ auf deine Jugend die deutsche Treu und Tugend
zugleich mit deutschem Wort.
Wer im Krieg will Unglück han, fang’ es mit den Deutschen an.
Simrsck.
86 60. Über ein Stündlein. 61. Trost. 62. Der Tod des Gerechten.
60. *Über ein Stündlein.
Dulde, gedulde dich fein!
Über ein Stündlein
ist deine Kammer voll Sonne!
Über den First, wo die Glocken
hangen,
ist schon lange der Schein gegangen,
ging in Türmers Fenster ein.
Wer am nächsten dem Sturm der
Glocken,
einsam wohnt er, oft erschrocken,
doch am frühsten tröstet ihn Sonnen-
schein.
61.
Mag auch die Liebe weinen:
es kommt ein Tag des Herrn;
es muß ein Morgenstern
nach dunkler Nacht erscheinen!
Wer in tiefen Gassen gebaut,
Hütt' au Hllttlein lehnt sich traut,
Glocken haben ihn nie erschüttert,
Wetterstrahl ihn nie umzittert,
aber spät sein Morgen graut.
Höh' und Tiefe hat Lust und Leid.
Sag' ihm ab, dem thörichten Neid!
Andrer Gram^birgt andre Wonne.
Dulde, gedulde dich fein!
Über ein Stündlein
ist deine Kammer voll Sonne!
p- Fevft.
* Trost.
Mag auch der Glaube zagen:
ein Tag des Lichtes naht;
zur Heimat führt sein Pfad,
aus Dämm'rung muß es tagen!
Mag Hoffnung auch erschrecken,
mag jauchzen Grab und Tod:
es muß ein Morgenrot
die Schlummernden einst wecken.
8- A. Rru»nnach«r.
62. Der Tod des Gerechten.
Die Himmelskraft des christlichen Glaubens und die wahre Frömmig-
keit zeigt sich nirgends herrlicher als beim Herannahen des Todes.
Dies sehen wir an dem Beispiele des gelehrten und frommen Grafen
Friedrich von Stolberg. Sein Leben war die schönste Vorbereitung zu
einem gottseligen Tode.
Da sich die Krankheitsumstände des Greisen von Tag zu Tag, un-
geachtet aller ärztlichen Hilfe, sehr verschlimmerten, äußerte der an-
wesende Arzt den Wunsch, daß der kranke Graf die Tröstungen der
heiligen Religion empfangen möchte. Der Geistliche wurde sogleich
gerufen, um es ihm zu eröffnen. Der kranke Stolberg vernahm diese
Nachricht ohne die geringste Befremdung und sagte: „Ja, sehr gerne!“
Er empfing die heiligen Sterbesakramente mit sichtbarer Rührung und
Andacht.
Alle seine Kinder standen um das Bett des innigstgeliebten Vaters.
Welche Ruhe, welche Gelassenheit, welche Freudigkeit war in seinem
Blicke, welche Zufriedenheit war über sein ganzes Wesen ausgegossen!
62. Der Tod des Gerechten.
87
„Kinder!" sagte der edle Greis mit sanfter Stimme, „Kinder! seid ge-
trost , mir ist ganz wohl! Ich habe eine schöne Zeit gelebt; siebzig
Jahre sind über meinem Haupte dahin geschwunden; was wollt ihr
mehr? Gott weiß es, wie herzlich ich euch und eure Mutter liebe;
aber doch gehe ich nun gern aus diesem irdischen Vaterlande. Gott
hat alles so liebreich gefügt; ich gehe nun gerne in die bessere Hei-
mat; aber will mich Gott noch länger hier lassen, so ist es auch gut.“
Nun fühlte er sich aufs neue gestärkt und sagte mit gelassener Stimme:
„Vor großen Schmerzen ist mir bange; aber wenn Gott sie mir schickt,
Dank ihm!“ Er schlief ruhig ein, und als er erwachte, war sein An-
gesicht verklärt, und er sprach von der Liebe zu Gott und den Menschen.
Einmal erwachte er aus einem Schlummer mit dem Spruche: Jesus
Christus ist von Gott gegeben zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur
Heiligung, zur Erlösung. Er sagte dann zu den Umstehenden: „Meine
Grabschrift soll sein: Hier liegt Friedrich Leopold Stolberg, geboren
den 7. November 1750 und gestorben...........Also hat Gott die Welt
geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn für sie dahin gab, damit
alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben
haben. — Diese Grabschrift habe ich mir schon vor dreißig Jahren
gemacht. Ich muß euch aber ersuchen, nichts hinzuzusetzen; denn
wenn von dem Ewigen die Rede ist, muß man von dem Zeitlichen
schweigen.“ Darauf wendete er sich mit folgenden Worten zur Mutter:
„Lege den Kindern recht ans Herz Demut, Wachsamkeit und Gebet für
sich, und besonders Treue in der Fürbitte für andere. Wenn Gott mir,
da ich doch ein großer Sünder bin, Barmherzigkeit erzeigt, so geschieht
es, glaube ich, weil ich — ich darf sagen — treu diese Pflicht der Liebe
zu erfüllen mich bestrebt habe.“
Um vier Uhr morgens fand ihn seine Tochter sehr schwach, seine
Hände waren kalt, er fing an zu röcheln. Nachdem er sich wieder
etwas erholt hatte, sagte er: „Ich glaube, Gott nimmt mich bald durch
gänzliche Kraftlosigkeit zu sich. Ich weiß zwar wohl, daß man eine
große Kraftlosigkeit aushalten kann, aber die meinige ist zu groß.
Ich wünschte sehr, daß der Heiland mich heute zu sich nehme, aber
ich kann ja noch gehorsam sein. Gott! beuge meinen zum Leiden un-
willigen Sinn!“ Er verlangte die Gebete für Sterbende. Bald darauf
klagte er über Beängstigung und sagte: „Das ist der Todeskampf.“
Seine Gattin sprach ihm die Worte Christi vor: „Ich bin die Auf-
erstehung und das Leben,“ worauf er hinzufügte, „und wer an mich von
Herzen glaubt, der stirbt nicht.“ Ein nahestehender Arzt machte die
Bemerkung, er glaube nicht, daß es einen Bösewicht geben könnte,
der bei dem Anblick des schon halb Verklärten nicht tief erschüttert
würde und sich nicht bekehrte. Gegen ein Uhr verlangte er alle die
Seinigen noch einmal zu sehen. Es war ein rührender Anblick, wie
alle seine Lieben gedrängt um sein Sterbebett knieten. Er blickte mit
zärtlichem Wohlgefallen umher und sprach dann mit matter aber feier-
licher Stimme: „Ich bin hier vor dem Angesichte des allgegenwärtigen
88
63. Jenseits!
Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes und flehe zu
ihm, den ich immer angebetet habe, er möge uns alle durch Glaube,
Hoffnung und Liebe umschlingen, daß keines fehle, und wir alle einst
vereint werden am Throne des Allerhöchsten. Ich muß mich kurz
fassen. Alle meine Kinder und Hausgenossen und alle meine Freunde
und Bekannte bitte ich um Verzeihung wegen meiner häufigen Lieb-
losigkeit und bitte Gott, er möge den Schaden von ihren Seelen weg-
nehmen und die Folgen davon nicht auf sie, sondern auf mich legen.
Ich bitte alle meine Kinder, für mich und für uns alle zu beten. Der
Geist des Herrn möge mich und uns alle mit seiner Liebe erfüllen, da-
mit wir alle eins seien, wie der Vater in dem Sohne. Sollte eines
meiner teuren Kinder oder eines meiner lieben Verwandten etwa
glauben, daß irgend Jemand sich an mir versündigt oder mich beleidigt
habe, so beschwöre ich ihn, es nicht zu rügen, sondern nur für die
Person im stillen zu beten, von der er es glauben möchte. Meinen
teuren, innigst geliebten Kindern wollte ich nur noch eines an das Herz
legen: Wir sind Menschen, wir alle sündigen, aber haltet nur immer
dem Heilande euer Herz offen, schämet euch seiner nie, denn auf wen,
ach! auf wen könnten wir unsere Hoffnung setzen, wenn uns des Todes
kalte Hand auf dem Sterbebette ergreift?“ Nach einiger Zeit rief er
mit Inbrunst aus: „Herr Jesu! du Sohn Davids! du Heiland der Sünder,
erbarme dich meiner!“ Nun überfiel ihn ein Frost. Er rief den Arzt
und fragte: „Wird es wohl morgen oder übermorgen mit mir enden?“
Auf dieses erwiderte der Arzt: „Bei Ihrem lebendigen Glauben und
Verlangen nach Gott darf ich es Ihnen wohl sagen: es wird nicht
Mitternacht für Sie!“ „Gottlob!“ sagte er, die beiden Hände des Arztes
ergreifend und sie mit Kraft drückend, „ich danke Ihnen, recht herzlich
danke ich Ihnen! Gelobt sei Jesus!“ Mit diesen Worten sank sein
Haupt auf die Seite, und nach einigen leichten Atemzügen war er hin-
über gegangen in das bessere Vaterland.
So stirbt der wahre Christ! Möchten wir doch alle ein solches
seliges Ende haben, und mit solcher Freude und Kühe von der Erde
scheiden! Münst. Lesebuch.
63. * Jenseits!
1. Die in Thränen hier sich sehnen,
finden stch im Vaterland;
rvas hienieden hang geschieden,
geht dort selig Hand in Hand.
2. Ob in Leiden, ob kn Freuden
hier dein Herz auch hat gelebt,
ist dann eines; dort ist Keines,
das in Schmerz und Lämmer bebt.
3. Was wir lieben, folgt uns drüben
zu der Enget sel'gem Chor.
Sei nur stille: bricht die Hülle,
schwebt der Schmetterling empor.
4. And es Kommen alle Frommen,
die ihm hier geeilt voraus,
ihm mit Segen froh entgegen,
führen ihn ins Vaterhaus.
5. Hin zum Throne, wo die Grone
es für treuen Gampf erhält,
und es neigen sich die Reigen
vor dem ueugekrönten Held.
L. Hcnsrl.
64. Treue. — 1. Das Aufblühen der Schöpfung.
89
Wenn alle untreu werden,
so bleib' ich dir doch treu,
daß Dankbarkeit auf Erden
nicht ausgestorben fei.
Für mich umfing dich Leiden,
vergingst für mich in Schmerz;
drum geb' ich dir mit Freuden
auf ewig dieses Her;.
Oft muß ich bitter weinen,
daß du gestorben bist,
und mancher von den Deinen
dich lebenslang vergißt.
Von Liebe nur durchdrungen,
hast du so viel gethan,
und doch bist Lu verklungen,
und keiner denkt daran.
* Treue.
Du stehst voll treuer Liebe
noch immer jedem bei;
und wenn dir keiner bliebe,
so bleibst du dennoch treu.
Die treuste Liebe sieget,
am Ende fühlt man ste,
weint bitterlich und schmieget
sich kindlich an dein Knie.
Lch habe dich empfunden,
o, lasse nicht von mir!
Laß innig mich verbunden
auf ewig sein mit dir!
Einst schauen meine Drüder
auch wieder himmelwärts
und sinken liebend nieder
und fallen dir ans Her;.
Novalis.
B. Aus dem Haushalt der Natur.
1. Das Aufblühen der Schöpfung.
Sehet die Lilien des Feldes, wie sie wachsen!
Salomo in seiner Herrlichkeit war nicht so prächtig
gekleidet, wie eine derselben. Die Blütenwelt, die
Geisterschar jauchzt wonnetrunken aus zu Gott:
Geheiliget werde dein Name!
Der Allmächtige gebietet! Die Eisfelder der Gletscher schmelzen;
die Wasserfälle brausen. Kämpfend und schäumend ringt der Sturz-
bach, der mutige Sohn der Firnen, durch die wilden Klippen. Es ist
die ewige Liebe, die ihn sendet; es ist die Weisheit des Vaters der
Natur, die ihn leitet.
Über ein kleines zieht der Stürmer klar und mild, wie ein lieb-
licher Silberfaden, segenspendend durch kräuterreiche Thäler. Die Bäch-
90
1. Das Aufblühen der Schöpfung.
lein werden zu Flüssen, zu Strömen die Flüsse. Mit Strömen seiner
Erbarmung tränket der Allgütige die Gefilde der Erde.
Höher und höher steigt die Sonne. Der Frühling bricht an; die
Toten stehen auf! Millionen schlummernde Lebenskeime zersprengen
ihre Särge. Alles lebet, webet, preiset in den Lüften und Klüften,
vom Insekt bis zum Wurm, vom keimenden Saatkorn im Staube bis
zur Sonne am Himmel, den Herrn der Welten. Es jubelt in den
Höhen wie in den Tiefen. Die Alpen mit ihren Herden, die Haine
mit ihren Sängern, das Wild der Wälder, die Forelle im Bach —
Alles, Alles preiset den Vater des Lichts. Ihm säuseln die Kräuter
des Thales und die Eiche des Gebirges; ihm rieselt die perlende
Quelle; ihm grünet das zarte Moos am Felsen; ihm duften Millionen
Blüten. Jedes Tröpflein Tau spiegelt den Abglanz seiner Freund-
lichkeit.
Im milden Frühlingsduft haucht dich der Odem seiner Liebe an.
Das unermeßliche Vaterhaus mit Millionen Zungen rühmet seine Herr-
lichkeit. Wer wollte nicht einstimmen in das Halleluja der Schöpfung
zu seinem Preise!
Die zarten Kinder des Lenzes: das Maiblümchen im kühlen
Schatten des Haines — ein Bild der Reinheit und Unschuld — mit
seinen duftenden Blütenglöckchen und das sinnige Vergißmeinnicht, ein
Zeichen der Liebe, das Bächlein bekränzend, aus welchem es Leben
trinkt, wie ein Stern in der klaren Welle sich spiegelnd — diese und
mit ihnen Millionen Blüten, erzählen sie nicht von der Liebe dessen,
der den Himmel mit Sternen, die Erde mit Blumen und das Me.:schen-
herz mit Liebe schmückt?
Ist die kleine Erde, dieses winzige Plätzlein am Schemel der Füße
Gottes, schon so prächtig gezieret: Wie groß und herrlich muß das
Herz der Schöpfung sein, von dem alles Leben seinen Ursprung hat!
Dich predigt Sonnenschein und Sturm,
dich preist der Sand am Meere;
„bringt" — ruft auch der geringste Wurm —
„bringt meinem Schöpfer Ehre!"
„Mich" — ruft der Baum in seiner Pracht —
„mich" — ruft die Saat — „hat Gott gemacht:
„Bringt meinem Schöpfer Ehre!"
Nach Bohners Rosmos.
2. Der Bote im Zunius. 3. Der Wandertrieb.
91
2. Der Bote im Junius.
Aber die Lenzgestalt der Natur ist doch wunderschön! Wenn der
Dornstrauch blüht und die Erde mit Gras und Blumen pranget! So
ein Heller Dezembertag ist auch wohl schön und dankenswert, wenn
Berg und Thal in Schnee gekleidet sind und uns Boten in der Morgen-
stunde der Bart reift; aber die Lenzgestalt der Natur ist doch wunder-
schön! Und der Wald hat Blätter, und der Vogel singt, und die
Saat schießt Ähren, und dort hängt die Wolke mit dem Bogen vom
Himmel, und der fruchtbare Regen rauscht herab!
Wach' auf, mein Herz, und singe
dem Schöpfer aller Dinge —
es ist, als ob Er vorüberwandle, und die Natur habe Sein Kommen
von ferne gefühlt und stehe bescheiden am Wege in ihrem Feierkleide
und frohlocke! m. claudms.
3. Der Wandertrieb.
„Der Storch unter dem Himmel weiß seine
bestimmte Zeit; die Turteltaube, die Schwalbe
und der Kranich haben acht auf die Zeit
ihrer Ankunft, aber mein Volk will das Recht
des Herrn nicht erkennen!11
Wenn das Blau des Himmels sich tiefer färbt und das Abend-
rot seine Glut ausgießt über die herbstlichen Gefilde, so scharen
die Störche und Schwalben sich zusammen auf den Dächern der
ländlichen Hütten und die Kraniche halten Rat auf einer ab-
gelegenen Wiese über die bevorstehende Wanderung. Dann, wenn
alle Genossen der Umgegend vereint sind, so erhebt sich wie auf
Marschbefehl plötzlich die Schar in lautem Jubel und rufet „Lebe-
wohl“ auf lange Zeit.
Bald verschwindet der Zug am südlichen Horizont. Die
Kraniche steigen in einer Spirallinie empor über die Wolken, zu
einer Höhe, wo sie dem Auge verschwinden. Eine weite Reise
gilt’s bei Sturm und Ungewitter über Gebirge und Meere nach einer
mildern Himmelsgegend, wo ihr Tisch zur Speisung der Alten und
der Jungen gedeckt ist.
Unsere Störche wandern teils nach Afrika, nach dem Sudan
und Ägypten, teils nach Indien. Die Schwalben und andere
Zugvögel warten bei ihrer Ankunft am Ufer des Mittelmeeres
auf den günstigen Wind, segeln dann in großer Geschwindigkeit
über die Flut und kommen nach wenigen Tagen am Senegal
an, wo sie während unseres Winters reichliche Nahrung finden.
92
3. Der Wandertrieb.
Die Wachtel kann wegen ihres schwerfälligen Fluges nur mit
Hilfe des Windes lange Strecken durchziehen. Die europäischen
Wachteln kommen auf ihrer Wanderung stets mit dem Nordost-
wind nach Malta.
Was treibt die Zugvögel zur Wanderung? — Nicht die Kälte,
nicht der Nahrungsmangel; denn viele ziehen schon in der Mitte
des Sommers von uns fort, wo sie weder frieren noch Mangel
leiden. Wer weiset den Vögeln den Weg und das Land, wo sie
während unseres Winters ihre Nahrung finden? — Wer sagt ihnen
die Zeit, wann sie aufbrechen sollen? —
Wenn der wandernde Vogel über das Meer zieht nach einem
Lande, welches er noch nie gesehen hat, mit der Ahnung, dort
seinen Unterhalt zu finden, so muß über dem Vogel und dem
Lande seiner Sehnsucht eine höhere Weisheit walten, welche beide,
das Land und den Vogel, für einander geschaffen hat, so daß sie
als Glieder der Naturhaushaltung einander bedürfen.
Unsere Mauerschwalbe begiebt sich schon Anfang August auf
ihre Wanderung; der Kuckuck langt schon in der Mitte des
August in Afrika an; die Rauch- und Hausschwalbe erst in der
zweiten Hälfte des September.
Auch die Vorbereitung zur Reise zeigt uns eine höhere,
liebende Fürsorge für die Geschöpfe. Das Blaukehlchen z. B.
bekommt schon mit Ende Juli sein vollständiges Winterkleid. Sein
ganzes Gefieder wird erneuert. Es hat die neuen Schwung- und
Schwanzfedern zu seiner weiten Reise sehr nötig. Kurze Zeit vor
seiner Abreise bekommt es eine außerordentliche Eßlust und
wird so wohlbeleibt, wie sonst nicht im ganzen Jahre. Zur be-
stimmten Zeit wird es unruhig und bekommt, selbst wenn es in
einen Käfig eingesperrt ist, die Reiselust.
Die guten Flieger wandern bei Tage; die Vögel dagegen,
welche einen schwerfälligen Flug haben, wandern des Nachts und
finden gleichwohl den rechten Weg, ohne Mondschein und ohne
Laterne, ohne Kompaß und Reisekarte. Die meisten Zugvögel
haben ihre Haltestellen, wo sie sich niederlassen, um Nahrung
und Kraft zu sammeln zur Fortsetzung der Reise. Manche Arten
wandern in ungeordneten, freibeweglichen Scharen, wie z. B. die
Finken, Ammern, Schwalben, Lerchen; andere beobachten eine
bestimmte Ordnung und folgen einem Anführer. Die wilden
Gänse z. B. und die Kraniche ziehen in einer spitzwinkligen
Keilform, in regelmäßigen Abständen der einzelnen Glieder der
Reisegesellschaft. Die Ibisse wandern in einer sanftgebogenen
Schlangenlinie, die oft vom Scheitelpunkte des Schauers bis zum
fernen Horizonte sich hinzieht.
Die meisten Vögel wandern, unabhängig von der Himmels-
gegend, ihrer Nahrung nach. Der Grünspecht Amerikas z. B.
weiß genau, wann die Kirschen in Frankreich reif werden,
4. Blumen und Insekten.
93
und. wandert von West nach Ost zur französischen Obsternte.
Die prächtigen Honigvögel, welche in Afrika die Stelle der Kolibri
vertreten, wandern, sobald die Honigblüten sich entfalten, bald
auf die Hochebenen, bald auf die Niederungen zurück.
Manche Vögel vereinen sich auf ihrer Wanderung in großen
Scharen. Ein Naturforscher berechnete die Ausdehnung eines
Zuges von Wandertauben, den er in Amerika beobachtete, auf
140 englische Meilen und schätzte ihre Zahl auf mehr als
1200 Millionen. Wo sie sich niederließen, brachen die Äste von
den Bäumen. Millionen Scheffel von Buchnüssen waren zu ihrer
täglichen Nahrung erforderlich. Es ist begreiflich, daß solche
Scharen auf ihren Stationsinseln seit Jahrtausenden mächtige Lager
von Vogeldünger (Guano) ablegen mußten.
Sobald die Sonne wieder einen großem Bogen über unserm
Horizonte beschreibt, und der neue Frühling frisches Leben auf
unsern Gefilden erweckt, so senden die Segler der Lüfte ihre Kund-
schafter voraus, um die alten Brutplätze zu besichtigen. Diese
Vorboten bleiben gewöhnlich nur wenige Tage und ziehen dann
wieder halbwegs zurück, um den nachrückenden Brüdern Bericht
zu erstatten. Lauten die Nachrichten günstig, so schwärmt wie
zu einem Freudenfeste Tag für Tag eine Schar der beflügelten
Wanderer nach der andern aus Afrika über das Mittelmeer
durch Italien über die Alpen ihrer nördlichen Heimat zu. Jedes
Pärchen findet seinen früheren Nestplatz wieder.
Nach Böhners Rosmos.
4. Blumen und Insekten.
Warum prangen so viele Blumen in so schönen Farben? —
Warum sondern andere Honigsaft ab? — Warum duften manche mit
so lieblichen Gerüchen?
An tausenden von Beispielen ist beobachtet worden, daß es vor
allem die Insekten sind, welche die Aufgabe haben, den Blütenstaub
aus einer Blume auf die Narbe einer anderen zu tragen. Die meisten
unserer Pflanzen sind sogenannte insektenblütige (im Gegensatz zu
den windblütigen). Gewiß ist es merkwürdig, daß diese Tierchen
die Blumen besuchen und hier Dienste verrichten müssen, von denen
sie doch keine Ahnung haben können. Die Blüteneinrichtungen der
insektenblütigen Pflanzen sind eben derart, daß Insekten, wenn sie
solche Blumen besuchen, die Staubbeutel berühren; dabei haftet der
klebrige Blütenstaub an Teilen ihres Körpers (z. B. den Haaren); ge-
langen sie zu einer andern Blüte derselben Pflanzenart, so berühren
sie die Narbe und geben dabei ein wenig von ihrem mitgebrachten
Blütenstaube an sie ab, befruchten also die Blüte.
Nun drängt sich aber jedem wohl unwillkürlich die Frage auf:
Welche Veranlassung haben denn eigentlich die Insekten, die Blüte
einer Pflanze regelmäßig und oft zu besuchen? Nun, die Pflanzen
94
4. Blumen und Insekten.
sind es selbst, welche diese Tiere anlocken und zwar durch ihre
Farbe, ihren Geruch und durch Nahrungsmittel, die sie gewissen
Insekten bieten.
Man kann es im Frühjahr und Sommer täglich beobachten, wie
manche von ihnen, z. B. Schwebfliegen, vor besonders hell und schön
gefärbten Blumen schwebend längere Zeit verweilen, als wollten sie
die Farbenpracht derselben bewundern. Oder ist der Zweck ihres
Verweilens vor der Blume ein anderer? —
Hell leuchtende Blumen sind auf weite Entfernung sichtbar. Sie
locken daher viele Insekten an sich; aber jede Art derselben Pflegt nur
von Genossen derselben Jnsektenart besucht zu werden. Auch hat man
beobachtet, daß dasselbe Insekt nur immer zu derselben Blumenart
fliegt. Das ist so sicher, daß einzelne Bienen z. B. an einem Tage
regelmäßig gelben, an einem andern nur roten oder dunkel gefärbten
Blumenstaub heimtragen; sie tummeln sich bei einem Ausfluge nur in
einer Blumenart.
Für die Thatsache, daß die Farben der Blumen die Insekten an-
locken und diese dabei die Befruchtung vollziehen, hat man so viele
Beweise, daß man geradezu sagen kann: Alle schön gefärbten großen
Blumen werden von Insekten bestäubt.
Des Nachts fliegen andere Insekten als am Tage. Für diese
Nachtschwärmer würde aber ein farbiges Aulockungsmittel wenig oder
gar keinen Reiz haben. Zudem blühen auch viele Pflanzen erst gegen
Abend auf und schließen sich vor Tagesanbruch wieder. Ihnen ist ein
wirksames Anlockungsmittel gegeben in ihrem Duft, der nicht immer
ein Wohlgeruch sein muß. Auch viele am Tage blühende, farbige
Blumen duften; sie besitzen also der Genüsse zweierlei, und Gäste der
mannigfachsten Art werden sich einfinden bei Tag und Nacht.
Regel ist, daß unscheinbar gefärbte, während der Nachtzeit stark
duftende Blüten von Nachtinsekten besucht werden.
Indes muß angenommen werden, daß die Insekten weniger des
Duftes und der herrlichen Farben wegen, als vielmehr, um irgend
welche Nahrungsstoffe aus den Blumen zu gewinnen, diese be-
suchen. Es werden darum die Pflanzen am eifrigsten aufgesucht, die
den reichsten Gewinn darbieten. Man hat da ganz interessante
Beobachtungen in großer Menge gemacht, die es beweisen, wie die
Blumen bevorzugt und geradezu ausgewählt werden, die den reichsten
Honiggenuß versprechen. Doch ist es nicht nur der Honig, den die
Insekten als Nahrungsmittel aufsuchen, sondern auch der Blütenstaub,
den z. B. die Bienen als Futter für die jungen Bienenlarven brauchen.
Der Blumenhonig (oder Nektar) besteht im wesentlichen aus Zucker und
Wasser. Er findet sich in den Blüten im Honigbehälter (Nektarium),
der an den verschiedensten Stellen und Teilen der Blume sich befinden
kann, z. B. bei der Kaiserkrone in den sechs weißen Vertiefungen am
Grunde der Blütenblätter, beim Veilchen in zwei Anhängseln zweier Staub-
gefäße, die in den Blütensporn hineinragen, bei andern am Griffel u. s. f.
5. Der Wind und die Blüten.
95
Damit nun unsere kleinen Näscher den Weg zu dem Honigseim
in jeder Blume recht schnell finden, sind ihnen die Wege genau vor-
gezeichnet, welche regelmäßig zum Honig führen, nämlich die farbigen
Linien auf den Blumenblättern. Saftmale hat man diese Linien
und Punkte genannt. Das Tierchen kann gar nicht fehlgehen. Aber
auf seinem Wege muß es dabei regelmäßig die Staubbeutel oder die
Narbe berühren und somit höheren Zwecken dienen. Ja, daß es nicht
rechts oder links von seinem Wege abweiche, stehen oftmals in den
Blüten Haarbüschel, Bärte, die es gleich Dornhecken nicht seitwärts lassen.
Alle honigabsondernden Blumen werden von Insekten befruchtet.
Blumen ohne Saftmal — aber mit Honig — blühen zur Nachtzeit
auf und werden von nächtlich fliegenden Insekten besucht.
Der Blütenstaub aller dieser Blumen ist klebrig und haftet darum
leicht am Insekt, bis dasselbe ihn in einer anderen Blüte abgiebt.
Es giebt der Einrichtungen, die alle darauf hinauslaufen, daß die
Jnsektenbestäubung recht sicher ermöglicht wird, noch mannigfach andere.
Sehr wichtig ist die Anordnung, daß Staubgefäße und Narbe in der-
selben Blüte sich meist nacheinander entwickeln; auch die Narbe ist oft
wunderbar zweckmäßig gebaut. rr. wawer.
5. Der Wind und die Blüten.
Wie wir in dem vorhergehenden Abschnitte gesehen haben, sind
es vorzugsweise Insekten, welche die Übertragung des Blütenstaubes aus
einer Blüte auf die andere vermitteln. Nun wollen wir die Blüten
betrachten, bei denen der Wind diesen Dienst übernommen hat, die wind-
blütigen Pflanzen oder Windblütler. Bei ihnen trägt die geringste
Bewegung der Luft schon die ungemein kleinen Blütenstaubkörnchen
weite Strecken fort und bringt sie zu den Blüten eines andern Stockes
derselben Pflanze.
Damit dies mit ziemlicher Sicherheit eintrete, hat der Schöpfer
diese Blumenkinder ganz eigenartig ausgestattet.
Die meisten dieser windblütigen Pflanzen blühen nämlich im Früh-
jahre, zu einer Zeit, wo starke Winde wehen. So z. B. all' unsre
Kätzchenträger (Hasel, Birke, Pappel, Erle, Rüster, Eiche u. a.). Bei
vielen entwickeln sich die Blüten vor den Blättern, damit der Wind
die Bäume recht durchstreichen und den Blütenstaub fortwehen kann. —
Dazu kommt, daß bei allen Windblütlern die Menge des Blütenstaubes
eine ungemein große ist. Es muß ja viel von ihm auf seinem Wege
verloren gehen; aber schon ein einziges Stäubchen reicht aus, um die
Befruchtung zu vollziehen. Wir können getrost sagen, daß die Menge
des erzeugten Blütenstaubes weit mehr als das Tausendfache des er-
forderlichen beträgt. — Damit diese Stäubchen recht leicht fortgeweht
werden, sind sie äußerst klein, trocken und glatt, ja manche, z. B. die
gelben Körnchen der Kieferblüte sind sogar mit hohlen, zarten Luft-
säckchen versehen, damit sie recht lange in der Luft zu schweben ver-
96
5. Der Wind und die Blüten.
mögen. — Viele Windblütler sind hohe Bäume und darum schon dem
Luftzuge mehr ausgesetzt, als niedrige Pflänzchen. Aber abgesehen
davon, ist die Stellung der Blüten derartig, daß sie vom Winde leicht
geschüttelt werden können. Entweder ist der ganze Blütenstand sehr
leicht beweglich, wie die beim geringsten Luftzüge hin- und her-
schwankenden Kätzchen, die Rispen mancher Gräser u. a., oder die
einzelne Blüte bewegt sich leicht, oder endlich das einzelne Staubgefäß
hängt an langem, dünnem Faden aus der Blüte heraus, z. B. bei
unsern Getreidearten. Da genügt der leiseste Windstoß, um den Blüten-
staub auszuschütteln und ganze Wolken davon aufsteigen zu lassen.
Wer hätte an schönem Frühjahrsmorgen nicht schon diese aufsteigenden,
wallenden Wolken über einem Roggen- oder Weizenfelde beobachtet:
„Aus tausend Blumen wallet der Opferduft empor!"
Um den ankommenden Blütenstaub leicht auffangen zu können,
sind die Narben dieser Pflanzen mit Fanghaaren versehen, z. B. beim
Weizen, oder es stehen viele Narben dicht nebeneinander, um so eine
größere Auffangefläche zu bilden, z. B. bei dem Rohrkolben. — Dazu
steht die Narbe über die Blüte lang heraus, z. B. bei den meisten
Gräsern.
Damit die Selbstbestäubung der Blüten verhindert werde, sind
wiederum ganz besondere Einrichtungen getroffen. So vor allen Dingen
die, daß sehr viele Pflanzen überhaupt nur solche Blüten tragen, die
entweder bloß Staubgefäße oder bloß Stempel enthalten, z. B. der
Hopfen, die Weiden, die Pappeln, Nesseln, Hanf u. a. — Bei andern
entwickeln sich Narben und Staubgefäße nicht zu gleicher Zeit, sondern
eins früher als das andere. Es ist auf diese Weise geradezu unmög-
lich, daß der Blutenstaub die Narbe derselben Blüte befruchten könne.
Noch andere Pflanzen, z. B. die Brennesseln, sind außerdem noch
mit ganz eigenartigen Einrichtungen der Blüten versehen. Die Staub-
gefäßblüten derselben tragen die Staubbeutel an gekrümmten Staub-
fäden, die etwa mit einem elastischen, gebogenen Stahlstreifchen ver-
glichen werden können. Diese elastische Feder wird so lange gekrümmt
gehalten, bis die Hüllblättchen auseinander gehen, dann schnellt der
Faden in die Höhe und schleudert den Blütenstaub wie ein kleines
Staubwölkchen eine beträchtliche Strecke fort; der Wind nimmt den
Blütenstaub auf seine Flügel und trägt ihn zu einer harrenden Brenn-
nesselnarbe auf einem benachbarten Stocke.
So giebt es der Einrichtungen so verschiedene und wunderbare,
aber immer sind sie derart, daß sie ihren Zweck erfüllen mit den
wenigsten und einfachsten Mitteln. So sind z. B. die windblütigen
Pflanzen durchweg nicht mit prächtig gefärbten Blüten, auch nicht mit
Honig oder Wohlgeruch begabt. Einfach grün oder braun sind die
Hüllen gefärbt und dabei so klein, daß sie nur gerade den edlen
Blütenteilen den erforderlichen Schutz gewähren. Wären sie größer,
so würden sie ja den Wind abhalten, seine Pflicht im Dienste der
Pflanzenwelt voll und ganz erfüllen zu können. u?acv,r.
6. Die Fülle des Sommers. 7. Tie Eintagsfliege am Johannistage.
97
6. Die Fülle des Sommers.
Kaum, daß man ein Blatt findet, das nicht zahlreich bewohnt wäre!
Kaum, daß wir einen Schritt thun können, ohne Lebendiges vor unsern
Füßen wahrzunehmen. Wolken von kleinem Geflügel spielen im Sonnen-
schein. Es wühlt unter deinem Sitze; es zirpt dir zur Seite; es schwebt
über deinem Haupte; es singt hinter dir; es flattert vor dir; überall ist
des Lebendigen Fülle zu dieser Sommerzeit. Es sind Wesen, die mit sein
wollen ans dieser Erde nach ihres Schöpfers Willen ; denen er angewiesen
hat ihren Ort; denen er gegeben hat zu dem Bedürfnisse die Werkzeuge,
es zu befriedigen; denen mehrere oder wenigere Sinne aufgethan sind,
weiter zu dringen als zu dem, was sie berühren; die den Schmerz uiib
die Freude kennen und die Freude suchen, wie du, o Mensch, und dir
verwandt sind. Wolltest du verachten eines derselben, es nicht eines Augen-
blicks, nicht eines Gedankens würdigen? Du kannst hundert töten mit
einem Fußtritt; aber auch ein einziges bilden? Nein, mußt du bekennen,
dazu gehört eine Gotteshand, Gottes Allmachtshand! Wie stark auch dein
Arm, wie behende deine Finger und Werkzeuge, wie kunstreich dein Verstand
ist, so kannst du kein einziges schaffen, von welchen Gott so viele tausend
mal tausend geschaffen hat, dermaßen, daß du nicht zählen kannst, wie weit
du mit deinen Augen nur reichst, wie viel auf einem einzigen Baum nur
lebt; denn es ist allenthalben von allerlei Art, woget und treibt, wimmelt
und summt in lauter Fülle, Lebenssülle, zur Sommerzeit. Rlaua Harms.
7. *Dic Eintagsfliege am Johannistage.
Mit dem ersten Strahl der Sonne
bist du weislich aufgestanden,
daß von deines Tages Wonne
dir kein Teilchen komm' abhanden,
flüchtigste vom Stamm der Fliegen,
leichtbeschwingtes Eintagskind,
aus des Morgens Duft gestiegen
und verweht vom Abendwind.
Weil bestimmt zu deinem Leben
vom Geschick ein Tag dir war,
hat es milde dir gegeben
diesen längsten Tag im Jahr.
Sei der Tag dir still und helle,
weil du keinen zweiten hast,
unversiegt des Taues Quelle,
Wind und Sonne nicht zur Last!
Keine Schwalb' im Flug dich hasche,
stelle dir kein Netz die Spinne!
Geh', im Duft der Blüten nasche,
und am Abend drin zerrinne. Rückerr. Gemeine Eintagsfliege. n. o.
Deutsches Lesebuch für kath. Lcbuten IV. Für Oberklafsen. 7
98 ' 8. Die Ameise. 9. Schädliche Forstschmctterlinge.
8. Die Ameise. '
Die Ameisen halben statt des Stachels ein Bläschen mit Ameisen-
säure. Sie leben in Gesellschaften oder Kolonien, welche aus Männ-
chen, Weibchen und Arbeitern bestehen. Die Männchen haben
immer, die Weibchen nur zur Paarungszeit Flügel, die Arbeiter sind
ungeflügelt. Die Ameisen sammeln keine Vorräte; die Weibchen
und Arbeiter halten einen Winterschlaf. Ihre Nahrung besteht beson-
ders in süßen, saftigen Früchten, frischem und faulendem Fleisch. Ihre
Nester bauen sie, unermüdlich Tag und Nacht thätig, in hohle Bäume,
der Ross-Ameise, i/j n. Gr.
in die Erde, unter Steine, legen unterirdische Gänge an, werfen auch
den Abraum oben auf und tragen noch Blätter, Halme u. s. w. darüber
zu einem Haufen zusammen, in welchem sie Galerieen anbringen. Sie
sind trotzig, kühn und bissig, aber einander, als Angehörige eines
Staats, so zugethan, daß sie Feinde gemeinschaftlich angreifen und ein-
ander zum gegenseitigen Beistände herbeiholen. Wenn die Männchen
und Weibchen in großen Scharen zum Schwärmen ausgeflogen sind,
verschließen die Arbeiter die Zugänge zum Bau; die Männchen kommen
bald ermattet um, und die zu Boden gefallenen Weibchen beißen oder
reißen sich die Flügel ab und verbergen sich an einem geeigneten
Orte, wo sie ihre Eier zur Begründung einer neuen Kolonie ablegen.
In der alten Kolonie sind jedoch von den Arbeitern eine Anzahl
Männchen und Weibchen zurückgehalten worden, aus deren Nach-
kommenschaft der alte Staat fortgesetzt wird. Findet in einem solchen
Übervölkerung statt, so wandern die jungen Arbeiter unter Anführung
einiger Weibchen aus und siedeln sich in nicht zu weiter Entfernung
an, indem sie sofort mit dem Bau eines Nestes beginnen. Im Sommer
pflegen die Arbeiter die Puppen und füttern nicht bloß die Larven,
sondern auch die Männchen und die bedeutend größeren Weibchen
(denn beide arbeiten nicht), und zwar am liebsten mit dem Safte der
Blattläuse, welche sie fast wie „Milchkühe“ behandeln. Schilling.
9. Schädliche Forstschmctterlinge.
Es ist für den Forstmann ein trauriger Anblick, wenn die Raupen so
massenhaft in seinem Walde Hausen. Die prächtigen Stämme, die seit 80
oder 100 Jahren freudig grünten, welche seine Borfahren und er selbst mit
vieler Mühe gepflegt, stehen in wenig Wochen kahl und verstümmelt. Da
bleibt nichts übrig, als sie umzuschlagen, das Reisig zu verbrennen und die Äste
d. Schädliche Forstschmetterlinge.
99
zu verkohlen. Nur die Holzhändler machen ein heiteres Gesicht dabei; denn das
Holz sinkt bedeutend im Preise. Zu den Waldverderbern gehört der Kiese rn-
spinner.
Kieftrnspinner. x/i n. G.
So flink die Raupe, so träge ist der Falter. Fast den ganze,.
er am untern Teile des Stammes an der Seite, welche vor Wind und Regen
geschützt ist. Am Morgen, wenn der Tau noch an seinem Haarkleids hängt, läßt
er sich ruhig mit den Händen abnehmen.
Beim Vertilgen der Spinner Helsen dem Forstmann mancherlei Tiere
mit: die Schlupfwespen und einige Fliegen, deren Maden die Raupen ver-
zehren. Raubkäser, Baumwanzen, Tausendfüße und Ameisen thun auch das ihre
bei der Raupenjagd. Kuckuck, Häher, Nachtschwalben und Pirol verspeisen die
Spinnerraupen trotz ihrer
Haare; Eulen und Fleder-
mäuse, Meisen und Krähen
schmausen die Falter und
Puppen. Igel und Eidechsen
fressen wenigstens diejenigen
Raupen, welche zur Erde
fallen.
Außer dem Spinner hat
der Kiefernwald noch andere
Schmetterlinge als Feinde
zu fürchten. Die schlimmsten
derselben sind die Nonne
und die Forleule. Die
Nonne ist wie der Spinner
ein Nachtschmetterling, sieht
weiß und schwarzfleckig aus,
am Leibe etwas rosenrot und verbirgt ihre Eier zwischen der Rinde der
Stämme. Die Raupe der Nonne verwüstet ebenso viel Futter, als sie verzehrt;
denn sie hat die Unart, die Blätter unten durchzubeißen und nur einen
I
100
10. Schlaf und Wachen.
Teil zu verspeisen. Dabei beschränkt sie sich aber nicht, wie der Spinner,
nur auf die Kiefernadeln, sondern greift außer den übrigen Nadelhölzern
auch die Laubbäume an. Ja,
in der Hungersnot verzehrt
sie das Heidelbeergestrüpp
unten am Boden. — Die
Forleule, ebenfalls ein
Nachtfalter, ist im Verhält-
nis zu den andern beiden
nur klein. Der Schmetter-
ling ist etwa 1 Centimeter
lang und die Raupe 2—3
Centimeter. Die Unterflü-
gel des Falters sind dunkel-
braun, die Oberflügel grau.
Nachtschwalbt. i/4 n. g. braun und gelblich gefleckt.
Desto größer ist aber die Menge, in der er mitunter die Waldungen heimsucht,
und es sind Fälle bekannt, daß die Forstleute ihren Arbeitern die eingesammel-
ten grün-, weiß- und gelbstreifigen Raupen nicht
nach Quart, sondern scheffelweise bezahlten.
Dieses verderbliche Kleeblatt von Nacht-
faltern betrachtet die Nadeln der Kiefer als aus-
schließliches Eigentum und wirtschaftet in man-
Forleule. I/i n. g. chem Jahre in den Waldungen unserer Heimat
so übel, wie die verrufenen Heuschrecken in wärmeren Ländern.
Wagner.
10. Schlaf nnd Wachen.
Äer Mensch bedarf zur Bewegung der Wärme, so wie zur Wahrnehmung
des Lichts. Werden ihm am Abende Licht und Wärme entzogen, dann stellt
sich der Schlaf ein, das Erwachen kehrt zurück mit dem Tageslichte.
Die meisten Tiere der höheren Klaffen, mit Ausnahme fast aller Raub-
tiere. schlafen so lange, als es Nacht ist, mithin die Hälfte der Zeit. Bei den
niedern Tierklassen gehört der Schlaf wenigstens nicht zu den täglich nötigen
Bedürfniffen des Lebens. Raupen freffen rastlos Tag und Nacht, fallen aber
in der Zeit des Häutens in eine Art von Schlafzustand und sind auch während
der Verpuppung fast unbeweglich, während der Schmetterling einen Teil des
Tages in Bewegung, den andern in Ruhe verbringt.
Was im kleinen der Tages- oder Nachtschlaf, das ist im großen der
Winter- oder Sommerschlaf. In einen Schlafzustand, der an Scheintod
grenzt, versetzt die Winterkälte viele Insekten, am häufigsten solche, die in
einem Entwickelungs- oder Keimzustande begriffen sind, z. B. Puppen. Ein
Schlaf, durch Kälte herbeigeführt und erst mit dieser endigend, findet sich in
vorzüglicher Allgemeinheit bei der Klaffe der Amphibien. Unter den Säuge-
f .
1]. Kranlhcitcn unserer Fcldfrüchte.
101
tieren halten vorzüglich Fledermäuse, Bären, Dachse. Igel, so wie einige Arten
der Nagetiere, einen Winterschlaf. Während dieses tiefen Schlafes, welchen
die Tiere meistens in verdeckten Schlupfwinkeln und Bauen zubringen, wird
zwar das Atmen langsamer und minder tief als gewöhnlich, der Pulsschlag
seltener und leiser; aber beide hören nie ganz auf, obgleich die natürliche Wärme
des Leibes bis auf wenige Grade über den Gefrierpunkt herabsinkt.
Die eigentliche, gesunde Zeit des Schlafes beträgt bei Menschen von
mittlerem Alter zwei Siebenteile oder ein Drittel der ganzen Tageszeit, wo-
von zwei Siebenteile oder Stunden dem Vormitternachtsschlafe, fünf etwa
dem Morgenschlafe angehören. Jener scheint ganz dazu bestimmt zu sein,
das Gehirn und die Sinne, dieser das Fleisch für das neue Tagesgeschäft zu
kräftigen. Wir fühlen uns daher zu den Anstrengungen der Muskeln besser
durch den Morgenschlaf gestärkt, und der Mangel des ersteren wird von solchen,
deren Tagesgeschäft eine angestrengte Thätigkeit des Hirnes oder der Sinne
fordert, empfindlicher gefühlt als der des letzteren. Übrigens sind jene beiden
Hälften des Schlafes an keine bestimmte Zeit des Tages gebunden, und der
Morgenschlaf kann schon lange vor Morgen und im Sommer bereits gegen
Sonnenaufgang beendigt sein. Denn der Mensch, besonders der geistig be-
wegte, wird zumeist durch einen viel kürzeren Schlaf als den gewöhnlichen von
sieben Stunden zum Geschäft des Tages gestärkt, und die Lcbensgeschichte
vieler Männer, die sich durch außerordentliche Thätigkeit hervorgethan haben,
lehrt uns, daß Leib und Seele auch bei einem Schlafe, welcher viele Jahre lang
täglich nur drei oder vier Stunden währt, gesund und kräftig zu bleiben ver-
mögen. Es schlafen überhaupt nur die Sinne und die willkürlich bewegten
Glieder. Dagegen treiben die Organe des Atmens und der Verdauung ihr
Werk ebenso ungehindert fort als im Wachen.
Schubert.
11. Krankheiten unserer Feldirüehte.
1. Der Bratid sucht vorzugsweise den Weizen, den Hafer, die Hirse,
die Gerste und den Reis heim ; er besteht aus einem kleinen, nur durch
das Mikroskop sichtbaren Pilze, dem Brandpilze. Das schwarze Pulver,
aus dem die kranken Körner bestehen, ist der Same des Brandpilzes.
Es enthält mehrere Millionen kleiner Kügelchen, die vom Winde zer-
streut und auf andere Getreidefelder getragen werden. Es hängt sich
an die gesunden Körner fest; wenn daher diese im nächsten Jahre zur
Aussaat verwendet werden, fängt der Brandstaub schnell zu keimen an,
und mit dem Weizen wächst auch das Brandkorn. Ein sicheres und
gutes Mittel gegen den Brand ist das Beizen des Saatweizens mit Ätz-
kalk und Asche oder, was noch besser und sicherer ist, mit einer
Kupfervitriolauflösung in Wasser. Dadurch werden die Sporenzellen
der an Getreidekörnern haftenden Brandpilze zerstört, während die Keim-
kraft des Weizens dadurch nicht gefährdet wird.
2. Eine ähnliche Krankheit des Getreides ist der Kost, der eben-
falls von einem mikroskopischen Pilze herrührt. Er greift weniger die
102
11. Krankheiten unserer Feldfrüchte.
Ähren und Früchte als die Blätter und Stengel an, indem er in diese
eindringt und ihnen den Saft, der zum Wachstum und zur Frucht-
bildung der Pflanze nötig ist, raubt. Er ist rötlich, und das davon
befallene Getreide, besonders Hafer und Gerste, nimmt deshalb eine
rostige Farbe an. Bis jetzt ist noch kein Mittel gegen den Kost auf-
gefunden , und es ist auch noch nicht aufgeklärt, warum er in manchen
Jahren so häufig, in andern wieder seltener auftritt. Das Wetter übt
jedenfalls auf das Keimen der Kostsporen einen großen Einfluß. Daß
auch der Kost ansteckend ist, liegt auf der Hand; denn die Sporen des-
selben werden wie die des Brandes von einem Felde auf das andere
getragen.
3. Wie der Brand vorzugsweise die Krankheit des Weizens ist, so
sucht das Mutterkorn meist das Korn oder den Roggen heim. Es
wird auch durch einen Pilz hervorgerufen. Der Schaden, welcher durch
das Mutterkorn der Ernte zugefügt wird, ist nicht so groß als die Ge-
fahr, welche dasselbe für die Gesundheit und das Leben der Menschen
bringt; denn es enthält einen stark vergiftenden Stoff. Das meiste
Mutterkorn fällt ab, ehe das Getreide gemäht wird, und bleibt auf dem
Acker zurück. Es wächst im Frühjahre ein langstieliges, zierliches
Pilzköpfchen daraus hervor, welches mit zahllosen langen, fadenförmigen
Sporen angefüllt ist. Sobald diese gereift sind, platzt die sie umgebende
Hülle, und der Wind führt sie nun in die Roggenblüten; denn zur Zeit
der Roggenblüte fällt auch die Reife der Mutterkornsporen. Die Spore
dringt in die Blüte ein und erzeugt das bekannte schwarzblaue Mutter-
korn. Das sicherste Mittel, dasselbe zu vertilgen, ist, den Samen von
demselben sorgfältig zu reinigen.
4. Der Meltau im Getreide. Auch er rührt nach den zuver-
lässigsten Beobachtungen von einem mikroskopischen Pilze her, der
einen weißlichen Überzug über Blätter und andere Pflanzenteile bildet
und dadurch die Entwickelung der Pflanze stört. Zur Verhütung des-
selben werden mit einiger Sicherheit Entwässerung des Bodens und mög-
lichste Herstellung eines freien, luftigen Standortes der Pflanzen vorge-
schlagen.
5. Ebenso wird die verheerende Kartoffelkrankheit durch
einen winzig kleinen Pilz verursacht, der auf andern Pflanzen gar nicht
fortkommt. Die Kartoffelkrankheit verbreitet sich nach häufigen Regen-
güssen und bei nassem Wetter besonders rasch. Sichere Mittel gegen
sie sind bis jetzt nicht bekannt.
Die Keime der Krankheit liegen unter der äußeren Schale der Setz-
knolle. Ein Stoff, der die Pilzkeime hier töten könnte, müßte jedenfalls
der Setzknolle auch schädlich werden. Nach vielen Erfahrungen wider-
stehen der Krankheit am besten diejenigen Sorten der Kartoffeln, die
eine rauhe, dicke Schale haben; denn durch diese können die Keim-
schläuche des Pilzes weniger leicht eindringen. Auch müssen die Setz-
kartoffeln möglichst ausgereift sein. Ferner benutze man zum Kartoffel-
12. !oöm innern 23au der Pflanzen.
103
bau nur geeignete Bodenarten, nicht schweren Lehmboden mit undurch-
lassendem Untergrund, sondern leichten, namentlich sandigen Boden,
ebenso Neuland und frisch umgebrochenes Grasland. Ein frühzeitiges
Legen der Setzknollen und Anwendung von schnelltreibenden Düng-
mitteln erweisen sich im allgemeinen ebenfalls förderlich. Um die Zeit,
wo die Krankheit gewöhnlich eintritt, sind dann solche Kartoffeln meistens
weiter entwickelt und liefern daher im Herbst mehr Ertrag als spät-
gelegte und ungediingte. Auch das tiefere Legen der Setzknollen hat
etwas für sich, indem die Kartoffeln dann nicht so leicht von den durch
den Regen herabgespülten Pilzsporen und Keimschläuchen erreicht wer-
den. Doch schützen alle diese Vorsichtsmaßregeln nicht in jedem Jahro
vollständig und umfassend, weil jedenfalls die Krankheit durch beson-
dere Witterungsemflüsse befördert und beschleunigt wird.
Sandweier u. Stein.
12. Vom innern Ban der Pflanzen.
Non der schlanken Palme, die ihre zierlichen Wipfel hoch über dem
heißen Broden der brasilianischen Wälder in den kühlenden Lüften schaukelt, bis
zu dem feinen, kaum ccntimeterlangen Moose, welches unsere feuchten Grotten
mit seinem Grün auskleidet — von den 6000jährigen Asienbrotbäumen an
Assenbrolbaum.
den Usern des Senegal bis zu dem Pilz, dem eine feuchtwarme Sommer-
nacht sein Dasein gab, das schon der nächste Morgen zerstört, welche Ver-
schiedenheit der Lebensdauer! Von dem festen Holze der neuhollündischen
Eiche, aus welchem der wilde Urbewohner seine Streitkolben schnitzt, bis zu
dem grünen, zerfließenden Schlamm unserer Gräben, welche Mannigfaltigkeit,
welche Abstufung in Gewebe, Zusammensetzung und Festigkeit! Und dennoch
104
12. Vom innern Vau der Pflanzen.
ist in diesem scheinbar regellosen Spiel der Formen eine Gesetzmäßigkeit, ein
einfaches, allen verschiedenen Formen gleichmäßig zugrunde liegendes Element.
Die Grundlage für den Bau aller auch noch so sehr von einander ab-
weichender Gewächse ist ein kleines, aus meist durchsichtigen, wasserhellen
Häutchen gebildetes, rings herum geschlossenes Bläschen, welches man „Zelle"
nennt. Ihre Gestalt ist bald mehr rundlich, bald mehr länglich. Sie hat
einen flüssigen Inhalt, den Zellsaft, in welchem sich Zucker, Gummi,
Wachs, Eiweiß, Käse st off u. a. in aufgelöstem Zustande befinden, und
außerdem als festen Körper den Zellkern, in Stärkemehl, Blattgrün-
Körnchen und kristallisierten Salzen bestehend. Würde man eine
Schweinsblase mit Wasier, in welchem verschiedene Stoffe aufgelöst sind,
füllen, in dieses Waffer eine gewiffe Menge von Fett, Gummi, Stärke und
unlöslichem Eiweiß legen und dann die Blase fest zubinden, so hätte man
im großen ein etwas ähnliches Bild deffen, was die Zelle im kleinen dar-
stellt; aber sie ist so klein, daß man die Wahrnehmungen nur durch das Ver-
größerungsglas machen kann.
Die Wände der Zellen zeigen durchaus keine Öffnungen;
aber dennoch dringt die Flüssigkeit, die sie zur Ernährung
brauchen, ein. Diese besteht aus Wasser, Kohlensäure,
Ammoniak, Salpetersäure und Salzen. Diese von der Zelle
aufgenommenen wenigen Stoffe werden durch ihre eigen-
tümliche Kraft mannigfach verändert und aus ihnen die
verschiedenen Materialien gebildet, wodurch die Pflanzen für
den Haushalt ihren Wert erhalten. Diese Zellen verbinden
sich mit einander und bilden das Zellgewebe. Die zwischen
den rundlichen Zellen befindlichen Räume heißen Zwischen-
| gänge, welche zuweilen wäfferige, ölige und andere Flüssig-
keiten enthalten. Man unterscheidet an der Pflanze drei
jy Gewebemassen, nämlich die Oberhaut, Faser- und Füllgewebe
lRinde, Holz und Bast, Mark). Oberhaut der Pflanze
Zellgkwcbe. nennt man die äußere Zellenschicht, welche sich in Berührung
mit Waffer oder Erde, besonders aber der Luft ausgesetzt, entwickelt. Diese
Zellen schließen sich so fest an einander, daß man sie meistens als eine zu-
sammenhängende Haut von der Pflanze abziehen kann.
Nur an gewissen Punkten bleiben zwischen den Zellen
kleine Lücken, welche in die Zwischengänge im Gewebe
führen, die durch unvollständige Berührung der Zellen-
wände entstehen. Diese Spalte, wodurch die Pflanze
mit der Atmosphäre kommuniziert und Gasarten und
Wasserdünste aushaucht, verengert und erweitert sich
nach den Bedürfniffen. In der nachstehenden Figur,
Querturchschnitt eines Daum- welche ein Stück einer Blattfläche darstellt, ist a die
a 5)infc(.'“bToit. o Mark, geschlängelte Wand der Oberhautzellen; b ist eine der
beiden halbmondförmigen Zellen, welche die Spaltöffnung bilden; e ist detz
Raum, welchen sie offen lasten.
12. Vom innern Bau der Pflanzen.
105
In jedem lebhaft vegetierenden Pflanzenteile findet aber auch ein be-
ständiges Zuströmen von neuem Nahrungsstoffe statt, welcher von der Wurzel
aufgenommen wird, und deffen über-
flüssiges Wasser eben durch die Spalt-
öffnung verdunstet. Diese Saft-
bewegung verwandelt die Reihen
von Zellen, durch welche sie mit be-
sonderer Lebhaftigkeit durchgeht, in
langgestreckte Zellen. Indem senk-
recht über einander stehende Zellen
ihre Wandungen verdichten, die Quer-
wände auflösen, ihren flüssigen Inhalt
verlieren und in offene Berbindung
mit einander treten, bilden sie ein Ein Stückchen Oberhaut von einem Lilicnblatt.r5o/,N.G.
mehr oder minder langes Rohr oder Gefäß; so entstehen in der Masse des
Zellgewebes Bündel langgestreckter Zellen und Gefäße, Gefäßbündel ge-
nannt, welche dem unbewaffneten Auge wie derbe Fasern erscheinen, welche
das Pflanzengewebe durchziehen. Bei den Waldbäumen, Küchenkräutern, dem
Gemüse und vielen andern Gewächsen entstehen fortwährend an der Außen-
seite jedes Gefäßbündels neue Zellen, die ebenfalls zu Gefäßbündelzellen wer-
den und so die Gefäßbündel fortwährend verdichten. Jnfolgedeffen schließen
sich diese nach und nach zu einem festen Gewebe an einander, zu dem, was
man Holz nennt. An den Gefäßbündeln unterscheidet man einen Bast teil
und einen Holz teil. Der Bastteil besteht aus Bast-
zellen oder Bastfasern. Sie liefern uns fast allein
das Material zu unseren Geweben und Seilerarbeiten.
Dazu werden bei uns hauptsächlich der Flachs und der
Hanf benutzt. Von allen Zellenformen sind überhaupt
für den menschlichen Haushalt die wichtigsten die Holz-
zellen und die Bastzellen.
Bei den höher entwickelten Pflanzen und besonders
bei unseren Kulturpflanzen erscheinen die Wurzeln als
die Organe, welche das Waffer und die in demselben
aufgelösten Nahrungsstoffe aufnehmen. Der Nahrungs-
saft dringt durch die Zellwand und steigt von Zelle
zu Zelle aufwärts. In den oberen, mit der Luft in
Berührung stehenden Zellen tritt der größte Teil des
aufgenommenen Wassers in Form von Dunst nebst
den überflüssigen Gasarten aus der Pflanze, während die mineralischen, so,
wie ein Teil der übrigen Nahrungsstoffe in den Zellen umgebildet und von
den Pflanzen angeeignet werden. Die Umbildung der Nahrungsstoffe erfolgt
in jeder Zelle. — Außer Wasserdunst scheiden die grünen Pflanzenteile am
Tage oder bei Einwirkung des Lichtes Sauerstoff, dagegen des Nachts oder
bei Abwesenheit des Lichtes Kohlensäure aus.
Zellen und Gefäße,
io»/, n. G.
Stöckhardt.
r
106
13. Erden und Steine.
13. Erden und Steine.
Äie Erden und Steine unterscheiden sich sehr deutlich von den andern
Mineralien; denn sie lösen sich nicht wie die Salze im Wasser auf. sondern
vermengen sich nur mit demselben, auch haben sie keinen besonderen Geschmack;
sie brennen im Feuer nicht, auch schmelzen nur wenige, wie die reinen Metalle
es thun, in der Hitze, ohne daß man ihnen zuvor etwas zusetzt.
1. Die Kiesel sind sehr harte Steine; zu ihnen ge-
hört vor allem der Quarz. Die edelste Art davon ist der
durchsichtige Bergkristall, welcher meist die regelmäßige
Form sechskantiger Säulen mit einer darauf sitzenden sechs-
kantigen Spitzsäule hat. Manche schimmern veilchenblau und
heißen dann Amethyste. Der gemeine Quarz bildet große
Felsmasien, ist aber auch ein Bestandteil des fleckig aus-
sehenden, ungemein harten Granits, sowie des gewöhnlichen
losen Sandes und des Sandsteines.
Am wichtigsten und unentbehrlichsten ist der Sand in Vermischung mit
Kalk zu Mörtel zum Bau der Häuser und zum Abputz der Wände; demnächst
aber zur Bereitung der schönen,.harten, ganz durchsichtigen Masse, die man
das Glas nennt. Weil aber die Kieselerde für sich nicht schmilzt, so muß
ihr zuvor einiges andere, besonders Soda, Pottasche und Kalk, beigemengt
werden. In die geschmolzene Masse taucht ein Glashüttenarbeiter eine lange,
eiserne Röhre, die mit einem Holzgriffe versehen ist, zieht sie heraus, bläst
oben in dieselbe hinein, und so entsteht unten am Rohre eine Blase wie eine
Seifenblase, die ein anderer Arbeiter in zwei zusammenpassende, hohle Halb-
formen einpreßt. Die so unglaublich schnell entstandenen Gefäße werden dann
auf der Stelle in einen überaus heißen Ofen, den Kühlofen, gestellt. Geschieht
dies nicht, und läßt man das Gefäß schnell an der Luft erkalten, so springt
es bei ganz geringer Erschütterung in unzählige Splitter.
Noch gar manche wichtige Anverwandte hat der Quarz, wie z. B. den
Feuerstein, dessen Nutzen freilich seit Erfindung der Streichhölzchen geringer
ist als früher, wo „Stahl und Stein" in keiner Haushaltung fehlte. Er
findet sich in manchen Gegenden in kleinen Stückchen zerstreut auf dem Felde,
in größeren kommt er in Kreidegebirgcn vor. Wer ein gutes Vergrößerungs-
glas hat, der kann deutlich erkennen, daß der Feuerstein wie die Kreide aus
zahllosen Panzern kleiner Schaltiere besteht, die dem Auge nur als kleine
Körnlein erscheinen.
2. Nicht minder wichtig als die Kieselerden sind die Thonerden und die
daraus bestehenden Steine, zu denen der vielfarbige Granat, der rötlich-
weiße Feldspat, der die Porzellanerde giebt und auch ein Bestandteil des
Granits und Porphyrs ist, und der schwarzgraue Thonschiefer gehören,
aus welchem Platten zum Dachdecken und die bekannten Schreibtafeln, wie
auch die Schiefergriffel, gemacht werden. Eine andere, weichere Art giebt die
schwarze Kreide zum Zeichnen.
13. Grien und Steine.
107
Viel wichtiger jedoch als die thonerdigen Steine sind die Thonerden
selber. Die reinste Thonerde wird Töpserthon genannt. Er hat eine
matte, weißgraue Farbe, suhlt sich etwas fettig an. klebt stark an der Zunge,
wird, wenn man ihn der Luft aussetzt, hart, im Feuer steinartig hart, so daß
er nicht mehr im Wasier erweicht werden kann. Daher werden daraus mit
geringer Mühe Gefäße und Geschirre aller Art und Ofenkacheln geformt, die
nach der Güte des Thons und der Art der Bearbeitung von sehr verschiedener
Festigkeit und Schönheit sind. Nachdem die Gefäße an der Luft getrocknet
sind, werden sie mit Bleiglätte bestrichen, die hernach im Brennofen schmilzt
und die Gefäße mit einem glasartigen Überzüge, der Glasur, bedeckt, durch
welche sie erst völlig wasserdicht werden. Bei den besseren Sorten des irdenen
Geschirrs wird aber die Glasurmasse erst nach dem Brennen aufgetragen, da-
her müssen diese zweitenmal Male in die Glühhitze des Töpferofens gebracht
werden. Das Steingut mit der weißen Glasur wird beim Brennen in be-
sondere thönerne Kapseln eingefchlosien, bleibt viel länger, wohl acht Tage
lang, im Brennofen und erlangt daher eine viel größere Härte. Ungemein
viel Arbeit und Sorgfalt erfordert die Anfertigung des feinsten, härtesten und
kostbarsten Thongeschirrs, die des steinhartcn, glasartigen, schön weißen Por-
zellans, das auch oft noch vielfarbig und kunstreich bemalt und nach dem Be-
malen abermals gebrannt wird.
Noch wichtiger als der Töpferthon ist eine andere, in viel größerer
Menge fast überall sich findende Thonerde, die mit Ouarzsand innig gemischt
ist, durch den in ihr aufgelösten Eisenrost eine gelbe oder bräunliche Farbe
erhält und Lehm genannt wird.
3. Eine ungemein große Verbreitung hat in vielen Ländern eine
dritte Art von Gesteinen und Erden, die man Kalksteine und Kalk-
erde nennt.
Der härteste Kalkstein, der Marmor, wird sehr geschätzt, weil er b-ei
geringer Mühe eine so glatte Oberfläche erhält, daß man sich darin spiegeln
kann. Am höchsten wird der schneeweiße geachtet, den man in Italien bei
Carrara und auf der griechischen Insel Paros findet und zu den herrlichsten
Kunstwerken verwendet. Aber auch der buntfarbige und schön gestreifte
Marmor, wie ihn z B. Schlesien liefert, ist von großem Werte und dient zu
allerlei Kunstarbeiten, Säulen. Denkmälern, Tischplatten u. dgl. Mancher
Kalkstein besteht ganz aus versteinerten Muscheln und Schnecken. Eine etwas
andere Art der Kalkcrde wird Gips genannt; der härteste, aber noch ziem-
lich weiche Gipsstein heißt Alabaster. Dieser hat auch eine ebenso schöne
weiße Farbe wie der Marmor, aber nicht einen gleichen Glanz und gleiche
Festigkeit.
Auch der erdige Kalkstein oder die Kreide, die auf der Insel Rügen,
in Frankreich, England und Dänemark Felsen bildet, dient zum Schreiben,
zur Bereitung der Wandfarben, zum Putzen der Metalle und, mit Leinölfirnis
vermischt, als Kitt zur Befestigung der Fensterscheiben. Meistens wird dazu
die Kreide erst gereinigt und heißt dann Schlemm kreide.
108
14. Das fielen im Gestein.
Bei weitem am wichtigsten ist aber der gemeine Kalkstein, der, nachdem
er in den dazu eingerichteten Kal kosen erhitzt worden ist, den gebrannten
Kalk liefert. Der gebrannte Kalkstein zieht mit Begierde das in der Luft
aufgelöste Wasier an sich, zerfällt daher in der Luft sehr bald zu einem feinen,
weißen Pulver und wird dadurch unbrauchbar zur Bereitung des Mörtels.
Er muß daher bald gelöscht, d. h. in einem hölzernen Kasten reichlich mit
kaltem Wasser übergössen werden, wobei er sich allmählich ungemein erhitzt und
ins Kochen gerät, endlich aber nach Zugießen sehr vielen Wassers einen
dicken Brei bildet, der in Kalkgruben lange aufbewahrt werden kann. Soll
er dann zum Mauern und zum Abputz verwendet werden, so wird er durch Wasser
wieder dünnflüssig gemacht und mit viel Sand vermischt, worauf er alsbald
nach dem Gebrauche zu einer steinartigen, die Ziegeln fest unter einander
verbindenden Masse erhärtet, die durch Wasier und Luft nicht wieder aufge-
löst wird.
Ähnlich verhält es sich mit dem Gips. Auch er wird gebrannt, zu
einem seinen, weißen Pulver zerstampft, mit Wasser und Sand zu Brei ge-
rührt und zur Herstellung von schönen Figuren und Verzierungen an Häusern,
Wänden und Decken verwendet. Von großer Wichtigkeit ist der an vielen
Orten vorkommende Mergel, ein Gemenge von Kalk, Thon und Kieselerde.
Auch er braust, mit Schwefelsäure übergosien, auf und ist daran am leichtesten
erkennbar. Er zerfällt an der Luft, zeigt sich auf geeigneten Äckern ungemein
wirksam, sie fruchtbarer zu machen, und kann für gewisse Zeit die Stelle der
Düngung vertreten.
4. Die vierte Art der Erden und Steine, der Talk, ist weit weniger
wichtig und wenig verbreitet. Der Talk fühlt sich fettig an. Dahin gehören
der Meerschaum, der besonders zu Pfeifenköpfen verwendet wird, der
Glimmer, welcher sich in dünne Blättchen zerlegen läßt, die blitzend und
ziemlich durchsichtig und in größeren Platten als Marienglas bekannt sind,
der dunkelgrüne Serpentin, aus dem Mörser, Leuchter, Schreibzeugs und
allerlei Kunstsachen verfertigt werden, und der Asbest oder Bergflachs, den
man in Fäden zerreißen kann, die sich zu unverbrennlichen Kleidungsstücken
verweben lassen. Goltzscv.
14. Das Leben im Gestein.
-Schon 'Jahrtausende holt der Mensch ans dem Schoße der Erde
die Waffen und, Rüstungen zum Kriege, wie die Marmorblöcke und
Sandsteine zu Denkmälern des Friedens, das Salz zum Würzen der
Speisen, wie das Feuermaterial zum Schmelzen der Erze; schon
Jahrtausende steigt der Mensch in die Fluten des Meeres und gräbt
sich in die Felsen der Erde, um die verborgenen Schätze an das Licht
des Tages zu fördern. Dampfmaschinen und Wasserräder, Wind und
Feuer hat er zu Gehilfen mit hinabgenommen in die Tiefe; aber so
viele Jahre die unterirdischen Schatzkammern auch schon ausgebeutet
werden, ihr Reichtum ist unabsehbar, der Segen der Erde unerschöpf-
lich. Das starre Gestein erzählt auch die Majestät Gottes, und die
14. Das Leben im Gestein.
109
Wunder in der Erde sind ebenso mannigfaltig als auf ihr. Un-
begreifliche Naturgewalten formten in dunklen Werkstätten die Kristalle,
formten das Salz zum Würfel, den Quarz
zur sechsseitigen Pyramide, stumpften an
dem einen Kristallkörper die Ecken ab, an
einem andern die Kanten, und konnten sie
ungestört wirken, dann setzten sie mit einer
Genauigkeit die Flächen zusammen, als
hätten sie Zirkel und Winkelmaß gebraucht,
glätteten mit einer Sauberkeit jede Seite,
als sei eine Schleifmaschine dabei thätig
gewesen, verliehen dem Ganzen einen Glanz,
den der geschickteste Künstler nicht nachzu-
ahmen vermag. In Millionen mal Millionen
Exemplaren wiederholt schon ein einziger Druse von Dergknstallcn.
Kristallkörper diese Wunder des Steiureichs, und was die thätigste
Phantasie an Formen hätte ausdenken können, auch das haben seine
Kräfte unbewußt nach dem Willen des Weltenmeisters vollbracht. Von
der einfachen Form des Würfels mit seinen sechs Flächen an stellen
sich alle nur möglichen Kristallformen dar und schließen noch zur Er-
haltung derselben nie ruhende Kräfte ein. Der Stein, über den unser
Kalkspat. Zinsspat. Noheisenerz.
Fuß dahin geht, er hat auch sein Leben. Zwar pulsiert in ihm kein
Herz und kreist in ihm kein Nahruugsstofs; aber in jedem Augenblick
kettet eine geheimnisvolle Kraft ein Atom desselben an das andere,
daß er nicht in Staub zerfällt; in jedem Augenblick strebt wieder eine
andere Kraft dieser entgegen, damit sic nicht das Übergewicht bekommt.
Wie die Zieh- und Fliehkräfte in dem großen Weltenraume die Himmels-
körper in ihrem Geleise erhalten, so kämpfen verwandte Kräfte unauf-
110
14. Das Leben im Gestein.
hörlich in leisen, unmerklichen Schivingungen auch in dem starren
Stein, mag er es zur Kristallform gebracht haben oder nicht, um ihm
Krcuzkristalle.
seine Gestalt zu erhalten. Aber nicht nur hartes Gestein ist in der
Erde verborgen; es liegt auch eine ganze Tier- und Pflanzenwelt in
ihr vergraben, und der geöffnete Mund der Erde erzählt von einer
untergegangenen Schöpfung, die kein Auge gesehen, auf daß wir uns
beugen vor der Macht dessen,
der Berge emporrichtete und
Thäler versenkte, der die
Feuerflammen zu seinen Die-
nern und die Winde zu seinen
Boten machte. Da liegen
in hartem Gestein eingebettet:
schwimmende und fliegende
Eidechsen von abenteuerlicher
Gestalt, kletternde und gra-
bende Faultiere von Schrecken
erregender Größe, riesige
Elefanten mit gewaltigen
Stoßzähnen, Bären und
Hyänen, Flußpferde und
Seefische. Selbst auf hohen
Bergen, wo jetzt der Hirt
das Rind und die Ziege weidet, und der Jäger das scheue Wild jagt,
findet man unter dem duftenden Grase die Überreste von Seetieren,
die einst über diesem Boden in den Fluten ihr Wesen trieben. Reiche
Ernte hat da der Tod unter großen und kleinen Tieren gehalten.
Ist doch mancher Leichenstein der untergegangenen Tierleiber so mit
dem Fette derselben getränkt, daß er brennt wie ein Docht, wenn man
14. Das Leben im Gestein.
111
ihn ins Feuer hält; findet man doch bei genauer Untersuchung, daß
zwei Drittel eines Kreidestücks aus den kleinen Schalen untergegangener
Geschöpfe bestehen. Das Meer
ist der Totengräber gewesen,
und staunend sieht der Mensch
die Knochenleiber in diesen ersten
Friedhöfen, wo unter dem heißen
Kampfe aller Elemente die
ältesten Leichen bestattet wurden. Auch Waldungen von üppigem
Wüchse und undurchdringlichem Dickicht senkte das entfesselte Meer ein,
als sollten jenen Friedhöfen auch die Trauerweiden und Toteneschen
nicht fehlen. Als Steinkohlen graben wir jetzt diese eingesenkten Wälder
Schachtelhalm.
wieder aus. In den feinschlammigen Zwischenschichten derselben findet
Ulan noch die Blätter zart und zierlich abgedrückt und die versteinerten
Stämme oft noch senkrecht cmporstehen. So üppig aber auch der
Wuchs jener Wälder gewesen sein mag, so einförmig und öde standen
doch viele von ihnen da. Farnkraut. Schachtelhalm und Bärlapp sind
'ucht selten die einzigen Pflanzen gewesen, die dicht gedrängt empor-
112
15. Wachsen die Steine?
geschlossen waren. Das Farnkraut wuchs oft baumartig, wie es jetzt
noch in Amerika vorkommt, und sah dadurch den Palnten ähnlich.
(Siehe umstehende Abbildung.)
Keine duftende Blüte schmückte das dunkle Grün, keine wohl-
schmeckenden Früchte zierten die Zweige, kein liederreicher Sänger
nistete in ihrem Schatten. Und die Tiere, welche in ihnen auf-
gefunden worden sind, zeigen nicht selten eine fremdartige und unheim-
liche Gestalt. So liegt eine ganze Urwelt vergraben im Schoße der
Erde und zeigt uns mitten unter dem starren Gestein ein längst ver-
gangenes Leben. Als aber die allmächtige Hand dem langen Kampfe
aller Elemente Grenze und Ziel setzte und die Meßschnur spannte über
Berg und Thal, über Meer und Land, da entsproß ein neues, junges
Leben der stummen Erde und blickte zum erquickenden Strahl der beleben-
den Sonne. In dem gezweigten Baume säuselte der Wind in Harfen-
tönen ein neues Schöpfungslied, und edlere Formen weckte der Werde-
ruf des Unerforschlichen von neuem zum Dasein. Gudc.
15. Wachsen die Steine?
Wenn man von einem steinigen Acker auch noch so sorgfältig und
wiederholt die Steine ablesen läßt, so ist er nach wenigen Jahren doch
wieder mit Steinen übersät. Sind sie im Grunde des Ackers gewachsen?
Ein Kind wächst, indem es die genossene Nahrung durch die Ver-
dauung in Blut verwandelt, aus welchem alle Teile des kleinen Körpers
nicht nur in ihren Bestandteilen fortwährend verjüngt (was man Stoff-
wechsel nennt), sondern auch durch Umwandlung in gleichgeartete Bestand-
teile und Aufnahme derselben in ihre Gewebe immer größer werden. Dies
ist derselbe Vorgang bei allen Tieren, bei allen Gewächsen. Ein solches
Wachstum haben die Steine nicht. Sie nehmen keine fremdartigen Stoffe
in ihr Inneres auf, um dadurch größer zu werden.
Sind denn nun aber in einem Acker die kleinen Steine neben den
großen etwa als junge Steine und die großen als alte, ausgewachsene
Steine anzusehen? Gewiß nicht. Wir wissen, daß alle miteinander nichts
weiter sind, als Bruchstücke größerer und immer größerer Steine, Blöcke,
Felsen, Berge. Wenn wir einen großen Sandstein in drei Teile zerschlagen,
so sind die drei Teile, wenn auch kleiner, als das Ganze war, aber
dennoch dasselbe in allen Eigenschaften. Wir haben dabei den Stein nicht
totgeschlagen, ja können nicht einmal sagen, daß wir durch die Trennung
des großen Steins in drei kleinere dem ersteren irgend etwas wesentliches
genommen haben.
Eine alte, hohle Weide können wir freilich auch ähnlich behandeln.
Wenn wir sie ausgraben und dann der Länge nach in drei Teile spalten,
so daß an jedem Drittel oben etwas Krone und unten etwas Wurzel
15. Wachsen die Steine?
113
bleibt, so können wir sie alle drei weit voneinander wieder einpflanzen,
und sie werden sicher wieder fortwachsen, ja sich vielleicht übel und böse
wieder zu runden Stämmen ausbilden.
Niemand darf daran denken, daß jene drei Steinstücke, wenn wir sie
in den Acker eingraben, wachsen werden. Sie werden im Gegenteil durch
die ewig an ihnen nagende Verwitterung immer kleiner. Demnach giebt
es im Steinreich wohl überhaupt gar kein Wachstum? Es giebt eins,
aber es ist anders beschaffen, wenigstens für eine Auffassung nach dem
äußeren Augenschein, als bei Tieren und Pflanzen.
Adelsberger Tropfsteinhöhle bei Triest.
Wir alle kennen die Kristalle, jene regelmäßig gestalteten, oft glas-
artig durchsichtigen, kantigen und eckigen, von ebenen Flächen begrenzten
Gestalten des Mineralreiches. Am bekanntesten sind die schönen sechs-
seitigen, turmförmigen Bergkristalle. Doch auch die Kristalle des Koch-
salzes, Alauns, Salpeters, Kandis-Zuckers sind in demselben Sinne
Kristalle wie der Vergkristall; die zierlichen Gebilde des Reifes, die Eis-
blumen an den Fensterscheiben sind nichts anderes als Wasserkristalle. Bei
letzteren können wir es leicht beobachten, daß sie wachsen. Aber der
Sprachgebrauch nennt es mehr Anschießen als Wachsen.
Die Tropfsteine wachsen dadurch, daß der in den von der Decke einer
Höhle abtropfenden Wassertropfen aufgelöste Kalk durch einen chemischen
Prozeß an der Abtropfestelle sich in unlöslichen Kalk verwandelt und fest
zurückbleibt. Haben auch die Tropfsteine, Stalaktiten, äußerlich gewöhnlich
keine Kristallgestalt, so hat ihr Inneres doch wie der weiße Zucker ein
kristallinisches Gefüge. Bei den Tropfsteinen läßt sich die Vergleichung
mit dem tierischen Wachstum am meisten festhalten, wenigstens hinsichtlich
der Langsamkeit und Stetigkeit des Vorganges. Viele Quellen, namentlich
Deutsches Lesebuch für kath. Schulen, IV. Für Oberklaffen. tz
114
15. Wachsen die Steine?
heiße, enthalten so viel aufgelöste Mineralteile, daß sie auf ihrer Bahn
dieselben in fester Form zurücklassen. Vom Karlsbader Sprudel ist das
allgemein bekannt. Der bekannte Sprudelstein hat immer ein zuckerähn-
liches, d. h. kristallinisches Gefüge, in welchem spiegelnde, nach allen
Richtungen liegende Flächen sichtbar sind. Es ist gewissermaßen ein
dichtes und inniges Gedränge von kleinen Kristallen, welche bei ihrer
Bildung nicht Raum genug hatten, sich frei auszubilden, und demnach
aneinander wuchsen.
Es giebt viele Felsengesteine, welche auf diese Art gebildet sind.
Granit, Syenit, Gneis, Alabaster, viele Kalkarten sind solche. Man nennt
sie kristallinische Felsarten.
16. Ruhe und Bewegung der Körper.
115
Viele Felsarten sind aber auf eine andere Weise entstanden, nämlich
durch Bodensatz aus großen Wassern. Dies sind die Sandsteine, Schiefer,
Thonsteine und die erdigen Gesteine. Die malerischen Sandstein-Felsen
der sächsischen Schweiz sind die Überreste des Bodensatzes eines großen
Meeres, welches in der Urzeit einen Teil von Europa bedeckte. Aus ihm
setzten sich im Verlauf von Jahrtausenden die sandigen Massen ab, die
nachher zum festen Stein erhärteten. Dasselbe gilt von den Quader-
Sandstein-Felscn bei Adersbach in Böhmen. Können wir nun vernünftiger-
weise erwarten, daß ein Stück Sandstein in einem Acker wachsen könne?
Kann ein Stück Granit größer werden, oder können sich im Ackerboden
Granitstücke bilden?
Bei diesen Betrachtungen muß uns etwas, zum Unterschied von dem
Wachstum der Tiere und Pflanzen, aufgefallen sein. Die Kristallbildung
erfolgt durch äußerliche Anlagerung einer durchaus gleichen Masse. Ein
Alaunkristall enthält nur Alaun, ein Schwefelkristall nur Schwefel. Ver-
größern können sich beide nur durch neue Anlagerungen desselben Stoffes,
aus dem sie bereits bestehen.
Das Wachsen der Steine, d. h. das Größerwerden der vorhandenen
kleinen, ähnlich, wie ein Säugling zum Mann erwächst, das Zunehmen
der Felsen oder die Entstehung von Steinen im abgelesenen Acker be-
steht nicht.
Woher kommen also immer wieder die Steine im Ackerboden? Der
Pflugschar hat sie aus der Tiefe, wo sie bisher ruhten, heraufgewühlt.
Roßmählcr.
16. Ruhe und Bewegung der Körper.
1. Wir kennen keinen Körper, der in absoluter Ruhe wäre; aber wir
sind nur imstande, die relative Bewegung wahrzunehmen. In
der Kajüte eines Schiffes bemerkt man bei ruhigem Wasser keine Bewegung
desselben, selbst nicht, wenn es umgedreht wird; nur erst, wenn man durchs
Fenster nach den Gegenständen am Ufer sieht, nimmt man die Bewegung wahr.
Die Bewegung der Erde um ihre Achse, so wie die um die Sonne, bemerkt
man nur, wenn man die Sterne beobachtet.
Bei Beobachtung solcher Bewegung sind wir oft nicht im-
stande, zu unterscheiden, welcher von den beobachteten Körpern
sich bewegt und welcher ruht. Man hat Jahrhunderte hindurch geglaubt,
der Himmel drehe sich täglich um die Erde, und die Sonne laufe um dieselbe,
Beobachtet man von einer Brücke aus längere Zeit den Eisgang eines Flusses,
so scheint sich die Brücke zu bewegen und das Eis still zu stehen. Eine Krähe,
die neben einem Eisenbahnzuge herfliegt, scheint in der Luft auf derselben Stelle
zu bleiben.
8*
116
16. Ruhe und Bewegung der Körper.
Die Bewegung wird durch gewisse Kräfte hervorgebracht.
Solche sind die Muskelkraft der Menschen und Tiere, die Federkraft elastischer
Körper, die Ausdehnung luftförmiger Körper, die Erdschwere, der Stoß, wel-
chen ein sich bewegender Körper auf einen andern Körper ausübt.
Lasten schaffen wir auf Wagen fort, welche von Menschen oder Pferden
gezogen werden. Die Uhren werden durch eine Spiralfeder oder vermittelst
der Gewichte durch die Erdanziehung in Bewegung gesetzt, der Pfeil durch die
Federkraft des Bogens, die Eisenbahnzüge durch den Wasserdampf. Die
Büchsenkugel wird durch die Spannkraft der durch Verbrennung des Pulvers
entstehenden Luftarten, die Waffermühle durch den Stoß des fließenden Wassers,
die Windmühle durch den Stoß des Windes getrieben.
Es kann demnach ein ruhender Körper nicht in Bewegung
und ein sich bewegender Körper nicht in Ruhe kommen, wenn
nicht eine Kraft da ist, die ihn in den andern Zustand versetzt.
Die Kugel, welche von einer schiefen Ebene herunterollt, ebenso das Wasser
in den Flüssen, bewegt sich nicht von selbst, sondern wird von der Erdanziehung
in Bewegung gesetzt. Die Körper der Tiere, die inneren Organe derselben, so
wie die Säfte der Pflanzen erhalten ihre Bewegung von der inneren Lebens-
kraft. Ist das Tier oder die Pflanze gestorben, so hört jene Bewegung auf.
Wollen wir eine rollende Kugel aufhalten, so müssen wir eine gewiffe Kraft
anwenden. Ein Schlitten oder ein Wagen, der von einem Berge herabgefahren
ist, bewegt sich in der Ebene noch eine ganze Strecke von selbst fort. Soll ein
Eisenbahnzug anhalten, so muß nicht bloß die Lokomotive außer Thätigkeit ge-
setzt, sondern auch gebremst werden.
Die Erfahrung lehrt zwar, daß jeder sich bewegende Körper,
wenn die bewegende Kraft zu wirken aufhört, nach einiger Zeit
wieder zur Ruhe kommt; es lasten sich aber auch stets entgegenwirkende
Kräfte oder Störungen der Bewegung nachweisen, welche die Bewegung wieder
aufheben. Solche Störungen sind: der Luftwiderstand, die Reibung und die
Anziehung; man nennt sie Hindernisse der Bewegung. Jeder sich bewegende
Körper muß nämlich die Luft, welche in seiner Bahn liegt, verdrängen, wo-
durch die Bewegung, wenn nicht ganz aufgehoben, doch verzögert wird. Ist
ein Körper bei seiner Bewegung mit einem anderen in Berührung, der nicht
an seiner Bewegung teil nimmt, z. B. wenn er auf einer Fläche fortrollt
oder -gleitet, so greifen die Erhöhungen seiner Oberfläche in die Vertiefungen
der Fläche und umgekehrt ein, und es müssen nun, soll die Bewegung fort-
dauern, die Erhöhungen abgerissen werden, oder er muß über dieselben hin-
wegsteigen.
Jeden Körper, den wir in die Höhe werfen, zieht die Erdanziehung zu-
rück; das Fortrollen auf der Erdoberfläche hindert die Reibung. Ein flaches
Eisstück, auf eine Eisfläche geworfen, kommt durch die Reibung und die An-
ziehung wieder zur Ruhe. Wie stark die Anziehung in manchen Fällen wirken
kann, nimmt man recht deutlich wahr, wenn mau ein Stückchen Spiegelglas
aus einem andern Spiegelglase fortschiebt.
16. Ruhe und Bewegung der Körper.
117
DieBewegung dauert desto länger, je mehr wirdie entgegen-
wirkenden Kräfte und Hindernisse beseitigen. Ein Eisenbahnwagen
bleibt länger in Bewegung als ein Wagen auf der Chaussee, wenn die bewegende
Kraft aufhört. Ein auf der Erde fortgerollter Stein kommt eher zur Ruhe als
ein auf eine Eisfläche geworfener Stein, und dieser wieder eher als eine Kugel
auf einer Eisfläche. Ein Rad, welches frei an einer Achse herumgedreht wird,
dreht sich desto länger, je geringer die Reibung an dieser ist.
Zur Bewegung jedes Körpers reicht eine desto kleinere Kraft
hin, je mehr die entgegenwirkenden Kräfte beseitigt sind. Ein
Schiff, welches mehr als 1000 Ztr. wiegt, kann bei ruhigem Waffer und ruhi-
ger Luft von einem einzigen Manne fortgezogen werden. Die schwerste Last, die
frei an einem Seile hängt, kann man mit einem Finger in Bewegung bringen;
und doch sind hier noch entgegenwirkende Kräfte zu überwinden. Ein Kind,
welches im Zimmer herumspringt, bringt die Mauern des Gebäudes oft so in
Bewegung, daß die Fenster zittern.
2. Wirkt eine Kraft nur auf einige Teile des Körpers, so
vergeht einige Zeit, ehe die ganzeMasse desselben inBemegung
kommt, weil sich die Bewegung von den getroffenen Teilen auf
die übrigen fortpflanzen muß; und kommen einige Teile eines
sich bewegenden Körpers zur Ruhe, so vergeht einige Zeit, ehe
sich die Ruhe den übrigen mitteilt.
Legt man über ein Bierglas ein Kartenblatt, auf dieses ein Geldstück,
und schnellt dann ersteres mit dem Finger fort, so fällt das Geldstück in das
Glas. Drückt man langsam mit einem Stocke gegen die Scheibe eines offen
stehenden Fensters, so bewegt sich dasselbe, ohne daß die Scheibe zerbricht;
sie zerbricht aber, wenn man den Stock mit größerer Geschwindigkeit bewegt;
die Scheibe erhält gewöhnlich nur ein rundes Loch, ohne daß sie zertrümmert,
und ohne daß sich das Fenster bewegt, wenn man eine Kugel durch dasselbe
schießt. Steht man in einem Wagen, und die Pferde ziehen plötzlich an, so
fällt man rückwärts; hält der Wagen im Fahren plötzlich an, so fällt man
vorwärts. Springt man von einem fahrenden Wagen hinab, so fällt man in
der Richtung, in welcher der Wagen fährt. Wie muß man daher herabspringen,
um nicht zu fallen, und warum? Die auf dem Stiele locker gewordene Axt be-
festigt man, indem man mit ersterem gegen den Boden stößt. Der Reiter stürzt
nach vorn, wenn das Pferd im schnellen Laufe plötzlich still steht.
Hört die bewegende Kraft auf zu wirken, so behält der Kör-
per die erlangte Geschwindigkeit und die Richtung der Bewe-
gung ohne Aufhören bei, wenn nicht eine andereKrast ihn daran
hindert.
Wir kennen zwar keinen Fall, daß ein Körper ohne Aufhören die Rich-
tung und die Geschwindigkeit seiner Bewegung beibehielte; wir erkennen das
Gesetz aber daraus, daß ein Körper desto länger die erlangte Richtung und Ge-
schwindigkeit beibehält, je weniger Kräfte ihm entgegenwirken. Ein Stein, der
mit der Hand geworfen wird, würde sich mit derselben Geschwindigkeit und in
118
16. Ruhe und Bewegung der Körper.
derselben Richtung, welche die Hand in dem Augenblicke hat, wo sie ihn los-
läßt, fortbewegen, wenn nicht der Luftwiderstand und die Anziehung der Erde
dies hinderten. Ebenso verhält es sich mit einem abgeschossenen Pfeile und
einer abgeschosienen Kugel. Ein Stein, welchen man aus einem Eisenbahnwagen
während des Fahrens fallen läßt, bleibt nicht zurück, sondern befindet sich, bis
er die Erde trifft, senkrecht unter der Hand, die ihn hielt. Läßt man einen
Stein von einem hohen Turme herab oder in einen tiefen Schacht fallen, so
trifft er die Erde nicht in der von der Hand aus gezogenen Vertikalen, sondern
ein wenig östlich von dieser. Dies ist ein direkter Beweis für die Achsen-
drehung der Erde. Denn der Stein hat, so lange er in der Hand gehalten
wird, wegen der Achsendrehung der Erde eine Bewegung von Westen nach
Osten, und diese behält er während des Fallens bei. Da nun bei der Erd-
umdrehung die Spitze des Turmes in derselben Zeit, nämlich in 24 Stun-
den einen größeren Kreis beschreibt, als der Fuß desselben, so hat der Stein
eine größere Geschwindigkeit von Westen nach Osten, als der Fuß des Turmes,
und kommt daher in derselben Zeit weiter nach Osten als dieser. Ebenso
beim Schachte.
3. Alle uns bekannten. Bewegung hervorbringenden Kräfte
wirken längere Zeit auf den zu bewegenden Körper, bringen
also während dieser Zeit eine beschleunigte Bewegung hervor.
Da aber jeder Bewegung sich Hinderniffe entgegenstellen, und diese immer
größer werden, je größer die Geschwindigkeit des Körpers wird, so erreicht
die Geschwindigkeit ihren höchsten Grad, wenn die Hindernisse so grob geworden
sind, daß die treibende Kraft nur hinreicht, diese zu überwinden. Dann wird
die Bewegung eine annähernd gleichförmige. Hört die Kraft auf zu wirken,
so wird die Bewegung wegen der Hindernisse eine verzögerte, und der Körper
kommt endlich wieder zur Ruhe. Das Pulver, welches die Kugel aus dem
Büchsenläufe treibt, wirkt so lange auf diese, als sie sich im Laufe befindet,
und noch etwas länger; die Kugel hat daher ein Stück vor dem Laufe ihre
größte Geschwindigkeit; von da an wird ihre Bewegung eine verzögerte. Beim
Ballschlagen wirkt die Kraft so lange auf den Ball, als er mit der Ballkeule
in Berührung ist. Der Pfeil wird so lange von der Bogensehne getrieben, bis
er sie verläßt, der geworfene Stein von der Hand, so lange er sich in ihr be-
findet. Setzen Pferde einen beladenen Wagen in Bewegung, so geht er anfangs
ganz langsam von seiner Stelle, dann immer schneller, endlich ziemlich gleich-
förmig, wobei dann die Pferde, wenn der Weg horizontal ist, nur so stark
ziehen, daß die Reibung überwunden wird. Dasselbe findet statt, wenn die
Lokomotive einen Eisenbahnzug in Bewegung setzt.
4. Die Größe der Kräfte können wir, da sie selbst unserer
Anschauung unzugänglich sind, nur nach der Größe ihrer Wir-
kungen beurteilen. Es ist uns im allgemeinen bekannt, daß
wir zur Bewegung eines Körpers desto mehr Kraft gebrauchen,
je größer seine Masse ist, und eine je größere Geschwindigkeit
er bei einer bestimmten Wirkungsdauer der Kraft erhalten soll.
Werfen wir einen Stein, so müffen wir desto mehr Kraft anwenden, je schwerer
Itj. Muhe und Bewegung der Körper.
119
er ist, und je schneller er fliegen soll. Vor einen beladenen Wagen spannt
man desto mehr Pferde, je schwerer er ist, und je schneller er fahren soll.
Eine Kanonenkugel erfordert mehr Pulver als eine Büchsenkugel, und zwar
desto mehr, je weiter man schießen will, also mit größerer Geschwindigkeit
sie den Lauf verlassen soll.
5. Von einem in Bewegung befindlichen Körper sagt man,
er habe eine große Bewegung, oder er habe eine große Menge,
große Quantität der Bewegung, wenn ein großer Kraftaufwand
erforderlich ist, seine Bewegung aufzuheben, d. i. ihn wieder in
Ruhe zu versetzen.
Ein Körper kann eine sehr große Geschwindigkeit und dabei doch eine sehr
kleine Bewegung haben, und ein anderer kann sich sehr langsam bewegen,
und seine Bewegung doch sehr groß sein. Ein leichter Handschlitten kann,
wenn er auch mit großer Geschwindigkeit von einer Anhöhe herabkommt, mit
geringer Kraft aufgehalten werden, während ein abgelöster, aber noch in lang-
samer Bewegung begriffener Eisenbahnwagen nur durch die ganze Kraft-
Anstrengung mehrerer Männer zum Stillstände gebracht werden kann.
Je größer die Quantität der Bewegung eines Körpers ist,
desto größer ist der Stoß, welchen er einem anderen ihm Wider-
stand leistenden Körper erteilt; man kann daher aus der Größe
dieses Stoßes auf die Größe der Bewegung schließen. Eine
mit der Hand geworfene Kugel bringt eine viel geringere Wirkung hervor als
eine geschossene. Eine Holzaxt wirkt desto stärker, je schneller sie bewegt wird,
desgleichen ein Stock. Dieselbe Wasiermenge wirkt auf ein Mühlrad desto
stärker, je schneller sie fließt. Ein langsam fahrender Wagen richtet, wenn
er irgendwo anstößt, weniger Schaden an als ein Wagen, welcher sehr schnell
fährt. Je höher ein Körper herabfällt, desto größer ist der Stoß, den er er-
leidet. Eine Kegelkugel und eine gleich große Kanonenkugel, die mit gleicher
Geschwindigkeit auf einer Ebene dahinrollen, erfordern einen sehr verschiedenen
Kraftaufwand, um sie auszuhalten, und bringen, wenn sie auf einen andern
Körper treffen, sehr verschiedene Wirkungen hervor. Ein kleines Beil und
eine schwere Axt, ein leichtes Stückchen und ein schwerer Knüttel, mit der-
selben Geschwindigkeit geführt, bringen einen sehr verschiedenen Effekt hervor.
Ein Stoß von einem an uns vorbeilaufenden Sackträger ist weit empfind-
licher als von einem laufenden Knaben. Bohnenstangen, welche auf einem
Wagen gefahren werden, erteilen mit ihren hinten über den Wagen hinaus-
stehenden Enden den Vorübergehenden einen kaum merklichen Schlag, während
Baumstämme unter sonst gleichen Umständen Arm und Bein zerschmettern.
Man ist trotz aller Anstrengung nicht imstande, einen Korkpfropfen ebenso weit
zu werfen als einen gleich großen Stein. Der Zusammenstoß zweier Eisenbahn-
züge richtet eine weit größere Verwüstung an als der zweier einzelner Wagen,
wenn die Geschwindigkeit in beiden Fällen gleich ist.
6. Ein Körper steht um so fester, je größer die Unterstützungs-
fläche ist, und je tiefer der Schwerpunkt liegt.
120
16. Nuhc und Bewegung der Körper.
Der Schwerpunkt ändert in der Regel seine Lage, wenn die
Anordnung der Teile des Körpers eine andere wird, oder wenn
man die Masse an einer Stelle vergrößert, und zwar rückt er
nach der Seite, nach welcher hin man die Teile rückt, oder wo
die Masse größer geworden ist.
Damit Leuchter und Lampen fest stehen, versieht man sie mit einem breiten
Fuße, füllt diesen auch wohl mit Blei aus. Pyramiden stehen fester als Pris-
men. Ein hoch beladener Wagen ist dem Umfallen mehr ausgesetzt als ein
ebenso schwer, aber niedrig beladener. Droht ein Wagen umzufallen, so neigen
sich die darin sitzenden Personen auf die entgegengesetzte Seite; sie vergrößern
die Gefahr, wenn sie aufstehen. Beim aufrechtstchenden Menschen liegt der
Schwerpunkt in der Gegend des Magens; seine Unterstützungsflüche ist das
Viereck, welches man erhält, wenn man die Fußspitzen und die Fersen durch
gerade Linien verbindet. Fechter stellen den einen Fuß vor. Die Matrosen
gehen mit gespreizten Beinen. Beim Ringen umfaßt man den Gegner möglichst
tief unter dem Schwerpunkte. Ein gefülltes Glas muß man am obern Rande
halten, wenn man das Verschütten verhüten will. Will man von einem Stuhle
aufstehen, so zieht man die Füße zurück und neigt den Oberkörper nach vorn.
Trägt man eine Last in der rechten Hand, so neigt man sich nach links, streckt
auch wohl den linken Arm aus. Man geht gebückt oder rückwärts gebogen, je
nachdem man eine Last auf dem Rücken oder vor sich trügt. Ein Gewehr ist
schwerer horizontal zu halten, wenn man es am oberen Ende des Laufes, als
wenn man es am Halse des Kolbens faßt. Ein schwerer Körper balanciert sich
besser als ein leichter; und doch eine Pfauenfeder oder ein Rohrhalm sehr leicht.
Ebenso balanciert sich ein Körper desto leichter, je höher der Schwerpunkt liegt,
also ein langer Stab leichter als ein kurzer. Der Seiltänzer hält die Balancier-
stange nach rechts, wenn er nach der linken Seite schwankt, oder er dreht schnell
das linke Ende der Stange nach unten.
7. Die mechanische Arbeit besteht in der Überwindung eines
Widerstandes oder mehrerer Widerstände. Die Arbeit der Pferde,
welche einen Schlitten auf einer horizontalen Fläche fortziehen, besteht darin,
daß sie die Reibung des Schlittens auf der Schneefläche überwinden. Ziehen
sie an einem Wagen,, so ist die Reibung der Räder an den Achsen und auf der
Erde zu überwinden, und geht es bergan, so muß noch der Widerstand der
Erdschwere überwunden werden. Die Arbeit, welche beim Rammen verrichtet
wird, besteht in der Überwindung der Erdschwere, der Reibung an der Rolle
und der Steifheit des Seiles. Beim Holzsägen ist die Festigkeit des Holzes und
die Reibung der Säge an dem Holze zu überwinden.
8. Es ist bekannt, daß jeder in Bewegung befindliche Kör-
per, wenn die ihn bewegende Kraft zu wirken aufhört, eine Zeit-
lang noch in Bewegung bleibt, also den Widerstand von Hinder-
nissen. die sich der Bewegung entgegenstellen, auf eine gewisse
Strecke überwindet. Z. B. eine Kegelkugel rollt, nachdem sie die werfende
Hand verlassen hat, auf ebenem Boden eine Strecke fort. Der Lokomotiv-
17. Bon der Wärme.
121
führer setzt, wenn er in einen Bahnhof einfahren will, in großer Entfernung
von demselben die Dampfkraft außer Thätigkeit, und doch fährt der Zug noch
in den Bahnhof ein, ja es muß sogar noch gebremst werden. In beiden
Fällen besteht der Widerstand, der sich der Bewegung entgegensetzt, in Reibung.
Aber es werden durch in Bewegung befindliche Körper auch andere Wider-
stände überwunden, z. B. eine Büchsenkugel durchbohrt ein Brett und über-
windet also die Kohäsion des Holzes; eine senkrecht in die Höhe geschossene
Kugel überwindet den Widerstand, welchen die Erdschwere ihr entgegensetzt.
Also ein in Bewegung befindlicher Körper vermag eine gewisie Menge Arbeit
zu verrichten; er besitzt also eine gewisie Kraft, vnd diese nennt man seine
lebendige Kraft.
9. Die Oberfläche einer ruhenden Flüssigkeit bildet eine
horizontale Ebene, oder genauer, einen Kugelabschnitt, dessen
Mittelpunkt der Mittelpunkt der Erde ist.
In Gefäßen, überhaupt bei kleiner Oberfläche der Flüssigkeit, wo man
die Richtungen der Erdschwere für die einzelnen Flüssigkeitsteilchen als
parallel annehmen kann, ist die Oberfläche eine horizon-
tale Ebene. Denn gesetzt, es befände sich auf der Ober-
fläche der Flüssigkeit eine Erhöhung oabk, so würden die
Teile über ad in vertikaler Richtung aus die zwischen
ad und ok liegenden drücken, und diese würden nach
beiden Seiten hin ausweichen. Eine solche Erhöhung
entsteht bisweilen, wenn man dem Gefäß einen Stoß giebt. Die Oberfläche
einer Flüssigkeit kann also keine Erhöhung behalten.
Alle größeren Wasierflächen, z. B. die Oberflächen der Seeen und der
Meere, sind Kugelabschnitte, deren Mittelpunkt der Mittelpunkt der Erde ist, d. h.
die obersten Teile liegen alle gleich weit vom Mittelpunkte; denn lüge irgend
eine Wasiermenge weiter vom Mittelpunkte der Erde entfernt als eine daneben-
liegende. so bildete erstere eine Erhöhung. Deren alleroberste Teile würden
dann in der Richtung des Erdradius auf die zunächst darunter liegenden drücken,
und diese müßten nach allen Seiten hin ausweichen, also abfließen.
Eine ähnliche Schlußreihe macht es klar, warum frei fallende Flüssigkeits-
teilchen kugelförmige Tropfen bilden.
Die Oberfläche des ruhenden Wassers heißt Wasserspiegel,
Niveau.*)
Die Oberfläche der Flüsse ist eine schiefe Ebene. Trappe.
17. Bon der Wärme.
1. Äie Wärme vergrößert den Umfang jedes Körpers, mag
er fest, flüssig oder luftförmig sein. Eine Kugel, welche genau durch
einen Ring geht, geht nicht mehr hindurch, wenn sie erwärmt wird. Die
Eisenbahnschienen dürfen nicht so dicht an einander gelegt werden, daß ihre
*) spr. Niwoh.
122
17. Von der Wärme.
Enden sich berühren. Bei Zinkbedachungen muß den einzelnen Platten eben-
falls Spielraum gelassen werden. Ein Glas springt, wenn man plötzlich
heißes Wasier hineingießt; dasselbe geschieht, wenn das Glas warm und das
Wasser kalt ist, oder wenn man ein Glas auf den heißen Ofen setzt. Es springt
desto leichter, je dicker der Boden ist. Durch allmähliches Erwärmen oder Er-
kalten kann man das Zerspringen verhüten. Steinplatten, die durch eiserne
Klammern mit einander verbunden sind, bekommen im Winter an der Stelle, wo
die Klammer eingelasien ist. oft Nisse.
Füllt man eine enge Röhre mit Wasier oder irgend einer andern Flüssig-
keit und erwärmt sie, so lauft diese über. Eine mit Wasier gefüllte Wärmflasche
springt, wenn man sie zugeschraubt in den Ofen stellt. Eine schlaff zugebundene
Blase bläht sich auf, wenn sie erwärmt wird.
Daß manche Körper, wie feuchtes Holz, feuchter Thon, Früchte
u. dgl., in der Wärme an Umfang verlieren, rührt daher, daß die
in ihnen befindliche Flüssigkeit verdunstet.
2. Tierische Wärme. Aus einer Reihe von Beobachtungen, welche man
an Menschen und Tieren angestellt hat, haben sich folgende merkwürdige Resul-
tate ergeben:
Die Blutwärme war bei Kindern und Greisen, Gesunden
und Kranken, bei solchen, die sich nur v on Fleisch, wie bei solchen,
die sich nur von Begetabilien nähren, fast gleich. Bei. ein und dem-
selben Individuum änderte sie sich in verschiedenen Klimaten und Jahreszeiten
noch nicht um einen Grad.
Die Temperatur der warmblütigen Tiere ist von der sie um-
gebenden Temperatur unabhängig, die der kaltblütigen Tiere
mit dieser fast gleich.
Es muß demnach der Organismus der warmblütigen Tiere, wenn die Tem-
peratur der Umgebung geringer ist, Wärme erzeugen, im entgegengesetzten Falle
Wärme abführen. Da nun dieselben Sauerstoff ein- und Kohlensäure ausatmen,
so ist klar, daß der eingeatmete Sauerstoff sich mit dem Kohlenstoff des Körpers
zu Kohlensäure verbindet und dadurch so viel Wärme erzeugt, als wenn eine
gleiche Quantität Kohlenstoff in der Luft verbrennt.
Hiernach ist erklärlich, warum der Nordländer mehr Speisen und namentlich
mehr kohlenstoffhaltige zu sich nehmen muß als der Südländer, warum wir
im Winter mehr essen als im Sommer. In kalter Luft zieht man bei jedem
Atemzuge eine größere Masie Sauerstoff ein als in warmer, weil jene dichter
ist als diese. So erklärt sich auch, warum wir bei starker körperlicher Be-
wegung, wobei wir mehr Sauerstoff einatmen als sonst, größere Wärme
empfinden, warum wir durch jene Bewegung Appetit bekommen, und warum
der Körper bei zu starker Bewegung abmagert. Die Böge! sind im allgemeinen
lebhaftere Geschöpfe, machen sich mehr Bewegung als die Säugetiere, und
diese übertreffen hierin wieder die Amphibien. Die Vögel haben das wärmste
Blut und nehmen verhältnismäßig die größte Menge Nahrung zu sich. —
Tiere, welche einen Winterschlaf halten, atmen in dieser Zeit sehr langsam,
17. Von der Wärme. '
123
ihr Puls ist sehr träge und schwach, ihre Haut fühlt sich kalt an; sie werden
mager.
Die Abkühlung des Körpers wird durch die Hautausdünstung
bewerkstelligt. Wird die Ausdünstung gehemmt, z. B. wenn wir Kleidungs-
stücke von luftdichtem Zeuge tragen (Gummischuhe), so empfindet man größere
Wärme; ebenso wenn bei warmem Wetter die Luft fast mit Dünsten ge-
sättigt ist. Die Fieberhitze wird durch Schweiß gemildert.
Ist die Lufttemperatur sehr hoch, oder machen wir uns starke Körper-
bewegung, so geraten wir in Schweiß. Wir kühlen uns durch Erzeugung
von Luftzug ab.
3. Wärme auf der Erdoberfläche. Die Wärme auf der Ober-
fläche der Erde nimmt im allgemeinen vom Äquator nach den
Polen hin ab.
Denn jede Fläche am Äquator erhält mehr Sonnenstrahlen als eine
gleich große in der Nähe der Pole, und außerdem haben diese am Äquator
eine geringere Luftmasse zu durchdringen als an den Polen.
Während unter dem Äquator die Temperatur das ganze
Jahr hindurch fast gleich bleibt, wird der Unterschied zwischen
der Sommer- und Winter-Temperatur nach den Polen hin immer
größer.
Am Äquator sind jahraus, jahrein die Tage gleich lang; je weiter
nach den Polen, desto größer wird der Unterschied der Tageslängen und also
auch der der Temperatur.
Orte, welche mitten in einer großen Länderstrecke liegen,
haben kältere Winter und wärmere Sommer als solche, welche
in gleicher Breite und in der Nähe des Meeres liegen oder wohl
gar vom Meere umgeben sind. Denn im Winter kühlt sich erstens das
Meer langsamer ab als das Land, weil die erkalteten Schichten nach unten
sinken und wärmere an ihre Stelle treten; zweitens bei dem Niederschlagen
der aufsteigenden Wasserdünste wird Wärme frei, und drittens die Meere der
kalten Gegenden erhalten Zufluß aus den wärmeren Meeren. — Im Sommer
erwärmt sich das Meer langsamer als das Land, weil das Meer ein schlechterer
Wärmeleiter ist, und weil durch das Verdunsten des Wassers Wärme ge-
bunden wird; endlich erhält auch das wärmere Meer Zufluß aus dem kälteren.
Im nordöstlichen Irland gefriert im Winter kaum Eis; daher gedeiht die
Myrte dort so kräftig wie in Portugal.
Wälder und Gebirge machen das Klima eines Ortes rauher.
Die Bäume halten die Sonnenstrahlen vom Boden ab, und sie selbst werden
nicht sehr erwärmt, weil sich ihre Blätter durch Entwickelung von Gas und
Dunst kühl erhalten. Die Berge werfen Schatten.
4. Temperatur des Erdbodens. Die Temperatur des Erd-
bodens hängt in den oberen Schichten von der Temperatur der
Luft ab; dabei wird aber ein kahler, steiniger Boden durch die
Sonnenstrahlen stärker erwärmt als ein mit Pflanzenwuchs be-
deckter; auch kühlt sich des Nachts letzterer stärker ab als ersterer.
124
18. Wasserdampf und Verdunstung.
Die Veränderungen in der Temperatur der Luft werden in
dem Boden mit zunehmender Tiefe immer unmerklicher, z. B. in
Deutschland sind die täglichen Temperaturveränderungen schon in einer Tiefe
von 0,6 Meter unmerklich, in einer Tiefe von 20—24 Meter verschwinden
auch die jährlichen, so daß hier die Temperatur jahraus, jahrein unver-
ändert bleibt. Schon in unseren Kellern ist der Temperaturunterschied des
Sommers und Winters geringer als aus der Oberfläche des Bodens.
Die Tiefe, in welcher die Temperatur konstant bleibt, hängt
von der Leitungsfähigkeit des Bodens und von dem Temperatur-
unterschiede der heißesten und kältesten Jahreszeit ab. Die Tiefe
der konstanten Temperatur wird daher vom Äquator nach den Polen zu immer
größer. In dem Keller des Observatoriums zu Paris hat sich seit 1671 die
Temperatur nicht verändert.
Von da ab, wo die Temperatur konstant ist, steigt sie mit
zunehmender Tiefe, und zwar ungefähr mit je 40 Meter um
einen Grad.
Die größte Tiefe, bis zu der man bis jetzt gelangt ist, beträgt 1271 Meter.
Nimmt die Temperatur in demselben Verhältnisse zu, so müssen in einer Tiefe
von 7 Meilen schon Eisen und Basalt, und in höchstens 37 Meilen Tiefe die
meisten bekannten Felsarten flüssig sein. Trappe.
18. Wasserdampf und Verdunstung.
Die Wärme ist es, welche das Wasser zwingt, eine andere Gestalt
anzunehmen, und zwar desto schneller, je größer die Wärme ist, desto
langsamer, je geringer dieselbe ist. Man kann das an einem Topfe
sehen, in welchem Wasser siedend gemacht wird. Wird der Topf ver-
gessen, so sagt man, das Wasser ist eingekocht, d. h. es ist immer
weniger geworden. Ein Teil des Wassers hat sich also in der neuen
anderen Gestalt, die wir nun kennen lernen müssen, auf und davon
gemacht. Es sind zwei Gestalten, in denen das Wasser entflieht, eine sicht-
bare und eine unsichtbare. Die erste, die sichtbare, kennt ihr alle und
habt sie oft benennen hören und selbst benannt, aber gewöhnlich falsch.
Man sagt: die heiße Suppe, der heiße Thee raucht. Das ist aber eben
falsch. Brennendes Holz raucht, heiße Suppe und heißer Thee dampft.
Wenn ihr eure Hand über dampfende Suppe haltet, so wird sie naß,
bekommt aber keinen Geruch; wenn ihr aber die Hand in Rauch haltet,
so wird sie nicht naß, sondern rußig und bekommt den bekannten
Rauchgeruch. Rauch und Dampf sind zwei sehr verschiedene Dinge.
Rauch kommt immer von einem brennenden Körper her, und der Dampf
ist die sichtbare von den zwei anderen Gestalten, in welche das Wasser
von der Wärme verwandelt wird.
Die Wärme, welche sich in dem heißen Wasser durch die Feuerung
entwickelt hat, treibt das Wasser an, sich in Dampfwolken zu erheben;
es wird also die zusammenhängende Flüssigkeit in eine fast luftartige
Form verwandelt.
18. Wufferdampf und Verdunstung.
125
Allein diese Form, die Dampfform, kann das Wasser nicht lange
behaupten; denn wir sehen, daß die aus einem dampfenden Topfe auf-
steigenden Wasserdämpfe schnell verschwinden, und wenn wir auch in
einem verschlossenen Zimmer einen großen Topf voll Wasser ganz ein-
kochen lassen, d. h. das ganze Wasser in Dampfform in die Luft des
Zimmers übergehen lassen, so wird das Zimmer dennoch nicht ganz
mit Dampfwolken gefüllt, und wenige Minuten nach Verdampfung des
letzten Wassers erscheint die Luft des Zimmers wieder klar.
Wo ist der Dampf hingekommen?
Das ganze verdampfte Wasser ist noch in der Luft des Zimmers,
aber in einer unsichtbaren Gestalt; es hat sich noch feiner aufgelöst,
während der Dampf gewissermaßen eine gröbere Auflösung des
Wassers ist.
Es ist nun zu einer eigentlichen Luftart geworden, die wir Wasser-
gas nennen.
Wie wir durch Wärme das Wasser leicht in Dampf und Wasser-
gas verwandeln können, eben so leicht können wir es durch Kälte
zwingen, seine gewöhnliche Wassergestalt wieder anzunehmen.
Wenn wir in das mit unsichtbarem Wassergas angefüllte Zimmer
aus der kalten Küche Teller oder Gläser, die also ebenfalls kalt sind,
bringen, — was wird da mit diesen? Ihr habt dies alle schon oft ge-
sehen: sie betauen, oder wie man auch sagt: sie laufen an, sie be-
schlagen, sie werden blind; nach wenigen Minuten sind sie ganz naß,
obgleich sie trocken hereingebracht wurden.
Wo kommt denn das Wasser her, das nun die Gläser und Teller
naß macht?
Es ist das Wasser, das vorhin in dem Topfe war und jetzt als
Wassergas in der Luft des Zimmers ist.
Bedenkt einmal, das kleine bißchen Wasser, das in dem Topfe
Platz hatte, füllt jetzt das ganze Zimmer aus. Es muß sich also ge-
waltig ausgedehnt haben, und zwar so sehr, daß es so dünn und fein
geworden ist, daß wir es gar nicht mehr sehen. Das hat eben die
Wärme hervorgebracht, welche alle Dinge und also auch das Wasser
ausdehnt.
Die Kälte, die eine Feindin der Wärme ist, macht das zu nichte,
was die Wärme bewirkt hat. Die Wärme dehnt das Wasser zu
dem feinen unsichtbaren Wassergas aus, die Kälte zieht es
wieder zu dem gewöhnlichen Wasser zusammen/
Wir sehen dies an den kalten Gläsern und Tellern.
Die Kälte der Teller und Gläser hat das Wassergas, welches in
der Stubenluft war, genötigt, seine Gasgestalt aufzugeben und wieder
wirkliches Wasser zu werden. Dabei mußte aber das Wasser ebenfalls
vorher erst dampf- oder tauförmig (was einerlei ist) werden, denn wir
126
18. Wasserdampf und Verdunstung.
sehen das Glas zuerst bloß betaut, angelaufen. Aber die kleinen Bläs-
chen, aus welchen der Dampf besteht, flössen zu größeren und immer
größeren Bläschen zusammen, bis zuletzt große Tropfen daraus wurden,
die nun an dem Glase herablaufen.
Doch da fällt mir eben ein, daß wir gar nicht nötig hatten, Teller
und Gläser aus der kalten Küche hereinzuholen, um das entflohene
Wasser aus der Luft wieder herbeizurufen. Seht nur einmal die
Fensterscheiben an. Sie schwitzen. Daß der Fensterschweiß nicht
aus dem harten und dichten Glase herausdringt wie der Schweiß aus
eurer Haut, werdet ihr wohl einsehen. Von der kalten Luft draußen
vor dem Fenster wird die Glasscheibe kalt, und diese ist daher im-
stande, das in der nach dem Fenster dringenden Stubenluft enthaltene
Wassergas wieder in wahres Wasser zurück zu verwandeln. An der
Fensterscheibe fand also ein wahrer Kampf um das Wasser statt
zwischen der Stubenwärme und der äußeren Kälte. Die warme Stuben-
luft dehnt das Wasser aus, und die kalte äußere Luft zieht es wieder
zusammen. Ist es draußen aber ebenso warm wie im Zimmer, dann
findet natürlich ein solcher Kampf nicht statt; darum laufen die Fenster
im Sommer auch nicht an.
Die Umwandelung des Wassers in Dampf und Wasser-
gas nennt man die Verdunstung. Daß der Wasserdampf und
vollends das Wassergas leichter ist als das Wasser, ist leicht zu be-
greifen; es steigt daher in der Luft in die Höhe und verbreitet sich
darin nach allen Seiten; daher läuft ein kaltes Glas an jeder Stelle des
Zimmers an, auch weit von dem siedenden Topfe, aus welchem der
Dampf emporsteigt.
Nun denkt einmal darüber nach, wie viel Wasser in jedem Augen-
blick auf der ganzen Erde verdampft oder, wie wir es nun nennen
wollen, verdunstet. Das in den Gemächern, in Küchen, Waschhäusern
und Fabriken der Menschen verdunstende Wasser entweicht als Wasser-
gas beim Öffnen der Thüren und Fenster pfeilschnell in die Luft hin-
aus, ja, es findet durch die feinsten Öffnungen einen Ausweg mit der
Luft in das Freie. Jeder Wasserspiegel eines Teiches, jede Pfütze,
jeder Bach, jeder Fluß, vor allem das Meer verdunstet einen Teil
seines Wassers, am meisten natürlich in der warmen Jahreszeit, im
Winter nur sehr wenig oder fast gar nichts.
Es ist daher die Luft fortwährend bald mehr, bald weniger mit
aufgelöstem Wasser erfüllt, teils mit dem unsichtbaren Wassergas,
teils mit dem sichtbaren Wasserdampf. Der sichtbare Wasserdampf,
das sind die Wolken; denn da ihr wißt, daß aus den Wolken der Regen
kommt, so werdet ihr auch nun schon erraten haben, daß die Wolken
nichts anderes sind als von der Erde in die Luft emporgestiegenes
Wasser.
Nun begreift ihr auch, wie manchmal im Sommer ein völlig heiterer
Himmel in wenigen Minuten mit schwarzen Gewitterwolken bedeckt
19. Das Licht als Maler.
127
wird. Es geschieht am Himmel dasselbe wie in dem Zimmer, wo wir
vorhin Wasser verdampfen ließen. Die hereingebrachten Gläser zogen
einen Teil des in der Zhnmerluft verteilten, feinen Wassergases als
anfangs ganz feinen Beschlag zusammen, aus dem nach und nach herab-
laufende Wassertropfen wurden. Was in der Zimmerluft ein kaltes
Glas thut, das thut in der Himmelsluft ein kalter Wind, welcher das in
der warmen Luft unsichtbar verteilte Wassergas durch seinen- kalten
Hauch zu Dampf verdichtet, dessen feine Bläschen nach und nach
immer größer werden, bis sich Regentropfen daraus bilden, welche
niederfallen, da sie zu schwer sind, um sich in der Luft schwebend er-
halten zu können.
Der Regen ist also nichts anderes als die Rückkehr des Wassers
zur Erde, welches durch die Verdunstung gen Himmel gestiegen war.
Das Wasser, das heute durch das Trockenwerden von aufgehängter
Wäsche in unserer Stadt als Wassergas emporgestiegen ist, fällt viel-
leicht, von den Winden fortgetrieben, nach Wochen hunderte von
Meilen weit als Regen nieder. So steht das Kleine mit dem Großen
in Verbindung, wird das Große aus dem Kleinen. Der Schluck Wasser,
den ein Durstiger begierig trinkt, ist vielleicht vor einiger Zeit aus den
Kochtöpfen seiner fernen Vaterstadt als Dampf emporgestiegen.
Wie wenig hat dazu gehört, um uns den großen Kreislauf des
Wassers durch Himmel und Erde begreiflich zu machen! Wir können
nun bei jedem Regentropfen, der auf unsere Hand fällt, fragen: Wo
mag der wohl herkommen? und bei jedem Dampfwölkchen, das aus
unserem Suppenteller aufsteigt: Wo wirst du denn einmal als Regen
niederfallen? Roßmäßler.
19. Das Licht als Maler.
Das Licht erwärmt und erhellt alles; es ist aber auch ein Maler,
und zwar der beste von allen Malern in der ganzen Welt. Das kann
man recht an einer camera obscura wahrnehmen. Was ist das, eine
earnora obscura? Zu deutsch heißt es eine dunkle Kammer. Auf einem
Jahrmärkte war einmal ein Zelt mit dieser Überschrift aufgestellt. Wer
aus dem hellenSonnenscheine in dasselbe eintrat, dem erschien es im ersten
Augenblicke darin so dunkel, daß er anfangs kaum etwas erkennen konnte.
Aber hell und klar fiel das Licht auf einen im Zelte aufgestellten weißen
Tisch. Wenn man näher zusah, so bemerkte man auf demselben ein lieb-
liches Bild.
Der Platz mit seinen Zelten und Buden, auf dem sich die camera
obscura befand, daneben das Flüßchen und die Bäume, jenseits das
Schloß und die Häuser der Stadt, alles war getreu entworfen und schön
gemalt, mit denselben lieblichen Farben wie in der Wirklichkeit, nur alle
Gegenstände kleiner, aber eben deshalb lieblicher! Welcher Maler zeich-
nete das reizende Bild so schnell und naturgetreu und führte es in den
128
19. Das Licht als Maler.
entsprechenden Farben ans? Welcher Maler? Weder Stift, noch Farben-
kasten, nur die Strahlen der Sonne waren bei dem Bilde thätig. Der
zarte Lichtfnuke ist der Pinsel, mit welchem das Zaubergemälde vor unsern
Augen getuscht wird.. Siehe, wie die Bäume im leisen Windhauche sich
wiegen und die Wellen des Wassers sich kräuseln! Ein Schwarm Tauben
fliegt über den Platz, und leichtes Gewölk zieht über den blauen Grund
des Himmels. Männer und Frauen kommen von den Zelten und tragen
ihre gekauften Herrlickckeiten nach Hause. Zwei Herren nahen dem Vorder-
gründe im eifrigen Gespräche. Zwar hört man ihre Worte nicht; doch
sieht man die erklärenden Bewegungen der Hand, ja man kann ihnen die
Worte fast vom Munde ablesen. Links vor dem Zelte stehen Leute
am Kaffeetische; der eine schenkt sich jetzt ein, der zweite ruft sein
Hündchen, das sich mit einem großen schwarzen Pudel auf dem Rasen-
platze tummelt. Man wird nicht müde zu sehen und sich zu verwundern.
Jeden Augenblick wechselt die Handlung, jetzt Soldaten, dann Landleute,
spielende Knaben und Mädchen mit neugekauften Puppen; immer etwas
Neues!
Doch wie gelangt das Bild hinein in das dunkle Zelt und hierher
auf den weißen, glänzenden Tisch? Oben in der Spitze des Zeltes ge-
wahrt man die gebogene Röhre, die man schon von außen bemerkt. An
ihrem vorderen Ende sind künstlich geschliffene Gläser, welche die Gegend
vor ihnen verkleinert erscheinen lassen. Dahinter befindet sich ein schräg
gestellter Spiegel, gerade in der Kniebeugung der Röhre. Dieser reflektiert,
wie man zu sagen pflegt, das aufgefangene Bild, er spiegelt es auf den
Die Camera obscura ist
gegenwärtig für die Darstellung
von Lichtbildern von höchster
Wichtigkeit. Die nebenstehende
Abbildung zeigt eine kleine, trans-
portable camera obscura. Das
von der Konvex-Linse a erzeugte
Bild wird von einem Plan-
spiegel b auf eine horizontale,
matt geschliffene Glasplatte c ge-
worfen. — Treten wir ein in
das Zimmer eines Künstlers,
der sich mit Anfertigung solcher Lichtbilder beschäftigt! Es gilt, das Bild
eines Mannes aufzufangen. Derselbe setzt sich zurecht in die Stellung,
die er auf dem Bilde zu haben wünscht. Das helle Licht beleuchtet sein
Gesicht. Jetzt richtet der Künstler das Verkleinerungsglas der dunkeln
Kammer, die er vor sich stehen hat, auf den Mann. Das Bild desselben
zeigt sich klar und deutlich auf der mattgeschlisienen Glasplatte gegenüber,
nur umgekehrt. Die Glasscheibe wird weggenommen und an ihre Stelle
eine mit einem ganz dünnen Häutchen von Kollodium und Jodsilber über-
weißen Tisch im dunkeln Zelte herab.
20. Rätsel. 21. Das menschliche Auge und das Sehen.
129
zogene Glasscheibe eingesetzt. Das Bild spiegelt sich auf ihr und ist in
wenigen Sekunden aufgefangen. Der Mann, der bis jetzt unbeweglich
auf seinem Stuhle saß, darf sich nun bewegen, so viel er will. Neu-
gierig will er sehen, ob das Bild gelungen ist. „Geduld!" mahnt der
Verfertiger des Bildes. — Der Künstler taucht die Glasplatte in eine
Lösung von schwefelsaurem Eisenoxydul, und nun erscheint ein schwarzes
Bild des Mannes auf der Glasplatte; aber es ist ein umgekehrtes, ein
negatives, d. h. die Stellen, die, wenn ein Maler ein Portrait*) auf
weißes Papier gezeichnet hätte, schwarz waren, sind durchsichtig geblieben,
und die Stellen, welche er weiß gekästen, sind schwarz geworden. Nun
wäscht der Künstler das übrige Jodsilber und Kollodium ab, legt die
Glastafel auf Papier, welches mit Chlorsilber getränkt ist, und läßt
die Sonne darauf scheinen. Diese färbt die unter den durchsichtigen
Stellen der Glastafel befindlichen Teile des Papiers schwarz nnd läßt
die unter den schwarzen weiß, und in kurzer Zeit ist die schönste richtige
Zeichnung auf dem Papiere. Unübertrefflich treu zeigt sich jeder Zug des
Angesichts, jedes Härchen des Hauptes, jede kleine Falte des Anzugs.
Damit aber die Sonne das Papier, wenn das Bild eingerahmt ist, nicht
ganz und gar schwarz macht, wird ersteres durch ein Bad in Salzwasser
gegen die fernere Einwirkung des Lichtes unempfindlich gemacht. So ver-
mag der Freund dem fernen Freunde, der Vater dem Kinde, das in
der Weite wandert, sein Bildnis zu senden. Nach vielen Jahren be-
trachten die Enkel noch das Angesicht des Großvaters: „So sah er aus,
als er noch ein junger Mann war; das Bild ist treu; denn der Sonnen-
strahl hat es gezeichnet." wagn er u. Trappe.
20.
I. Kennst du das Bild auf zartem
Grunde?
Es giebt sich selber Licht und Glanz.
Ein andres ist’s zu jeder Stunde,
und immer ist es frisch und ganz.
Im engsten Raum ist’s ausgeführet,
der kleinste Rahmen faßt es ein;
doch alle Größe, die dich rühret,
kennst du durch dieses Bild allein.
Rätsel.
2. Und kannst du den Kristall mir
nennen ?
Ihm gleicht an Wert kein Edelstein;
er leuchtet, ohne je zu brennen ;
das ganze Weltall saugt er ein;
der Himmel selbst ist abgemalet
in seinem wundervollen, Ring,
und doch ist, was er von sich strahlet,
noch schöner, als was er empfing.
Schiller.
21. Das menschliche Auge und das Sehen.
I. Ñas menschliche Auge ist auch eine camera obscura. Es besteht
aus einem kugelförmigen Körper, besten hintere Begrenzungsfläche eine weiße,
undurchsichtige, dessen andere eine durchsichtige Haut ist. Es ist durch die
*) spr. Porträh.
Deutsches Lesebuch für kath. Schulen. W. Für Oberklaffen.
9
130 ' 21. Das menschliche Auge und das Sehen.
farbige Regenbogenhaut, die Iris, die dem Auge die Farbe giebt, blau,
braun u. dgl., in zwei Abteilungen geteilt, von denen die Hintere von
einer gallertartigen, die andere von einer wässerigen Flüssigkeit erfüllt ist.
Beide Substanzen sind ganz klar und durchsichtig. In der Iris ist ein
rundes Loch, die Pupille genannt. Hinter dieser steht eine sehr klare Konvex-
Linse, welche von den vor dem Auge stehenden Gegenständen ein kleines Bild
auf der inneren, hinteren Wand des Auges erzeugt. Diese ist mit einem
zarten Nervenhäutchen bekleidet, welche durch das Bild empfindsam berührt
nürd. Diese Nervenhaut ist eine Ausbreitung des Sehnervs, der aus dem
Gehirn kommt; der Sehnerv pflanzt den Bild-Eindruck nach dem Gehirn fort,
wo dieser zum Bewußtsein kommt. Von was für einem Gegenstände aber
dieser Nerveneindruck herrührt, erfahren wir durch denselben nicht, wenn wir
uns nicht früher durch den Tastsinn in Kenntnis gesetzt haben lwas gewöhnlich
in der Kindheit geschieht), was für ein Gegenstand dem Eindrücke auf den
Sehnerv entspricht; daher die Neigung der Kinder, alles zu betasten. Das
Sehen ist also nicht ein bloßes Empfinden, sondern zugleich ein Urteilen.
Ein Blindgeborener, der dnrch seine übrigen Sinne recht wohl seine Umgebung
kennt, würde daher, wenn er auf einmal sehen lernte, die ihm bekannten
Gegenstände vermittelst des Gesichtes nicht erkennen.
Der Maler ist imstande, bloß vermittelst schwarzer Farbe auf eine weiße
Fläche einen Körper zu malen. Die eine Fläche mit der verschiedenen Ver-
teilung von Licht und Schatten macht also fast denselben Eindruck auf unser
Auge als die nach verschiedenen Richtungen sich erstreckenden Begrenzungs-
flächen eines Körpers. Ob wir also eine einzige Fläche oder einen Körper
vor uns haben, und was dieser für eine Gestalt habe (denn diese hängt von
den Begrenzungsflüchen ab), beurteilen wir zunächst aus der verschiedenen
Verteilung von Licht und Schatten auf seinen Flächen. Bei eckigen Körpern
sind die Licht- und Schattengrenzen gerade Linien; bei runden Körpern nimmt
das Licht allmählich ab; z. B. bei einer Kugel hat ein Punkt, bei einem
Cylinder eine Linie das hellste Licht; von da geht es allmählich in Schatten
über. Aber doch läßt sich selbst das täuschendste Bild noch von einem Körper
unterscheiden, und zwar deshalb, weil man von einem Körper in jedem Auge
ein anderes Netzhautbild erhält. Mit dem liuken Auge sieht man nämlich
mehr von den links liegenden Teilen desselben, mit dem rechten mehr von
den rechts liegenden. Daß sich unser Urteil gerade auf diesen Umstand stützt,
sind wir uns zwar nicht bewußt, läßt sich aber durch ein Instrument, das
sogenannte Stereoskop, beweisen.
2. Die Einrichtung des Stereoskopes ist folgende: In den Deckel eines
Kästchens ab sind zwei Röhren ee so eingesetzt, daß man durch sie wie durch
eine Brille nach dem Boden desselben sehen kann. Hier liegen neben ein-
ander zwei Bilder von ein und demselben Gegenstände, am besten photo-
graphische, von denen das eine den Gegenstand so darstellt, wie man ihn mit
dem linken, das andere, wie man ihn mit dem rechten Auge sieht. In die
beiden Röhren eo sind zwei prismatische Gläser gg eingesetzt, durch welche
die Lichtstrahlen so gebrochen werden, daß die beiden neben einander liegenden
21. Das menschliche Auge und das Sehen.
131
Bilder auf ein und derselben Stelle erscheinen. Sieht man nun von oben durch
die Gläser, so erblickt man nicht zwei Bilder, sondern einen Körper.
Damit die Bilder hinlänglich er-
leuchtet sind, muß die eine Seitenwand
des Kästchens zur Hälfte ausgeschnitten
sein.
Gesetzt, m und m' sind zwei ent«
'prechende Punkte der beiden Bilder, so
gehen die Lichtstrahlen durch die Gläser
in der Richtung rars, so daß man die
Punkte zusammen in dem Durchschnitts-
punkte der Linien sr sieht.
3. Ebenso erfahren wir durch das
Netzhautbild allein nicht, wie groß ein
Gegenstand und wie weit er von uns
entfernt ist. Dazu bedarf es der Mit-
wirkung des Verstandes.
Wenn wir die Größe eines Gegen- w
standes beurteilen wollen, so richten
wir das Auge zunächst nach desien unterstem Punkte und drehen es dann
bis zum obersten. Je größer nun der Gegenstand ist, einen desto größeren
Winkel muß die Augenachse dabei beschreiben. lDieser Winkel wird Seh-
winkel genannt.) Wir schließen daher auch umgekehrt, je größer der Seh-
winkel für einen Gegenstand ist, b<.|to größer ist dieser. Ist dieser aber schräg
gegen unser Auge gerichtet, oder steht er sehr weit von uns entfernt, so wird
dadurch der Sehwinkel kleiner; wir müssen also diesem Ilmstande bei unserm
Urteile Rechnung tragen. Außerdem benutzen wir bei Beurteilung der
Größe der Gegenstände die Vergleichung derselben mit andern uns bekannten,
daneben befindlichen Gegenständen. Die Entfernung beurteilen wir aus der
Größe und Deutlichkeit, in der uns der Gegenstand erscheint, und aus der
Menge anderer Gegenstände, die zwischen ihm und uns liegen. Ein Dorf
scheint uns näher zu liegen, wenn das Feld mit Schnee bedeckt ist (besonders
bei Sonnenschein) als im Sommer. Warum kann man die senkrechte Ent-
fernung weniger gut beurteilen als die horizontale? Bei hellem Wetter
schießt der Jäger in viel größere Höhe nach Vögeln als bei trüber, besonders
nebeliger Witterung, und daher im ersteren Falle viel öfter vergeblich als im
letzteren. Über einen Fluß zu werfen, gelingt weniger gut als über ein
Ackerftück, welches ebenso breit erscheint. Sieht man nach Gegenständen
durch die hohle Hand oder durch eine andere kleine Öffnung, so erscheinen
dieselben viel ferner, als mit freiem Auge gesehen. Der Maler malt die
Gegenstände, welche er als in der Ferne liegend darstellen will, sehr klein,
mit unbestimmten Farben und mit unbestimmten Umrissen. Die Höhe eines
Turmes erscheint, wenn man von oben herabsieht, viel größer als eine
gleiche horizontale Entfernung; die Sterne halten wir alle für gleich weit
entfernt. Ein Turm, der hinter einem Berge hervorragt, scheint auf dem
9 ^
132
22. Was sicht man durch das Mikroskop?
Berge zu stehen. Die Bergspitzen eines Gebirges scheinen alle gleich weit von
uns entfernt zu sein. Die Entfernung hoher Berge halten wir gewöhnlich für
kleiner, als sie wirklich ist.
Es erscheinen uns Sonne und Mond beim Auf- und Untergange viel
größer, als wenn sie hoch über dem Horizonte stehen, obgleich der Sehwinkel
in beiden Fällen derselbe ist. Ebenso scheinen die einzelnen Sterne eines
Sternbildes in der Nähe des Horizontes viel weiter von einander zu stehen,
als wenn sich letzteres in größerer Höhe befindet.
Wie sehr beim Sehen der Verstand thätig sein muß, um den Eindruck,
den ein Gegenstand auf die Netzhaut macht, zu entziffern, geht unter anderem
auch daraus hervor, daß die Tiere, wenn ihr Auge auch schärfer als das
des Menschen ist, doch schlechter sehen als dieser. Denn das Wild erkennt
z. B. den auf dem Anstande stehenden Jäger nicht, wenn es auch nur um
wenige Schritte neben ihm aus dem Walde kommt, vorausgesetzt, daß dieser
sich ganz regungslos verhält. Die scheuesten Tiere stutzen zwar, wenn sie
ihn sehen, betrachten ihn einige Zeit, gehen dann aber sorglos weiter. Auch
bei der Treibjagd, also am Tage, kommt das Wild im Walde auf den ruhig
stehenden Jäger los, sieht ihn an und erkennt ihn nicht. Trappe.
22. Was sieht man durch das Mikroskop?
Wie das Schwesterinstrument, das Teleskop, erweitert auch das Mikroskop,
indem es unser Auge tiefer und tiefer in die Geheimnisie des unendlichen
Raumes eindringen läßt, zugleich unserm Geiste die Grenzen der begreifbaren
Zeit. Dadurch, daß es die Dinge in ihre einzelnen Bestandteile auflöst,
zeigt es uns ihr Werden, läßt es uns Vorstellungen gewinnen von dem
Zustande, auf welchem das Bestehende sich aufbaute, und von den Kräften,
die sich in dem ungeheuern Rahmen der Vergangenheit regen, bekämpfen
und gebären mußten, ehe alle die Veränderungen durchlaufen waren, deren
Spuren nur noch wie ein großes Gerippe hinter uns liegen. Nimm ein
Stück Kreide in die Hand und bringe den feinen Staub, der an deinen
Fingern haften bleibt, unter das Mikroskop. Welcher Reichtum regelmäßiger
Bildungen, die organischem Leben ihren Ursprung verdanken! Das ganze
Stück der weißen Maste besteht aus lauter feinen kieseligen und kalkigen
Panzern untergegangener Tiere von solcher Kleinheit, daß in einem Kubikcenti-
meter Kreide oft mehr als 1000 Millionen neben einander gebettet sind.
Und in den Alpen giebt es Gebirge von mehreren tausend Metern Höhe —
aus lauter solchen Tierresten aufgebaut, und vom 57. Grad nördlicher Breite
bis hinunter an das Kap Hoorn ist die Kreideformation verbreitet! Nicht
genug, daß diese einzelnen Teilchen nach ihrem Ursprünge unterschieden
werden können, ihre einstigen Besitzer sind in Arten geordnet worden, wie
wir die Fische oder Vögel klassifizieren. Ehrend erg, der berühmte Erforscher
der mikroskopischen Welt, der den Ruhm hat, von allen Menschen am meisten
Neues zum erstenmal gesehen und die Kenntnis der Natur mit der größten
Zahl neuer Thatsachen bereichert zu haben, zählte allein in der Kreide von
22. Was sieht man durch das Mikroskop?
133
Gravesend*) 50 und ün Kreidekalk vom Antilibanon 40 verschiedene
Arten.
Wir treten hin zur Pflanzenwelt. Da ist ein klarer, schnellfließender
Bach; sein Grund ist von einem saftgrünen Rasen überzogen, der durch die
sich verfilzenden und verschlingenden Zweige einer Alge gebildet wird. In
den ersten Zeiten des erwachenden Frühlings lösen wir ein Stückchen Rasen
ab, um es daheim zu beobachten. Wir entwirren behutsam einige Fäden,
und das Mikroskop zeigt uns, daß sie aus einfachen oder bei andern Arten
aus in Zellen geteilten Schläuchen bestehen, in welchen Kügelchen oder
Körnchen liegen. Diese. Sporen genannt, fangen, wenn ihre Zeit gekommen
ist, an, in ihrem Gefängnisie so lange zu drängen, bis sie desien Wände
zersprengt haben; sie treten aus. einzeln oder in Haufen, und geraten als-
bald in lebhafte Bewegung, fahren im Wasier hin und her, tauchen auf und
ab, daß man meinen möchte, die Pflanze habe ein Tier geboren. Aber
nein — es ist etwas anderes. Das merkwürdige Ding rudert allerdings
mittelst zarter, lebhaft sich bewegender Härchen oder Wimpern wie mit
Schwimmfüßchen; aber seine Bewegung ist eine völlig willenlose, sein Herum-
schwärmen hängt von tausend Zufälligkeiten ab; es steuert auf entgegenstehende
Hindernisse gerade los und bleibt an der Wand des Gesäßes oft hängen, wo
die mit willkürlicher Bewegung begabten Geschöpfe schnell zurückprallen würden.
Nachdem die Spore sich 10 bis 20 Minuten herumgetummelt hat, wird ihr
Lauf immer langsamer, endlich kommt sie zur Ruhe; die Bewegungen der
Wimpern hören auf; diese selbst verschwinden, die Spore nimmt die Kugel-
form an, sie bekommt an mehreren Seiten Fortsätze und wächst zur Alge
aus. Die Spore ist ein Pflanzenkeim. Und wie groß ist eine solche Spore?
Nun, mit bloßem Auge kann man sie schwerlich sehen, bei 400facher Ver-
größerung aber erscheint sie so groß wie ein Kirschkern und fast ebenso
gestaltet. Wie aber diese ersten Regungen einer Pflanze, ebenso zeigt uns
das Mikroskop die Geheimnisie ihrer höchsten Entwickelung. Es belehrt uns
über das Wesen der Befruchtung; mit seiner Hilfe erfahren wir. welche
Funktionen den einzelnen Teilen der Blüte zukommen. Und aus der
Gesamtheit solcher Anschauungen klärt sich unsere Vorstellung vom Wesen
der Pflanze, und in der Erkenntnis ihrer Bedürfnisie und Verrichtungen
finden wir die Mittel, auf rationelle Weise Wachstum. Blüte und Frucht zu
begünstigen, schädliche Einflüsse abzuwehren und nach unsern Zwecken die unent-
behrliche Thätigkeit des Pflanzenreichs zu erhöhen. Erst durch den Gebrauch des
Mikroskops ist uns die Zelle als Elementarbestandteil der Pflanze bekannt
geworden.
Was uns als widriger Schimmel an Brot und anderen Speisen begegnet,
verwandelt sich unter dem Mikroskope in den zierlichsten Wald von größerem
Formenreichtum als alle unsere Laub- und Nadelwälder. Nicht nur die
Kartoffelkrankheit, sondern sogar tierische und menschliche Krankheiten, wie
*) spr. Grchws'cnd'.
134
23. Vom Nutzen chemischer Kenntnisse.
Arten von Tchimmel. n. G.
die Kinderschwämmchen u. dgl., sind dnrch gewisse auftretende Pflanzen und
namentlich Schimmelpilzbildung charakterisiert.
Wie der Pflanzenkunde, so
y p ist naturgemäß das Mikroskop
auch denjenigen Gebieten, welche
0^/.sich mit dem Leben des Tieres
LM und des Menschen beschäftigen,
das wesentlichste Förderungs-
mittel geworden. Die rohe
Auffassung in der Behandlung
von Krankheiten hat vernünf-
tigen, rationellen Heilmethoden
Platz machen müssen; denn man
hat gelernt, die Thätigkeit der
Nerven, der Haut, der Muskeln
aus der genauesten Beobachtung ihrer kleinsten Organe zu erkennen, und die
Veränderungen im normalen Verlaufe der körperlichen Funktionen auf ihre
wahren Ursachen zurückzuführen. Das Mikroskop unterscheidet auf das genaueste
menschliches Blut von tierischem und entlarvt mit derselben Sicherheit das gräß-
lichste Verbrechen, wie es die Verfälschung leinener Gewebe oder teurer Ge-
würze aufdeckt.
Welcher Arzt will eine Hautkrankheit heilen, wenn er selbst nicht weiß,
in welcher Art die Haut im körperlichen Organismus thätig ist! Unsere
Sinnesorgane selbst, die wichtigsten Werkzeuge, denen wir alle Kenntnis ver-
danken, sie sind uns erst bekannt geworden durch die mikroskopische Untersuchung
ihres inneren Baues.
In den fünfziger Jahren entdeckte vr. Zenker in Dresden kleine
Schmarotzer-Tierchen, Trichinen, welche sich bald in größerer, bald in
geringerer Menge in den Muskeln Gestorbener vorfanden, und die im Zu-
sammenhange mit gewissen Krankheitserscheinungen zu stehen schienen. Von
dem Augenblicke an, wo die Aufmerksamkeit auf diese Schmarotzer gelenkt
war, wuchs die Anzahl der beobachteten Fülle unglaublich, nnd da man in
nicht seltenen Fällen den eingetretenen schmerzhaften Tod als Folge der mnssen-
haften Einwanderung jener Tiere ansehen mußte, bekam die Sache eine
höchst dringliche Bedeutung. Schon aus den Beobachtungen der Eingeweide-
würmer. namentlich ans den Untersuchungen über den Bandwurm, wußte man,
daß viele Tiere gewisse Lebensphasen in verschiedenen größeren Tieren durch-
machen, und es dauerte nicht lange, so fand man, den andeutenden Spuren
folgend, daß die Trichinen vorzugsweise durch den Genuß rohen Schweinefleisches
in den menschlichen Körper übergeführt werden. Zöllner.
23. Vom Nutzen chemischer Kenntnisse.
Jedermann weiß, daß ein Stück Eisen sich beim Aus-
glühen in Hammerschlag, beim Liegen in feuchter Luft oder Erde
über in Kost verwandelt, daß der ausgepreßte Saft der Wein-
23. Dom Nutzen chemischer Kenntnisse.
135
trauben nach und nach zu Wein wird und dieser wieder zu
Essig, daß Holz in einem Ofen oder Öl in einer Lampe beim
Verbrennen verschwindet, daß Tier- und Pflanzenstoffe mit
der Zeit verderben, zerfallen und endlich gleichfalls verschwinden.
Hammerschlag und Rost sind verändertes Eisen. Das Eisen
ist hart, zähe, grauweiß und glänzend, in der Glühhitze wird es unter
Gewichtsvermehrung schwarz, matt und brüchig, in feuchter Luft
braungelb und pulverig. Der Wein ist veränderter Most.
Von dem süßen Geschmack, den der Traubensaft besaß, ist an
ihm nichts mehr wahrzunehmen; er schmeckt geistig, besitzt eine
erwärmende und berauschende Kraft, die in dem Moste nicht vor-
handen war. Der Essig ist veränderter Wein; er schmeckt
und riecht sauer, statt geistig, und sein Genuß wirkt nicht be-
rauschend, sondern kühlend und niederschlagend. — Das bei der
Verbrennung verschwundene Holz oder Öl müssen wir in der Luft
suchen; denn beide Stoße verwandeln sich beim Verbrennen in
Luftarten; bei dieser Verwandlung wird zugleich Wärme und
Licht erzeugt; sie erfolgt unter der Erscheinung von Feuer. —
Ähnlich sind die Veränderungen, welche Pflanzen und Tierstoffe
bei längerer Aufbewahrung erleiden ; sie verwandeln sich, während
sie verfaulen oder verwesen, nach und nach in Luftarten, die
zum Teil einen sehr unangenehmen Geruch besitzen.
Solche Vorgänge, welche nicht bloß die äußere
Form, sondern das ganze innere Wesen der Körper
umwandeln, nennt man chemische Vorgänge. Durch
sie werden, oft unter Erwärmung oder Feuererscheinung, die
Körper nach Gewicht, Form, Festigkeit, Farbe, Geschmack, Ge-
ruch, Wirkung so von gründ aus verändert, daß aus ihnen
ganz neue Körper mit ganz neuen Eigenschaften entstehen.
Wohin wir nur blicken auf der Erde, überall gewahren wir
chemische Prozesse: auf dem Festlande, in der Luft, wie in der
Tiefe des Meeres, im Reiche der toten Gesteine, wie im Reiche
des Lebendigen, in Pflanzen und Tieren. Der festeste Stein
wird nach und nach mürbe; er verändert seine Farbe, zerfällt
zu kleinen und immer kleineren Brocken und wird endlich zu
Erde. Eine Kartoffel, in die Erde gelegt, wird weich, ihr zuvor
mehliger Geschmack süß, dann faulig; endlich verschwindet sie
gänzlich. Was hier wie Vernichtung aussieht, ist aber nur
chemische Verwandlung. Aus den ekelhaften Produkten der Fäul-
nis bildet die Schöpferkraft der Natur eine lebensfrische neue
Pflanze und alle darin vorkommenden verschiedenartigen Stoffe,
z. B. Zucker, Stärke, Öle.
Die Knollen der Kartoffelpflanze bilden eines unserer wich-
tigsten Nahrungsmittel. Das darin enthaltene Stärkemehl läßt
sich in Wasser nicht auflösen; im Magen aber erfährt es sehr
136
23. Dom Nutzen chemischer Kenntnisse.
schnell eine solche Veränderung, daß es aufgelöst oder verdaut
und sodann als Flüssigkeit dem Blute zugeführt werden kann.
Das Blut trifft in den Lungen mit der eingeatmeten Luft zu-
sammen ; dabei verändert es seine Farbe, und auch die Luft ver-
ändert ihre Beschaffenheit. Durch diese Veränderungen entwickelt
sich die Wärme, welche wir in unserem Körper fühlen. Es er-
hellt hieraus, daß auch in unserem Körper, wie in dem der Pflan-
zen , chemische Vorgänge stattfinden; die Pflanze und das Tier,
wie der Mensch, bestehen aus chemischen Stoffen, und chemische
Vorgänge sind es, welche ihnen nicht nur ihre Nahrung zube-
reiten , sondern sie auch verdauen und in Tier- oder Pflanzen-
stoffe umwandeln helfen Hört das Leben endlich auf, so sind
es wieder die chemischen Prozesse, die als Totengräber der Natur
die alte Wahrheit in Erfüllung gehen lassen: Was von Erde ist,
soll wieder zu Erde werden. Was uns Vernichtung scheint, ist
aber nur Verwandlung. Die bei der Verbrennung oder Verwesung
nicht vernichteten, sondern nur unsichtbar gewordenen Stoffe finden
sich in anderer Form in der Luft wieder; aus dieser werden sie
durch die in den lebenden Pflanzen vorkommenden chemischen
Prozesse wieder zur Erde herabgezogen. Wir sehen hieraus, wie
die unergründliche göttliche Allmacht sich die chemischen Prozesse
zu Dienern bestellt, um durch sie den ewigen Wechsel hervorzu-
bringen , den wir tagtäglich in der Natur um uns her gewahren,
und um durch sie ununterbrochen aus dem Tode immer wieder
neues Leben hervorzurufen.
Die Chemie lehrt den Apotheker, Arzeneimittel darzustellen;
sie lehrt den Arzt, mit diesen Arzeneimitteln Krankheiten zu ver-
treiben ; sie zeigt dem Bergmann nicht nur die in Gesteinen ver-
steckten Metalle, sondern sie hilft sie ihm auch aussehmelzen
und verarbeiten. Im Bunde mit der Naturlehre hat sie innerhalb
der letztverflossenen Jahrzehnte viele Künste und Gewerbe zu einer
außerordentlichen Ausbildung gebracht.
In der neuesten Zeit hat sich die Chemie besonders auch
auf die Erforschung der Bestandteile der organischen Natur-
körper, der Pflanzen und Tiere, gerichtet und auf die Er-
forschung der Vorgänge, welche in diesen während ihres Lebens,
wie nach ihrem Tode, stattfinden. Woraus bestehen diese Körper?
Woher erhalten sie ihre Bestandteile, ihre Nährmittel? Welche
Veränderungen müssen diese in dem lebenden Körper der Tiere
und Pflanzen erfahren, um die Ernährung und das Wachstum
derselben zu bewirken? Wie ist man imstande, dieses Wachs-
tum zu beschleunigen? Diese Fragen sind es hauptsächlich,
welche die chemische Forschung zu beantworten sich bemüht.
Darin liegt auch der Nutzen der Chemie für den Landwirt;
denn sie ist es ja allein, welche ihm die Bestandteile seines
Ackerlandes anzeigt, welche ihn bekannt macht mit den Nahrungs-
I
.
21. N-tur des Wassers. 137
mittcln der Pflanzen, die er auf diesem Lande anbauen will, und
mit den Mitteln, durch welche er die Fruchtbarkeit seiner Felder
zu erhöhen vermag. Srö-khardr.
24. Natur des Wassers.
Rias ist das Waffer? Ehe wir diese Frage beantworten, müssen wir
wissen, was Sauerstoff und was Wasserstoff ist.
Der fünfte Teil der atmosphärischen Luft, die uns auf allen Seiten um-
giebt, ist Sauerstoff. Mit jedem Luftstrome, welcher in unsere Lungen
eindringt, atmen wir ihn ein, und er ist es, welcher unbedingt zum Leben
notwendig ist. Aber dennoch ist er keineswegs ein von alters her den
Menschen wohlbekanntes Ding gewesen, sondern erst im Jahre 1774 entdeckt
worden. Wie ist das möglich? Sehr leicht. Das Nächste liegt den meisten
Menschen am fernsten, und für tausend und aber tausend ist das gar nicht
vorhanden, was nicht mit Händen zu greifen und mit Augen zu sehen ist.
Du könntest den Blick der Schwalbe besitzen, welche auf einhundert Schritt
die Mücke sieht, du würdest bei aller Mühe in der gewöhnlichen Luft vom
Sauerstoffe nichts entdecken; denn er ist durchsichtig und farblos. Du könntest
die Nase eines Kamels besitzen, zur Entdeckung des Sauerstoffes würde sie
dir nichts helfen; denn er ist auch geruchlos. Aha, denkt vielleicht mancher,
Sauerstoff heißt diese Luftart gewiß, weil sie sauer schmeckt; aber wenn er
auch der Zunge eines Theekosters in China sich erfreute, welcher bekanntlich
etliche siebzig Sorten Thee durch den Geschmack allein zu unterscheiden weiß,
so würde sie doch vom Sauerstoffe ebenso wenig etwas schmecken als die
Zunge jenes Stieres, welchen die Schildbürger mit einem Stricke, den sie ihm
um den Hals geschlungen hatten, in die Höhe zogen, etwas von dem Grase
geschmeckt hat, das auf der Stadtmauer wuchs; denn der Sauerstoff ist auch
geschmacklos, Nicht einfach durch die Sinne können wir ihn ohne weiteres
aus den andern Luftarten herausfinden; nur durch Versuche sind wir im-
stande, hinter seine Natur zu kommen. Wir nehmen dazu eine Flasche voll
Sauerstoff. Die glühende Kohle, welche wir in dieselbe hineintauchen, schlägt
augenblicklich zu hellen Flammen auf. Schwefel, der in ihr angezündet wird,
giebt ein wundervoll blaues, Phosphor ein blendend weißes, dem Sonnen-
glanze gleiches Licht; Stahlstreifen aber, deren Ende man bis zum Glühen
erhitzt hat, verbrennen in ihr, als wären sie Papierschnitzel oder Holzspäne.
Bei allen diesen Versuchen bilden sich Säuren, beispielsweise bei dem ersten
die Kohlensäure, jene Lufrart, welche dem Champagner,*) dem Selterswasser,
dem Biere, das längere Zeit auf Flaschen gelegen hat, den angenehm stechenden
säuerlichen Geschmack giebt. Ebenso ist es der Sauerstoff, welcher Bier und
M.lch, wenn sie lange offen gestanden haben, sauer macht, und welcher
') spr. Schang panjer.
138
24. Natur des Wassers.
faulende Weintrauben und Äpfel in kleine Essigfabriken umwandelt. Von
dieser Wirkung hat die Luftart ihren Namen Sauerstoff. Sie heißt auch
Lebenslust, weil das Leben weder der Pflanzen, noch der Tiere ohne sie be-
stehen könnte. Aber gerade nach dieser Seite hin giebt sie uns ein Beispiel
für den Satz, daß auch das beste schädlich ist, wenn es im Übermaße ge-
nossen wird. Würde nämlich die gewöhnliche Luft, in welcher wir leben und
weben, in lauter Sauerstoff verwandelt, so würde allerdings die Erde mit
einem Male ein großes Freudenhaus werden; aber die Lust würde nur von
kurzer Dauer sein. Die übermäßige Anstrengung, in welche der Sauerstoff
Menschen und Tiere versetzt, würde Lungenentzündungen verursachen und
so ihnen einen baldigen Tod bringen, gerade wie dem Lichte, das in reinem
Sauerstoffe noch einmal so hell, aber nur halb so lange als in gewöhnlicher
Luft brennt.
Der Wasserstoff ist wie der Sauerstoff eine Luftart. Cs würde darum
ein großer Irrtum sein, wenn jemand sich durch den Namen auf den Ge-
danken bringen ließe, Wasserstoff wäre ein Ding, welches sich naß anfühlte
wie das Wasser. So wenig er mit den Fingern zu fassen ist, ebensowenig
kann er durch Auge und Nase wahrgenommen werden; denn er ist ein farb-
und geruchloses Gas. Unter allen Körpern, die wir kennen, ist er der leichteste;
ein Kubikmeter Wasserstoff wiegt vierzehnmal weniger als ein Kubikmeter
atmosphärischer Luft. Jedermann weiß, daß ein in Waffer getauchtes Stück
Holz an die Oberfläche kommt, sobald man dasselbe los läßt. Geradeso steigt
ein mit Wafferstoff gefüllter Taffet- oder Gummiball in der Luft in die Höhe;
daher hat man auch lauge Zeit hindurch das Wasserstoffgas zum Füllen der
Luftballons gebraucht. Seine merkwürdigste Eigenschaft ist die Brennbarkeit.
Es entzündet sich sofort, wenn es in der gewöhnlichen Lust mit einem glühen-
den oder brennenden Körper in Berührung kommt. Die Flamme, mit welcher
es verbrennt, ist schwachleuchtend; sie wird aber blendend hell, sobald Kohlen-
stoff zu ihr hinzutritt, wie wir dies an unsern Straßenlaternen sehen, deren
Gas eine Verbindung von Wasserstoff mit ein wenig Kohlenstoff ist. So
schwach das Licht der Wasserstoffgasflamme ist, so gewaltig ist ihre Hitze. Sie
übertrifft in diesem Stücke die beste Steinkohle mindestens um das Vierfache.
Stahlstreifen verbrennen in ihr wie ein Fidibus an der Paraffinkerze; dicker
Platina-Draht fängt in ihr rasch an zu schmelzen, und selbst Kalk, den man
durch kein anderes Feuer dazu zwingen kann, wird in kurzer Zeit weiß glühend
und zuletzt flüssig.
Dieser Brennbarkeit des Wasserstoffes verdanken wir das Waffer; denn
so sonderbar es auch klingt, so wahr ist es doch: ohne Feuer kein Wasser.
Wie aller guten Dinge drei sein müffen, so brauchen wir nämlich auch drei
Stücke, um Wasser zu machen; es sind Sauerstoff, Wasserstoff und Feuer.
Du hast den Kopf geschüttelt, als ich soeben sagte: Ohne Feuer kein Wasser,
und du schüttelst ihn noch einmal, wenn ich zu dieser sonderbaren Behauptung
die ebenso sonderbare hinzufüge: Ohne Luft kein Waffer. Wie in aller Welt
ist es möglich, fragst du, daß Luft und Feuer in ihrer Verbindung Wasser
geben? Eher will ich glauben, daß aus den Lumpen eines Zigeunerbuben
25. Bestandteile dcr atmosphärischen Luft.
139
der kostbarste Kaschmirshawl*) und aus dem Staube einer elenden Dorsstraße
Gold gemacht werden kann, ehe ich zugebe, daß das Feuer die Hand dazu
reichen soll, seinen ärgsten Feind in das Leben zu rufen, und daß die flüch-
tigen Gesellen, Sauerstoff und Wasierstoff, sich zu einem Körper verbinden
sollen, der in seinem ganzen Wesen von jedem der beiden so grundverschieden
ist. Und doch verhält sich die Sache so, wie ich angegeben habe.
Vor dir steht eine Weinflasche. Ihr Boden ist mit kleinen Stückchen Zink-
blech bedeckt, und das Gefäß selbst ist etwa bis zur Hälfte mit Wasser gefüllt.
Beide, Zink und Waffer, wohnen als nächste Nachbarn in einem und dem-
selben Hause zusammen, aber ohne sich um einander zu kümmern. Jetzt schütten
wir Schwefelsäure hinein, vielleicht so viel, als wir in der Apotheke für drei
Pfennige bekommen, und sofort nehmen wir eine Reihe merkwürdiger Ver-
änderungen wahr. Das Waffer wird warm, und die Zinlstückchen bedecken sich
über und über mit kleinen Bläschen, so daß sie wie mit Silberperlen übersät
erscheinen. Sind ihrer so viele geworden, daß sie auf den Zinkstückchen kein
Plätzchen mehr finden, an welchem sie sich niederlassen könnten, so steigen sie
im Wasser in die Höhe, ihre Zahl wird größer und größer, so daß es aus-
sieht, als ob das Waffer müßig koche. Dabei hören wir in der Flasche ein
Brausen, als wenn wir Sodawaffer in ein Glas schütten. Nun ist es Zeit,
die Öffnung der Flasche mit einem Kork zu verschließen, durch welchen eine
feine Glasröhre in der Weise hindurch geht, daß sie ein bis zwei Ccntimeter
lang in die Flasche hinein und in beliebiger Höhe aus derselben heraus ragt.
Durch diese Röhre strömt Luft aus, und daß diese Luft Wasscrstoffgas ist, er-
kennen wir daran, daß sie durch ein brennendes Schwefelhölzchen augen-
blicklich in Brand gerät. Nachdem die Flamme von selbst verlöscht ist, unter-
suchen wir die Metallstückchen in der Flasche. Sie sind nicht mehr reines
Zink, sondern bilden jene Verbindung des Zinkes mit Sauerstoff, welche wir
Zinkoxyd, das ist verrostetes Zink, nennen. Dieser Versuch zeigt uns, daß
das Waffer nichts anderes ist als die chemische Verbindung von Sauerstoff
und Wasserstoff. Beide Stoffe wären in Einigkeit beisammen geblieben, wenn
die Schwefelsäure nicht als Störenfried dazwischen getreten wäre. Durch sie
veranlaßt, trennte sich der Sauerstoff von seinem Gefährten und suchte sich im
Zinke einen neuen Freund; der Wafferstoff aber, böse auf den treulosen
Kameraden, wich als Gas von ihm. Ruvkwitz.
25. Bestandteile dcr atmosphärischen Luft.
Die Lust ist eine Mischung, welche aus verschiedenen Stoffen besteht.
Ihre Hauptbestandteile sind zwei Luftarten, Sauerstoff und Stickstoff.
Natürlich dürfen wir uns diese Mischung nicht von der Art denken, wie sie
entsteht, wenn ein Hausen Roggen mit einem Hansen Weizen gemengt wird.
Hier können wir die einzelnen Teile auf das genaueste unterscheiden und auf
das bestimmteste angeben, wo ein Weizen- und wo ein Roggenkorn sich findet.
Shawl spr. Schahl.
140
25. Bestandteile der atmosphärischen Luft.
Ebenso irrig würde die Vorstellung sein daß sich zwei Lustarten zu einander
verhalten wie Öl und Wasser, die zusammen in ein Gefäß geschüttet werden.
Wir dürfen uns nicht denken, daß der Sauerstoff als der schwerere Körper
die untere Schicht bildet, und auf dieser der leichtere Stickstoff schwimmt.
Suchen wir aus dem alltäglichen Leben eine Veranschaulichung, durch welche
wir einigermaßen über den Vorgang klar werden, nach welchem Sauerstoff
und Stickstoff sich zur atmosphärischen Luft vereinigen, so wird uns dieselbe
in gleicher Weise am Kaffee- wie am Theetisch geboten. Wir gießen Milch in
den Kaffee, sie sinkt als die schwerere Flüssigkeit zu Boden, während der Num,
den wir in den Thee schütten, als die leichtere Flüssigkeit auf demselben
schwimmt. Nach einiger Zeit aber haben Milch und Kaffee, Thee und Rum
vollkommen sich durchdrungen. Es findet eine gleichmäßige Mischung statt.
In ähnlicher Weise bilden Sauerstoff und Stickstoff jenes Gemenge, welches
wir atmosphärische Luft zu nennen pflegen.
Die erste Luftart, der Sauerstoff, ist von der Betrachtung des Wassers
her uns schon bekannt. Wir können ihn ohne weiteres passieren lassen, nicht
so den Stickstoff. Allerdings benutzt er unseren Leib gar oft als Wohnsitz;
aber mit welchem Rechte, soll er jetzt ausweisen.
Wir haben eine Glasglocke, welche mit gewöhnlicher Luft gefüllt ist.
Nachdem wir dieselbe etwa einen Centimeter tief ins Wasser gesetzt haben, verbrennen
wir in ihr ein Stückchen Phosphor. Der in der Lust befindliche Sauerstoff
verbindet sich hierbei mit dem Phosphor zu Phosphorsäure, welche wie weiße
mattleuchtende Flocken aussieht; diese aber verbindet sich wiederum mit dem
Wasser. Was in der Glocke nun noch zurückbleibt, ist nichts anderes als Stick-
stoff. Er läßt sich weder durch das Auge, noch durch die Zunge und Nase
vom Sauerstoff unterscheiden; denn er ist wie dieser ohne Farbe, ohne Ge-
ruch und ohne Geschmack. Bringen wir aber durch irgend eine Vorrichtung
ein brennendes Licht unter die Glocke, so verlöscht es augenblicklich. Ebenso
stirbt die Maus, welche wir unter die Glocke befördert haben, nach wenigen
Atemzügen. Wir erkennen aus diesem Versuche, daß der Stickstoff weder zur
Unterhaltung einer Flamme, noch zum Einatmen taugt.
Die gewöhnliche Luft ist eine Mischung aus Sauerstoff und Stickstoff,
und zwar so, daß auf 100 Teile atmosphärischer Lust 21 Teile Sauerstoff
und 79 Teile Stickstoff kommen. Der Stickstoff bildet demnach Vs der ganzen
Atmosphäre. Dieses Verhältnis des Stickstoffs zum Sauerstoffe bleibt auf der
ganzen Erde zu jeder Zeit und an allen Orten dasselbe. Der berühmte
Naturforscher Alexander v. Humboldt hat den Beweis für diese Behaup-
tung schon vor 60 Jahren geführt. Er untersuchte die Luft in den überfüll-
testen Theatern von Paris, und das Ergebnis war. daß auf 4 Teile Stick-
stoff allemal ein Teil Sauerstoff kam. Er bestieg hohe Berge, und die
Proben, welche er hier vornahm, wiesen dasselbe Verhältnis nach. Er fuhr
im Luftballon in die Höhe; so verschieden auch die Höhen waren, aus denen
er Luft herabholte, die Mischung war iinmer und überall dieselbe. Wenn zu-
weilen, wie im Theater, die Luft verdorben war, so rührte dies nicht davon
her, daß sich in ihr mehr Stickstoff oder weniger Sauerstoff vorgefunden hätte,
25. Bestandteile der atmosphärischen Luft.
141
als dies gewöhnlich der Fall ist, sondern die Ursache lag darin, daß ihr andere
Stoffe beigemischt waren. Diese Thatsache ist nach zwei Seiten hin ebenso
intereffant als wichtig.
Wir erinnern uns, wie leicht es uns
um das Herz und wie wohl uns zumute
wurde, wenn wir an einem warmen, sonnigen
Sommertage in einen Laubwald traten. Die
Ursache dieses angenehmen Gefühls war der
Sauerstoff, welcher sich bei dem Sonnen-
schein aus den Blättern der Bäume ent-
wickelt. Tiere, welche man eine Zeit in
reinem Sauerstoffgase atmen ließ, ver-
rieten eine auffällige Munterkeit; jede ihrer
Bewegungen zeugte, wie behaglich es ihnen
in ihrem Elemente war. Ja, warum ist
denn da die Luft aus vier Teilen Stick-
stoff und nur einem Teile Sauerstoff ge-
mengt? Denselben Dienst, welchen der
Hemmschuh dem bergeinfahrenden Wagen
leistet, verrichtet der Stickstoff beim Atmen; er hält das Leben in seinem
Laufe auf, ohne ihn würde sich dasselbe überstürzen und ein zu rasches Ende
nehmen. Wäre das Verhältnis in der Mischung des Sauerstoffs und Stick-
stoffs zur atmosphärischen Luft umgekehrt, so würde kein Mensch mehr an
Altersschwäche sterben. Lungen-Entzündung würde die Krankheit sein, an
welcher wir alle bis zu unserm frühzeitigen Tod leiden müßten. Der ein-
geatmete Sauerstoff verbindet sich nämlich mit dem Kohlenstoffe, welchen er
in unserem Körper vorfindet. Diese Verbindung ist die Ursache von der
Wärme, welche unserem Leibe eigentümlich ist, und der Prozeß selbst, welcher
hierbei stattfindet, ist am treffendsten mit einer langsamen Verbrennung zu
vergleichen, jeder Atemzug aber mit einem Scheitchen Holz oder mit einem
Stückchen Kohle, welches das Feuer im Brennen erhält. Atmeten wir aber
statt des einen Teiles vier Teile Sauerstoff ein, so würde sich die Wärme
und mit ihr die Lebensthätigkeit um das Vierfache steigern, aber eben darum
würde das Leben viermal rascher verlaufen, als es jetzt geschieht.
Wir haben bisher immer mit besonderem Nachdruck hervorgehoben, daß
die atmosphärische Luft ein Gemenge aus Sauerstoff und Stickstoff, eine
Mischung dieser zwei Lustarten, aber keine chemische Verbindung ist. Dieser
Unterschied will folgendes besagen: Wohl findet zwischen den Sauerstoff- und
den Stickstoff-Atomen eine gegenseitige Anziehung statt; denn sonst könnte
überhaupt ein gleichmäßiges Durcheinander nicht entstehen; aber bei dieser
Anziehung ändert sich weder die Natur des Sauerstoffs, noch des Stickstoffs,
jede Gasart behält ihre Eigenschaften und bleibt nach der Mischung mit der
andern, was und wie sie vor der Mischung war. Anders verhält sich die
Sache bei der chemischen Verbindung. Aus Sauerstoff- und Wafferstoffgas
entsteht bei der Verbrennung des letzteren Waffer. Hierbei hat sich die Natur
Alexander v. Humboldt.
1.42
25. Bestandteile der atmosphärischen Lust.
sowohl des Sauerstoffs, als des Wasserstoffs völlig geändert. In der Ver-
bindung ist aus den zweien ein dritter Körper entstanden, der nichts mehr
von den Eigenschaften des Sauerstoffs, aber auch nichts mehr von den Eigen-
schaften des Wafferstosss an sich trägt, sondern eine von der Natur seiner
Elemente völlig verschiedene Natur hat.
Wie nun, wenn die atmosphärische Luft keine Mischung, sondern eine
chemische Verbindung von Sauerstoff und Stickstoff wäre? In demselben
Augenblicke, in welchem diese Verbindung eintritt, würde alles, was von
Pflanzen und Tieren Leben hat, dem Tode anheimfallen. An die Stelle der
Luftkugel, von welcher fetzt unsere Erde umgeben ist, würde ein Meer von
Scheidemasser uns überschwemmen; denn aus der chemischen Verbindung von
Sauerstoff und Stickstoff entsteht die Salpetersäure, eine der stärksten Säuren,
dlwch welche alle organische Stoffe zerstört werden, und Scheidemasser ist nichts
anderes als verdünnte Salpetersäure. Welch eine weise Einrichtung des
Schöpfers, daß der Stickstoff so wenig Lust hat, sich mit seinem Nebengesellen, dem
Sauerstoff, zu verbinden! Zuweilen findet sich diese Verbindung in der Natur
vor, die Salpetersäure bildet einen Bestandteil der atmosphärischen Luft. Allein,
um sie hervorzubringen, bedarf es keines Geringeren als des Blitzes. Wenn
er durch feuchte Luft hindurch schlägt, so verbrennt in seiner ungeheuren Hitze
der Stickstoff und verbindet sich dabei mit dem Sauerstoffe zu Salpetersäure;
daher diese in jedem Gewitterregen, freilich nur in ganz kleiner Menge nachge-
wiesen werden kann.
Ebenso gering sind die Quantitäten, in denen Ammoniak als Bei-
mischung der atmosphärischen Luft erscheint. Dieses Gas entwickelt sich bei
Verwesung organischer, besonders tierischer Stosse unter Einwirkung von
Wasser und Luft. Es zeichnet sich durch seinen Geruch aus; er ist so durch-
dringend, so stechend, daß Ammoniak in Gestalt des Salmiakgeistes einem
immer noch die Thränen in die Angen treibt, obgleich es hier schon ziemlich
mit Wasser verdünnt ist. Das Ammoniak ist eine Verbindung von Wasser-
stoff und Stickstoff und für die Entwickelung und das Wachstum der Pflanzen
ebenso wichtig als Blut und Fleisch für das Gedeihen und Wohlbefinden des
Löwen.
Als ein weiterer Bestandteil der atmosphärischen Luft wird das Ozon
ausgeführt. Es ist dieses Gas nichts anderes als Sauerstoff. Er bekommt
den Namen Ozon, wenn seine Neigung, mit anderen Stoffen sich zu verbin-
den, namentlich durch Einwirkung der Sonnenstrahlen mit der Elektrizität, zur
wahren Leidenschaft geworden ist. Auf künstliche Weise kann man ihn am
einfachsten dadurch erzeugen, daß man Terpentinöl in dünnen Schichten auf
flache Teller gießt und diese an die Luft stellt. Bis jetzt hat man ihn nie
für sich auffinden können, sondern immer mit Stickstoff oder mit gewöhnlichem
Sauerstoff vermischt. Seine Anwesenheit in der Luft kann er nicht geheim
halten. Nase und Augen entdecken ihn sofort. Immer verrät er sich durch
seinen eigentümlichen Geruch; es ist derselbe, den man in der Nähe einer
starken, in Wirksamkeit gesetzten Elektrisiermaschine bemerkt. Man erkennt ihn
an der dunkel-violetten Färbung, welche er weißen Papicrstreifen verleiht, die
25. Bestandteile der atmosphärischen Luft.
143
man mit einer Mischung von Stärkekleister und Jodkalium überzogen hat.
Eingeatmet, reizt er zu lebhaftem Husten, und da er am häufigsten im Winter
und Frühlinge in der Luft angetroffen wird, so vermutet man, daß die in
dieser Jahreszeit häufigen Katarrhe teilweis mit auf seine Wirkung zurückzufüh-
ren sind.
Unter allen denjenigen Bestandteilen der Luft, welche in ihrem Raumitthalte
dem Sauerstoff und Stickstoff gegenüber so ziemlich verschwinden, findet sich die
Kohlensäure verhältnismäßig noch in der größten Menge vor-
Die Kohlensäure ist die Verbindung des Sauerstoffs mit Kohle
und bildet sich, wenn diese verbrennt. Dabei verwandelt sich die Kohle, der
feste, schwarze Körper, in Luft und wird unsichtbar. Sie entsteht auch da, wo
ein Mensch atmet, und die Lunge des Erwachsenen ist eine Fabrik, welche in
einem Jahre nicht weniger als 225 Pfund Kohlensäure bereitet. Sie entsteht
weiter, wo ein Apfel, eine Birne verfault, wo Wein und Bier in Gärung
übergehen, ein Vulkan raucht, und oft auch da, wo Mineralquellen zutage
treten. Hiernach können wir uns selber sagen, daß die Menge Kohlensäure,
welche auf der Oberfläche der Erde sich entwickelt, eine ganz ungeheure ist. Nun
thut die Kohlensäure mit ihrem erfrischenden, angenehm stechenden, säuerlichen
Geschmack dem Gaumen und dem Magen sehr gut, und ein Glas kohlensaures
Wasser ist an einem heißen Sommertage eine große Erquickung; aber für die
Lunge ist diese Luft das helle Gift. Eingeatmet, tötet sie fast augenblicklich,
und es sind in Kellern und Brunnen, in denen sie sich angesammelt hatte,
nicht wenige erstickt. Würde sie ohne Damm und Schranken fort und fort sich
anhäufen, so würde in nicht all zu ferner Zeit die Erde das weite Grab alles
Lebendigen werden. Daß sie das noch nicht geworden ist, auch nie werden
wird, haben wir den Blättern zu danken. Die Hand des allweisen Gottes
hat nämlich in ihnen jeder Pflanze eine Lunge geschaffen, welche unserer Lunge
den größten Dienst erweisen muß; was uns den Tod bringt, die Kohlensäure,
atmen die Blätter ein, und was wir zum Leben ganz notwendig brauchen,
atmen sie aus. Dieses Einatmen von Kohlensäure und Ausatmen von
Sauerstoff findet den ganzen Tag über statt, während die Nacht hindurch,
aber lange nicht in solchem Maße wie am Tage, das umgekehrte geschieht.
Es ist dies der großartigste Tauschhandel, welchen Pflanzen- und Tierreich mit
einander treiben, ohne daß hier der Satz gilt: Wer Lust hat zu tauschen, hat
Lust zu betrügen; denn beide gewinnen: die Pflanzen leben von den Tieren
und durch die Tiere, indem diese stets große Mengen von Kohlensäure be-
reiten, und die Tiere leben von den Pflanzen und durch die Pflanzen, indem
ohne diese der Sauerstoff bald selten werden würde. Wir sehen, die Blätter am
Baume, unter dem, und der grüne Rasen, auf dem wir so fröhlich herum-
springen, sind mit die Ursache, daß wir noch nicht drei Ellen unter der Erde
liegen, und daß wir, ohne zum Geschlechte der Wiederkäuer oder Insekten
zu gehören, Vaumblatt und Grashalm auch mit zum täglichen Brote rechnen
müssen.
Runkwitz.
144
26. Chemische Bestandteile der Nahrungsmittel.
26. Chemische Bestandteile der Nahrungsmittel.
Unter den Nahrungsmitteln nehmen diejenigen, welche bei ihrer Um-
wandlung in unserem Leibe vorzugsweise das Fleisch bilden und darum geradezu
die sleisch bild enden genannt werden, die erste Stelle ein. Zu ihnen gehören
alle Arten Fleisch. Weiter ist hierher das Nahrungsmittel aller Nahrungs-
mittel, die Milch, zu rechnen. Neben sie sind die Eier der Vögel zu stellen;
soll doch ein einziges Hühnerei so viel Nahrungsstofs abgeben, als ungefähr ein
halbes Pfund Rindfleisch. An fleischbildenden Nahrungsstoffen wird das
Fleisch und selbst das Hühnerei um ein gut Teil noch von den Linsen über-
trosfen und von den andern Hülsenfrüchten, Erbsen und Bohnen, fast
erreicht. Ihnen zunächst steht hinsichtlich seines Reichtums an fleischbildenden
Stoffen das allgemeinste aller Nahrungsmittel, das Brot. 100 Pfund Weizen-
brot haben über 12 Pfund, und 100 Pfund Roggenbrot 9^ Pfund fleisch-
bildender Stoffe. Untersucht man alle diese Nahrungsmittel ans chemischem
Wege, so findet man, daß sie aus vier Elementen zusammengesetzt sind, aus
Sauerstoff, Wasserstoff, Kohlenstoff und Stickstoff. Das Vorhandensein des
letzteren ist das Merkmal, wodurch die genannten Speisen von der zweiten Art
Nahrungsmittel, die wir gleich kennen lernen werden, sich unterscheiden.
Bedenken wir weiter, daß der Stickstoff der Hauptbestandteil unseres Fleisches
ist, so leuchtet ein, wie wichtig die Rolle ist, welche jene Lebensmittel um des
in ihnen enthaltenen Stickstoffes willen bei der Fleischbildung unseres Leibes
spielen. Sie werden darum auch oft kurzweg als die stickstoffhaltigen bezeichnet.
Sie sind es besonders, welche uns satt machen, und zwar bedürfen wir ihrer
dazu in weit geringerem Maße, als wenn wir stickstofffreie Nahrungsmittel
genießen. Ein einziges Pfund Linsen giebt an unseren Leib ebenso viel Fleisch
ab als 10ll2 Pfund Reis oder 26 Pfund Kartoffeln.
Wollen wir die Güte einer Speise richtig schätzen, so haben wir nicht bloß
auf ihre Nahrhaftigkeit zu achten, sondern auch auf die Leichtigkeit und Schnellig-
keit, mit welcher sie verdaut, das heißt in Blnt umgesetzt wird. 100 Pfund
Rindfleisch enthalten allerdings nur 23 Pfund Eiweißstoff, während auf das
gleiche Gewicht Linsen über 37 Pfund dieses Stoffes kommen. Dennoch giebt
Rindfleisch eine nahrhaftere Speise ab, weil es noch einmal so rasch und noch
einmal so leicht sich in Blut verwandelt als die Hülsenfrucht. Der Pumpernickel
ist unter den verschiedenen Brotarten unbestritten die nahrhafteste, und doch ist
einem jeden, welcher nicht den Magen eines westfälischen Bauern hat, der Rat
zu geben, statt seiner nach dem leichter verdaulichen Weizenbrote zu greifen;
denn dieses braucht, um verdaut zu werden, nur die Hälfte der Zeit, in welcher
jener in unserem Magen für die Ernährung zugerichtet wird. Es verhält sich
in diesem Stücke mit dem Magen gerade so wie mit einem tüchtigen Geschäfts-
manne.
Ehe der bei weitem reichere, aber auch bei weitem unpraktischere Nachbar
die Rosetten au seinem feuerfesten Schranke nur einmal herumdreht, hat dieser
das ganze Kapital umgesetzt, und daher kommt es, daß er es am Ende des
Jahres mit seinen paar tausend Mark gerade so weit gebracht hat als jener
mit seinen zwanzigtansend.
27. Von der Gärung und Sssigbereitung.
145
Von ganz anderer Beschaffenheit als die blut- und fleischbildendcn Speisen
sind die fettbildenden Lebensmittel. Wie sich jedermann ohne weiteres Nach-
denken sagen kann, gehören zu ihnen alle Fette, welche Tier- und Pflanzenreich
liefern, als: Butter, Schmalz und Talg, Baum-, Mohn- und Rüböl. Jede
Hausfrau weiß, daß das beste Mittel, Gänse zu mästen, Nudeln sind, welche
sie aus Mehl und Kartoffeln bereitet. Diese Erfahrung lehrt uns, daß das
Stärkemehl, welches wir in allen Getreidearten, den Hülsenfrüchten und den
Kartoffeln in reicher Menge finden, ebenfalls ein Fettbildner ist. Fügen wir zu
den genannten noch die süßeste aller Speisen hinzu, den Zucker, und die gefähr-
lichsten aller Getränke, Wein und Bier, so haben wir eine ziemlich vollständige
Aufzählung.
Die chemische Untersuchung der Fettbildner zeigt uns ihre große Ver-
schiedenheit von den Blutbildnern; denn während diese aus vier Stoffen bestehen,
Sauerstoff, Stickstoff, Wasserstoff und Kohlenstoff, finden wir in jenen nur drei
Elemente: Sauerstoff, Wasserstoff und Kohlenstoff. Unter ihnen ist der Kohlen-
stoff von ganz besonderer Wichtigkeit; daher denn auch die Speiseu dieser Art
oft kohlenstoffhaltige genannt werden.
Außer den beiden Arten von Nahrungsmitteln, welche Blut und Fett
bilden, giebt es noch eine dritte Art, nämlich diejenigen, welche hauptsächlich
Knochen bilden. Dazu gehört besonders der phosphorsaure Kalk, wie er sich
namentlich in den Bohnen und Erbsen befindet. Runkwitz.
27. Von der Gärung und Essigbereitung.
Wie das Bier, so werden auch alle anderen weingeisthaltigen
Getränke durch Gärung bereitet. Der Wein ist gegorener Trauben-
saft, der Rum wird aus dem Safte des Zuckerrohrs, der Arak
aus Reis, der Met aus Honig, der Branntwein aus verschiedenen
Getreidearten, namentlich aus Roggen, aus Kartoffeln u. s. w.
durch Gärung und Abdestillieren bereitet.
Aus allen den obengenannten Flüssigkeiten wird mittels öfter
wiederholter Destillation zuletzt reiner Weingeist gewonnen, welcher
nur noch eine ganz geringe Menge Wasser enthält. Ein solcher
Weingeist wirkt als heftiges Gift auf den lebenden Körper, und
einige Löffel voll davon können hinreichen, in wenigen Stunden
den Tod herbeizuführen. Wenn dies auch nicht der Fall ist bei
Rum, Arak, Branntwein u. dgl., weil diese Getränke eine gewisse
Menge Wasser beigemischt enthalten, so ist ihr längerer und
öfterer Genuß doch für die Gesundheit höchst nachteilig; denn
sie stören die Verdauung und erzeugen Wassersucht, Schwäche
der Muskeln und den sogenannten Säuferwahnsinn. Man sollte sie
daher nie anders, denn als Arzeneimittel genießen. Ein gutes Bier
dagegen ist, wenn man es mäßig genießt, ein unschädliches, der
Ernährung und überhaupt der Gesundheit zuträgliches Getränk;
Deutsches Lesebuch für k-th. Schulen. IV. Für Oberklafsen. 10
146
27. Von der Gärung und Essigbereitung.
denn es enthält mir eine geringe Menge Weingeist neben anderen
unserm Körper zusagenden Stoffen, während der Branntwein nur
Weingeist und Wasser ist.
Bier kann bekanntlich sauer werden, entweder wenn Fehler
beim Brauen gemacht sind, oder wenn es zu lange oder an
einem zu warmen Orte aufbewahrt worden ist. Auch Wein und
andere weingeisthaltige Flüssigkeiten sind dem Sauerwerden unter
ähnlichen Umständen unterworfen. Es geschieht bei dem Sauer-
werden nichts anderes, als daß durch die Einwirkung der Luft
auf den in diesen Flüssigkeiten enthaltenen Weingeist dieser in
Essgsäure umgewandelt wird. Der in den Haushaltungen ge-
brauchte Essig wird aus Wein, Bier oder verdünntem Brannt-
wein bereitet und ist hauptsächlich eine Mischung von Essig-
säure und Wasser. Das ältere Verfahren bei Bereitung des Essigs
aus diesen Flüssigkeiten ist aber sehr langsam. Es wird deshalb
in neuerer Zeit der meiste Essig durch die im Jahre 1823 er-
fundene, sogenannte Schnell-Essigfabrikation verfertigt, welche
darin besteht, daß man mit Wasser verdünnten Weingeist unter
starkem Zuströmen von Luft durch Buchenspäne träufeln läßt,
welche mit starkem Fruchtessig getränkt sind. Hierbei verwan-
delt sich der Weingeist, angeregt durch den in den Spänen be-
findlichen, gleichsam als Hefe wirkenden Essig, rasch in Essig-
säure, und was bei dem früheren Verfahren Wochen und Monate
erforderte, geschieht jetzt in wenigen Stunden und Tagen. Die
Beschaffenheit des so bereiteten Essigs ist zudem keine geringere
als die des Fruchtessigs.
Eine Art Essig, welche nicht mittels Gährung erzeugt wird,
ist der Holzessig. Man gewinnt ihn bei Verkohlung verschiedener
Holzarten, und er dient zur künstlichen Räucherung von Fleisch
und Speck; auch macht man essigsaure Salze und reine Essig-
säure daraus. Die letztere, sie mag auf eine Art verfertigt sein,
wie da wolle, ist äußerst scharf und ätzend und wirkt wie der
unverdünnte Weingeist als Gift. Mit Wasser verdünnt kann jede
Essigsäure ohne Nachteile als Speiseessig gebraucht werden.
Die Hefe, von der wir gehört haben, daß ein kleiner Zu-
satz derselben zu der Würze diese in Gärung versetzt, besteht
aus einer zahllosen Menge sehr kleiner Pflänzchen, die man nur
mit Hilfe starker Vergrößerungsgläser erkennen kann, und welche
zur Klasse der Pilze gehören. Sie leben in der zuckerhaltigen
Flüssigkeit, welche ihnen als Nahrung dient. Daß der Zucker
in Weingeist und Kohlensäure umgewandelt wird, ist eine Wir
kung des Lebensvorganges dieser kleinen Pflänzchen. Indem die
Hefe so große Veränderungen in der Flüssigkeit hervorruft, geht
sie nicht zugrunde, sondern wächst im Gegenteil lustig und ver-
mehrt sich, so daß man nach Beendigung der Gärung eine große
24. DaS Nordlicht.
147
Menge Hefe mehr findet, als zugesetzt war, welche sich demnach
aus den in der gärenden Flüssigkeit enthaltenen Stoffen neu ge-
bildet hat. Man benutzt jedoch die Hefe nicht bloß zum Brauen,
sondern auch zum Backen. Tutf^ef.
28. Das Nordlicht.
Rächt ist's auf der schneebedeckten Erde; matt scheinen die Ge-
stirne durch den leichten Nebelflor, der so häufig im hohen Norden
ihren Glanz umschleiert. Da erscheint am nördlichen Himmel in der
Nähe des Horizonts ein dunklerer Kreisabschnitt mit einem breiten,
lichten Saum eingefaßt, der oft mehrere Stunden bleibt, ohne daß
neue Erscheinungen sich zeigen. Jedoch herrscht keineswegs vollkommene
Ruhe in dem glänzenden Bogen; er befindet sich vielmehr in stetem
Aufwallen und in Veränderung seiner Formen; bald erhebt sich die
Lichterscheinung, bald senkt sie sich und zieht nach Osten oder Westen,
Das Nordlicht.
bis endlich gleich riesigen Raketen Strahlenbündel aus ihm hervor-
schießen und bis zum Zenith oder sogar bis in den halben südlichen
Himmel heraufsteigen. Bald entströmen die Feuersäulen dem Licht-
bogen allein, bald erheben sie sich gleichzeitig an vielen Punkten des
Horizonts und vereinigen sich in ein zuckendes Flammenmeer, welches
in jedem Augenblick seinen leuchtenden Wellen andere und andere
Gestaltungen giebt und einen Anblick gewährt, den die Phantasie sich
wohl malen, aber die Sprache nicht beschreiben kann.
10*
148
29. Die Zahl der Sterne.
Staunend und entzückt sieht der Beobachter dem herrlichen Schau-
spiele zu, das in ewigem Verschwinden und Wiedererscheinen durch die
Himmelsräume hin und her flackert. Diese wunderbare Erscheinung
wird gewöhnlich Nordlicht genannt, weil man es in dem Nordpolar-
kreise am häufigsten beobachtet und am längsten gekannt hat. Doch
wäre die Bezeichnung Polarlicht richtiger, da es in den höheren
Breiten des Südpoles ebenso häufig erscheint. Wie dieses Polarlicht
entsteht, und was es eigentlich ist, dafür hat man bis jetzt noch keine
befriedigende Erklärung gefunden. Doch das scheint festzustehen, daß
diese Erscheinung mit dem Erdmagnetismus in Beziehung steht.
Denn es erscheint in einer Richtung, die dem magnetischen Nordpole
entspricht, und empfindliche Magnetnadeln geraten bei dem Erscheinen
starker Nordlichter in ein eigentümliches Schwanken. Hartwig.
29. vie Zahl der Sterne.
Die Himmel erzählen die Ehre Gottes.
Der letzte, zarte Purpurschimmer der Abendröte an den Firnen
der Alpen ist verschwunden. Stille Nacht ist herabgesunken. Ein
linder Tau erquickt die Thäler und Hügel. Dunkelheit umschleiert die
irdischen Gefilde. Die Sonne steht schon längst unter unserm Horizont.
Aber hell und klar, wie ein weites Meer, voll göttlicher Gedanken,
erhebt sich über uns der Himmel. Die Sterne glühen. Sie blitzen aus
unermeßlichen Höhen, wie Sinnbilder des Entzückens reiner Seelen, in
das dunkle Erdenthal hernieder mit einer Pracht, die auf Erden
nirgends ihresgleichen hat.
„Siehe an die Sterne, kannst du sie zählen?“
Diese Frage richtet der Ewige fort und fort an alle Geschlechter
der Menschen. Jeder denkende Geist, jedes empfindende Herz wendet
fragend den Blick nach diesen leuchtenden Welten.
Der forschende Geist beugt sich in Demut vor dieser Kund-
gebung des Allmächtigen und findet keinen Ausdruck für die bin-
erai eßlichkeit. Wie groß ist die Zahl der Sterne? — Richten wir
diese Frage an die heutige Wissenschaft, so beugen sich die weisesten
Himmelsforscher in tiefster Ehrfurcht vor dem Erhabensten; sie ver-
mögen die Zahl der himmlischen Welten ebensowenig auszusprechen
wie Abraham vor 4000 Jahren.
Um der menschlichen Fassungskraft zu Hilfe zu kommen, hat
man die Sterne nach dem Grad ihrer Lichtstärke in zwanzig Klassen,
und nach ihrer augenfälligen Gruppierung an der scheinbaren Himmels-
kugel in sechzig verschiedene Sternbilder geordnet.
Zu den Sternen erster Größe, welche am stärksten leuchten,
zählt man nur zwanzig. Sie sind auf jede der beiden Halbkugeln fast
30. Auf dem Monde.
149
gleichmäßig verteilt. Der Sirius ist der hellste aller Fixsterne, der
Heerführer der Sterne erster Größe.
Sterne zweiter Größe, welche so freundlich blinken wie die
Edelsteine im Gürtel des Orion, wie der Polarstern und die sechs
helleren Sterne des Himmelswagens, zählt man fünfundsechzig.
Der Polarstern im Schweife des kleinen Bären, nur lVa° vom
Himmelspole abstehend, kennzeichnet den nördlichen Pol der Himmels-
achse, um welche die ganze Himmelskugel innerhalb 24 Stunden sich zu
drehen scheint. Der Polarstern und die benachbarten Sterne bis zu
einem Abstand von 40° vom Pole gehen für die nördliche Erdhälfte
niemals unter, sondern umkreisen den Pol wie das pünktlichste Uhrwerk.
Die Zahl der Sterne, welche mit einer Lichtstärke dritten Grades
schimmern, beläuft sich auf 200. Sterne vierter Größe zählt man an
400, Sterne fünfter Größe 1160. Die Gesamtzahl der Sterne von
der ersten bis sechsten Größe, welche sämtlich noch mit scharfen,
unbewaffneten Augen erkennbar sind, beträgt über 4000.
Mit Hilfe der Fernrohre erblickt man die Sterne der 7.—20.
Größe und schätzt ihre Zahl auf zwei Millionen. Die Nebel der Milch-
straße lösten sich unter den größten Fernrohren in Millionen von
Sternen auf. Unermessen ist und bleibt ihre Zahl. Je weiter das
Auge des Menschen im Himmelsraum durch verstärkte Instrumente
vorzudringen vermag, um so unabschätzbarer wird die Zahl der
Himmelskörper, und Lichtwelten ohne Zahl schimmern in unsere Erden-
nacht herein.
Werden diese Lichter des Himmels ewig leuchten, oder werden
sie eins nach dem andern allmählich ausglühen und verlöschen? —
Wenn es Thatsache ist, daß die Himmelsforscher schon manchen
glänzenden Stern verlöschen, andere dagegen plötzlich aufleuchten
sahen, so daß der Strom des Werdens in allen Gegenden des Welt-
raums nicht zu verkennen ist: wo ist der Ursprung des Lebensstroms?
wo der Urquell dieses unerschöpflichen Lichts; wo ist der Feuerherd,
dem alle diese Himmelsfunken entglommen sind; wo die Urkraft,
welche diese Tausende abhängiger Welten ins Dasein ruft?
Der Bau des Himmels übertrifft alles, was unsere Erde Großes
und Herrliches zu bieten vermag. Staunend müssen wir bekennen:
„Die Himmel erzählen die Ehre Gottes.« ^ch Böhners Kosmos.
30. Auf dem Monde.
Durch zahlreiche Beobachtungen mittels der besten Fernröhre und
durch Aufnahme photographischer Bilder von der Mondoberfläche hat
man so genaue Mondkarten entworfen, daß man sagen kann, die
Mondoberfläche ist uns Erdbewohnern besser bekannt, als viele Stellen
der Erdoberfläche, z. B. in Australien oder Afrika.
150
30. Auf dem Monde.
Die großen dunklen Flecken, die man mit bloßem Auge auf dem
Monde sehen kann, sind Tiefebenen. Sie werfen das Licht weniger
gut zurück als die Berge. Der Mond ist sehr gebirgig, und seine
Berge sind verhältnismäßig höher als die irdischen. Über 1000 Berg-
höhen hat man gemessen und berechnet. Wie macht man das? Nun,
man mißt die Länge und Breite des Schattens und schließt daraus
auf die Höhe des Berges, welcher den Schalten wirft.
Die Mondgebirge sind zum großen Teile anders gestaltet als
unsere Gebirge. Gewöhnlich sind es ringförmige Wälle, welche
meilenweite Abgründe umschließen. Die Wälle sind scharfkantig,
gipfelig, oft 1—2000 Meter hoch. Nach außen verlaufen sie allmählich;
nach innen fallen sie steil ab, oft 3000 Meter tief. Sie erscheinen
wie ausgebrannte Vulkane. Diese erloschenen Feuerkessel finden sich
aus und zwischen großen Gebirgen von 5000 Meter Höhe und 100
Meilen Länge. Diese sind es, die zur Zeit des Vollmondes uns
als helle Lichtstreifen erscheinen.
Die bedeutendste Höhe, welche man bis jetzt auf dem Monde
gemessen hat, beträgt 8000 Meter. Die größte Tiefe in einem
Kraterschlunde senkt sich 3000 Meter unter die Mondfläche. Da der
Durchmesser des Mondes nur etwa */4 vom Erddurchmesser beträgt,
so müßten bei gleichen Verhältnissen die höchsten Erdberge 4 mal so
hoch sein als die Mondberge, also etwa 4 Meilen hoch. Die höchsten
Berge der Erde (Mount Everest, Dapsang und Kanchinjinga) haben
aber nur etwa gleiche Höhe wie die höchsten Mondberge.
Ein mächtiges Kettengebirge ist 90 Meilen lang; es erstreckt sich
von Südost nach Nordwest. Es enthält Berge von mehr als 5000
Meter Höhe und ist teilweise von einer verglasten Fläche überzogen.
Noch gegenwärtig ändert sich die Mondfläche; es entstehen Berge
und Abgründe; wahrscheinlich sind Vulkane heut noch dort thätig.
Eine so dichte Atmosphäre, wie sie unsere Erde umhüllt, findet
man um den Mond nicht. Die Luft, welche dort anzutreffen ist,
muß sehr dünn sein. Nirgends hat man da grüne Wälder und
Wiesen, Meeresspiegel und schneebedeckte Berggipfel entdeckt; überall
nur Berge wie riesige Blasen, kahle Bergkegel und muldenförmige
Abgründe.
Ob der Mond nicht Leben zeugte, wie unsere Erde heut noch —
wer vermag's zu sagen? Ob er ein wegen seiner Kleinheit schneller
als die Erde abgekühlter Körper ist — wer weiß es?
Es ist Neumond. Besteigen wir einen der hohen und steilen
Mondberge. Tausende von Metern hoch stehen wir über der Ober-
fläche des Mondes. Finster ist's um uns her. Über uns leuchten
die Sterne viel klarer als auf der Erde, denn die äußerst dünne
Atmosphäre bricht und verschluckt nicht das Sternenlicht. Der größte
30. Auf betn Monde.
151
St.ern ist unsere Erde; vier Meter im Durchmesser erscheint sie am
Himmel wie eine feurige Kugel in Silberglanz. Es ist das Licht der
Sonne, das sie dem Monde zustrahlt. Nur zur Zeit des Vollmondes,
d. h. wenn die Sonne die ganze Mondhälfte beleuchtet, am Mond-
mittage, ist die Erde dunkel und nicht zu sehen. Die Erde leuchtet
auf dem Monde 13 mal so hell, als uns der Vollmond leuchtet.
Endlich, d. h. nach 14 Erdentagen, wird es Morgen. Im
Osten bricht ein mächtiger Lichtglanz hervor ohne Dämmerung. Die
höchsten Spitzen der Berge sind golden von der aufgehenden Sonne
beleuchtet, der Fuß der Berge liegt noch in dunkler Schattennacht.
Nach Westen hin erscheinen die Bergwände in Hellem Licht. Nach
7 Erdentagen steht die Sonne fast im Zenith und nach abermals
7 Tagen geht sie unter, jetzt nach Osten hin die Berge vergoldend
und ihre scharfen Schatten werfend.
Was wir auf Erden Mondfinsternis nennen, ist für den Mond
eine Sonnenfinsternis; denn die schwarze Erde tritt vor die Sonne
und verursacht am Hellen Mondmittage finstere Nacht.
Die uns abgewandte Seite des Mondes erfährt von der Erde
nichts. Sollten auf dem Monde verständige Wesen leben oder gelebt
haben, so muß es den auf der uns abgewandten Mondseite lebenden
das höchste Schauspiel sein, bei einer Reise auf die uns zugewandte
Mondseite unsern Erdstern zu sehen und bewundern zu können. Denn
wenn wir auf Erden zunehmenden Mond haben, erscheint auf dem
Monde die Erde als Sichel, wie unser abnehmender Mond, nur viel
größer, und nach 14 Tagen ist's umgekehrt.
Wolken giebt's auf dem Monde nicht. Der Blick nach dem
Sternenhimmel wird dort nie verschleiert. Fast stets während eines
Mondtages steht die Sonne über dem Äquator. Da muß in dem
langen Tage sich in der heißen Zone eine mächtige Hitze durch die
beinahe immer senkrecht auffallenden Sonnenstrahlen entwickeln. Und
in der darauf folgenden Nacht von 336 Stunden muß eine hohe
Kälte herrschen. Weder unsere Pflanzen noch unsere Tiere könnten
da gedeihen. An den Polen aber herrscht Tag und Nacht ewige
Winterkälte.
Weil der Mond uns stets dieselbe Seite zuwendet, auf der uns
abgewandten mithin, weil weiter vom Mittelpunkte liegend, eine be-
deutende Fliehkraft sich geltend machen muß, hat man neuerdings ge-
schlossen, daß auf derselben wohl eine dichtere Atmosphäre sein könne,
als auf unserer Seite. Und dann wäre es möglich, daß dort auch
Wolken und Wasser und Meer und Regen und Schnee und Eis sich
einstellen, wie bei uns. Vielleicht gedeihen in der mittleren Breite
des Mondes auch niedere Pflanzen und Tiere. — Es wird sich dies
weder beweisen noch widerlegen lassen. a. waeber.
152
31. Cternschnuppen-Ctröme.
31. Sternschnuppen-Ströme.
Was die Beschaffenheit der Sternschnuppen, dieser merkwürdigen
Körper betrifft, so ist man jetzt allgemein der Ansicht, daß es kleine
planetarische Massen sind, die nach den Gesetzen der allgemeinen Schwere
sich um die Sonne bewegen und dabei zu gewissen Zeiten die Erdbahn
durchschneiden. Indem sie mit enormer Geschwindigkeit durch die
Atmosphäre fahren, entzünden sie sich und verbrennen, so daß die
meisten spurlos verschwinden und nur durch den Glanz sich offenbaren,
den sie bei ihrer Vernichtung entwickeln. Die Thatsache, daß im August
und November eine größere Anzahl sichtbar ist, erklärt sich wohl aus
dem Umstande, daß die Bahnen vieler solcher Körper da einander am
Sternschnuppen-Fall am Niagara.
nächsten liegen, wo die Erde sich zur Zeit der genannten Epochen be-
findet. Myriaden dieser Körper können gewissermaßen einen geschlosse-
nen Ring bilden, so daß sie in demselben übereinstimmende Bahnen
beschreiben. Dagegen mögen sie in einem solchen Ringe ungleich ver-
teilt sein und nur hier und da in dichten Gruppen beisammen stehen,
was zur Folge haben wird, daß die Erscheinung nicht in jedem Jahre
in gleicher Fülle auftritt.
Daß die Sternschnuppen bloß bei Nacht gesehen zu werden pflegen,
rührt ohne Zweifel allein daher, daß sie am Tage der herrschenden
Helligkeit wegen ebensowenig als die Sterne sichtbar sein können. Aller
31. Stcrnschnuppen-Strome.
153
Wahrscheinlichkeit nach sind diese merkwürdigen Körperchen, die bis-
weilen zu vielen Tausenden ihre leuchtenden Bahnen durch die Luft
ziehen, dem Wesen nach gleichartig mit den viel größeren und seltenern
Feuerkugeln; denn ohne bestimmte Grenzscheidung gehen die kleinsten
Sternschnuppen durch alle Abstufungen bis zu den größten, Meteorsteine
gebenden Feuerkugeln über; auch bewegen sich beide mit derselben Ge-
schwindigkeit und kommen gleichzeitig und gemischt in den Schwärmen vor.
Die Feuerkugeln zeigen sich gewöhnlich auf folgende Art. Es er-
scheint in beträchtlicher Höhe ein helles, bald nachher sich entzündendes
Wölkchen, aus welchem sich eine leuchtende Masse zusammenballt, die
mit großer Geschwindigkeit sich fortbewegt und zu einer feurigen Kugel
wird. Diese zieht gewöhnlich einen Schweif nach sich, der zunächst an
der Kugel aus Flammen, die sich hinterwärts zuspitzen, und weiter nach
hinten aus dem nachgelassenen Rauche und Dampfe besteht und zu-
weilen auch in die Länge gezogene Teile der Substanz selbst enthält;
auch ist sie bisweilen von abgesonderten Teilen begleitet, die sich zu
kleinen Feuerkugeln ausbilden. Endlich zerspringt das Meteor mit ent-
setzlichem Getöse und heftiger Erschütterung der Luft, besonders wenn
ein größerer Steinfall dabei stattfindet.
Die neuesten Beobachtungen haben zu der interessanten Annahme
geführt, daß zwischen den Sternschnuppen und den Kometen eine
nahe Beziehung besteht, ja, daß die Sternschnuppen selbst Teile von
Kometen sind. Die frühere Ansicht, dass letztere aus Lichtäther bestehen,
ist bereits aufgegeben. Man ist nach dem Vorgänge ausgezeichneter
Astronomen der Ansicht, daß die Kometen aus eben solchen unzähligen
kleinen planetarischen Körpern, wie die Sternschnuppen eben sind, bestehen,
welche so gemeinsam die Reise durch den Weltenraum machen und ihr
Licht von der Sonne erhalten. Dafür spricht der Umstand, daß selbst der
Kern der Kometen durchsichtig ist, daß kein Komet bei mehrmaligem
Erscheinen dieselbe Form behalten hat, sondern daß sie dieselbe wech-
seln. Kometen, die ohne Schweif waren bei ihrem Erscheinen, erhielten
einen solchen oder verlängerten ihn oder bekamen deren zwei. Das
interessanteste Schauspiel dieser Art bot im Jahre 1846 der Bielasche
(spr. Bi—ela) Komet, welcher sich vor den Augen seiner Beobachter in
zwei selbständige Kometen teilte, von denen jeder seine eigene Straße
zog. Seitdem hat man beide noch zweimal gesehen. Aber 1866
wurden sie vergeblich erwartet und gesucht. Vielleicht hat jeder von
ihnen sich in mehrere so kleine Teile aufgelöst, daß diese für uns
nicht mehr sichtbar waren. Ferner ist nicht zu leugnen, daß der Kern
des Kometen auf die ihm zugehörigen Teile eine besondere Anziehung
ausübt. Hiernach liegt die Vermutung nahe, daß Kometen sich auch
ringförmig gestalten, indem das Ende des Schweifes an den Kopf sich
anschließt.
Dieser Fall, sagt man, sei bei zwei Kometen eingetreten, von denen
der eine einige Zeit vor, der andere etwa 60 Jahre nach Christi Geburt
154
32. Non unserer- Sonne.
noch beobachtet wurde, die aber seitdem beide verscuwuw^
In den Sternschnuppen-Strömen, welche am 10. August und 11. bis
14. November jedes Jahres eintreten, erblicke man diese vermeintlich
verschwundenen Kometen wieder. Sie haben eine ringförmige Gestalt
angenommen. Aus der Wahrnehmung, daß namentlich bei dem August-
strome der Fall der Sternschnuppen nicht in jedem Jahre gleich stark
ist, hat man die Folgerung gemacht, daß der Ring an den verschiedenen
Stellen, an denen die Erde in den verschiedenen Jahren hindurch geht,
nicht gleich zahlreiche Körper aufzuweisen habe. Da im November in
dieser Hinsicht eine größere Fülle und Gleichmäßigkeit beobachtet
worden ist, so nimmt man an, daß der Ring dieses Kometen bereits
mehr Regelmäßigkeit als der des August-Kometen erreicht habe. So-
nach hätten wir in den merkwürdigen, regelmäßigen Sternschnuppen-
Schwärmen im August und November, so zu sagen, zwei pensionierte
Kometen vor uns.
Die Untersuchung der Meteorsteine hat uns in ihnen noch keinen
einzigen Bestandteil kennen gelehrt, welcher der Erde ganz fremd wäre.
Eisen ist vorherrschend. Außer diesem bilden Nickel, Schwefel, Kalk,
Thon- und Kieselerde die am häufigsten vorkommenden Bestandteile.
Jedenfalls gehören diese Meteorite zu den interessantesten Körpern,
die es giebt. Alle anderen Stoffe, die wir auf Erden sehen und berühren,
sind mit uns auf der Erde entstanden. Hier aber treten uns die „errati-
schen Blöcke“ einer andern Welt vor die Augen. Wir können mit Hän-
den Körper greifen, deren geheimnisvolle Geburtsstätte hoch über den
äußersten Grenzen unserer Atmosphäre liegt. Sie sind die untrügbaren
Zeugen, daß die Stoffe, welche den Erdball zusammensetzen, auch jen-
seit seiner Grenzen vorkommen. Sie gewähren uns einen Einblick in
die materielle Konstruktion des Weltalls. Madier u. Rosenkranz.
32. Bon unserer Sonne.
Die Tonn' erwacht! Mit ikrer Pracht erfüllt sie die Berge, das Thal.
O Morgenluft, o Waldesduft. o goldener Sonnenstrahl!
Aie Sonne gehört zu den selbstleuchtenden Himmelskörpern, also
zu den Fixsternen. Alle übrigen Fixsterne sehen wir der großen
Entfernung wegen nur als leuchtende Punkte, einzig die Sonne als
eine Scheibe. Sie bildet eine Kugel, deren Durchmesser 107 mal länger
als der der Erdkugel ist. Hiernach ist ihr Körper mehr als eine
Million mal größer als unsere Erde. Nähme man alle Planeten und
Monde zusammen, so würde die Sonne sie dennoch 700 mal über-
wiegen. Wäre die Sonne hohl, und die Erde stünde im Mittelpunkte
derselben, so könnte der Mond die Erde innerhalb der Sonne ganz
bequem umkreisen, sogar in einer doppelt so großen Entfernung als
seiner gegenwärtigen, ohne an die Oberfläche der Sonne zu streifen.
Wie die Erde von einer Atmosphäre oder Lufthülle umgeben ist, so
die Sonne von einer Photosphäre oder Lichthülle. Sie besteht demnach
32. Von unserer Sonne.
155
aus zwei wesentlich verschiedenen Teilen: einem festen Kern und einer
leuchtenden Hülle, die den Kern frei nmgiebt. Die Ansichten der Stern-
kundigen über die Beschaffenheit des Sonnenkörpers sind verschieden.
Während noch Herschel annahm, daß der Kern der Sonne nicht selbst-
leuchtend und vollkommen dunkel sei, haben die neuesten Beobachtungen
zu der Ansicht geführt, daß sich die Sonne noch in einem weißglühen-
den, flüssigen Zustande befindet. Ist diese Annahme richtig, dann be-
steht die Lichthülle in der Ausströmung von Gasen aus dem feuer-
flüssigen Sonnenkörper.
Betrachtet man die Sonne durch ein gutes Fernrohr, nachdem
man zum Schutze der Augen ein dunkel gefärbtes Planglas vor das
Okular gebracht hat, so sieht man die Sonnenscheibe selten in ganz
gleichmäßigem Lichte glänzen. Gewöhnlich erscheint sie mit einer sehr
großen Zahl kleiner grauer und hellerer Flecken bedeckt. Größere dunkle
Flecken, Sonnenflecken genannt, zeigen oft merkwürdige Formen.
Neben diesen dunkeln Stellen giebt es aber solche, die durch ihren
Lichtglanz von der übrigen Sonnenfläche entschieden hervortreten. Man
nennt sie Sonnenfackeln.
Hat die Sonne, wie man früher annahm, einen dunkeln Kern,
und rührt die Leuchtkruft nur von der äußersten Umhüllung her, welche
das eigentliche Lichtmeer bildet, so lassen sich die Sonnenflecke so
erklären, daß durch irgend welche Störungen in der Lichthülle Risse
und Spalten entstehen, wodurch der dunkle Sonnenkern bloßgelegt
wird. Nach dieser Annahme hängt die Bildung der Sonnenfackeln
damit insofern zusammen, als dieselben durch Anhäufung der Licht-
massen entstehen.
Ist dagegen die neuere Annahme richtig, daß die eigentliche Licht-
quelle der Kern der Sonne ist, die schwächere aber die Sonnen-
atmosphäre, so können die Flecken in der Sonne nicht auf obige Weise
erklärt werden. Die Umhüllung derselben, sagt man, bildet nicht etwa
ein ruhiges Bild, sondern befindet sich in steter Veränderung. Sobald
in Folge irgend einer Veranlassung an einer Stelle der den Kern zu-
nächst umgebenden Schicht eine Abkühlung eintritt, wird auch natürlich
eine Verdichtung der dampfförmigen Stoffe erfolgen müssen. Dadurch
entstehen also Wolken. Diese entziehen der äußeren Schicht die Wärme-
strahlen und erzeugen auch in der oberen Umhüllung an derselben Stelle
eine Verdichtung der gasartigen Substanzen. Sind diese beiden Wolken-
gruppen hinlänglich dick, so können die Lichtstrahlen des hellen Kernes
nicht mehr durchdringen, und es wird sich dann ein schwarzer Fleck auf
der Sonne bilden. Die Wolke in der äußeren Schicht muß ferner
bedeutend größer sein als die unter ihr liegende, weil nicht allein senk-
recht über der unteren, sondern auch zur Seite eine Temperatur-
erniedrigung stattfindet. Ta sie nun die untere mit ihren Rändern
überragt, so erblicken wir den dunkeln Flecken von einem aschgrauen
Rande (Hofe) umgeben. Ta ferner an einzelnen Stellen Verdichtungen
entstehen, so müssen an anderen Verdünnungen der Lichtmasse eintreten,
156
33. Drei Rätsel.
«
welche den stark leuchtenden Kern an einzelnen Stellen bloßlegen. So
bilden sich die Sonnenfackeln.
Durch geistvolle Untersuchungen ist es gelungen, auch Kenntnisse
über die Bestandteile des Sonnenkörpers zu erhalten. Sämtliche Stoffe
befinden sich nach den angestellten Ermittelungen in dunstförmigem
Zustande, also nicht in festem, wie auf unserer Erde. Aber im übrigen
ist kein Stoff gefunden worden, der nicht auch auf dieser vorkäme;
unter anderen sind es Eisen, Zink, Kupfer, Kalk, Thon, Salz, Wasserstoff.
Mädler u. prcißingcr.
33. *Drei Rätsel.
i
1. Unter allen Schlangen ist eine,
auf Erden nicht gezeugt,
mit der an Schnelle keine,
an Wut sich keine vergleicht.
2. Sie stürzt mit furchtbarer Stimme
auf ihren Raub sich los,
vertilgt in einem Grimme
den Reiter und sein Roß.
3. Sie liebt die höchsten Spitzen;
nicht Schloß, nicht Riegel kann
vor ihrem Anfall schützen;
der Harnisch — lockt sie an.
4. Sie bricht wie dünne Halmen
den stärksten Baum entzwei;
sie kann das Erz zermalmen,
wie dicht und fest es sei.
5. Und dieses Ungeheuer
hat zweimal nie gedroht —
es stirbt im eignen Feuer;
wie's tötet, ist es tot!
1.
II.
Ich wohn' in einem steinernen Haus,
da lieg' ich verborgen und schlafe;
doch ich trete hervor, ich eile heraus,
gefordert mit eiserner Waffe.
Erst bin ich unscheinbar und schwach und klein,
mich kann dein Atem bezwingen,
ein Regentropfen schon saugt mich ein;
doch mir wachsen im Siege die Schwingen;
wenn die mächtige Schwester sich zu mir gesellt,
erwachs' ich zum furchtbar'n Gebieter der Welt.
III.
Kennst du die Brücke ohne Bogen
und ohne Joch, von Diamant,
die über breiter Ströme Wogen
errichtet eines Greises Hand.
2. Er baut sie auf in wenig Tagen,
geräuschlos, du bemerkst es kaum;
doch kann sie schwere Lasten tragen
und hat für hundert Wagen Raum.
3. Doch kaum entfernt der Greis sich wieder,
so hüpft ein Knabe froh daher,
der reißt die Brücke eilig nieder,
du siehst auch ihre Spur nicht mehr.
Schiller.
1. Die Christenverfolgungen.
157
0. Erzählungen aus der Geschichte.
1. Die Christenverfolgungen.
Mit Entsetzen gewahrten die Heiden, insbesondere die römischen
Herrscher, die schnelle Ausbreitung der christlichen Religion. Wielvohl
die Christen die besten und treuesten Unterthanen waren, so mußten
sie doch, weil sie an den heidnischen Gebräuchen keinen Anteil nahmen,
als Feinde des Vaterlandes gelten. Zudem war der lautere, sromme
Wandel der Christen eine lästige Strafpredigt für die allen Lastern
fröhnenden Heiden; man hielt sie daher für Schwärmer, für Feinde des
geselligen Lebens, und solche Sittenrichter wollte man nicht neben sich dulden.
Man zählt gewöhnlich zehn große Verfolgungen: die erste unter
dem Kaiser Nero (54 — 68 nach Christo), die zehnte unter Diokletian
(284 — 305 nach Christo). Aber in Wirklichkeit wurden die Christen
während des ganzen Zeitraumes verfolgt; denn auch die Kaiser, welche
selbst blutige Verordnungen gegen dieselben nicht erließen, hoben doch
die ihrer Vorfahren nicht aus und duldeten die Greuelthaten, welche in
den Provinzen durch Privathaß der Behörden oder durch Aufwiegelung
des Volkes verübt wurden. Die Absicht der Feinde der Christen war,
sie durch grauenvolle Peinigung entweder zum Abfalle zu bringen oder
sie aufzureiben. Es waren auch in der That die Todesarten so
schauerlich und mit so erfinderischer Grausamkeit ersonnen, daß sie
ihren Zweck hätten erreichen müssen, wenn nicht Gottes Vorsehung
gewaltet und seine Kraft die Märtyrer gestärkt hätte. Viele wurden
unmenschlich gegeißelt und gefoltert; viele mit eisernen Haken zerrissen
oder mit Fackeln gebrannt; viele zersägt oder in Stücke zerhauen;
viele ans Kreuz geschlagen; andere, mit Pechröcken angethan, in
der Nacht zur Beleuchtung der öffentlichen Plätze und Gärten ange-
zündet; sehr viele wurden den wilden Tieren zur Speise vorgeworfen.
Am heftigsten wütete gleich anfänglich der grausame Kaiser Nero gegen
die Christen. In dieser ersten Verfolgung starb der heil. Petrus am
Kreuze und sein Mitapostel Paulus (68 nach Christo) durchs Schwert.
Nicht minder heftig waren die Verfolgungen unter dem unmenschlichen
Domitian und später unter Decius. Fast durch das ganze römische
Reich breiteten sich dieselben unter Diokletian aus. Die Zahl der-
jenigen, welche in allen diesen Verfolgungen gelitten und selig vollendet
haben, ist nicht zu berechnen. Fast alle Päpste dieser Zeit und sehr
viele Bischöfe haben ihr Blut für den Glauben vergossen; Rom besonders
ist mit dem Blute der Märtyrer getränkt worden. Zeugnis davon geben
bis zur Stunde die unterirdischen Gänge oder Katakomben, wo die Leiber
der Blutzeugen von den Christen beigesetzt wurden. Wir wollen hier noch
an einige derselben erinnern, die in der Kirche besonders berühmt geworden.
Der 120jährige Simeon, Bischof von Jerusalem, starb, wie sein
göttlicher Lehrmeister, am Kreuze. Der heil. Ignatius, Bischof von
Antiochia, ein Jünger der Apostel, sehnte sich mit so heißem Verlangen
158
2. Die Völkerwanderung.
nach der Marter, daß er die Christen zu Nom flehentlich bat, ihn nicht
etwa vom Tode befreien zu wollen. Er wurde, wie er wünschte, den
wilden Tieren vorgeworfen. (I. 107.) Wie der heil. Polykarp, Bischof
von Smyrna, für seinen Herrn starb, ist schon erzählt. (Lesebuch, 3. Teil,
S. 171.) Zwei edle Frauen, die heil. Symphorosa und die heil.
Felicitas, jede mit sieben Söhnen, die durch sie zum standhaften
Bekenntnisse ermuntert worden waren, starben zu Rom eines glorreichen
Todes. Ebenda verherrlichte der Philosoph Justinus, welcher das
Christentum durch zwei gelehrte Schutzschriften verteidigt hatte, Christum
den Herrn mit dem Opfer seines Lebens. (I. 167.) Zu Lyon in
Frankreich, wo das Christenblut in Strömen vergossen wurde, starben
die Bischöfe Pothinus und Irenaus, die Jünglinge Epipodius
und Alexander und die Sklavin Blandina den Märtyrertod.
Bekannt ist die ruhmwürdige Marter des heil. Laurentius zu Rom
und des großen Bischofs von Karthago, Cyprian, von denen der
erstere auf einem glühenden Roste gebraten, der andere nach vielen
Leiden enthauptet wurde. (I. 258.) Von jeher wurden in der Kirche
gefeiert die erst vierzehnjährige Agnes, die heil. Agatha, Lucia,
Katharina und unzählige andere christliche Heldinnen, welche für ihren
Glauben und teils für die Erhaltung ihrer Keuschheit gekämpft und
über Qual und Tod gesiegt haben. Das glorreiche Martertum der heil.
Ursula und ihrer Gefährtinnen fällt in die Zeit des Kaisers M a x i m i n u s
des Thraciers. (I. 235 238.) münst. Lesebuch.
2. Die Völkerwanderung.
1. Deutsche Völkervereine. Seit dem Siege Hermanns
konnten die Römer nicht mehr daran denken, Deutschland zu bezwingen.
Sie suchten nur noch ihr Gebiet vor dem Eindringen der deutschen
Völker zu sichern. Darum stellten sie an den deutschen Grenzen ihre
besten Heere als Wache auf und zogen Wälle, Gräben und Mauern
von gewaltiger Stärke, deren Reste bis auf den heutigen Tag geblieben
sind. Dennoch ließen sich die kriegerischen Deutschen nicht von Angriffen
auf das römische Reich zurückschrecken. Die fortwährenden Kämpfe
belehrten sie, daß Eintracht stark macht. Daher geschah es, daß die
zahllosen kleinen Völkerschaften sich mehr und mehr zusammenschlossen
und größere Vereinigungen bildeten. Es entstanden die vier großen
Völkerbündnisse der Allemannen am Oberrhein, der Franken
am Niederrhein, der Sachsen zwischen Rhein und Elbe und der
Goten im östlichen Deutschland. Vorzüglich mächtig wurden die
Goten, die ihre Herrschaft weit hin gen Morgen bis zum schwarzen Meere
ausbreiteten. Sie teilten sich in Westgoten und Ostgoten. Immer
gefährlicher wurde die Macht dieser streitbaren Völker dem sinkenden
römischen Reiche. Endlich trat ein Ereignis ein, das sie alle in Be-
wegung setzte. Es begann die sogenannte große Völkerwanderung.
2. Die Hunnen. Den Anstoß zu der Völkerwanderung gab
ein wildes Nomadenvolk, das von Asien her in Europa einbrach. Es
2. Die Völkerwanderung.
159
Waren die Hunnen, Leute mit schwarzem, struppigem Haar, schmutzig-
gelber Gesichtsfarbe, schiefen Augen, breitschulterig und klein von Leibe
und so fürchterlich wild, als sie häßlich von Ansehen waren. Sie
lebten von wilden Wurzeln und von Fleisch, das sie nicht kochten, son-
dern wie einen Sattel aufs Pferd legten und durch einen tüchtigen
Ritt mürbe machten. Feste Wohnsitze kannten sie nicht; von Kindes-
beinen an schweiften sie im Freien, in Bergen und Wäldern umher
und lernten Hitze und Kälte, Hunger und Durst ertragen. Bekleidet
waren sie mit leinenen Kitteln oder Pelzen; die Beine umwickelten
sie mit Bocksfellen. Von ihren Pferden waren sie unzertrennlich; sie
aßen, tranken und schliefen darauf. Ihre Weiber und Kinder führten
sie in Karren mit sich. Krieg war ihre größte Lust. Mit schrecklichem
Geheul begannen sie die Schlacht; ohne Ordnung, aber schnell wieder
Blitz stürzten sie sich auf den Feind. Wich er ihren Pfeilen oder
Säbelhieben aus, so warfen sie ihm Schlingen um den Hals und
schleppten ihn mit sich fort. Nichts kam ihrer Raubsucht und Grau-
samkeit gleich. So zogen sie jetzt plündernd, sengend und mordend
von Land zu Land und trieben die Völker vor sich her, wie der Wolf
die Herde jagt.
3. Alarich der Westgote. Zuerst stießen die Hunnen auf
die Goten. Die Ostgoten wichen zurück, und ihre Brüder, die
Westgoten, von ihnen fortgeschoben, drangen nun in hellen Haufen
ins römische Reich. Ihr tapferer König Alarich fiel in Italien
ein und rückte siegreich bis vor die Thore der Stadt Rom. Jetzt
ergriff die Römer Angst und Entsetzen. Seit vielen Jahrhunderten
war kein Feind der Stadt so nahe gekommen. Eilig schickte man Ge-
sandte an Alarich, um ihn zur Umkehr zu bewegen. „Unzählbar,"
prahlten diese vor dem Westgotenkönig, „sind die Bewohner Roms,
beherzt und in den Waffen wohlgeübt." Alarich aber lachte laut und
rief: „Je dichter das Gras steht, desto leichter ist es zu mähen!" Und
er forderte, daß ihm alles, was Rom an Gold, Silber und kostbaren
Geräten besaß, ausgeliefert werde. „Was willst du uns denn übrig
lassen?" fragten die bestürzten Römer. „Euer Leben!" lautete die
Antwort. Und die stolze Stadt mußte sich fügen; mit einer unermeß-
lichen Geldsumme erkaufte sie sich Verschonung, und Alarich mit seinen
Westgoten zog ab. Aber im folgenden Jahre kehrte er wieder,
eroberte die Stadt und plünderte sie aus. Mit Beute beladen, brach
er dann nach Süditalien auf, um von dort nach Sizilien und Afrika
überzusetzen. Da aber ereilte ihn der Tod in der Blüte seiner Jahre.
Die Goten begruben ihren Helden in großartiger Weise. Sie leiteten
einen Fluß, Busento, ab, mauerten in dem trockenen Bette ein Grab
aus und senkten den toten König mit der Rüstung auf seinem Streit-
roß hinab. Dann deckten sie das Grab mit Erde und leiteten den
Fluß wieder darüber hin, damit niemand erfahre, wo der große Alarich
liege, und seine Ruhestätte störe. Der neue König, den sie sich er-
wählten, führte darauf das Volk durch Italien zurück nach Frankreich
160
2. Die Völkerwanderung.
und Spanien und gründete dort ein großes Westgotenreich, das drei
Jahrhunderte bestanden hat.
4. Geiserich der Vandale. Gleich den Westgoten brachen
auch andere deutsche Völker ins römische Reich ein; denn die Römer
waren nicht mehr imstande, ihre Grenzen zu beschützen. Außer
Frankreich und Spanien ging ihnen bald auch Britannien verloren.
Angeln und Sachsen von den Ufern der Nordsee (aus Schleswig-Hol-
stein) setzten dorthin über und eroberten das Land, das nun nach den
Angeln Angelland oder England genannt wurde. Selbst das Mittelmeer,
das Afrika von Europa scheidet, hemmte nicht mehr das Vordringen
deutscher Völker. Nordafrika wurde die Beute der Vandalen, eines
Volkes vom Riesengebirge. Ihr König Geiserich stiftete dort ein
mächtiges Reich mit der Hauptstadt Karthago. Von Afrika aus machte
der Vandalenheld einen Kriegszug nach Italien und verhängte über
Rom eine furchtbare Plünderung. Alle Kostbarkeiten, die seit der
Verheerung durch Alarich noch vorhanden waren, Bildsäulen und sonstige
Kunstschätze in Tempeln und Palästen wurden zu Schiffe gebracht und
fortgeschleppt. Tausende der angesehensten Römer gerieten in Gefangen-
schaft und Sklaverei. Etwa 100 Jahre hat die Herrschaft der Vandalen
in Afrika gedauert.
5. Attila der Hunnenkönig. Gräßlicher aber als alle Ver-
wüstung, welche die Züge deutscher Völker anrichteten, war die Not
und Zerstörung, die von den furchtbaren Hunnen ausging. Nicht allein
dem römischen Reiche, auch den neu gestifteten deutschen Staaten schien
von ihnen der Untergang bereitet zu sein. Am gefährlichsten wurde
ihre Macht unter dem Könige Attila oder Etzel.
Dieser gewaltige Kriegsheld war von Gestalt klein und häßlich.
Aber an dem stolzen Gange, an der würdevollen Haltung erkannte
man alsobald den Herrscher. Ein Haufe von Königen und Fürsten
unterjochter Völker umgab ihn; sie erschienen wie seine Diener, zitterten
bei seinen Winken und eilten, seine Befehle zu vollziehen. Um sich her
liebte er die Pracht; seine Gäste aßen aus goldenen und silbernen
Gefäßen; er selbst duldete auf seiner Tafel nur hölzerne Schüsseln und
war in Speise, Kleidung und Pferdeschmuck höchst einfach. Bei Gast-
mählern hörte er gern Gesang und heitern Scherz; doch verlor er dabei
nie den strengen Ernst. Sein Wohnsitz lag in Ungarn. Dort erhob
sich in einem sehr großen Dorfe sein Palast, wie die andern Häuser
nur aus Holz erbaut, doch mit weiten Hallen umgeben und prächtig
ausgestattet. Von hier aus verbreiteten seine Befehle Schrecken über
ferne Nationen. Wenn er sein Schwert in die Erde stieß, sagte man,
hätten hundert Völker gebebt und Rom und Konstantinopel in ihren
Grundfesten gezittert. Er selbst nannte sich Gottesgeißel. Und
alles Land, das er betrat, erfuhr es, daß er wirklich eine Geißel Gottes,
eine Zuchtrute der Völker war.
Seine Herrschaft reichte von den Grenzen Asiens bis tief nach
Deutschland hinein. Aber das genügte ihm nicht. Auch den Westen
2. Die Völkerwanderung.
161
von Europa bis zum Ozean hin wollte er besitzen. Darum brach er mit
einem Heere von mehr als einer halben Million Streitern auf, zog, alles
vor sich niederwerfend, durch Österreich und Bayern und ging dann über
den Rhein nach Frankreich. Sein Zug glich dem der Heuschreckenschwärme,
welche die Saatfelder, auf die sie fallen, in wenig Stunden zur Wüste machen.
Eine Menge blühender Städte sank in Schutt und Asche, Plünderung,
Mord und Brand allenthalben, wo die wilden Scharen sich hinwälzten.
In dieser Not verbanden sich Römer und deutsche Völker (West-
goten, Franken u. a.), dem Weltstürmer gemeinsam entgegenzutreten.
Auf den katalaunischen Ebenen, wo jetzt die Stadt Chalons*) liegt, stießen
die feindlichen Heere aufeinander. Hier geschah die große Hunnen-
schlacht, in der es sich entscheiden sollte, ob Europa hinfort den kräftigen
deutschen Völkern oder den hunnischen Barbaren gehören sollte. Es
war ein fürchterlich blutiger Kampf, ein grauenvolles Würgen. So
grimmig war die Wut der Streitenden, daß die Sage erzählt, noch
drei Tage nachher hätten die Geister der Erschlagenen in den Lüsten
miteinander gerungen. Gegen 200 000 Tote bedeckten das Schlacht-
feld. Aber Attila wurde geschlagen und mußte mit den Überbleibseln
seines Heeres nach Ungarn zurückkehren. (451 n. Chr.)
Freilich war er noch stark genug, im nächsten Jahre einen Raub-
zug nach Italien zu machen. Hier zerstörte er die große Stadt
Aquileja, plünderte Mailand, verbrannte Pavia und ging auf Rom
los. Alle Einwohner Roms verloren den Mut, nur Papst Leo der
Große nicht. Er ermahnte das Volk zu beten und Buße zu thun
und ging, von seiner Geistlichkeit und vielen angesehenen Römern
begleitet, dem mächtigen Könige der Hunnen entgegen. Attila, mitten
im Lager unter seinem offenen Zelte auf dem Throne sitzend, ließ ihn
vor sich führen. Leo trat unerschrocken und mit hohem Mute vor den
König und hielt eine Rede an ihn, worin er ihn bat, seine Siege nicht
weiter zu verfolgen und die Stadt zu schonen. Unter anderem sagte
er zu ihm: „O König, der du alles überwunden hast, laß dich erbitten
und überwinde dich selbst!" Was Hunderttausende von streitbaren
Männern mit Schwertern und Spießen nicht vermocht hätten, bewirkte
die Beredsamkeit des frommen Mannes. Attila gab Leos Vorstellungen
Gehör; auch er fand es größer, sich selbst zu besiegen, als eine Welt
zu erobern. Er erteilte zum großen Staunen seiner Krieger den Befehl
zum Aufbruch und zog mit seinem Kriegsheer zurück nach Ungarn.
Bald darauf starb er. Sein Leichnam wurde in einen goldenen Sarg
gelegt, den ein silberner und zuletzt ein eiserner umschloß. Waffen,
Pferdezeug und Kostbarkeiten wurden mit ihm begraben, die Gefangenen
aber, welche das Grab gemacht hatten, getötet, damit die Ruhestatt des
Hunnenhelden nicht verraten werde. Nach Attilas Tode zerfiel sein
Reich; die unterjochten Völker machten sich wieder frei, und die Hunnen
verschwanden allmählich aus Europa. Andrä.
*) spr. Schalong'.
Deutsches Lesebuch sür kalb. Schulen. IV. Für Oberklafsen. 11
162
3^ Muhameb.
3. Muhamed.
Wenn ein edler Baum wilde Zweige getrieben hat und dadurch am
Fruchttragen gehindert wird, so tritt der Gärtner hinzu und beschneidet ihn
mit scharfem Messer. Der Baum verliert freilich für eine Zeitlang seine
schöne Gestalt, und manches Reis fällt zur Erde und erstirbt; aber ihm geschieht
dennoch wohl: er wird gereinigt und gerettet. So mußte der Herr zu Anfang
des siebenten Jahrhunderts mit seiner Kirche thun. Mancher wilde Zweig der
Sünde und des Weltsinns war an dem edlen Baume hervorgeschossen, beson-
ders im Morgenlande. Da ließ der Herr von Morgen her einen gewaltigen
Feind wider die Kirche aufstehen, der furchtbarer wütete, als Goten und Hunnen
in der großen Völkerwanderung je gethan; — es war Muhamed und seine
Araber. In Arabien wohnten seit uralten Zeiten die Nachkommen Jsmaels,
des Sohnes Abrahams. Obgleich ihre Heimat dem gelobten Lande so nahe
lag, waren sie dennoch 600 Jahre nach der Geburt unseres Herrn immer noch
heidnische Götzendiener geblieben, die in viele Stämme geteilt und durch
mannigfache Kämpfe (Blutrache) entzweit, als Hirten umherzogen und vom
Ertrage ihrer Herden und vom Raube lebten. Seit der Zerstörung Jerusalems
wohnten auch viele Juden in Arabien, auch hatten christliche Mönche dort
Klöster erbaut; aber sie lebten in so tiefer Unwissenheit, daß man Mühe hatte,
sie als Christen zu erkennen. In diesem Lande, in der Stadt Mekka, trat
im Anfang des siebenten Jahrhunderts ein Mann auf, der sich für einen von
Gott gesandten Propheten ausgab. Muhamed war sein Name. Seine
Eltern starben frühe, und ein reicher Oheim hatte ihn erzogen und zum Kauf-
mannsstande bestimmt. Er hatte mehrere große Handelsreisen nach Syrien
und an den Euphrat gemacht, hatte später eine reiche Witwe geheiratet und
war ein angesehener Kaufmann geworden. Hernach verlor er sein Vermögen
wieder, lebte eine Zeitlang, von allen Menschen geschieden, in einer Höhle
und trat dann plötzlich mit der Erklärung hervor, der Engel Gabriel habe ihm
den Auftrag an seine Landsleute gegeben, den Götzendienst zu zerstören und
den reinen Glauben ihres Vaters Abraham wieder herzustellen.
Muhamed war ein schöner, kühner und gewandter Mann, in voller Kraft
seiner Jahre, der die Gabe der Beredtsamkeit und der Dichtkunst in einem hohen
Grade besaß. Er wußte seine begeisterten Aussprüche in wohlklingende Verse
einzukleiden: dadurch wurden sie dem Ohr gefällig und dem Gedächtnis behältlich.
Viele staunten den neuen Propheten an; aber nur seine Frau Kadidschah und
sein Neffe Ali glaubten an ihn. Allmählich gewann sein Predigen mehr Ein-
gang. Das erregte ihm den Haß seiner Feinde, und einige Jahre später mußte
er, da mehrere derselben sich verschworen hatten, ihn zu ermorden, sein Leben
durch die Flucht retten. Er floh im Jahre 622 nach Christo in eine mit Mekka
in Feindschaft stehende Stadt, Medina. Hier wurde er mit offenen Armen
empfangen, und die Zahl seiner Jünger mehrte sich unglaublich schnell. Mit
dem Jahre dieser Flucht (Hedschra genannt) beginnen die Muhamedaner ihre
Zeitrechnung.
3. Muhamed.
163
Muhamed nannte freilich, um den Juden und Christen zu gefallen, auch
Mosen und Jesum große Propheten Gottes; aber er selbst, behauptete er,
sei der größte und höchste. Cr lehrte, daß nur ein Gott sei; daher noch jetzt
die Losung aller Muhamedaner: Nur Allah (arabischer Name für Gott) ist
Gott und Muhamed ist sein Prophet. Diesem Gott, lehrte er, könne man
nur durch GuteSthun gefallen; aber er nährte den Stolz des Menschen auf
eine traurige Weise, indem er den äußerlich guten Werken ein großes Ver-
dienst bei Gott zuschrieb. Täglich muß der Muhamedaner fünfmal beten,
das Angesicht nach Mekka gewandt; von seinem Vermögen muß er den
hundertsten Teil den Armen geben. „Beten," sagt der Koran, „führt auf
halbem Wege zu Gott, Fasten bringt an den Eingang des Himmels, und
Almosen öffnen die Thür. Aber für den Glauben in der Schlacht streiten
und Feinde töten, das führt zur höchsten Seligkeit." Außerdem führte
Muhamed bei seinen Anhängern die Beschncidung, öftere Waschungen und
die Feier des Freitags, als des heiligen Tages ein. Er verbot den Genuß
des Schweinefleisches, das Weintrinken und alle Glücksspiele. Jeder rechte
Moslem mußte einmal in seinem Leben eine Wallfahrt nach Mekka machen. —
Um die Tapferkeit seiner Krieger noch mehr anzufeuern, lehrte er, jeder
Mensch stehe unter einem unabänderlichen Schicksale, dem er durchaus nicht
entgehen könne, und wenn sein Tod bestimmt sei, so müsse er sterben, er
möge im heißesten Schlachtgewühl sein oder daheim ruhig am Arme eines
Freundes wandeln. Allen Redlichen, Tapfern und Frommen verhieß er zum
Lohne das Paradies, wo sie in lauter sinnlichen Freuden schwelgen, an
reich besetzten Tafeln sich ergötzen und in ewiger Jugendfülle prangen
sollten.
Mehrere Jahre nach Muhameds Tode wurden seine Aussprüche und
Auslegungen gesammelt und ein Buch geschrieben, welches der Koran heißt
und bei den Muhamedancrn ebenso heilig gehalten wird, als bei uns die
Bibel. Neben dem vielen Unwahren, Ungöttlichen und Albernen, das im
Koran steht, findet sich da auch manche schöne Stelle von der Weisheit und
Güte Gottes. Unverkennbar ist das Wahre und Gute darin aus dem alten
und neuen Testament geschöpft. Auch vieles aus der biblischen Geschichte
von Noah, Abraham, Joseph und Moses steht darin, aber immer ganz ver-
unstaltet. Alles, was die heilige Schrift z. B. von Isaak, dem verheißenen
Sohne Abrahams, enthält, das erzählt der Koran von Jsmael, von dem
die Araber abstammen.
Die Nachfolger Muhameds nannten sich Kalifen (Stellvertreter, Statt-
halter des Propheten). Sie fuhren fort, den neuen Glauben mit Feuer und
Schwert auszubreiten, und verrichteten zugleich täglich als oberste Priester
das vorgeschriebene Gebet in der Moschee (Bethaus). Vor ihrem Schwerte
mußten die Heere der griechischen Kaiser weichen; Syrien und das heilige
Land fiel in ihre Hände; Jerusalem, damals eine armselige, von Christen
und Juden bewohnte Stadt, wurde eingenommen und auch für die
Muhamedaner ein Wallfahrtsort. Darauf wurde Ägypten geplündert und
11*
164
4. Leben der Mönche und ihre Wirksamkeit.
Verwüstet, und bald war die ganze Nordküste von Afrika in der Gewalt
der Sieger.
Es schien wirklich, als könne keine Macht der Erde den kühnen Sarazenen
(so nannte man später die Muhamedaner) Widerstand thun. Wohin sie sich
wandten, da folgte ihnen der Sieg. Im Morgenlande überwanden sie das
mächtige Reich der Perser und zwangen diese heidnischen Feueranbeter zu
ihrem Glauben. Ihre siegreichen Heere standen vor den Thoren von Kon-
stantinopel. Die Inseln Sizilien und Sardinien waren ihrer Herrschaft
unterworfen, und fern im Westen setzte einer ihrer Feldherren von Afrika
aus nach Spanien über und nahm auch dieses reiche Land ein. Ganz
Europa zitterte; denn schon brachen die Sarazenen aus Spanien hervor,
schon hatten sie einen Teil von Frankreich erobert, da sprach der Herr der
Heerscharen auch zu diesen stolzen Kriegern: Bis hierher und nicht weiter!
Sie wurden in einer großen Schlacht bei Tours*) (732) von den Franken
geschlagen, und die Kirche des Abendlandes war so vor ihrem Schwerte und
vor dem Gifthauche ihrer trügerischen Religion bewahrt. Lcipoidr.
4. Leben der Mönche und ihre Wirksamkeit.
Im Jahre 529 baute der fromme und einsichtsvolle Abt
Benedikt von Nursia ein Kloster auf dem Monte Cassino bei
Neapel. Die Lebensregel, welche er für sein Kloster entwarf, ward
wegen ihrer Vortrefflichkeit von fast allen Klöstern des Abendlandes
als Richtschnur angenommen. Dem heiligen Benedikt gebührt das
Verdienst, daß die Klöster besonders Wohnsitze der Frömmigkeit, des
Fleißes, der Mäßigkeit und in jenen verwilderten Zeiten zugleich die
Zufluchtsörter der Gelehrsamkeit wurden. Da saßen sie, die frommen
Männer, in ihren kleinen dürftigen Zellen, lebten fleißig und eingezogen
ihrer Arbeit und beteten für sich in der Stille oder versammelten sich
mit den Brüdern im Gotteshause zum gemeinsamen Gebete. Um die
Kirche herum liegen sämtliche Gebäude. An diese schloffen sich der
Gemüse-, ferner der Baumgarten, die Scheunen und Ställe, eine Mühle
und Bäckerei, sowie die Werkstätten für Schmiede, Wagner und Weber.
So vereinigte sich alles im Kloster, was für die tägliche Beschäftigung
und den Lebensunterhalt nötig war, und die Mönche brauchten dasselbe,
welches von einer hohen Mauer umgeben war, nur zu verlassen, wenn
sie auf dem Felde, im Walde, in den Weinbergen beschäftigt waren oder
sonst auswärtige Besorgungen zu verrichten hatten. Wollen wir uns
in dem Kloster umsehen, so wenden wir uns an den Pförtner und
sagen ihm, daß wir als Fremdlinge von der Gastfreundschaft des
f) spr. Tuhr.
4. Leben der Mönche und ihre Wirksamkeit.
165
Klosters Gebrauch machen möchten. Er führt uns mit liebreichen
Worten in die Gaststube. Nach kurzer Zeit tritt der Abt ein und
heißt uns unter dem Friedenskuß im Namen Christi willkommen; denn
so heißt es in der Ordensregel, daß jeder Fremdling so aufgenommen
werden solle, als wäre er Christus selbst, wie ja auch Jesus selbst
dereinst zu uns sagen werde: „Ich war ein Fremdling, und ihr habt
mich aufgenommen." Wir werden mit,Speise und Trank erquickt.
Die Kost der Mönche ist einfach und natürlich ohne Überflüssiges, aber
hinreichend, den Mann bei Kräften zu erhalten; ein Bruder liest über
Tische etwas Erbauliches vor. Ein Teil der Brüder, und zwar der
größere, hat für die leiblichen Bedürfnisse des Klosters zu sorgen oder
beschäftigt sich mit gelehrten Arbeiten; einige aber sind Priester; ihnen
liegt das geistliche Wohl des Klosters ob. Arme Kinder werden von
den Vätern des Klosters liebreich aufgenommen und zugleich mit Kindern
vornehmer Eltern erzogen, um dem ausschließlichen Dienste Gottes in
St. Benedikts Hause geweiht zu werden. Wenn es Abend wird,
tönt eine helle Glockenstimme vom Türmchen auf dem Dache des
Klosters hinaus ins Weite. Wer im Garten ist, kehrt ins Haus
zurück; die Männer, welche hinter den gemalten Fenstern am
Schreibtisch sitzen, klappen ihre Bücher zu; einer hatte nur noch ein
paar Pinselstriche zu malen, um einen kunstreich mit Arabesken ver-
schlungenen Anfangsbuchstaben zu vollenden. Aber da die Glocke
läutet, legt er den Pinsel bei Seite. Jetzt wird es auf dem Hofe
lebendig; schwerbeladene Wagen fahren durch das Thor, einzelne Brüder
kommen mit Säge und Axt, mit Hacke und Schaufel zurück; Pferde
und Ochsen werden ausgeschirrt. Wer in das Kloster aufgenommen
wird, ist zuerst Novize und wird einem bejahrten Mönche übergeben,
welcher in der Kunst, Seelen zu gewinnen und zu leiten, erfahren ist.
Dieser prüft seinen Charakter und hält ihm alle Härten, alle Demütigungen
vor, die seiner warten. Glaubt er nach zwei Monaten für den
Novizen das Versprechen geben zu können, daß dieser ausharren werde,
so liest man demselben die ganze Regel vor und sagt: „Siehe da das
Gesetz, unter welchem du dienen wirst; kannst du es halten, so tritt
ein; kannst du es nicht, so gehe frei von dannen!" Dreimal im Laufe
des Noviziatjahres — später wurde das Noviziat auf zwei Jahre aus-
gedehnt — tritt diese Prüfung an ihn heran; dann wird er am Schlüsse
noch darauf aufmerksam gemacht, daß er nun das Recht über sich selbst
zu verfügen, verliere; willigt er ein, so legt er in der Kirche, vor der
versammelten Klostergemeinde, vor Gott und seinen Heiligen das Gelübde
der Beständigkeit ab. Dann ist er ein Mitglied der Genossenschaft. —
Frühe schlägt die Stunde, wo alle, die von der Ringmauer des Klosters
umschlossen sind, sich zur Ruhe begeben. Bald weckt aber wieder ein
166
5, Die päpstliche Macht.
Glockenzeichen, das die Stille der Nacht unterbricht. Es ist zwei Uhr
nach Mitternacht; die Fenster der Kirche erhellen sich; wir vernehmen
den Chorgesang; die Mönche halten ihre Nokturnen. Dann beginnt
das Tagewerk, die harte Arbeit des Körpers und Geistes, heute wie
gestern, und wie alle Tage, nur sechsmal unterbrochen durch die
kanonischen Tagzeiten. Arbeitend beten die Mönche, und im Gebete
ruhen sie aus. — Um das Kloster haben sich freundliche Häuser an-
gebaut; Acker und Wiese, Baumpflanzungen und Rebgelände tvechseln
Miteinander ab. Nach Hopwarkh.
5. Die päpstliche Macht.
Sald nach Anfang des achten Jahrhunderts sehen wir die
Päpste nach allen Seiten hin, auch in weltlichen Angelegenheiten, einen
Einfluß erlangen und eine Macht entfalten, wie sie bis dahin von
ihnen nicht ausgeübt worden war. In den unruhigen Zeiten des
Mittelalters stand der Felsen Petri unerschütterlich, als Leuchte und
Schutz, für die irrende und bedrängte Menschheit da. Je wilder die
Zeiten, je roher die Begierden und die Leidenschaften waren, desto
nötiger wurde es, daß eine kräftige Hand die Zügel der Herrschaft
erfaßte. So wurden die Päpste von der Vorsehung an die Spitze der
Völker des Abendlandes gestellt, um die zügellosen Fürsten mit Vor-
stellungen und Bitten, oder wo diese nicht halfen, mit den geistigen
Waffen der Exkommunikation an ihre Herrscherpflichten und eben so
die Untergebenen an die ihrigen zu mahnen; zwischen den siegenden
und besiegten Völkern die Vermittler des Friedens zu sein, den Sieger
zu zügeln und den Besiegten zu versöhnen; auch den Mächtigen und
Großen Zucht und Sitte zu lehren; — überhaupt für Hohe und
Niedere die Ausleger und Wächter des göttlichen Gesetzes zu sein.
Dabei kam den Päpsten, wie dem Klerus, überhaupt der Umstand zu
statten, daß die jungen, namentlich germanischen Völker eine große
Hochachtung und unbedingten Gehorsam gegen die Geistlichen, als die
Organe der Gottheit, schon aus dem Heidentum in das Christentum
mitbrachten, und desto lieber sich unterwarfen, da der christliche Klerus,
und vor allen die Päpste in der geistigen Bildung so hoch über jenen
Völkern standen. Auch haben sich die Päpste keineswegs den Völkern
als Lenker und Richter aufgedrungen, nein, die Völker unter-
warfen sich nicht nur willig der Leitung des Statthalters Christi,
sondern baten bei wichtigen Gelegenheiten um seinen Schutz oder
Urteilsspruch. Ein auffallendes Beispiel hiervon gaben die Franken,
5. Die päpstliche Macht.
167
als sie für nötig erachteten, die Regierung vom schwachen und fast
blödsinnigen König Childerich III. auf den thatkräftigen Major Domus
(obersten Haushofmeister) Pipin zu übertragen. Sie ließen nämlich
vorher bei Papst Zacharias anfragen: ,,ob es nicht recht sei, daß
derjenige, welcher die königliche Macht habe, auch den Titel König
führe." Der Papst entschied für Pipin und ließ ihn durch den
heiligen Bonifacius zum Könige krönen. Auch die feierliche
Kaiserkrönung, welche seit Karl dem Großen von den Päpsten
vorgenommen wurde, trug zu dem hohen Ansehen der Päpste
viel bei, da man annahm, daß dadurch die kaiserliche Macht auf
die Person des Gekrönten übertragen werde. Seit den Zeiten
der Völkerwanderung, wo nacheinander verschiedene Völker mit den
morgenländischen Kaisern um den Besitz Italiens stritten, waren
die Päpste, ohne weltliche Macht, aber dennoch durch ihren moralischen
Einfluß die Beschützer der Schwachen und die Friedensvermittler.
Mehr als einmal haben sie (wie z. B. Leo der Große,) Rom
gerettet.
Da die italienischen Völker mehr und mehr erfahren mußten, wie
wenig sie die morgenländischen Kaiser zu schützen vermochten, und wie
ein großer Teil von Italien fast herrenlos geworden war, verbanden
sich nach und nach mehrere Städte und stellten sich freiwillig unter
des Papstes Schutz. Die Päpste waren damals schon, nicht dem
Worte nach, aber in der That die Beherrscher des größten Teiles
von Italien.
Besonders gefahrdrohend wurde Italiens Zustand, als die Lango-
barden in Oberitalien festen Sitz genommen hatten. Der eroberungs-
süchtige König Aistulph machte ernstliche Anstalten, ganz Italien unter
seine Herrschaft zu bringen; er hatte Ravenna erobert und bedrohte
Rom. In dieser äußersten Not wandte sich Papst Stephan III. an
Pipin, König der Franken. Dieser nahm in zwei Feldzügen den
Longobarden die gemachten Eroberungen ab, 756, und gab der
römischen Kirche nicht nur die ihr entrissenen Güter zurück, sondern
schenkte derselben auch das eroberte Exarchat und die sogenannte
Pentapolis.
Aus diesen Schenkungen bildete sich allmählich der Kirchenstaat,
den Viktor Emanuel, der König von Sardinien, im Jahre 1860 nach
der für das kleine päpstliche Heer unglücklichen Schlacht bei Castel-
fidardo in Besitz nahm, um ihn dem neuen Königreich Italien
einzuverleiben.
Rcbilsch.
168
6. Flor der Städte im Mittelalter.
6. Flor der Städte im Mittelalter.
1. Don Italien aus erhielten zur Zeit der Kreuzzüge Schiffahrt und Handel
den ersten neuen Schwung. Venedig erhob sich als Freistaat zu einer hohen
Blüte. Diese merkwürdige, gleichsam schwimmende Stadt, welche aus der
Bereinigung mehrerer, durch Brücken und kunstvolle Gestade mit einander ver-
bundener Inseln entstanden war, schickte ihre Schiffe in alle Meere aus und
schwang sich zu einer staunenswerten Höhe der Macht und des Reichtums empor.
Herrliche Kirchen, glänzende Paläste, kühne Wafferbauten machten die Jnselstadt
zu einem Wunder der Welt. Venedigs stolze Nebenbuhlerin war Genua.
Ihre glänzenden Marmorpaläste, ihr mit einem Walde von Masten bedeckter
Seehasen, ihre Wechselbank und andere herrliche Einrichtungen gaben glänzende
Zeugnisse von dem großen Neichtume der Stadt. Neben diesen waren Pisa
und Amalfi damals die vorzüglichsten Handelsstädte der ganzen Welt. Sie
unterstützten die Kreuzfahrer auf ihren Zügen durch Lieferungen von Trans-
portschiffen, Lebensmitteln und Kriegsbedürfnissen, und benutzten diese Gelegen-
heit, sich zugleich neue Handelswege und Handelszweige zu verschaffen, die man
vorher gar nicht gekannt hatte. Reich beladen kehrten ihre Schiffe mit den
kostbaren Waren des Morgenlandes zurück und verschickten sie nebst den Er-
zeugniffen ihres eigenen Landes durch alle Staaten Europas. Ihrem Beispiele
folgten bald andere Städte.
Der gewöhnliche Landweg der Kreuzfahrer ging längs der Donau nach
Konstantinopel. Durch die fast ununterbrochenen Züge entstand im süd-
lichen Deutschland ein lebhafter Verkehr, und die dort gelegenen Städte, be-
sonders Wien, das die Verbindung mit Konstantinopel vermittelte, ferner
Nürnberg, Augsburg und Negensburg erwarben sich großen Reich-
tum. Aber auch im Norden war der Handel recht blühend. Für alles, was
in den großen süddeutschen Städten gefertigt oder eingehandelt wurde, eröffneten
sich zu Erfurt und Braunschweig neue Lagerstätten, und so zog sich nun
ein neuer belebender Handel vom Adriatischen Meerbusen bis an Nieder-
sachsens Küsten durch das Herz von Deutschland hinab. Auch wurde großer
Handel getrieben mit Bernstein und Pelzwerk. Vorzüglich verschaffte der Fisch-
fang einen sehr reichen Erwerb; denn damals wurden die Küsten der Ostsee
noch häufiger als jetzt von Heringen besucht. Den Handel im Norden trieben
vorzüglich Lübeck, Hamburg und Bremen.
Der Reichtum, welcher auf diese Art in die Städte floß, erhöhte der
Bürger Selbstgefühl und weckte bei ihnen das Streben nach immer größerer
Freiheit und Selbständigkeit. Die lombardischen Städte gingen allen übrigen
mit ihrem Beispiele voran. Sie machten sich vom Kaiser und Reich los und
bildeten, jede für sich, Freistaaten. Solche waren Mailand, Pavia und
mehrere andere. In Deutschland gab ebenfalls der Reichtum der Bürger
die Mittel her, mit welchen sie sich bei ihren Fürsten, die sich oft in großer
Geldverlegenheit befanden, Freiheit und Unabhängigkeit erkauften. Eine solche
Stadt erkannte alsdann nur den Kaiser als ihren Oberherrn an und hieß
6. Flor ter Slädte im Mittelalter.
169
freie Reichsstadt. Die Kaiser begünstigten die Städte ganz vorzüglich, um
an ihren Einwohnern eine desto festere Stütze gegen den unruhigen und mächti-
gen Adel zu haben
2. Wichtig mar für die Städte die Einrichtung der Zünfte. Jeder
konnte in sie nur als Lehrling eintreten, dann ward er Gesell, endlich
Meister. Der Gesell mußte wandern gleich den ritterlichen Knappen; in den
fremden Städten grüßte er das Handwerk in bestimmten, althergebrachten
Formeln, und diese verliehen ihm auch in weiter Ferne sicheren Schutz. Um
Meister zu werden, mußte der Gesell ein Meisterstück liefern; bestand es die
Prüfung, so ward er unter vielen Feierlichkeiten als Zunftmeister aufge-
nommen. Streng ward dabei auf Ehre gehalten; schlechter Lebenswandel
schloß von der Zunft aus. Gewöhnlich wohnten die Glieder einer Zunft in
einer besonderen Gaste bei einander und hatten ihren gemeinsamen Stand
auf dem Markte. Durch den Wetteifer der Meister, durch Ausbildung der
Gesellen auf der Wanderschaft und durch Ausstoßung der Pfuscher ward die
Arbeit immer vollkommener. Die Glaser z, B., sonst geringe Werkleute, waren
hoch emporgekommen: sie verstanden durchsichtiges Glas in den schönsten Farben
zu verfertigen; sie setzten diese Farben kunstvoll in Blei zu Bildern zusammen,
malten Gesichter und Haare, schattierten die Gewänder mit dunkler Farbe und
schliffen helle Stellen aus.
So bildeten sich. während die kaiserliche Herrlichkeit sank und der Adel
verwilderte, in den Städten die Grundlagen aus, auf denen das heutige
deutsche Leben ruht. Wohl war die Arbeit der Bürger eine bescheidene im
Vergleich mit den stolzen Kriegsthaten der Ritterzeit; aber auch hier erkennt
man die Innigkeit des deutschen Gemütes in der Freude am Schaffen und
in der behaglichen Sorgfalt, womit der Handwerker die überlieferten Formen
seines Gewerbes künstlerisch auszubilden sich mühte.
Aber das Aussehen der Städte um das Jahr 1300 darf man nicht
mit ihrem heutigen vergleichen.
An den engen gewundenen Straßen standen die von Fachwerk erbauten
und mit Stroh gedeckten kleinen Häuser, mit dem Giebel nach der Straße ge-
kehrt, häufig mit einer quergeteilten Hausthür versehen, so daß sich der Be-
sitzer über die untere Hälfte hinauslehnen konnte; über der Thür hing an
einem Schild das gemalte Zeichen des Hauses, nach welchem der Besitzer oft
genannt ward. Die Häuser stiegen nicht senkrecht in die Höhe, sondern der
Oberstock sprang über den unteren vor und der zweite wieder über den ersten,
so daß das von oben hereinfallende Licht oft sehr beeinträchtigt ward. Die
Straßenwand der vorspringenden oberen Stockwerke ward auch wohl durch
Pfeiler gestützt, so daß zwischen diesen und dem eingerückten Erdgeschoß ein
bedeckter Gang, eine sogenannte Laube, sich befand.
Mit dem wachsenden Wohlstände aber und mit der schnellen Entwickelung
aller Künste, die mit dem Handwerk in unmittelbarer Verbindung standen,
gewann auch das Wohnhaus an Ausdehnung und Behaglichkeit. Noch zeigt
uns Nürnberg eine Menge solcher mittelalterlichen Häuser. Einen außer-
170
7. Der Dom zu Köln.
ordentlichen Reiz besitzt ein solches Haus in den vortretenden Erkern und
Ecktürmchen, die, nach dem Familienzimmer offen, als gemütliche Arbeits- und
Planderwinkel dienen, nach außen aber durch ihre zierliche Gestalt, ihre Spitzdächer
und Gesimse zur heiteren Belebung der Straße beitragen. Hier ist denn auch
außen die reichste Steinmetzarbeit angebracht, innen Tafelwerk und Holz-
schnitzerei, bemalt und vergoldet und mit bedeutsamen Bersen und Sprüchen
geziert, und solch ein Erker erscheint dann am Hause, wie der Chor an der
Kirche, als das schmuckreichste Heiligtum.
3. Am frühesten entwickelte sich die Pracht der Baukunst an den öffent-
lichen Gebäuden. Denn zwischen den Strohdächern erhoben sich kunstvolle,
riesige Bauten, die Rathäuser und Kirchen. Es bildeten sich enggeschlossene
Verbindungen der Baugewerklente, namentlich der Maurer und der Stein-
metzen, die sogenannten Bauhütten, die allmählich zu förmlichen Schulen
der Baukunst wurden Ihre Lehre war eine geheime; außer den Mitgliedern
durfte niemand die Hütte betreten. Aber aus dem unglaublichen Wetteifer
und dem uneigennützigen Zusammenwirken der verschiedenen Baugewerke ging
die Vollendung der gotischen Baukunst hervor. Leicht und frei stiegen die
hohen Mauern empor; da wuchsen die Pfeiler wie Bäume hervor und schlossen
sich oben in spitzen Bogen ab; über dem Dache aber wurden sie durch spitze
in die Wolken ragende Türme fortgesetzt; die Fenster waren von ungeheurer
Größe; aber das hereinfallende Licht ward gemildert durch kunstreiche Glas-
gemälde; die Erhabenheit des Ganzen endlich barg sich in die reichsten und
lieblichsten Verzierungen der Steinhauerarbeit, so daß die Masse sich ans
unermeßlich vielen, gleichsam lebendigen Steingewächsen aufzubauen schien. Es
waren riesige Welke, berechnet auf die frommen Beiträge vieler nacheinander
folgenden Geschlechter; der Baumeister, welcher den Plan en warfen hatte, sah
wohl nie die Vollendung; ja, mit solcher Uneigennützigkeit übergab er die
Fortsetzung des Werkes seinen Nachfolgern, daß wir nur in wenigen Fällen
den Namen des ersten Urhebers kennen. Das größte dieser Wunderwerke der
Kunst ist der Dom von Köln. Ihm zunächst kommt der Straßburger
Münster, an welchem vier Jahrhunderte lang gearbeitet worden ist.
welker u. Reck.
7. Der Dom zu Köln.
Ä.ls die christliche Welt von einer tiefen Sehnsucht ergriffen
wurde, das heilige Land zu befreien, erlangte die Verehrung der heiligen
drei Könige, deren Gebeine im Jahre 111>2 von Kaiser Friedrich I.
dem Kölner Dom geschenkt wurden, eine große Wichtigkeit. Jeder, der
die weite Fahrt unternehmen wollte, mußte, wie die Weisen aus dem
Morgenlande, einem Sterne vertrauen, der ihn, wie jene heiligen
Männer zur Gebnrtsstätte, so zum Grabe des Heilands geleiten sollte.
Daher kamen scharenweise die Jerusalemspilger vor Antritt ihrer Reise
nach Köln, um durch den Anblick jener heiligen Reliquien sich zur Aus-
7. Der Dom zu Köln.
171
172
7. Der Dom zu Köln.
führung ihres hohen Vorsatzes zu stärken. Dadurch wurde das Ansehen
und der Reichtum des Kölner Domes vermehrt; Kaiser und Fürsten,
auch fromme Leute aus allen Ständen wetteiferten, ihn zu beschenken.
Darüber entstand allmählich der Gedanke, an Stelle des alten
Gebäudes ein neues aufzuführen, dessen Größe und Pracht der Würde
und Heiligkeit des Ortes mehr entspreche. Erzbischof Engelbert traf
schon Vorbereitungen dazu, die aber durch seine Ermordung 1225
unterbrochen wurden. Erst der gewaltige Kon rad, Graf von
Hoch staden, ließ als Erzbischof, nachdem im Jahre 1248 eine
Feuersbrunst den alten Dom zerstört hatte, den Entwurf zu einem
neuen machen, der alle Kirchen damaliger Zeit an Größe und Pracht
weit übertreffen sollte. Noch im Sommer desselben Jahres, am Tage
von Mariä Himmelfahrt, wurde in Gegenwart einer überaus glänzenden
Versammlung der Grundstein gelegt. Die Mittel zum Bau flößen so
reich, wie überhaupt damals zu solchen Zwecken; Fürsten und Edle
weitum in deutschen Landen, ja selbst in England, und die reichen
Bürger der Stadt Köln steuerten wetteifernd bei.
Da begann ein lustiges, eifriges Leben und Schaffen den Rhein
auf- und abwärts. Basaltblöcke, über die rauh behauenen und stark
verkitteten Sandsteine gelegt, bildeten eine unerschütterliche Grundlage,
deren Tiefe über 7 Meter betrug. Ein so starker Unterbau war nötig,
um Türme, hoch und fest wie Felsen, auf ihm sich erheben zu lassen.
In den ersten 9 Jahren mag nicht nur die Grundfeste, sondern
auch ein großer Teil des unteren Geschosses vollendet worden sein.
Meister Gerhard war der erste Dombaumeister und wahrscheinlich
auch der Urheber des ebenso erhaben als kunstreich ausgedachten Ent-
wurfes. Er mußte es aber noch erleben, daß am Ende des dreizehnten
Jahrhunderts durch die Känlpfe zwischen der Bürgerschaft und dem
Erzbischof der Dombau ins Stocken geriet, so daß nach mehr als
vierzig Jahren der Chor, den man zuerst ausführen wollte, noch nicht
fertig war. Da aber nach Wiederherstellung des Friedens die um-
wohnenden Fürsten, die Stadt und der Erzbischof kräftig den Bau
förderten, so konnte im Jahre 1322 doch der Chor eingeweiht werden.
Im fünfzehnten Jahrhundert störten häufige Fehden den Bau, doch
rückte er noch am südlichen Turme bis zum dritten Geschoß vor.
Mit dem sechzehnten Jahrhundert geriet der Bau gänzlich ins Stocken
und blieb auch während der folgenden Jahrhunderte, in welchen
Deutschland infolge seiner Uneinigkeit und vieler und blutiger Kriege gar
tief gesunken war, unbeachtet liegen. Nachdeni aber durch die Freiheits-
kriege gegen Napoleon das Gefühl der Einheit und Zusammengehörigkeit
wieder erwacht war, richteten sich unwillkürlich Herz und Auge der
deutschen Nation nach dem seiner Vollendung noch immer entgegen-
harrenden Bau zu Köln, als einem Denkmal deutscher Größe und
Herrlichkeit. Daher fand auch das Wort des ebenso kunstsinnigen wie
echt deutschen Königs Friedrich Wilhelm IV. von Preußen/ durch
welches er zur Fortführung und Vollendung des Domes bei seiner
8. Der Sänger.
173
Anwesenheit in Köln 1842 aufforderte, im ganzen deutschen Vaterlande
den freudigsten Anklang. Von allen Seiten flössen die reichlichsten
Gaben; Vereine bildeten sich, Lotterieen wurden veranstaltet, um die
Mittel zu beschaffen; selbst während der Kriege 1866 und 1870 ruhte
der Bau nicht, und so konnte endlich im Jahre 1880 das Fest seiner
Vollendung gefeiert werden, welches Kaiser Wilhelm durch seine
Gegenwart verherrlichte.
Der Dom ist in Form eines lateinischen Kreuzes gebaut, mit fünf
Lang- und drei Querschiffen, zwei Türmen am Eingang und einem
kleinen über der Kreuzung der Schiffe. Die Länge der Kirche beträgt
ungefähr 145 Meter und eben so hoch sind auch die Haupttürme.
Zwischen denselben erhebt sich das prächtige Hauptportal.
Inwendig gelangt man zuerst in die Vor- oder Turmhalle, dahinter
erst in die Langschiffe. Vier Reihen von je sechs Säulenbündeln oder
Pfeilern gehen bis zu den Querschiffen. Hinter den Querschiffen setzt
sich der Chor fort. Was besonders dem Bau zur Zierde gereicht, das
sind die prachtvollen gemalten Fenster, von denen die auf der Nordseite
alt, die anderen dagegen in der Neuzeit hergestellt worden sind.
Von den 7 Kapellen, welche den Chor umgeben, sind besonders
zwei hervorzuheben. In der Mittelkapelle, unmittelbar hinter dem
Hochaltar, steht eine Art kleinerer Kapelle aus Marmor. Dort im
ehrwürdigen Dunkel ruht auf einem kunstreiche n, kostbaren Untersatz
der silberne und goldene Sarg, der nebst den Leibern der heiligen
drei Könige auch die Gebeine der heiligen Märtyrer Felix und Nabor
enthält. Der Sarg ist ein Prachtwerk der Kunst. Rechts neben dieser
Kapelle ist in der folgenden das berühmte Dombild. Es stellt die
Hauptpatrone Kölns dar, die heiligen drei Könige vor dem Jesuskinde
in der Mitte, St. Ursula mit ihren Jungfrauen auf dem einen und
den heiligen Gereon mir seinen Rittern auf dem anderen Flügel.
Nach Schöppncr.
8. *Der Sänger.
1. „Was hör' ich draußen vor dem
Thor,
was auf der Brücke schallen?
Laß den Gesang vor unserm Ohr
im Saale wiederhallen!"
Der König sprach's, der Page lief,
der Knabe kam, der König rief.
„Laßt mir herein den Alten!"
2. „Gegrüßet seit mir, edle Herrn,
gegrüßt ihr, schöne Damen!
Welch reicher Himmel! Stern bei
Stern!
Wer kennet ihre Namen?
Im Saal voll Pracht und Herrlichkeit
schließt, Augen, euch; hier ist nicht Zeit,
sich staunend zu ergötzen."
3. Der Sänger drückt' die Augen
ein
und schlug in vollen Tönen;
die Ritter schauten mutig drein
und in den Schoß die Schönen.
Der König, dem das Lied gefiel,
ließ, ihn zu ehren für sein Spiel,
eine gold'ne Kette holen.
174
9. Gottesurteile int Mittelalter.
4. „Die gold'ne Kette gieb mir
nicht,
die Kette gieb den Rittern,
vor deren kühnem Angesicht
der Feinde Lanzen splittern.
Gieb sie dem Kanzler, den du hast,
und laß ihn noch die gold'ne Last
zu andern Lasten tragen.
5. Ich singe, wie der Vogel singt,
der in den Zweigen wohnet;
das Lied, das aus der Kehle dringt,
ist Lohn, der reichlich lohnet;
doch darf ich bitten, bitt' ich eins:
laß mir den besten Becher Weins
in purem Golde reichen."
6. Er setzt' ihn an, er trank ihn
aus:
„O Trank voll süßer Labe!
O wohl dem hoch beglückten Haus,
wo das ist kleine Gabe!
Ergeht's euch wohl, so denkt an
mich,
und danket Gott so warm, als ich
für diesen Trunk euch danke."
Goethe.
9. Gottesurteile im Mittelalter.
Mit dem Namen der Gottesurteile bezeichneten unsere Vorfahren
verschiedene Versuche, welche angestellt wurden, um die Schuld oder Un-
schuld eines Angeklagten aufzuhellen, zuweilen auch, um die Aussage des
Klägers zu erhärten. Das wesentliche Erfordernis solcher Versuche bestand
darin, daß der Angeklagte oder wer sich sonst dem Gottesurteile unter-
zog, sich in eine Gefahr begab, aus welcher er nach dem natürlichen
Laufe der Dinge nicht unversehrt hervorgehen konnte; er streckte die
Hand in siedendes Wasser, trug glühendes Eisen in den Händen
u. dgl. m. Man hatte dabei den Glauben, daß Gott zur Rettung der
Unschuld durch unmittelbare Einwirkung die Kräfte der Natur hemmen,
und demnach nur der Schuldige sich beschädigen, der Unschuldige un-
versehrt aus der Prüfung hervorgehen werde. Darum bekamen diese
den Namen „Gottesurteil" oder auch „Urteil" schlechtweg.
Am gewöhnlichsten waren die Gottesurteile des heißen Wassers
und des glühenden Eisens. Es wurde ein Gegenstand, in der Regel
ein Ring, in einen mit siedendem Wasser gefüllten Kessel geworfen, und
wer von den beiden Streitenden mit entblößtem Arme unversehrt den-
selben wieder herausholte, mit dem, glaubte man, sei Gott, und der
hatte die Rechtssache gewonnen.
Mindestens ebenso häufig waren die Gottesurteile des Feuers in
ihren verschiedenen Anwendungen. Der Angeklagte mußte eine festgesetzte
Zeit hindurch seine Hand in loderndes Feuer stecken; war sie beim Heraus-
ziehen unversehrt, so galt er für unschuldig, wo nicht, so wurde er als
schuldig bestraft. Häufiger war die Anwendung des glühenden Eisens,
das man eine Strecke weit trug. Es wog in der Regel nur ein Pfund;
10. Die Rache. 11. Rudolf von Habsburg.
175
die dreifache Masse desselben galt bei den Angelsachsen für dreifaches
Gottesurteil. Zu einer andern Probe wurden neun oder zwölf glühende
Pflugschare neben einander auf den Boden gelegt, und der Angeklagte
mußte barfuß langsam hinüberschreiten. Ward er versengt, so galt er für
schuldig. Der also erwiesenen Schuld folgte die Strafe des Abschneidens
der Haare, der Schläge und des Brandmals auf der Backe. Diese Gottes-
urteile fanden ziemlich allgemeine Anwendung, und selbst völkerrechtliche
Fragen suchte man durch sie zu erledigen. Die verschiedenen Gottesurteile
haben gesetzlich wenigstens gedauert bis ins 13. Jahrhundert. Am längsten
von allen hielt sich der Zweikampf. Als nach und nach die Gesetzgebung
ihn völlig verwarf, blieb er zur Entscheidung wahrer oder vermeinter
Ehrenkränkungen und hat sich, trotz des Verbotes der bürgerlichen Gesetze,
in dieser Verzerrung erhalten bis auf den heutigen Tag. -Li-w.
10. *Die Rache.
Der Knecht hat erstochen den edlen Herrn;
der Knecht wär’ selber ein Ritter gern.
Er hat ihn erstochen im dunklen Hain,
den Leib versenket im tiefen Rhein;
hat angeleget die Rüstung blank,
auf des Herren Roß sich geschwungen frank.
Und als er sprengen will über die Brück’,
da stutzet das Roß und bäumt sich zurück.
Und als er die güldenen Sporen ihm gab,
da schleudert’s ihn wild in den Strom hinab.
Mit Arm, mit Fuß er rudert und ringt :
der schwere Panzer ihn niederzwingt. Uh land.
11. Rudolf von Habsburg (1273—1291).
Auf einer anmutigen, waldumsäumten Anhöhe des Kantons
Aargau, an deren Fuße die reißende Aar ihre Wasser dahinwälzt,
steht das Gemäuer einer alten Burg, unscheinbar und verwittert. Auch
da sie noch neu und unversehrt gewesen, war sie kein Prachtgebäude.
Eine liebliche Aussicht fesselt das Auge, und doch kehrt dasselbe stets
wieder in sinnender Betrachtung zu den anspruchslosen Trümmern der
alten Burg zurück; denn es ist die Habsburg, das Stammschloß
eines der trefflichsten Fürsten der deutschen Nation, Rudolfs von
Habsburg.
Vor noch mehr denn 600 Jahren, als Graf Rudolf diese Burg
bewohnte, da waren in unserem deutschen Vaterlande gar böse Zeiten.
Mord wurde auf offener Straße vollführt, vorüberziehende Wanderer
176 11. Rudolf von Habsburg.
wurden beraubt, blühende Dörfer und Städte von bösen Buben und
Herren, die von ihren Schlössern herabfielen, eingeäschert, und kein Ritter
war zu finden, der solchen Greueln gewehrt hätte. Ein jeder suchte
daher sich selbst zu helfen; und die Rache war oft noch schrecklicher
als das verübte Verbrechen selbst. Die böse Zeit, in der nicht das
Recht, sondern die Gewalt obsiegte, nennt man auch die Zeit des
Faustrechtes.
Solchem Zustande wünschten die deutschen Fürsten ein Ende gesetzt
zu sehen. In Rudolf glaubte man gerade den Mann zu erkennen,
den das Reich bedürfe, und man hatte sich nicht geirrt. Man erwählte
ihn zum deutschen Kaiser. Rudolf wurde der Wohlthäter seines Volkes.
Er war's, der der Zeit des Fanstrechts ein Ende machte, der gegen
die Raubritter auszog und ihre Burgen schleifte. In Thüringen allein
zerstörte er gegen 60 solcher Raubnester.
Er verbreitete Furcht und Schrecken über die ungerechten Großen
und Freude unter dem Volke. Äer Landmann nahm wieder den Pflug
zur Hand, der lange Zeit ungenützt
im Winkel gelegen hatte. Der
Kaufmann, der aus Furcht vor
Räubern zu Hause geblieben war,
durchreiste jetzt das Land mit größter
Sicherheit; und die Räuber und
Bösewichter, die vorher nngeschent
umherschwärmten, suchten sich in
wüsten Gegenden zu verbergen.
Rudolf hielt so sehr auf Treue und
Manneswort, daß es sprichwörtlich
geworden war, und man von einem,
der sein Wort brach, noch lange
zu sagen pflegte: „Der hat Rudolfs
Redlichkeit nicht."
Von seiner ungemeinen Geistes-
gegenwart noch folgendes Beispiel:
„Als er einmal nach Nürnberg
kam, um daselbst einen Reichstag
zu halten, gingen ihn, wie gewöhnlich, viele Bürger um Gerechtigkeit
an. Unter diesen war auch ein Kaufmann; der hatte einem vornehmen
Gastwirte in Nürnberg, bei dem er eingekehrt war, 200 Mark Silbers
in einem ledernen Beutel aufzuheben gegeben, und als er wieder hatte
wegreisen wollen, hatte der schurkische Wirt, der nichts Schriftliches
zum Unterpfand gegeben, die ganze Sache geleugnet. Der Kaufmann
erzählte dem Kaiser alle einzelnen Umstände genau und sagte ihm zu-
gleich, der Wirt würde mit unter den Abgeordneten der Stadt sein,
die heute ihre Aufwartung zu machen gedächten. Der Kaiser ließ ihn
hierauf abtreten und sich bis dahin verborgen halten. Jetzt kamen die
Abgeordneten: Rudolf unterredete sich mit ihnen, fragte sie nach ihren
12. Kaiser Rudolfs Ritt zum Grabe.
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Namen und Gewerben und sagte dann wie in Gedanken verloren zu dem
Wirte: „Höre, du hast einen hübschen Hut, ich geb'dir meinen dafür/'
Der Bürger machte sich eine Ehre daraus, mit dem Kaiser zu tauschen, und
Rudolf setzte den neuen Hut recht wohlgefällig auf. Während des
ferneren Gespräches ging er einmal hinaus, rief einen sicheren Bürgers-
mann und sagte zu ihm: „Lauf eilig zu des Gastwirts Frau und
sage ihr, ihr Mann verlange ganz geschwind den ledernen Beutel mit
dem Gelde des Kaufmanns — zum Wahrzeichen schicke er hiermit seinen
Hut." Die Frau bedachte sich bei dem Anblicke des Hutes nicht lange,
das Geld herauszugeben; der Bote brachte es dem Kaiser, und dieser
steckte es still ein und trat dann mit dem Hute wieder in den Saal.
Als er die Abgeordneten entließ, behielt er den Gastwirt zursick und
rief den Kaufmann herein: „Du hattest ja eine Klage gegen diesen
Mann." Der Kaufmann wiederholte seine Geschichte, und der Wirt
leugnete sie trocken weg. Beide gerieten heftig an einander, als auf
einmal der Kaiser den Beutel hervorzog und den Wirt wie mit einem
Zauberschlage zur Bildsäule verwandelte. Er gab ihm einen derben
Verweis und verurteilte ihn zu einer noch härteren Geldstrafe.
^Lecker.
12. ^Kaiser Rudolfs Ritt zum Grabe.
1. 3Uf der Burg zu Germersheim,
stark am Geist, am Leibe schwach,
sitzt der greise Kaiser Rudolf,
spielend das gewohnte Schach.
2. Und er spricht: ,Zhr guten Meister,
Arzte, sagt mir ohne Zagen,
wann aus dem zerbrochnen Leib
wird der Geist zu Gott getragen?"
3. Und die Meister sprechen: „„Herr,
wohl noch heut erscheint die Stunde.""
Freundlich lächelnd spricht der Greis:
„Meister, Dank für diese Kunde!"
4. „Auf nach Speyer! Auf nach
Speyer!"
ruft er, als das Spiel geendet;
„wo so mancher deutsche Held
liegt begraben, sei's vollendet!
5. Blast die Hörner, bringt das Roß.
das mich oft zur Schlacht getragen!"
Zaudernd stehn die Diener all';
doch er ruft: „Folgt ohne Zagen!"
Deutsches Lesebuch für katb. Echulen. IV.
6. Und das Schlachtroß wird gebracht.
„Nicht zum Kampf, zum ew'gen
Frieden,"
spricht er, „trage, treuer Freund,
jetzt den Herrn, den lebensmüden!"
7. Weinend steht der Diener Schar,
als der Greis auf hohem Rosse,
rechts und links ein Kapellan,
zieht, halb Leich', aus seinem Schlosse.
8. Trauernd neigt des Schlosies Lind'
vor ihm ihre Äste nieder,
Vögel, die in ihrer Hut,
singen wehmutsvolle Lieder.
9. Mancher eilt des Wegs daher. '
der gehört die bange Sage,
sieht des Helden sterbend Bild
und bricht aus in laute Klage.
10. Aber nur von Himmelslust
spricht der Greis mit jenen zweien;
lächelnd blickt sein Angesicht,
als ritt er zur Lust im Maien
Für Oberklassen. ]0
178
13. Der Schwcizerbund.
11. Von dem hohen Dom zu Speyer
hört man dumpf die Glocken schallen:
Ritter, Bürger, zarte Frauen
meinend ihm entgegen wallen.
12. In den hohen Kaisersaal
ist er rasch noch eingetreten;
sitzend dort auf gold'nem Stuhl,
hört man für das Volk ihn beten.
13. „Reichet mir den heil'gen Leib!"
spricht er dann mit bleichem Munde;
drauf verjüngt sich sein Gesicht
um die mitternächt'ge Stunde.
14. Da auf einmal ward der Saal
hell von überird'schem Lichte; —
und verschieden sitzt der Held,
Himmelsruh' im Angesichte.
15. Glocken dürfen's nicht verkünden,
Boten nicht zur Leiche bieten:
Alle Herzen längs des Rheins
fühlen, daß der Held verschieden.
16. Nach dem Dome strömt das Volk,
schwarz, unzähligen Gewimmels;
der empfing des Helden Leib,
seinen Geist der Dom des Himmels.
Justin us Lerner.
13. Der Schweizerbund.
1. Hach dem Tode des Kaisers Rudolf von Habsburg trug sein Sohn
Albrecht die Krone. Von diesem war bekannt, wie er nur darauf ausgehe,
seine Erblande zu erweitern, und wie er die Freiheiten der Völker und Städte
wenig achte und sie zu unterdrücken suche. Da fürchtete sich jeder. Es traten
die Kantone von Uri,.Schwyz und Unterwalden zusammen (1292) und
beschworen „in Erwägung böser und gefährlicher Zeiten einen ewigen Bund, sich
und die Ihrigen mit Hab und Gut gegen alle und jede, wer sie auch seien, zu
verteidigen und einander mit Rat und Hilfe beizustehen." Davon wurden sie
Eidgenossen genannt. Der Kaiser aber schickte ihnen zu Reichsvögten harte und
böse Leute aus seinem eignen Lande, die sie drückten und quälten. So sandte
er ihnen Hermann Geßler von Brunegg und den Ritter Bering er von
Landenberg. Diese wollten im Lande wohnen, was nie zuvor von Reichsvög-
ten beansprucht worden war.
Laudenberg zog auf das Schloß des Königs bei Sarnen in Unterwal-
den, und Geßler baute sich einen Zwinghof im Lande Uri. Nun wurden die
Zölle erhöht, die kleinsten Vergehen mit Kerker und schweren Bußen bestraft und
die Landleute mit Stolz und Verachtung mißhandelt. Als Geßler vor des
Stauf fach ers neuem Hause im Dorfe Steinen vorbei ritt, sagte er höhnisch:
„Kann man's auch dulden, daß das Bauernvolk so schön baue?" Und als Arnold
von Melchthal im Unterwaldner Lande wegen geringen Fehlers um ein Paar-
schöne Ochsen gebracht wurde, sagte Laudenbergs Knecht, indem er die Strafe
vollzog und die Ochsen vom Pfluge fortriß: „Bauern können ihren Pflug
selber ziehen!" Aber der junge Arnold, ergrimmt über diese Rede, schlug den
Knecht, daß er demselben zwei Finger zerbrach. Darum floh er ins Gebirge.
Da ließ Landenberg zur Strafe dem alten Vater des Arnold beide Augen aus-
stechen.
2. Die Vögte und ihre Gesellen verübten einen Greuel nach dem andern
und schalteten im Laude also, daß sie nicht nur die von Kaiser und Königen
verbrieften Rechte des Volkes mit Füßen traten, sondern selbst das ewige
13. Der Cchweizerbund.
179
Recht verhöhnten, welches Gott jeglichem Menschen wie sein unveräußerliches
Gut gegeben hat. Als nun in den Thalern Demut weinte und Hochmut
lachte, sprach in dem Dorfe Steinen des Werner Stauffacher Frau zu ihrem
Manne: „Wie lange muß Demut weinen und Hochmut lachend Sollen
Fremdlinge Herren dieser Erde und Erben unseres Glückes fein? Wozu taugen
die Männer des Gebirges?" Da ging schweigend der Werner Stauffacher
hinab zu dem Orte Brunnen am See und fuhr über das Wasser nach Uri
zu Walther Fürst in Attinghausen. Bei demselben fand er verborgen den
Arnold von Melchthal, welcher vor dem Grimme des Landenberg über
das Gebirge entwichen war. Und sie redeten von der Not des Landes und
dem Greuel der ausländischen Vögte, die ihnen der König gesandt habe, wo-
durch er ihren angestammten Rechten und Freiheiten zuwider handle. Auch
gedachten sie, wie sie gegen die Bosheit der Vögte vergeblich beim Könige
geklagt hätten, und wie dieser sogar gedroht, sie müßten, trotz Siegel und
Briefen alter Könige und Kaiser, vom Reiche ab und der Herrschaft Öster-
reichs zugewandt werden. Da nun Gott keinem Könige dazu Gewalt gegeben,
daß er Unrecht thue, so sei jetzt keine andere Hilfe als durch Gott und. Mut;
der Tod sei viel leichter als so schmähliches Joch. Darum beschlossen sie,
jeder solle in seinem Lande mit vertrauten, herzhaften Männern sprechen und
zugleich erforschen, wes Sinnes das Volk sei, und was es für Freiheit und
Sicherheit einsetzen wolle.
Nach diesem kamen sie oft in verabredeter nächtlicher Stunde an einem
heimlichen Orte am See zusammen. Der lag fast mitten inne zwischen Uri,
Unterwalden und Schwyz, auf einer schmalen, umbuschten Wiese gegen-
über dem Dörfchen Brunnen. Man hieß ihn des ausgerüttetcn (gerodeten)
Gestrüppes wegen das Rütli. Dieser Platz wurde gewählt, weil er von
Menschen und Wohnungen weit entfernt, mithin kein unbefugter Lauscher zu
befürchten war. Bald brachte jeglicher frohe Botschaft mit: „Allem Volke sei
der Tod lieber als das schmähliche Joch."
Wie sie aber in der Nacht des 17. Novembers des Jahres 1307 zusammen
kamen, und jeder von den dreien 10 treue Ehrenmänner mit sich zur Matte
deS Rütli brachte, die ebenfalls entschloffen waren, die alte Landesfreihcit über
alles, das bloße Leben aber für nichts zu achten, — erhoben die frommen
drei ihre Hände gen Himmel und schwuren zu Gott, dem Herrn, vor welchem
Könige und Bauern gleich sind, „in Treue für die Rechte des unschuldigen
Volkes zu leben und zu sterben, alles gemeinschaftlich, nichts eigenmächtig zu
wagen und zu tragen, kein Unrecht zu dulden, aber auch kein Unrecht zu
thun. des Grafen von Habsburg Recht und Eigentum zu ehren und keinem
der Königsvögte Übles zu thun, aber den Vögten zu wehren, das Land zu
verderben." Die 30 anderen aber streckten ihre Hände auch auf und thaten
den Eid wie jene zu Gott und allen Heiligen; sie schwuren alle, die Freiheit
mannhaft zu behaupten. Und sie erwählten die Neujahrsnacht zum Werke;
dann gingen sie aus einander, jeder in sein Thal, und winterten die Herden
in den Hütten ein.
12»
180'
13. Der Schweizcrbund.
3. Dem Vogte Hermann Geßler ward nicht wohl; denn er hatte ein
böses Gewissen. Es dünkte ihm, als ob das Volk mutiger einherginge und
trotziger aussähe. Darum ließ er den herzoglichen Hut von Österreich ans
einer Stange in Uri erhöhen und befahl, wer vorübergehe, solle demselben
Ehrerbietung erweisen; er wolle dabei erkennen, wer wider Österreich sei.
Und Wilhelm Dell, einer der Männer vom Rütli, ging vorüber; aber
er beugte sich nicht. Alsbald führten sie ihn gefangen zum Vogt, und dieser
sprach ergrimmt: „Trotziger Schütze, so strafe dich deine eigene Kunst! Einen
Apfel lege ich ans das Haupt deines Söhnleins, den schieße herab und fehle
nicht!" Und sie legten auf das Haupt des Kindes einen Apfel und führten
den Schützen weit davon. Er zielte, die Bogensehne schwirrte, und der Pfeil
traf den Apfel. Alles Volk jauchzte freudig; Geßler aber fragte den Schützest:
„Wozu trägst du noch den andern Pfeil bei dir?" Tell antwortete: „Hätte
der erste nicht den Apfel getroffen, dann gewiß der andere dein Herz!"
Darüber erschrak der Vogt und ließ den Schützen greifen und auf einem Schiffe
nach Küß nacht führen, wohin er selbst zu fahren gedachte; denn den Tell
im Lande Uri einzukerkern, schien wegen des Volkes nicht ratsam; ihn aber
in ausländische Gefangenschaft zu bringen, war gegen des Landes Rechtsame.
Der Vogt, welcher einen Zusammenlauf der Leute befürchtete, fuhr schleunig
ab, wiewohl der gefährliche, warme Föhnwind ungestüm blies. Der See
ging hoch, und die Schiffsleute verzagten. Je weiter sie fuhren, desto größer
wurde die Todesnot; denn aus dem Abgrunde des Gewässers stiegen jäh die
Klippen, gleichwie Uferberge und Mauern, znm Himmel. In schwerer Angst
ließ Geßler dem Tell die Fesseln abnehmen, damit derselbe als gewandter
Schiffer das Fahrzeug lenke. Aber Tell steuerte der kahlen Wand des Axen-
berges zu, wo eine nackte Felsplatte wenige Schritte weit in den See hinein-
ragt. Kaum dort angelangt, schwang sich der kühne Schütze auf den Stein
lnoch heute TellSplatte genannt), so daß das Fahrzeug durch den gewaltigen
Stoß weit in die Wogen zurückgeschleudert wurde.
Nun kletterte der Befreite den Berg hinauf und floh durch das Land
Schwyz. In seinem bekümmerten Herzen aber dachte er: „Wohin entfliehen
vor dem Zorne des Gewaltherrn? Entrinne ich auch seiner Bosheit, so hat
er doch in der Heimat noch mein Weib und Kind znm Pfande. Was wird
nicht Geßler gegen die Angehörigen eines Flüchtlings thun, wenn Laudenberg
schon um zwei gebrochener Finger seines Knechtes willen dem alten Melchthal
die Augen ausbohren läßt? Wo ist der Richterstuhl, vor den ich Geßler lade,
wenn der König selbst des ganzen Volkes Klage nicht mehr anhört? Ist aber
kein Gesetz giltig, und ist keiner, der da richtet zwischen mir und ihm, so stehen
wir zwei gesetzlos da und Notwehr richtet. Soll eins von beiden fallen:
unschuldig Weib und Kind und Vaterland — oder — Vogt Geßler, so falle
du, Vogt, und Freiheit blühe wieder auf!"
So dachte Tell und eilte mit Pfeil und Bogen gen Küß nacht, wo er
in der hohlen Gasse bei dem Ort der Ankunft Geßlcrs harrte. Als der Vogt
kam, da schwirrte die Bogensehne, und der freie Pfeil traf das Herz des
Gewaltherrn.
13. Der Schweizerbund.
181
4. Das ganze Volk erschrak freudig, als es den Tod seines Unters
drückers vernahm, und die That des kühnen Schützen Tell verlieh allen einen
höheren Mut. Allein noch war die Nacht des Neujahrs nicht gekommen;
sie kam — und nun ging einer der Jünglinge, die aus dem Nütli geschworen
hatten, zur Burg Roßberg in Oberwälden. Drinnen kannte er eine Magd,
die zog ihn hinauf aus dem Burggraben, woraus der oben Angekommene mit
demselben Seile den 20 anderen, ebenfalls mit ihm gekommenen Männern, auch
herauf half. Als alle oben waren, bemeisterten sie sich des Amtmanns und seiner
Knechte und dann der ganzen Burg.
Als es Tag war, ging Landenberg aus der königlichen Burg bei
Sarnen heraus, um die Messe zu hören. Da kamen ihm aus Unterwalden
zwanzig Männer entgegen und brachten ihm Hühner, Ziegen, Lämmer und
ändere Gäben zum Neujahrsgeschenk. Der Vogt hieß sie freundlich in die
Burg hineingehen; aber einer von den Schweizern stieß, unter dem Thorweg
angelangt, in sein Horn. Schnell zogen alle scharfe Eisen hervor, steckten die-
selben auf ihre Stäbe und nahmen nun die Burg ein; dabei kamen ihnen 30
andere zu Hilfe, die im Erlengebüsch versteckt gewartet hatten. Laudenberg floh
erschrocken über die Matten nach Alpcnach. Aber er wurde gefangen und mußte
mit allen zu ihm gehörigen schwören, die Waldstätte ewiglich zu meiden. Dar-
nach gestatteten sie ihm, nach Luzern abzuziehen. Keinem wurde Leides gethan-.
Die Leute von Uri zogen hinaus und nahmen Geßlers Zwinghof ein. Hoch lodere
ten die Freudenseuer auf den Alpen.
Das war der Freiheit Neujahr (1. Januar 1308). Am nächstfolgenden
Sonntage kamen die Boten der drei Länder zusammen und beschworen den Bund
wieder auf 10 Jahre; derselbe dauert ewiglich und wurde oft erneuert, z. B. nach
dem Siege bei Morgarten 1315.
5. Alle ferneren Versuche Österreichs, das Land zu unterjochen, miß-
langen. Heldenkühn traten die Eidgenossen den feindlichen Heeren entgegen,
und ihre Tapferkeit, ihre Vaterlandsliebe, ihr Gottvertrauen erfochten in einer
Reihe von Schlachten die glorreichsten Siege. Einst standen ihnen auf dem
Schlachtfelde bei Sempach 1386 die Feinde in schwerer Rüstung Mann an
Mann, gleich einer Eisenmauer, gegenüber. Da rief einer der Eidgenossen,
der wackere Arnold von Winkelricd, den Seinen zu: „Liebe Brüder,
ich will euch eine Gasse machen; sorget für mein Weib und meine Kinder!"
Und alsbald sprang er vor, umfaßte mit beiden Armen so viele der feind-
lichen Speere, als er konnte, drückte sie sich in den Leib und riß Mann und
Speer mit sich zu Boden. Durch die entstandene Lücke drangen die Eid-
genossen sogleich ein und zersprengten und zermalmten das ganze stolze Heer
der Feinde. So verteidigte die Schweiz ihre Unabhängigkeit gegen Öster-
reichs Eroberungsversuche. Aber sie löste sich seitdem auch mehr und mehr
vom deutschen Reiche und wurde endlich als eigener Freistaat ganz davon
getrennt.
Zsch-kke.
182
14. AuS dem Schauspiele: „Wilhelm Tell" von Schiller.
14. Aus dem Schauspiele: „Wilhelm Tell" von Schiller.
1. *Am See.
Fischerknabe: Es lächelt der See, er ladet zum Bade,
der Knabe schlief ein am grünen Gestade;
da hört er ein Klingen,
wie Flöten so süß,
wie Stimmen der Engel
im Paradies.
Und wie er erwachet in seliger Lust,
da spülen die Wasser ihm um die Brust,
und es ruft aus den Tiefen:
Lieb Knabe, bist mein!
Ich locke den Schläfer,
ich zieh' ihn herein.
Hirt: Ihr Matten, lebt wohl,
ihr sonnigen Weiden!
Der Senne muß scheiden,
der Sommer ist hin.
Wir fahren zu Berg, wir kommen wieder,
wenn der Kuckuck ruft, wenn erwachen die Lieder,
wenn mit Blumen die Erde sich kleidet neu,
wenn die Brünnlein fließen im lieblichen Mai.
Ihr Matten, lebt wohl,
ihr sonnigen Weiden!
Der Senne muß scheiden,
der Sommer ist hin.
Alpenjäger: Es donnern die Höhen, es zittert der Steg,
nicht grauet dem Schützen auf schwindlichtem Weg;
er schreitet verwegen
auf Feldern von Eis;
da pranget kein Frühling,
da grünet kein Reis;
und unter den Füßen ein neblichtes Meer,
erkennt er die Städte der Menschen nicht mehr;
durch den Riß nur der Wolken
erblickt er die Welt,
tief unter den Mastern
das grünende Feld.
14. Aus dem Schauspiele: „Wilhelm Teil" von Schiller.
183
2. Der Apfelschuß.
Wiese bei Altdorf. Im Vordergründe Bäume, in der Tief« der Hut auf einer Stange.
Die Aussicht wird begrenzt durch den Bannberg, über welchem ein Schneezebirge
emporragt. Frießhardt und Leuthold halten Wache.
Fließ Hardt. Wir paffen auf umsonst. Es will sich niemand heran
begeben und dem Hute sein' Reverenz erzeigen. Es war doch sonst wie Jahr-
markt hier; jetzt ist der ganze Anger wie verödet, seitdem der Popanz aus
der Stange hängt.
Leuthold. Nur schlecht Gesindel läßt sich sehen und schwingt uns
zum Verdrieße die zerlumpten Mützen. Was rechte Leute sind, die machen
lieber den langen Umweg um den halben Flecken, eh' sie den Rücken beugten
vor dem Hut.
Frießhardt. Sie muffen über diesen Platz, wenn sie vom Rathaus
kommen um die Mittagsstunde. Da meint' ich schon 'nen guten Fang zu
thun; denn keiner dachte dran, den Hut zu grüßen. Da sieht's der Pfasf,
der Rösselmann — kam just von einem Kranken her und stellt' sich hin mit
dem Hochwürdigen grad' vor die Stange. Der Sigrist mußte mit dem Glöck-
lein schellen; da fielen all' aufs Knie, ich selber mit, und grüßten die Mon-
stranz, doch nicht den Hut. —
Leuthold. Höre, Gesell, es fängt mir an zu deuchten, wir stehen hier
am Pranger vor dem Hut. 's ist doch ein Schimpf für einen Reitersmann,
Schildwach' zu stehn vor einem leeren Hut, und jeder rechte Kerl muß uns
verachten. — Die Reverenz zu machen einem Hut, es ist doch, traun, ein
närrischer Befehl.
Frießhardt. Warum nicht einem leeren, hohlen Hut? Bückst du dich
doch vor manchem hohlen Schädel!
Hildegard, Mechthild und Elsbeth treten aus mit Kindern und stellen sich um
die Stange.
Leut hold. Und du bist auch so ein dienstsert'ger Schurke und brächtest
wackre Leute gern ins Unglück. Mag, wer da will, am Hut vorüber gehn;
ich drück' die Augen zu und seh' nicht hin.
Mechthild. Da hängt der Landvogt — habt Respekt, ihr Buben!
Elsbeth. Wollt's Gott, er ging' und ließ uns seinen Hut; es sollte
drum nicht schlechter stehn ums Land!
Frießhardt (verscheucht sie). Wollt ihr vom Platz! Verwünschtes Volk
der Weiber! Wer fragt nach euch? Schickt eure Männer her, wenn sie der
Mut sticht, dem Befehl zu trotzen! (Weibergehen.)
Teil mit der Armbrust tritt auf, den Knaben an der Hand führend; sie gehen an dem Hut
vorbei gegen die vordere Szene, ohne darauf zu achten.
Walther (zeigt nach dem Bannberg). Vater, ist's wahr, daß auf dem
Berge dort die Bäume bluten, wenn man einen Streich drauf führte mit
der Axt?
Tell. Wer sagt das, Knabe?
Walther. Der Meister Hirt erzählt's. — Die Bäume seien gebannt,
sagt er, und wer sie schädige, dem wachse seine Hand heraus zum Grabe.
14. Auö dem Schauspiele: ,,Wilhelm Tell" von Schiller.
184
V
Tell. Die Bäume sind gebannt, das ist die Wahrheit. — Siehst dü
die Firnen dort, die weißen Hörner, die hoch bis in den Himmel sich ver-
lieren?
Walthen Das sind die Gletscher, die des Nachts so donnern und uns
die Schlaglawinen niedersenden.
Tell. So ist's, und die Lawinen hätten längst den Flecken Altdorf unter
ihrer Last verschüttet, wenn der Wald dort oben nicht als eine Landwehr sich
dagegen stellte.
Walther. (Nach einigem Besinnen.) Giebt's Länder, Vater, wo nicht
Berge sind?
Tell. Wenn man hinunter steigt von unsern Höhen und immer tiefer
steigt, den Strömen nach, gelangt man in ein großes ebnes Land, wo die
Waldwasser nicht mehr brausend schäumen, die Flüsse ruhig und gemächlich
ziehen; da sieht man frei nach allen Himmelsräumen; das Korn wächst dort
in langen, schönen Auen, und wie ein Garten ist das Land zu schauen.
Walther. Ei, Vater, warum steigen wir denn nicht geschwind hinab
in dieses schöne Land, statt daß wir hier uns ängstigen und plagen?
Tell. Das Land ist schön und gütig wie der Himmel; doch die's
bebauen, sie genießen nicht den Segen, den sie pflanzen.
Walther. Wohnen sie nicht frei wie du auf ihrem eignen Erbe?
Tell. Das Feld gehört dem Bischof und dem König.
14. AuS dem Schauspiele i „Wilhelm Tell" von Schiller. 185
Walther. So dürfen sie doch frei in Wäldern jagen?
Tell. Dem Herrn gehört das Wild und das Gefieder.
Walther. Sie dürfen doch frei fischen in dem Strom?
Tell. Der Strom, das Meer, das Salz gehört dem König.
Walther. Wer ist der König denn, den alle fürchten?
Tell. Es ist der eine, der sie schützt und nährt.
Walther. Sie können sich nicht mutig selbst beschützen?
Tell. Dort darf der Nachbar nicht dem Nachbar trauen.
Walther. Vater, es wird mir eng im weiten Land; da wohn' ich lieber
unter den Lawinen.
Tell. Ja wohl ist's befier, Kind, die Gletscherberge im Rücken haben als
die bösen Menschen. (Sie wollen vorüber geben.)
Walther. Ei, Vater, steh den Hut dort auf der Stange!
Tell. Was kümmert uns der Hut! Komm, laß uns gehen!
(Indem er abgehen will, tritt ihm Frießhardt mit vorgehaltener Pike entgegen.)
FrießHardt. In des Kaisers Namen, haltet an und steht!
Tell (greift in die Pike). Was wollt ihr? Warum haltet ihr mich auf?
Frießhardt. Ihr habt's Mandat verletzt; ihr müßt uns folgen.
Leuthold. Ihr habt dem Hut nicht Reverenz bewiesen.
Tell. Freund, laß mich gehen!
Frießhardt. Fort, fort ins Gefängnis!
Walther. Den Vater ins Gefängnis! Hilfe! Hilfe! (In die Szene rufend.)
Herbei, ihr Männer, gute Leute, helft! Gewalt! Gewalt! Sie führen ihn
gefangen!
Rösselmann, der Pfarrer, und Petermann, der Sigrist, kommen herbei mit drei
andern Männern.
Sigrist. Was giebt's.
Rösselmann. Was legst du Hand an diesen Mann?
Frießhardt. Er ist ein Feind des Kaisers, ein Verräter!
Tell (saßt ihn heftig). Ein Verräter, ich?
Rösselmann. Du irrst dich, Freund, das ist der Tell, ein Ehrenmattrt
Und guter Bürger.
Walther (erblickt Walther Fürst und eilt ihm entgegen). Großvater, hilf! Ge-
walt geschieht dem Vater.
Frießhardt. Ins Gefängnis, fort!
Walther Fürst (h-rb-i-ilend). Ich leiste Bürgschaft, haltet! — Um Gottes-
willen, Tell, was ist geschehen?
Melchthal und Stauffacher kommen.
Frießhardt. Des Landvogts oberherrliche Gewalt verachtet er und will
Ue nicht erkennen.
186
14. Aus dem Schauspiele: „Wilhelm Tell" von Schiller.
St auf fach er. Das hätt' der Dell gethan?
Melchthal. Das lügst du, Bube!
Leuthold. Er hat dem Hut nicht Reverenz bewiesen.
Walther Fürst. Und darum soll er ins Gefängnis? Freund, nimm
meine Bürgschaft an und laß ihn ledig!
Frießhardt. Bürg' du für dich und deinen eignen Leib! Wir thun,
was unsers Amtes. Fort mit ihm!
Melchthal (zu den Landleuten). Nein, das ist schreiende Gewalt! Ertragen
wir's, daß man ihn fortführt, frech, vor unsern Augen?
Sigrist. Wir sind die Stärkern. Freunde, duldet's nicht! Wir haben
einen Rücken an den andern!
Frießhardt. Wer widersetzt sich dem Befehl des Vogts?
Noch drei Landleute (herbeieilend). Wir helfen euch. Was giebt's?
Schlagt sie zu Boden!
(Hildegard, Mechthild und Elsbeth kommen zurück.)
Dell. Ich helfe mir schon selbst. Geht, gute Leute! Meint ihr,
wenn ich die Kraft gebrauchen wollte, ich würde mich vor ihren Spießen
fürchten.
Melchthal (zu Frießhardt). Wagt's, ihn aus unsrer Mitte wegzuführen!
Walther Fürst und Stauffacher. Gelassen! ruhig!
Frießhardt (schreit). Aufruhr und Empörung!
(Man hört Jagdhörner.)
Weiber. Da kommt der Landvogt!
Frießhardt (erhebt die Stimme). Meuterei! Empörung!
Stauffacher. Schrei, bis du berstest, Schurke!
Rösselmann und Melchthal. Willst du schweigen!
Frießhardt (ruft noch lauter). Zu Hilf', zu Hilf' den Dienern des
Gesetzes!
Walther Fürst. Das ist der Vogt! Weh uns, was wird das werden?
G e ß l e r zu Pferd, den Falken auf der Faust, RudolfderHarras. Bertha und
Rudenz, ein großes Gefolge von bewaffneten Knechten, welche einen Kreis von Piken
um die ganze Szene schließen.
Rudolf der Harras. Platz, Platz dem Landvogt!
Geßler. Treibt sie auseinander! Was läuft das Volk zusammen?
Wer ruft Hilfe? (Allgemeine Stille.) Wer war's? Ich will es misten
(Zu Frießhardt.) Du, tritt vor! Wer bist du, und was hältst du diesen Mann?
(Er giebt den Falken einem Diener.)
Frießhardt- Gestrenger Herr, ich bin dein Waffenknecht und wohl'
bestellter Wächter bei dem Hut. Diesen Mann ergriff ich über frischer That,
wie er dem Hut den Ehrengruß versagte. Verhaften wollt' ich ihn, wie d»
befahlst, und mit Gewalt will ihn das Volk entreißen.
Geßler (nach einer Pause). Verachtest du so deinen Kaiser, Tell, und min-
der hier an seiner Statt gebietet, daß du die Ehr' versagst dem Hut, den w
zur Prüfung des Gehorsams aufgehangen? Dein böses Trachten hast du nU?
verraten.
Teil. Verzeiht mir, lieber Herr! Aus Unbedacht, nicht aus Verachtung
eurer ist's geschehen; wär' ich besonnen, hieß ich nicht der Tell; ich bitt' u>"
Gnad'; es soll nicht mehr begegnen.
14. Aus dem Schauspiele: „Wilhelm Tell" von Schiller.
187
Geßler (nach einigem Stillschweigen). Du bist ein Meister aus 8ctr Arm»
brüst, Teil; man sagt, du nahmst es auf mit jedem Schützen.
Walther. Und das muß wahr sein, Herr, 'nen Apfel schießt der Vater
dir vom Baum auf hundert Schritte.
Geßler. Ist das dein Knabe, Test?
Teil. Ja, lieber Herr.
Geßler. Hast du der Kinder mehr?
Teil. Zwei Knaben, Herr.
Geßler. Und welcher ist's, den du am meisten liebst?
Tell. Herr, beide sind sie mir gleich liebe Kinder.
Geßler. Nun, Tell'. Weil du den Apfel triffst vom Baume auf
hundert Schritt, so wirst du deine Kunst vor mir bewähren müßen. Nimm
die Armbrust — du hast sie gleich zur Hand — und mach dich fertig,
einen Apfel von des Knaben Kopf zu schießen; doch will ich raten, ziele
gut, daß du den Apfel treffest auf den ersten Schuß! Denn fehlst du ihn, so
ist dein Kopf verloren.
(Alle geben Zeichen des Schreckens.)
Teil. Herr, welches Ungeheure sinnet ihr mir an? — Ich soll vom
Haupte meines Kindes! — Nein, nein doch, lieber Herr, das kommt euch nicht
zu Sinn — verhüt's der gnäd'ge Gott — das könnt ihr im Ernst von einem
Vater nicht begehren!
Geßler. Du wirst den Apfel schießen von dem Kopf des Knaben; ich
begehr's und will's.
Tell. Ich soll mit meiner Armbrust auf das liebe Haupt des eignen
Kindes zielen? — Eher st erb' ich!
Geßler. Du schießest oder stirbst mit deinem Knaben.
Tell. Ich soll der Mörder werden meines Kindes? Herr, ihr habt keine
Kinder — wisset nicht, was sich bewegt in eines Vaters Herzen.
Geßler. Ei, Tell, du bist ja plötzlich so besonnen! Man sagte mir, daß
du ein Träumer seist und dich entfernst von andrer Menschen Weise. Du liebst
das Seltsame; drum hab' ich jetzt ein eigen Wagstück für dich ausgesucht.
Ein andrer wohl bedächte sich; — du drückst die Augen zu und greifst es
herzhaft an.
Bertha. Scherzt nicht, o Herr, mit diesen armen Leuten! ihr seht
sie bleich und zitternd stehn, so wenig sind sie Kurzweils gewohnt aus
eurem Munde.
Geßler. Wer sagt euch, daß ich scherze? (Greift nach einem Baumzweige,
der über ihn herhängt.) Hier ist der Apfel, man mache Raum! Er nehme seine
Weite, wie's Brauch ist. Achtzig Schritte geb' ich ihm, nicht weniger, noch
mehr. Er rühmte sich, auf ihrer hundert seinen Mann zu treffen. Jetzt, Schütze,
triff und fehle nicht das Ziel!
Rudolf der Harras. Gott, das wird ernsthaft. Falle nieder, Knabe,
es gilt, und fleh' den Landvogt um dein Leben!
Walther Fürst (beiseite zu Melchthal, der kaum seine Ungeduld bezwingt).
Haltet an euch! Ich fleh' euch drum, bleibt ruhig!
Bertha (zum Landvogt). Laßt es genug sein, Herr! Unmenschlich ist's,
mit eines Vaters Angst also zu spielen. Wenn dieser arme Mann auch
Leib und Leben verwirkt durch seine leichte Schuld, bei Gott! er hätte jetzt
zehnfachen Tod empfunden. Entlaßt ihn ungekränkt in seine Hütte! Er
>
188 14. Aus dem Schauspiele: „Wilhelm Tell" von Schiller.
hat euch kennen lernen; dieser Stunde wird er und seine Kindeskiuder
denken.
Geßler- Öffnet die Gaffel Frisch, was zauderst du? Dein Leben
ist verwirkt; ich kann dich töten, und sieh, ich lege gnädig dein Geschick in
deine eigne kunstgeübte Hand. Der kann nicht klagen über harten Spruch,
den man zum Meister seines Schicksals macht. Du rühmst dich deines sichern
Blicks! Wohlan! Hier gilt es, Schütze, deine Kunst zu zeigen; das Ziel ist
würdig, und der Preis ist groß! Das Schwarze treffen in der Scheibe, das kann
auch ein andrer; der ist mir der Meister, der seiner Kunst gewiß ist überall,
dem's Herz nicht in die Hand tritt, noch ins Auge.
Walther Fürst lwirft sich vor ihm nieder). Herr Landvogt, wir erkennen
eure Hoheit; doch lasset Gnad' für Recht ergehen, nehmt die Hälfte meiner Habe,
nehmt sie ganz! Nur dieses Gräßliche erlasset einem Vater!
Walther Tell. Großvater, knie' nicht vor dem falschen Mann! Sagt,
wo ich hinstehn soll! Ich fürcht' mich nicht; der Bater trifft den Vogel ja
im Flug; er wird nicht fehlen auf das Herz des Kindes.
Stauf fach er. Herr Landvogt, rührt euch nicht des Kindes Unschuld?
Nösselmann. O denket, daß ein Gott im Himmel ist, dem ihr müßt
Rede stehn für eure Thaten!
Geßler (zeigt auf den Knaben). Man bind' ihn an die Linde dort.
Walther Tell. Mich binden? Nein, ich will nicht gebunden sein. Ich
will still halten wie ein Lamm und auch nicht atmen. Wenn ihr mich bindet»
nein, so kann ich's nicht, so werd' ich toben gegen meine Bande!
Rudolf der Harras. Die Augen nur laß dir verbinden, Knabe!
Walther Tell. Warum die Augen? Denket ihr, ich fürchte den
Pfeil von Paters Hand? Ich will ihn fest erwarten und nicht zucken mit
den Wimpern. — Frisch, Vater, zeig's, daß du ein Schütze bist! Er glaubt
dir's nicht; er denkt uns zu verderben; dem Wütrich zum Verdrusse schieß
und triff!
(Er geht an die Linde, inän legt ihm den Apfel auf.)
Melchthal (zu den Landleuten). Was? Soll der Frevel sich vor unsern
Augen vollenden? Wozu haben wir geschworen?
Stauffacher. Es ist umsonst. Wir haben keine Waffen; ihr seht den
Wald von Lanzen um uns her.
Melchthal. Ö hätten wir's mit frischer That vollendet! Verzeih's
Gott denen, die zum Aufschub rieten!
Geßler (zu Tcll). Ans Werk! Man führt die Waffen nicht vergebens.
Gefährlich ist's, ein Mordgewehr zu tragen, und auf den Schützen springt der
Pfeil zurück. Dies stolze Recht, das sich der Bauer nimmt, beleidiget den
höchsten Herrn des Landes. Gewaffnet sei niemand, als wer gebietet! Freut's
euch, den Pfeil zu führen und den Bogen, wohl, so will ich das Ziel euch
dazu geben.
Tell (spanut die Armbrust und legt den Pfeil auf). Öffnet die Gasse! Platz!
Stauffacher. Was, Tell? Ihr wolltet? Nimmermehr! Ihr zittert, die
Hand erbebt euch, eure Kniee wanken. —
Tell (läßt die Armbrust sinken). Mir schwimmt es vor den Augen.
Weiber. Gott im Himmel.
Tell (zum Laudvogt). Erlaffet mir den Schuß! Hier ist mein Herz, (Er
reißt die Brust auf.) ruft eure Reisigen und stoßt mich nieder!
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14. Aus dem Schauspiele: „Wilhelm Tell" von Schiller.
189
Geßler. Ich will dein Leben nicht, ich will den Schuß. — Du kannst ja
alles. Teil! An nichts verzagst du; das Steuerruder führst du wie den Bo-
gen! Dich schreckt kein Sturm, wenn es zu retten gilt; jetzt, Netter, hilf dir
selbst — du rettest alle!
lTell steht im fürchterlichen Kampfe, mit den Händen zuckend und die rollenden Augen bald
auf den Landvogt, bald zum Himmel gerichtet. — Plötzlich greift er in seinen Köcher, nimmt
einen zweiten Pfeil heraus und steckt ihn in seinen Koller. Ter Landvogt bemerkt alle diese
Bewegungen.)
Walther Teil lunter der Linde). Vater, schieß zu! Ich fürcht' mich nicht.
Teil. Es muß! (Er rafft sich zusammen und legt an.)
Nudenz (der die ganze Zeit über in der heftigsten Spannung gestanden und mit
Gewalt an sich gehalten, tritt hervor). Herr Landvogt. weiter werdet ihr's nicht
treiben, ihr werdet nicht; es war nur eine Prüfung. — Den Zweck habt ihr
erreicht; zu weit getrieben, verfehlt die Strenge ihres weisen Zwecks, und allzu
straff gespannt, zerspringt der Bogen.
Geßler. Ihr schweigt, bis man euch ausruft!
Nudenz. Ich will reden, ich darf's! Des Königs Ehre ist mir heilig;
doch solches Regiment muß Haß erwerben. Das ist des Königs Wille nicht; ich
darf's behaupten. Solche Grausamkeit verdient mein Volk nicht; dazu habt ihr
keine Vollmacht.
Geßler. Ha, ihr erkühnt euch!
Nudenz. Ich hab' still geschwiegen zu allen schweren Thaten, die ich sah;
mein sehend Auge hab' ich zugeschlossen, mein überschwellend und empörtes Herz
hab' ich hinabgedrückt in meinen Busen. Doch länger schweigen wär' Verrat
zugleich an meinem Vaterland und an dem Kaiser.
Bertha (wirft sich zwischen ihn und den Landvogt). O Gott, ihr reizt den
Wütenden noch mehr.
Nudenz. Mein Volk verließ ich, meinen Blutsverwandten entsagt' ich,
alle Bande der Natur zerriß ich, um an euch mich anzuschließen. — Das Beste
aller glaubt' ich zu befördern, da ich des Kaisers Macht befestigte. — Die
Binde fällt von meinen Augen; schaudernd seh' ich an einen Abgrund mich ge-
führt. — Mein freies Urteil habt ihr irr' geleitet, mein redlich Herz verführt.
Ich war daran, mein Volk in bester Meinung zu verderben.
Geßler. Verwegner, diese Sprache deinem Herrn!
Nudenz. Der Kaiser ist mein Herr, nicht ihr. Frei bin ich wie ihr ge-
boren, und ich messe mich mit euch in jeder ritterlichen Tugend. Und ständet
ihr nicht hier in Kaisers Namen, den ich verehre, selbst wo man ihn schändet,
den Handschuh wärf' ich vor euch hin, ihr solltet nach ritterlichem Brauch
mir Antwort geben. — Ja, winkt nur euren Reisigen; ich stehe nicht wehr-
los da wie die. (Auf das Volk zeigend.) Ich hab' ein Schwert, und wer mir
naht —
Stauf fach er (ruft). Der Apfel ist gefallen!
(Jnd.'m sich alle »ach dieser Seite gewendet und Bertha zwischen Rudenz und den Landvogt
sich geworfen, hat Tell den Pfeil abgedrückt.)
Nösselmann. Der Knabe lebt!
Viele Stimmen. Der Apfel ist getroffen!
(Walther Fürst schwankt und droht zu sinken. Bertha hält ihn.)
Geßler (erstaunt). Er hat geschossen? Wie? Der Rasende!
Bertha. Der Knabe lebt! Kommt zu euch, guter Vater!
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15. Gras Eberhard der Rauschebart.
Walther Tel! (kommt mit dem Apfel gesprungen). Bnter, hier ist der
Apfel! — Wußt' ich's ja, du würdest deinen Knaben nicht verletzen.
Teil stand mit vorgebogenem Leib, als wollt' er dem Pfeil folgen. Die Armbrust
entsinkt seiner Hand. Wie er den Knaben kommen steht, eilt er ihm mit ausgebreiteten Ar-
men entgegen und hebt ihn mit heftiger Inbrunst zu seinem Herzen hinauf; in dieser
Stellung sinkt er kraftlos zusammen. Alle stehen gerührt.
Bertha. O güt'ger Himmel!
Walther Fürst (zu Vater und Sohn). Kinder! Meine Kinder!
Stauffacher. Gott sei gelobt!
Leuthold. Das war ein Schuß! Davon wird man noch reden in den
spät'sten Zeiten.
15. *Graf Eberhard der Rauschebart.
1. Der Überfall im Wildbad.
(1367.)
1. In schönen Sommcrtagen, wann lau die Lüfte wehn,
die Wälder lustig grünen, die Gärten blühend stehn,
da ritt aus Stuttgarts Thoren ein Held von stolzer Art,
Graf Eberhard der Greiner, der alte Rauschebart.
2. Mit wenig Edelknechten zieht er ins Land hinaus.
Er trägt nicht Helm noch Panzer, nicht geht's auf blut'gen Strauß.
Ins Wildbad will er reiten, wo heiß ein Quell entspringt,
der Sieche heilt und kräftigt, der Greise wieder jüngt.
3. Zu Hirsau bei deni Abte, da kehrt der Ritter ein
und trinkt bei Orgelschalle den kühlen Klosterwein.
Dann geht's durch Tannenwälder ins grüne Thal gesprengt,
wo durch ihr Felsenbette die Enz sich rauschend drängt.
4. Zu Wildbad an dem Markte, da steht ein stattlich Haus;
cs hängt daran zum Zeichen ein blanker Spieß herans.
Dort steigt der Graf vom Rosse, dort hält er gute Rast;
den Quell besucht er täglich, der ritterliche Gast.
5. Wenn er sich dann entkleidet und wenig ausgeruht
und sein Gebet gesprochen, so steigt er in die Flut;
er setzt sich stets zur Stelle, wo aus dem Felsenspalt
am heißesten und vollsten der edle Sprudel wallt.
6. Ein angeschoss'uer Eber, der sich die Wunde wusch,
verriet voreinst den Jägern den Quell in Kluft und Busch;
nun ist's dem alten Recken ein lieber Zeitvertreib,
zu waschen und zu strecken den narbenvollen Leib.
15. Graf Eberhard der Rauschebart.
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7. Da kommt einstmals gesprungen sein jüngster Edclknab':
«Herr Graf! es zieht ein Hanfe das ob're Thal herab;
sie tragen schwere Kolben, der Hauptmann führt im Schild
ein Röslein rot von Golde und einen Eber wild."
8. „Mein Sohn! das sind die Schlegler, die schlagen kräftig drein;
gieb mir den Leibrock, Junge! — das ist der Eberstein;
ich kenne wohl den Eber, er hat so grimmen Zorn;
ich kenne wohl die Rose, sie führt so scharfen Dorn."
9. Da kommt ein armer Hirte in atemlosem Lauf:
„Herr Graf! es zieht 'ne Rotte das unt're Thal herauf;
der Hauptmann führt drei Beile; sein Rüstzeug glänzt und gleißt,
das mir's wie Wetterleuchten noch in den Augen beißt."
10. „Das ist der Wunnensteiner, der gleißend' Wolf genannt, —
gieb mir den Mantel, Knabe! — der Glanz ist mir bekannt.
Er bringt mir wenig Wonne, die Beile hauen gut, —
bind' mir das Schwert zur Seite! — Der Wolf, der lechzt nach Blut!"
11. Da spricht der arme Hirte: „Des mag noch werden Rat;
ich weiß geheime Wege, die noch kein Mensch betrat,
kein Roß mag sie ersteigen, nur Geißen klettern dort, —
wollt Ihr sogleich mir folgen, ich bring' Euch sicher fort."
12. Sie klimmen durch das Dickicht den steilsten Berg hinan;
mit seinem guten Schwerte haut oft der Graf sich Bahn.
Wie herb das Fliehen schmecke, noch hat er's nie vermerkt;
viel lieber möcht' er fechten, das Bad hat ihn gestärkt.
13. In heißer Mittagsstunde bergunter und bergauf, —
schon muß der Graf sich lehnen auf seines Schwertes Knauf;
darob erbarmt's den Hirten des alten hohen Herrn,
er nimmt ihn auf den Rücken: „Ich thu's von Herzen gern." —
14. Da denkt der alte Greiner: „Es thut doch wahrlich gut,
so sänftlich sein getragen von einem treuen Blut.
In Fährden und in Nöten zeigt erst das Volk sich echt;
drum soll man nie zertreten sein altes gutes Recht." —
15. Als drauf der Graf gerettet zu Stuttgart sitzt im Saal,
heißt er 'ne Münze prägen als ein Gedächtnismal;
er giebt dem treuen Hirten manch blankes Stück davon,
auch manchem Herrn vom Schlegel verehrt er eins zum Hohn.
16. Dann schickt er tücht'ge Maurer ins Wildbad alsofort;
die sollen Mauern führen rings um den offnen Ort,
damit in künst'gen Sommern sich jeder greise Mann,
vom Feinde ungefährdet, im Bade jungen kann.
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15. Graf Eberhard der Rauschebart.
2. Die drei Könige zu Heimsen.
(1367.)
1. Drei Könige zu Heimsen, wer hätt' eS je gedacht,
mit Rittern und mit Rossen, in Herrlichkeit und Pracht!
Es sind die hohen Häupter der Schlegelbrüderschaft;
sich Könige zu nennen, das giebt der Sache Kraft.
2. Da thronen sie beisammen und halten ejfrig Rat,
bedenken und besprechen gewalt'ge Waffenthat:
wie man den stolzen Grciner mit Kriegsheer überfällt
und, besser als im Bade, ihm jeden Schlich verstellt;
3. wie man ihn dann verwahret und seine Burgen bricht,
bis er von allem Zwange die Edlen ledig spricht.
Dann fahre wohl, Landfriede, dann, Lehndienst, gute Nacht!
Dann ist's der freie Ritter, der alle Welt verlacht. —
4. Schon sank die Nacht hernieder, die KLn'ge sind zur Ruh;
schon krähen jetzt die Hähne dem nahen Morgen zu;
da schallt mit scharfem Stoße das Wächterhorn vom Turm:
Wohl auf, wohl auf, ihr Schläfer! Das Horn verkündet Sturm.
5. In Nacht und Nebel draußen, da wogt es wie ein Meer
und zieht von allen Seiten sich um das Städtlein her;
verbaltne Männerstimmen, verworrner Gang und Drang,
Husschlag und Rossesschnauben und dumpfer Waffenklang.
6. Und als das Frührot leuchtet, und als der Nebel sinkt,
hei! wie es da von Speeren, von Morgensternen blinkt!
Des ganzen Gaues Bauern stehn um den Ort geschart,
und mitten hält zu Rosse der alte Rauschebart.
7. Die Schlegler möchten schirmen das Städtlein und das Schloß;
sie werfen von den Türmen mit Steinen und Geschoß.
„Nur sachte!" — ruft der ©reiner — „euch wird das Bad geheizt!
Aufdampfen soll's und qualmen, daß euch's die Augen beizt!"
8. Rings um die alten Mauern ist Holz und Stroh gehäuft,
in dunkler Nacht geschichtet und wohl mit Teer beträuft;
drein schießt man glüh'nde Pfeile, wie raschelt's da im Stroh!
Drein wirst man seur'ge Kränze, wie flackert'« lichterloh!
9. Und noch von allen Enden wird Vorrat zugeführt,
von all' den rüst'gen Bauern wird emsig nachgeschürt.
bis höher, immer höher die Flamme leckt und schweift
und schon mit lnst'gem Prasseln der Türme Dach ergreift.
10. Ein Thor ist freigelassen, so hat's der Gras beliebt;
dort hört man, wie der Riegel sich leise, lose schiebt. —
Dort stürzen wohl verzweifelnd die Schlegler jetzt heraus?
Nein! friedlich zieht's herüber als wie ins Gotteshaus.
15. Graf Eberhard der Rauschebart.
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11. Voran drei Schlegelkön'ge, zu Fuß, demütiglich,
mit unbedecktem Haupte, die Augen unter sich;
dann viele Herrn und Knechte, gemachsam, Mann für Mann,
daß man sie alle zählen und wohl betrachten kann.
12. ,Willkomm'!" — so ruft der Greiner — „Willkomm' in meiner Haft!
Ich traf euch gut beisammen, geehrte Brüderschaft!
So konnt' ich wieder dienen für den Besuch im Bad.
Nur einen miss' ich, Freunde, den Wunnenstein, 's ist schad'!"
13. Ein Bäuerlein, das treulich am Feuer mitgefacht,
lehnt dort an seinem Spieße, nimmt alles wohl in acht:
»Drei Könige zu Heimsen" — so schmollt es — »das ist viel!
Erwischt man noch den vierten, so ist's ein Kartenspiel."
3. Die Schlacht bei Reutlingen.
(1377.)
1. Zu Achalm auf dem Felsen, da haust manch kühner Aar,
Graf Ulrich, Sohn des Greiners, mit seiner Ritterschar;
wild rauschen ihre Flüge um Reutlingen, die Stadt;
bald scheint sie zu erliegen, vom heißen Drange matt.
2. Doch plötzlich einst erheben die Städter sich zur Nacht;
ms Urachthal hinüber ziehn sie mit großer Macht;
bald steigt von Dorf und Mühle die Flamme blutig rot,
die Herden weggetrieben, die Hirten liegen tot.
3. Herr Ulrich hat's vernommen, er ruft im grimmen Zorn:
»In eure Stadt soll kommen kein Huf und auch kein Horn!"
Da sputen sich die Ritter, sie wappnen sich in Stahl,
sie heischen ihre Rosse, sie reiten stracks zu Thal.
4. Ein Kirchlein stehet drunten, St. Leonhard geweiht,
dabei ein grüner Anger, der scheint bequem zum Stteit.
Sie springen von den Pferden, sie ziehen stolze Reih'n,
die langen Spieße starren; wohlauf! wer wagt sich drein?
5. Schon ziehn vom Urachthale die Städter fern herbei,
man hört der Männer Jauchzen, der Herden wild Geschrei,
man sieht sie fürder schreiten, ein wohlgerüstet Heer. .
Wie flattern stolz die Banner! Wie blitzen Schwert und Spcet!
6. Nun schließ' dich fest zusammen, du ritterliche Schar!
Wohl hast dir nicht geahnet so dräuende Gesahr.
Die übermächt'gen Rotten, sie stürmen an mit Schwall;
die Ritter stehn und starren wie Fels und Manerwall.
Deutsche? Lesebuch für kalb. Scbulcn. IV. Für Oberklassen. Kl
194
15. Gras Eberhard der Rauschebart.
7. Zu Reutlingen am Zwinger, da ist ein altes Thor,
längst wob mit dichten Ranken der Epheu sich davor; —
man hat es schier vergessen, nun kracht's mit einnial ans,
und aus dem Zwinger stürzet gedrängt ein Bürgerhaus'.
8. Den Rittern in den Rücken fällt er mit grauser Wut,
heut' will der Städter baden in heißem Ritterblut.
Wie haben da die Gerber so meisterlich gegerbt!
Wie haben da die Färber so purpurrot gefärbt!
9. Heut' nimmt man nicht gefangen, heut' geht es aus den Tod;
heut' spritzt das Blut wie Regen, der Anger blümt sich rot.
Stets drängender umschlossen und wütender bestürmt,
ist rings von Bruderleichen die Ritterschar umtürmt.
10. Das Fähnlein ist verloren, Herr Ulrich blutet stark;
die noch am Leben blieben, sind müde bis ins Mark.
Da haschen sie nach Rossen und schwingen sich darauf,
sie hauen durch, sie kommen zur festen Burg hinauf.
I I. „Ach Allm—!" stöhnt' einst ein Ritter; ihn traf des Mörders Stoß,
Allmächt'ger! wollt er rufen; man hieß davon das Schloß.
Herr Ulrich sinkt vom Sattel, halbtot, voll Blut und Qualm;
hätt' nicht das Schloß den Namen, man hieß es jetzt Achalm.
12. Wohl kommt am andern Morgen zu Reutlingen ans Thor
manch tranervoller Knappe, der seinen Herrn verlor;
dort auf dem Rathaus liegen die Toten all' gereiht,
man führt dahin die Knechte mit sicherem Geleit.
13. Dort liegen mehr denn seckizig, so blutig und so bleich,
nicht jeder Knapp' erkennet den toten Herrn sogleich; —
dann wird ein jeder Leichnam von treuen Dieners Hand
gewaschen und gekleidet in weißes Grabgewand.
14. Auf Bahren und auf Wagen getragen und geführt,
mit Eichenlaub bekränzet, wie's Helden wohl gebührt,
so geht es nach dem Thore, die alte Stadt entlang,
dumpf tönet von den Türmen der Totenglocken Klang.
15. Götz Weißenheim eröffnet den langen Leichenzug;
er war es, der im Streite des Grafen Banner trug;
er hatt' es nicht gelassen, bis er erschlagen war;
drum mag er würdig führen auch noch die tote Schar.
16. Drei edle Grafen folgen, bewährt im Schildesamt:
Bon Tübingen, von Zollern, von Schwarzenberg entstammt.
O Zollern! deine Leiche umschwebt ein lichter Kranz, —
sahst dn vielleicht noch sterbend dein Haus im künft'gen Glanz?
15. Graf Eberhard der Rauschebart.
193
17. Von Sachsenheim zween Ritter, der Vater und der Sohn,
die liegen still beisammen in Lilien und in Mohn;
ans ihrer Stammburg wandelt von alters her ein Geist,
der längst mit Klaggebärden auf schweres Unheil weist.
18. Einst war ein Herr von Lustnau vom Scheintod anferwacht,
rr kehrt im Leichentuche zu seiner Frau bei Nacht; —
davon man sein Geschlechte die Toten hieß zum Scherz;
hier bringt man ihrer einen, den traf der Tod ins Herz.
19. Das Lied, es folgt nicht weiter, des Jammers ist genug!
Will jemand alle wissen, die man von dannen trug,
dort auf den Rathaussenstern, in Farben bunt und klar,
stellt jeden Ritters Name und Wappenschild sich dar. —
20. Als nun von seinen Wunden Graf Ulrich ausgeheilt,
da reitet er nach Stuttgart; er hat nicht sehr geeilt;
er trifft den alten Vater allein am Mittagsmahl:
ein frostiger Willkommen, kein Wort ertönt im Saal.
21. Dem Vater gegenüber sitzt Ulrich an dem Tisch,
er schlägt die Augen nieder; man bringt ihm Wein und Fisch;
da saßt der Greis ein Meffer und spricht kein Wort dabei
und schneidet zwischen beiden das Tafcltuch entzwei.
4. Die Döffinger Schlacht.
(1388.)
1. Am Ruheplatz der Toten, da pflegt cs still zu sein;
man hört nur leises Beten bei Kreuz und Lcicheristein;
zu Döffingen war's anders; dort scholl den ganzen Tag
der feste Kirchhof wieder von Kampflust Stoß und Schlag.
2. Die Städter sind gekommen, der Bauer hat sein Gut
zum festen Ort geflüchtet und hält's in tapfrer Hut;
mit Spieß und Karst und Sense treibt er den Angriff ab;
wer tot zu Boden sinket, hat hier nicht weit ins Grab.
3. Graf Eberhard der Greiner vernahm der Seinen Not;
schon kommt er angezogen mit starkem Aufgebot,
schon ist um ihn versammelt der besten Rilter Kern,
vom edlen Löwenbunde die Grafen und die Herrn.
4. Da kommt ein rcis'gcr Bote vom Wolf von Wunnenstcin:
„Mein Herr mit seinem Banner will Euch zu Dienste sein!"
Der stolze Graf entgegnet: „Ich hab' sein nicht begehrt!
Er hat umsonst die Münze, die ich ihm einst verehrt!"
13*
1 *70
15. Graf Eberhard der Rauschebart.
5. Bald sieht Herr Ulrich drüben der Städter Scharen stehn,
von Reutlingen, von Augsburg, von Ulm die Banner wehn;
da brennt ihn feine Narbe, da gärt der alte Groll:
„Ich weiß, ihr Übermnt'gen, wovon der Kamm euch schwoll!"
6. Er sprengt zu seinem Vater: „Heut zahl' ich alte Schuld!"
Will's Gott, erwerb' ich wieder die väterliche Huld!
Nicht darf ich mit dir speisen auf einem Tuch, du Held!
Doch darf ich mit dir schlagen auf einem Llut'gen Feld!"
7. Sie steigen von den Gäulen, die Herrn vom Löwenbund,
sie stürzen auf die Feinde, thun sich als Löwen kund.
Hei, wie der Löwe Ulrich so grimmig tobt und würgt!
Er will die Schuld bezahlen, er hat sein Wort verbürgt.
8. Wen trägt man aus dem Kampfe dort auf den Eichenstumpf?
„Gott sei mir Sünder gnädig!" — er stöhnt's, er röchelt's dumpf.
O königliche Eiche, dich hat der Blitz zerspellt!
O Ulrich, tapfrer Ritter, dich hat das Schwert gefällt!
9. Da ruft der alte Recke, den nichts erschüttern kann:
„Erschreckt nicht! Der gefallen, ist wie ein andrer Mann!
Schlagt drein! Die Feinde fliehen!" — Er ruft's mit Donnerlaut.
Wie rauscht sein Bart im Winde! Hei, wie der Eber haut!
10. Die Städter han vernommen das seltsam list'ge Wort.
„Wer flieht?" so fragen alle; schon wankt es hier und dort.
Das Wort hat sie ergriffen gleich einem Zauberlied;
der Graf und seine Ritter durchbrechen Glied aus Glied.
11. Was gleißt und glänzt da droben und zuckt wie Wetterschein?
Das ist mit seinen Reitern der Wolf von Wunnenstein.
Er wirft sich auf die Städter, er sprengt sich weite Bucht,
da ist der Sieg entschieden, der Feind in wilder Flucht.
12. Im Erntemond geschah es, bei Gott, ein heißer Tag!
Was da der edlen Garben auf allen Feldern lag!
Wie auch so mancher Schnitter die Arme sinken läßt!
Wohl halten diese Ritter ein blutig Sichelfest.
13. Noch lange traf der Bauer, der hinterm Pfluge ging,
auf rost'ge Degenklingen, Speereisen, Panzerring';
und als man eine Linde zersägt und niederstreckt,
zeigt sich darin ein Harnisch und ein Geripp' versteckt. —
14. Als nun die Schlacht geschlagen und Sieg geblasen war,
da reicht der alte Greiner dem Wolf die Rechte dar:
„Hab' Dank, du tapfrer Degen, und reit mit mir nach Haus,
daß wir uns gütlich Pflegen nach diesem harten Strauß!"
16. Johann Huß und die Hussiten.
197
15. „Hei!" spricht der Wolf mit Lachen, „gefiel Euch dieser Schwank?
Ich stritt aus Haß der Städte und nicht um Euren Dank!
Gut' Nacht und Glück zur Reise! Es steht im alten Recht!"
Er spricht's und jagt von dannen mit Ritter und mit Knecht. —
16. Zu Döffingen im Dorfe, da hat der Graf die Nacht
bei seines Ulrichs Leiche, des einz'gen Sohns, verbracht.
Er kniet zur Bahre nieder, verhüllet sein Gesicht,
ob er vielleicht im stillen geweint, man weiß es nicht.
17. DeS Morgens mit dem frühsten steigt Eberhard zu Roß,
gen Stuttgart fährt er wieder mit seinem reis'gen Troß.
Da kommt des Wegs gelaufen der Zuffenhauser Hirt';
„Dem Mann ist's trüb' zu Mute! was der uns bringen wird!"
18. „Ich bring' Euch böse Kunde! Rächt ist in unsern Trieb
der gleißend' Wolf gefallen! Er nahm, so viel ihm lieb."
Da lacht der alte Greiner in seinen grauen Bart:
„Das Wölflein holt sich Kochfleisch, das ist des Wölfleins Art!"
19. Sie reiten rüstig fürder, sie sehn aus grünem Thal
das Schloß von Stuttgart ragen, es glänzt im Morgenstrahl.
Da kommt des Wegs geritten ein schmucker Edelknecht;
„Der Knab' will mich bedünken, als ob er Gutes brächt!"
20. „Ich bring' Euch frohe Märe! Glück zum Urenkelein!
Antonia hat geboren ein Knäblein hold und fein."
Da hebt er hoch die Hände, der ritterliche Greis:
„Der Fink hat wieder Samen; dem Herrn sei Dank und Preis!"
Uhland.
16. Johann Huß und die Hussiten.
Johann Huß, zu Hussinez in Böhmen geboren, war seit 1398
Professor an der Universität zu Prag, Prediger in der Kapelle Bethlehem
und Beichtvater der Königin. Er war nicht ohne Talent und von
äußerlich strengem Lebenswandel. Schon längst hatte er sich als
eifriger Lehrer großen Ruf erworben, auch war er wegen seiner
Predigten sehr beliebt. Denn er berührte in denselben mit Frei-
mütigkeit solche Gegenstände, auf welche gerade damals alles gespannt
war, nämlich die Verbesserung der Kirche an Haupt und Gliedern. Bald
aber äußerte er auch solche Grundsätze und trug solche Lehren vor,
welche mit den Glaubenslehren der Kirche ganz und gar nicht überein-
stimmten, und die er größtenteils aus den Schriften des Johann
Will es, eines englischen Gottesgelehrten und Pfarrers, der um
198
16. Johann Huß und die Hussiten.
1360 feindlich gegen die Kirche aufgetreten war, geschöpft hatte.
Seine Hauptlehren waren folgende: Christus habe kein sichtbares
Oberhaupt in seiner Kirche eingesetzt, man brauche also keinen Papst;
die Lehre der katholischen Kirche vom Abendmahl sei falsch; man dürfe
keinem Vorgesetzten, weder geistlichen noch weltlichen, Gehorsam leisten,
wenn derselbe eine Todsünde auf sich
habe. Besonders dieser letzte Irrtum
ist gefährlich, weil damit jede bürger-
liche und kirchliche Ordnung aufhört.
Huß wurde zur Verantwortung nach
Rom geladen, erschien aber nicht.
Darauf rief ihn die allgemeine
Kirchenversammlung zu Kostnitz oder
Konstanz 1414 vor ihren Richterstuhl.
Er beschloß jetzt, sich dort zn stellen,
verlangte aber zuvor vom Kaiser
Sigismund einen Geleitsbrief. Ein
solcher, der ihm Schutz und Sicher-
heit vor jedem ungerechten Angriffe
auf der Hin- und Herreise versprach,
ward ihm auch vom Kaiser aus-
gestellt. Nun zog er frohen Mutes
nach Kostnitz. Der anwesende Papst
zeigte sich hier gegen ihn höchst gütig und nachsichtsvoll. Er ver-
sicherte ihn seines Schutzes und hob sogar den Bann auf, in
welchen er gethan war. Nichtsdestoweniger verbreitete Huß in Kostnitz
selbst, fast unter den Augen der Väter, aufs eifrigste seine Lehre,
und die Gärung wuchs zusehends. Um solchem Unwesen zu steuern,
ward es für nötig erachtet, ihn des kaiserlichen Geleitsbriefes ungeachtet
vorläufig in Gewahrsam zu nehmen, bis seine Sache vom Konzil
entschieden sei. Man behandelte ihn aber nicht wie einen Gefangenen,
man wollte nur verhüten, daß Huß keine Versammlungen mehr abhalte
und unter den Augen des Konzils Irrlehren vortrage. Der Kaiser
beschwerte sich über die Verletzung des Geleitbriefes, allein die ver-
sammelten Väter bedeuteten ihm: sein kaiserliches Wort dürfe dem
katholischen Glauben nicht zum Nachteile gereichen und den geistlichen
Richter nicht hindern, sein Amt zu verwalten; auch mache sich einer,
der ungeachtet aller Verwarnung noch fortwährend den Glauben
anfeinde nnd die öffentliche Ruhe gefährde, der Freiheit selber
verlustig.
Bald darauf wurde Huß aus seinem Gewahrsam vor die Ver-
sammlung geführt. Die Väter erklärten seine Lehre für ketzerisch und
16. Johann Huß und die Hussiten.
199
forderten ihn wiederholt zum Widerrufe auf; allein Huß weigerte sich
standhaft. Da wurde er seiner Priesterwürde entsetzt und nun der
weltlichen Obrigkeit überantwortet. Ketzerei galt damals bei dem engen
Zusammenhange des Staates mit der Kirche auch für ein Staats-
verbrechen, weil alles, was die Ruhe und den Frieden der Kirche
störe, auch den Bestand der bürgerlichen Ordnung, ja des Staates
selbst bedrohe. Die Staatsgesetze jener Zeit verhängten aber die
Strafe des Feuertodes über unverbesserliche Jrrlehrer, und diese Strafe
ward nun von der Obrigkeit, nicht also von der Kirche, an Huß
vollzogen. Es wurde vor dem Thore ein Scheiterhaufen errichtet,
und der Verurteilte gefesselt dahin geführt. Ruhig und standhaft,
unter einem gewaltigen Zulaufe der Volksmenge, näherte er sich
betend dem Richtplatze. Schon hatte er den Holzstoß bestiegen,
schon war er an den Pfahl gebunden und mit Stroh umlegt, da
bot ihm der Pfalzgraf noch einmal Rettung an, wenn er wider-
rufen wollte. Allein auch inmitten der Schrecknisse des nahen
Todes blieb er bei seiner Weigerung. Da endlich wurde der Holz-
stoß angezündet, und Huß lebendig verbrannt (14! 5). Ein
gleiches Urteil wurde im folgenden Jahre in derselben Stadt an
Hieronymus von Prag, Hußens Freund und Anhänger,
vollzogen.
Die Nachricht von dem schrecklichen Untergange dieser beiden
Männer erregte bei den Böhmen erst Bestürzung und Trauer, dann
furchtbaren Aufruhr. Jetzt hielten sie um so fester an Hußens Lehre
und erweiterten sie noch.
Jakob von Mieß, ein eifriger Prediger, lehrte, daß auch den
Nichtgeistlichen der Kelch bei dem heiligen Abendmahl gereicht werden
müsse. Sie zogen zu Tausenden im Lande umher und verübten
schreckliche Greuel. In Prag stürmten sie das Rathaus und warfen
13 Ratsherren zum Fenster hinaus, die dann das ergrimmte Volk
tötete. Ein gewisser Ziska war ihr Anführer; er trug statt des
Schwertes eine Keule, mit der er viele Priester erschlug. Auch über
die Grenzen Böhmens drangen die wilden Horden hinaus und ver-
wüsteten die Nachbarländer. Vergebens suchten der Kaiser und die
deutschen Fürsten die Aufrührer zu unterwerfen. Erst nachdem sie
unter sich uneins geworden waren, wurde im Jahre 1436 die Ruhe
in Böhmen wieder hergestellt. Viele Klöster und Kirchen lagen
zerstört, viel Menschenblut war vergossen und Böhmen schrecklich ver-
wüstet worden.
Solch traurige Folgen hatten die von Huß verbreiteten Irrlehren.
200
17. AuS der Jungfrau von Orleans.
17. *Aus der Jungfrau von Orleans.*)
(1429.)
1. Johannas Abschied von der Heimat.
Lebt wohl, ihr Berge, ihr geliebten Triften,
ihr traulich stillen Thäler, lebet wohl!
Johanna wird nun nicht mehr auf euch wandeln,
Johanna sagt euch ewig Lebewohl.
Ihr Wiesen, die ich wässerte, ihr Bäume,
vie ich gepstanzet, grünet fröhlich fort!
Lebt wohl, ihr Grotten und ihr kühlen Brunnen,
du Echo, holde Stimme dieses Thals,
die oft mir Antwort gab auf meine Lieder!
Johanna geht und nimmer kehrt sie wieder.
Ihr Plätze alle meiner stillen Freuden,
euch laß ich hinter mir auf immerdar!
Zerstreuet euch, ihr Lämmer, auf der Heiden!
Ihr seid jetzt eine hirtenlose Schar;
denn eine andre Herde muß ich weiden
dort auf dem blut'gen Felde der Gefahr.
So ist des Geistes Ruf an mich ergangen;
mich treibt nicht eitles, irdisches Verlangen.
Denn der zu Mosen auf des Horebs Höhen
im feur'gen Busch sich flammend niederließ
und ihm befahl, vor Pharao zu stehen,
der einst den frommen Knaben Jsais,
den Hirten, sich zum Streite ausersehen,
der stets den Hirten gnädig sich bewies,
er sprach zu mir aus dieses Baumes Zweigen:
„Geh hin! Du sollst auf Erden für mich zeugen.
In rauhes Erz sollst du die Glieder schnüren,
mit Stahl bedecken deine zarte Brust;
nicht Männerliebe darf dein Herz berühren
mit sündigen Flammen eitler Erdenlust.
Nie wird der Brautkranz deine Locken zieren,
dir blüht kein lieblich Kind an deiner Brust;
doch werd' ich dich mit kriegerischen Ehren,
vor allen Erdensrauen dich verklären.
Denn wenn im Kampf die Mutigsten verzagen,
wenn Frankreichs letztes Schicksal nun sich naht,
dann wirst du meine Oriflamme tragen
und, wie die, rasche Schnitterin die Saat,
den stolzen Überwinder niederschlagen.
Umwälzen wirst du seines Glückes Rad,
Errettung bringen Frankreichs Heldensöhnen
und Reims befrei'n und deinen König krönen!"
°j spr. Orleang.
17. Aus der Jungfrau von Orleans.
201
Ein Zeichen hat der Himmel mir verheißen;
er sendet mir den Helm, er kommt von ihm;
mit Götterkraft berühret mich sein Eisen,
und mich durchslammt der Mut der Cherubim;
ins Kriegsgewühl hinein will es mich reißen;
es treibt mich fort mit Sturmes Ungestüm;
den Feldruf hör' ich mächtig zu mir dringen,
das Schlachtroß steigt, und die Trompeten klingen.
2. Johanna vor König Karl.
(Zum Erzbischof gewandt.)
Ehrwürd'ger Herr, Johanna nennt man mich.
Ich bin nur eines Hirten nied're Tochter,
aus meines Königs Flecken Dom Remi,
der in dem Kirchensprengel liegt von Toul,*)
und hütete die Schafe meines Vaters
von Kind auf. — Und ich hörte viel und oft
erzählen von dem fremden Jnselvolk,
das über Meer gekommen, uns zu Knechten
zu machen und den fremdgebornen Herrn
uns aufzuzwingen, der das Volk nicht liebt,
und daß sie schon die große Stadt Paris
inn' hätten und des Reiches sich ermächtigt. j
Da rief ich flehend Gottes Mutter an,
von uns zu wenden fremder Ketten Schmach,
uns den einheim'schen König zu bewahren.
Und vor dem Dorf, wo ich geboren, steht
ein uralt Muttergottesbild, zu dem
der frommen Pilgerfahrten viel geschah»,
und eine heil'ge Eiche steht daneben,
durch vieler Wunder Segenskraft berühmt.
Und in der Eiche Schatten saß ich gern,
die Herde weidend, denn mich zog das Herz;
und ging ein Lamm mir in den wüsten Bergen
verloren, immer zeigte mir's der Traum,
wenn ich im Schatten dieser Eiche schlief.
Und einstmals, als ich eine lange Nacht
frommer Andacht unter diesem Baum
gesesien und dem Schlafe widerstand,
da trat die Heilige zu mir, ein Schwert
und Fahne tragend, aber sonst, wie ich,
als Schäferin gekleidet, und sie sprach zu mir:
,,Jch bin's. Steh auf, Johanna! Laß die Herde!
Dich ruft der Herr zu einem anderen Geschäft!
*) spr. Tuhl.
202
18. Erfindung der Uhren.
Nimm diese Fahne! Dieses Schwert umgürte dir!
Damit vertilge meines Volkes Feinde,
und führe deines Herren Sohn nach Reims,
und krön' ihn mit der königlichen Krone!"
Ich aber sprach: „Wie kann ich solcher That
mich unterwinden, eine zarte Magd,
unkundig des verderblichen Gefechts!"
Und sie versetzte: „Eine reine Jungfrau
vollbringt jedwedes Herrliche auf Erden,
wenn sie der ird'schen Liebe widersteht.
Sieh mich an! Eine keusche Magd, wie du,
hab' ich den Herrn, den göttlichen, geboren,
und göttlich bin ich selbst." — Und sie berührte
mein Augenlid, und als ich aufwärts sah,
da war der Himmel voll von Engelknaben,
die trugen weiße Lilien in der Hand,
und süßer Ton verschwebte in den Lüften.
— Und so drei Nächte nach einander ließ
die Heilige sich sehn und rief: „Steh auf, Johanna;
dich ruft der Herr zu einem anderen Geschäft."
Und als sie in der dritten Nacht erschien,
da zürnte sie, und scheltend sprach sie dieses Wort:
„Gehorsam ist des Weibes Pflicht auf Erden,
das harte Dulden ist ihr schweres Los;
durch strengen Dienst muß sie geläutert werden;
die hier gedienet, ist dort oben groß."
Und also sprechend, ließ sie das Gewand
der Hirtin fallen, und als Königin
der Himmel stand sie da im Glanz der Sonnen,
und goldne Wolken trugen sie hinauf,
langsam verschwindend, in das Land der Wonnen. Schiller.
18. Erfindung der Uhren.
Man kann die Stunden des Tages durch Anschauen des Himmelsgewölbes
oder aus dem Schatten erkennen, welchen ^die Gegenstände auf die Erde werfen.
Die Menschen, welche ihr Leben unter freiem Himmel zubringen, wie die
Hirten und Ackerleute, sind darin geübt. Doch hat man schon von alters
her besondere Vorrichtungen gehabt, welche die Zeit anzeigen. Sie heißen
Uhren. Bei Griechen und Römern waren die Sonnenuhren im Gebrauch.
Später kamen die Wasser- und Sanduhren auf. Bei ihnen wird durch das
stets gleichmäßige Abfließen des Wägers oder des Sandes die Zeit in gleiche
Abschnitte geteilt. Geistreiche Männer erfanden ferner Maschinen, welche
durch Wasser oder Luft in Bewegung gesetzt wurden und die Einteilung der
Zeit ziemlich genau anzeigten. Solche Maschinen waren jedoch nur Selten-
heilen und nutzten nur einigen. Die Einführung der Turmuhren war dahe*
eine wirkliche Wohlthat. Die erste, welche nach Europa kam, war die, welche
der Kalif Harun-al-Raschid Karl dem Großen als Geschenk sandte. 3>"
dreizehnten Jahrhundert waren die öffentlichen Turmuhren, in Italien und
19. Die Entdeckungsfahrten der Portugiesen.
203
England besonders, schon sehr verbreitet. Deutsche Künstler vervollkommneten
diese nützliche Erfindung und fügten noch merkwürdige Veränderungen bei, wie
z. B. die Bezeichnung des Laufes der Gestirne, der Festtage des Kalenders,
Glockenspiele u. s. w. Drei deutsche Uhrmacher verfertigten die berühmte Uhr
ün Straßburger Münster. Man sah an derselben die Bewegung der
Himmelskörper, unter anderen die der Planeten im Tierkreise; sieben Figuren
erschienen nacheinander als die sieben Tage der Woche. Einige Engel, Löwen
und ein Hahn schienen sich zu beleben, wenn die Uhr schlug. Vier Figuren,
wclche die vier Lebensalter vorstellten, zeigten die Viertelstunden an, und nach
ihnen erschien das Bild des Todes, der die abgelaufene Stunde anschlug.
Andere seltsame Uhren von sehr bedeutendem Umfange wurden in Nürn-
berg und Augsburg verfertigt; sie sind zum Teil noch heute an den Kirchen
und Rathäusern alter deutscher Städte zu sehen. Im Laufe der Zeit hat man
mehr darauf Bedacht genommen, kleine und doch recht genaue Uhren zu verfer-
tigen. Man brachte es dahin, sie tragbar zu machen. Aber es wurden erst
Taschenuhren angefertigt, nachdem die Spiralfeder erfunden war, die das
Räderwerk in Bewegung setzt. Man kennt nicht den Urheber dieser Erfindung.
Peter Hele in Nürnberg war wenigstens einer der ersten, welche davon
Gebrauch machten. Grubc.
19. Die' Entdeckungsfahrten der Portugiesen.
1- Der Handel mit dem Morgenlande. Seit den Kreuz-
zügen waren die Völker Europas wieder in lebhaften Verkehr mit dem
Morgenlande getreten. Vorzüglich betrieben die Seestädte Italiens,
Venedig und Genua, mit den kostbaren Erzeugnissen Indiens einen
höchst gewinnreichen Handel. Die Waren wurden durch die Araber nach
Syrien und Ägypten gebracht, dort von den italienischen Kaufleuten
abgeholt und um hohe Preise durch ganz Europa verkauft. Wie viel vor-
teilhafter wäre es gewesen, wenn man aus Europa ganz zur See hätte
nach Indien gelangen und so mit dem reichen Lande unmittelbar Handel
treiben können! Allein der Seeweg um Afrika war damals noch nicht
bekannt; man wußte gar nicht, wie weit sich dieser Erdteil nach Süden
hin erstreckte. Ja man hielt eine Umschisfung Afrikas für ganz unmöglich.
,.Unter dem Äquator," erzählte man, „ist die Hitze so furchtbar, daß das
Meer kocht und jedes Schiff in Brand gerät. An anderen Stellen ist
das Meerwasser ein dicker Schlamm, in welchem kein Schiff mehr vorwärts
kann, dazu voll grimmiger Tiere, die mit ihren riesigen Rücken alle
Fahrzeuge in die Luft schleudern und zerschmettern." Solche Märchen
schreckten lange von allen Versuchen ab.
2. Bartholomäus Diaz,*) 1436. Da faßte endlich der Sohn
eines Königs von Portugal, Prinz Heinrich, genannt der Seefahrer,
den Entschluß, die Westküste Afrikas genauer zu erforschen. Er wußte
*) spr. Dias.
204
20. SegenSvolleS Wirken der katholischen Kirche im Mittelalter.
auch anderen Mut einzuflößen, und so begannen unter seiner Leitung
Entdeckungsfahrten, welche bald schöne Erfolge hatten. Die fruchtbare
Insel Madeira, wo jetzt der köstliche Wein wächst, und die kanarischen
Inseln, das Vaterland der niedlichen Kanarienvögel, wurden aufgefunden
und die Küste Afrikas mehr und mehr nach Süden zu aufgeschlossen.
Das erhöhte den Eifer; man fürchtete schon nicht mehr die Sonnenglut
der Äquatorgegend, und einige Zeit nach dem Tode des Prinzen Heinrich
gelang es dem kühnen Seefahrer Bartholomäus Diaz, die Südspitze
Afrikas zu erreichen. Er nannte sie das Vorgebirge der Stürme; denn
schreckliche Stürme wüteten, als er diese Küste erblickte. Sobald aber
der König die Nachricht von dieser glücklichen Entdeckung erhielt, rief er
freudig aus: „Nein, sie heiße das Vorgebirge der guten Hoffnung;
denn jetzt ist ja die Hoffnung vorhanden, daß wir bald auch nach Indien
kommen werden."
3. Vasko de Gama, 1498. Und diese Hoffnung ging zwölf
Jahre später in Erfüllung. Da umsegelte der mutvolle Vasko de
Gama das Vorgebirge der guten Hoffnung, fuhr dann an der Osiküste
von Afrika hinauf, endlich 500 Meilen quer über den Ozean und gelangte
so, beinahe ein Jahr nach seiner Abfahrt, nach dem Hafen Kalikut in
Indien. So war der lange gesuchte Seeweg geöffnet, so war das
gepriesene Land der köstlichen Spezereien und Gewürze endlich erreicht.
Vasko de Gama brachte die Kunde von der wohlgelungenen Entdeckungs-
fahrt nach Portugal zurück und wurde wegen seiner Verdienste hoch geehrt.
Die Portugiesen aber trieben von nun an einen blühenden Handel mit
Ostindien, und ihre Hauptstadt Lissabon war längere Zeit der erste
Handelsplatz der Welt. A»drar.
20. Segensvolles Wirken der katholischen Kirche im Mittelalter.
Ä.m Schluffe der Geschichte des Mittelalters ziemt sich ein
Rückblick auf die segensvolle Wirksamkeit der katholischen Kirche und
eine kurze Zusammenfassung ihrer Verdienste während dieses langen
und wichtigen Zeitraums.
Die Kirche hatte am Ende des Mittelalters ganz Europa mit den
Segnungen des Christentums beglückt, aus Wilden Menschen, und aus
Menschen Christen gebildet. Eine überaus schwere Ausgabe, allen alles
zu werden, umzuwandeln, neu zu schaffen, der verschiedensten Völker
Charakter zu erfassen und weise zu behandeln, Schwaches zu kräftigen,
Unbändiges zu zügeln, Gutes zu pflegen, Böses zu tilgen, gegen Wahn,
Irrglauben und Aberglauben sowie gegen menschliche Leidenschaften
siegreich zu kämpfen und die verschiedenartigsten Nationen so wie die
verschiedenen oft einander feindseligen Stämme desselben Landes durch
das Band des nämlichen Glaubens zu vereinigen! Diese schwere Auf-
gabe hat die Kirche gelöset. Wenn auch in der Geschichte dieses langen
Zeitraumes viele blutige und verabscheuenswerte Thaten vorkommen,
20. Segensvolles Wirken der katholischen Kirche im Mittelalter.
205
so wolle man nicht vergessen, daß die Menschen, welche Freiheit vom
Schöpfer empfangen haben, dieselbe freilich auch zum Bösen mißbrauchen
können, und daß die Neubekehrten nicht alle gleich vom Geiste des
Christentums ganz durchdrungen waren und einer um so längeren
Erziehung Vonseiten der Kirche bedurften, je mehr heidnische und böse
Einflüsse sich noch geltend machten. Aber sehr vieles Erfreuliche ist
doch zu erzählen. Eine unzählige Schar von Heiligen aus allen
Ständen hat der Kirche des Mittelalters zu jeder Zeit angehört. Wie
nun die katholische Kirche Wilde, die oft im tierischen Zustande lebten,
zu Menschen, Christen und Heiligen gemacht hat, so sind auch durch
ihren Einfluß und meist durch die Hände ihrer Diener Sümpfe, Wüsten
und Wälder in schöne, fruchtbare Gegenden umgeschaffen. — Sie allein
hat sich der Erziehung und Bildung der Menschheit angenommen; sie
allein hat Wissenschaften und Künste gepflegt und begünstigt. Die
Kirche hat Schulen und Universitäten gestiftet oder die Stiftung der-
selben veranlaßt und diese Anstalten geschützt und gepflegt. In den
Klöstern ist aufbewahrt und sorgsam abgeschrieben, was wir noch von
den trefflichen Schriftstellern des Altertums besitzen, und zu keiner Zeit
ist dort das Licht der Gelehrsamkeit ganz erloschen, ob es auch zu-
weilen heller, zuweilen weniger leuchtete. — Gegen die Dome des
Mittelalters, die auf Anregung der Kirche sich erhoben und jetzt nach
Jahrhunderten in alter Pracht und Festigkeit dastehen, sind unsere
Bauten nur Zwerge, nur Hügel neben Gebirgen. In den Kirchen
ertönten Hymnen, die wir noch stets wegen ihrer Erhabenheit und
Innigkeit, wegen ihrer Kraft und Zartheit, wegen ihres Wohlklanges
und ihrer wahren Andacht bewundern. Die Kirche hat die Muhamedaner
von den europäischen Ländern möglichst fern gehalten, indem sie die
christlichen Völker zu den Kreuzzügen entflammte. Sie ist stets als
Mutter der Armen und Unglücklichen aller Art aufgetreten. Viele
Orden hatten nur den Zweck, geistiges und leibliches Elend zu heben
oder doch zu lindern. Die großartigsten Anstalten, Waisenhäuser,
Armenhäuser, Hospitäler, Häuser für Aussätzige, hilflose Greise und
arme Reisende, sind im Mittelalter durch Anregung und meist aus dem
Gelde der Kirche entstanden. Die schönsten und reichsten Stiftungen
fallen in diese Zeit. — Die Kirche, mit dem Papste an der Spitze,
hat stets gegen Mißbräuche und Laster jener Zeit geeifert, dem Wucher
gesteuert, den vermessenen Gottesurteilen und den oft blutigen Turnieren
mit Kraft sich entgegen gesetzt, das Faustrecht durch den Gottesfrieden
gemäßigt, den Zweikampf, den Menschenhandel, Straßen- und Seeraub
und die Ausübung des Strandrechts wie der Blutrache mit geistlichen
Strafen belegt, die Wut der Leidenschaften hat sie gebrochen und den
Frieden zwischen entzweiten Gemütern vermittelt. Die Kirche hat die
Leibeigenschaft weniger drückend gemacht, die Geistlichen selbst waren
wilde Herren, so daß es zum Sprichworte geworden ist: „Unter dem
Krummstab ist gut wohnen;" und durch begeisterte Predigten von
christlicher Liebe und durch manche Anordnungen haben sie auch anderen
206
21a. Maximilian I.
Ständen dieselbe Gesinnung eingeflößt. Und nicht nur erleichtert hat
die Kirche den Zustand der Leibeigenen, sondern vielen auch volle
Freiheit verschafft. Sie hat die Freilassung derselben für ein verdienst-
liches, gottgefälliges Werk erklärt, und wenn diese Freiheit „zum Heil-
mittel der Seele oder aus Liebe zu Gott" (wie die Urkunden aussagen)
erteilt worden war, so wurde sie unter kirchlichen Zeremonieen vollzogen.
„Die ehrwürdigsten Geistlichen" — sagt der Protestant Raumer —
„und die größten Päpste erklärten sich so bestimmt gegen Leibeigen-
schaft und Druck der Bauern und gingen mit löblichem Beispiele der
Linderung und Freilassung so oft voran, daß man der Kirche nochmals
in dieser Beziehung das vorteilhafteste Zeugnis geben muß." Die
Päpste haben sich öfter der unterdrückten Unschuld angenommen, selbst
wenn Große und Mächtige der Erde die Unterdrücker waren. Sie
haben vor allem die Heiligkeit und Unverletzbarkeit der Ehe, dieser
festesten Stütze des Familien- und Völkerglücks, beschützt, wie sehr sich
ihnen die Leidenschaftlichkeit auch entgegensetzen mochte.
Ewig wahr bleiben die Worte des protestantischen Dichters Herder,
der in folgenden schönen Versen die Verdienste der Kirche feiert:
„Die freche, starre Geißel Gottes ward
ums heil'ge Kreuz gewunden. Billigkeit
und Milde trat im schlichten Mönchsgewand,
im Waldeskittel wie im Priesterschmuck
hin vor den Thron, und ins Gewühl der Schlacht,
trat zwischen die Zweikämpfer, in den Rat
der Ritter, und ins Haus, und Brautgemach,
versöhnend, schlichtend, sanftverständigend.
Dem Knecht entfiel die Kette. Menschenkauf
und Menschendiebstahl traf des Bannes Fluch. —
Wie Tempel und Altar, so ward auch Herd
und Eh' befriediget. Gedrückte wallten
zur Stätte des Erbarmens. Hungernde,
Verfolgte, Kranke flohn zum heil'gen Raum,
erflehend Gottes Frieden, der am Bett
der Sterbenden, in Aufruhr, Pest und Not,
erquickte, linderte, beruhigte." Aniitgarn.
21a. Maximilian I.
Jur Zeit der Entdeckung Amerikas (1492) regierte in Deutschland
Kaiser Maximilian, aus dem Hause Habsburg. Die Kriegskunst
verdankt ihm viele Verbesserungen; er führte in Österreich zuerst stehende
Truppen unter dem Namen „Landsknechte" ein. Das Faustrecht wurde
von ihn: mit starker Hand bewältigt, und zahlreiche von ihm verordnete
21 a. Maximilian I.
207
Einrichtungen förderten Handel und Verkehr. So schuf er im Jahre
1516 die erste Postverbindung im deutschen Reiche zwischen Wien und
Brüssel.
Unter Maximilian gelangte das Haus Habsburg durch großen
Ländererwerb zu außerordentlicher Macht.
Maximilian erinnerte durch hohen ritterlichen Sinn, durch hellen
Blick, durch seine Gestalt, ja selbst durch seine Gesichtsbildung an seinen
Ahnherrn, Rudolph I.; durch Leutseligkeit und heitere Scherzreden er-
warb er sich, wie jener, die Liebe aller Stände; an Feinheit der Sitten
war er seinem Zeitalter weit voraus.
Auf fremdes Lob war er nicht neidisch, und Tadel ertrug er ge-
lassen. Als man ihm den König von Frankreich anrühmte, der bei seinen
Unterthanen den unbedingtesten Gehorsam fände, während der deutsche Kaiser
immerdar mit der Widerspenstigkeit der Reichsstände zu kämpfen habe, er-
widerte er: „Der König von Frankreich ist ein König der Esel; denn was
er seinen Vasallen auferlegt, das müssen sie thun. — Der König von
England ein König der Männer; denn was er seinen Vasallen aufträgt,
das thun sie und haben ihren König dabei lieb; — ich selbst aber bin ein
König der Könige; denn was ich den deutschen Fürsten aufgebe, das thun
sie, wenn es ihnen gefällt." Über Schmähschriften, in denen man ihn
zu kränken suchte, äußerte er: „Dergleichen Schmählieder, sind eben so
schnell wieder vergessen, als sie aufkommen; keins dauert so lange wie
das Lied: „Christ ist erstanden", welches schon 1500 Jahre gesungen
wird." — Als ein Witzling, um Maxens Forschungen über das Alter
des Hauses Österreich lächerlich zu machen, die Reime an die Wand
schrieb: „Da Adam hackt' und Eva spann, wer war denn da ein Edel-
mann?" schrieb er gelassen darunter: Ich bin ein Mann, wie ein anderer
Mann, nur daß mir Gott die Ehre gann."
So wenig man sich in seiner Jugend von ihm versprach, da er erst
im fünften Jahre deutlich sprechen lernte, so gewaltig entwickelte sich
später sein Geist und vor allem seine-Wißbegierde. Er sprach das La-
teinische, Französische und Italienische mit Fertigkeit, uud er war nicht
nur ein Freund und Beschützer der Künste, sondern er übte sie selbst.
Keine Anstrengung scheuend, gab er seinem Körper außerordentliche Ge-
wandtheit und Stärke. In unzähligen Gefahren auf der Jagd und im
Kriege, zu Wasser und zu Lande, bewährte er seinen Mut und seine Geistes-
gegenwart; in Tirol zeigte er sich als der kühnste Gemsenjäger. Von
seiner Gewandtheit im Gebrauch der ritterlichen Waffen gab er namentlich
auf dem Reichstage zu Worms (1495) ein glänzendes Beispiel. Ein
übermütiger französischer Ritter forderte nämlich die Deutschen zum Zwei-
208
21b. Joachim I.
kämpf heraus. Als niemand den Streit wagen wollte, ritt der Kaiser
selbst in die Schranken und warf den Prahler aus dem Sattel.
Eine furchtbare Macht, die der Türken, bedrohte Maximilians Reich
am Abende seines Lebens.
Auf dem Reichstage zu Augsburg 1518 rief der Kaiser die ge-
samten Reichsfürsten zur Hilfe auf; seine Mahnung fand jedoch kein
Gehör. Krank und unbefriedigt verließ er sein geliebtes Augsburg und
ging nach Tirol. Auf seiner Weiterreise nach Österreich ereilte ihn der
Tod am 12. Januar 1519, im 60. Lebensjahre.
Seinem letzten Willen gemäß wurde er in einen Sarg gelegt, den
er schon feit mehreren Jahren als Mahnungszeichen an den Tod mit
sich führte. Nie-esgcsäp.
21b. Joachim I.
Joachim war ein fünfzehnjähriger Jüngling, als er im Jahre 1499
die Regierung der Kurmark Brandenburg antrat. Viele im Volke
waren zweifelhaft, ob der junge Fürst auch kräftig genug sei, so segens-
reich zu regieren wie seine Vorfahren. Einzelne Ritter glaubten unter
einem so jungen Fürsten das früher gewöhnte Räuberhandwerk wieder
treiben zu können, und viele Schlechte im Volke schlossen sich ihnen an.
Bald wurden die Landstraßen unsicher; selbst in der Nähe der Hauptstadt
Berlin raubten und plünderten die Wegelagerer. Als der Kurfürst
hiervon Kunde erhielt, ergrimmte er, und als man einen der Räuber ein-
gefangen hatte, ließ ihn der Fürst ohne Gnade hinrichten. Ein frecher
Edelmann schrieb zwar an die Thür von Joachims Schlafgemach:
„Jochimken, Jochimken, hüte dich! wo wir dich kriegen, henken wir dich";
aber der Kurfürst entging glücklich ihren Nachstellungen. Nun Verführ-
er mit aller Strenge gegen die Räuber, und jeder gefangene Raubritter
mußte seine Schandthaten mit dem Tode büßen. Im ganzen Laude freute
mau sich. Nach und nach bändigte Joachim die Ruhestörer gänzlich.
Er errichtete das Kammergericht zu Berlin, dem alle Gerichte des
Landes untergeordnet waren. An dieses konnte sich jeder Unterthan wenden,
welcher glaubte, daß das gewöhnliche Gericht ihm nicht zu seinem guten
Rechte verholfen habe. Aber dem Urteilsspruche des Kammergerichts
mußte man sich unterwerfen. Der Wahlspruch Joachims war: „Durch
Gericht und Gerechtigkeit!" So brachte er Ruhe und Ordnung ins
Land, und sicher wohnte der Unterthan auf seinem Besitztum. Ihm ver-
dankt das Land noch andere heilsame Einrichtungen. Er führte gleiches
Maß und Gewicht im Lande ein und steuerte dem unnötigen Aufwande
und der Schwelgerei durch strenge Gesetze.
22. Der Pilgrim von St. Just. 23. DeutschesStadtleben im Anfange des 17. Jahrh. 209
Unter der Regierung Joachims nahm in Sachsen die Kirchen-
spaltung ihren Anfang. Joachim hielt am katholischen Glauben fest und
trat der neuen Lehre kräftig entgegen^ indem er von seinen Unterthanen
forderte, bei der bestehenden Lehre zu bleiben. Er starb im Jahre 1535.
Nach Schnabel.
22. *Dcr Pilgrim von St. Just.
(1557.)
Nacht ist's, und Stürme faulen für und für;
hispanische Mönche, sch liebt mir aus die Thur!
Labt hier mich ruhn, bis Glocke/iton mich werkt,
der zum Gebet euch in die. Uirche schreckt!
bereitet mir, was euer Haus vermag,
ein Grdenskleid und einen barkophag!
Gönnt mir die kleine Zelle, weiht mich ein!
Mehr als die Hälfte dieser Welt war mein.
Das Haupt, das nun der 5chere sich bequemt,
mit mancher Urone ward's bediademt.
Oie Zchulter, die der Bulie nun sich bückt,
hat kaiserlicher Hermelin geschmückt.
Run bin ich vor dem Tod den Toten gleich
und fass' in Trümmer, wie das alte Aeich. piaren.
23. Deutsches Stadtleben im Anfange des 17. Jahrhunderts.
Als der dreißigjährige Krieg ausbrach, waren die Städte be-
waffnete Hüter der deutschen Kultur, welche reich und geräuschvoll in
engen Straßen zwischen hohen Häusern arbeitete. Fast jede Stadt,
nur die kleinsten Marktflecken ausgenommen, war gegen das offene
Land abgeschlossen durch Mauer, Thor und Graben; enge und leicht
zu verteidigen waren die Zugänge, oft stand die Mauer doppelt, noch
engten häufig die alten Türme über Zinnen und Thor. Dieses mittel-
alterliche Befestigungswerk war bei vielen der größeren Städte seit
hundert Jahren verstärkt worden. Bastionen aus Feld- und Backsteinen
trugen schwere Geschütze, ebenso einzelne starke Türme.
In den großen Städten wurde schon viel auf Reinlichkeit der
Straßen gehalten. Die Straßen waren gepflastert, die Pflasterung
Deutsches Lesebuch für kath. Schulen. IV. Für Oberklafseu. ss4
210
23. Deutsches Stadtleben im Anfange des 17. Jahrhunderts.
zum Wasserabfluß gewölbt, Hauptmärkte schön mit Steinen ausgesetzt.
Längst war man eifrig bemüht gewesen, der Stadt sicheres und reich-
liches Trinkwasser zu schaffen. Unter den Straßen liefen hölzerne
Wasserleitungen; steinerne Wasserbehälter und fließende Brunnen, oft
mit Bildsäulen verziert, standen auf Markt und Hauptstraßen. Noch
gab es keine Straßenbeleuchtung. Wer bei Nacht ausging, mußte
durch Fackel oder Laterne geleitet werden; später wurden auch die
Fackeln verboten. Der Hauptmarkt war am Sonntage Lieblings-
aufenthalt der Männer. Dort standen nach der Predigt Bürger und
Gesellen in ihrem Feststaate plaudernd, Neuigkeiten austauschend, Ge-
schäfte beredend. In allen Handelsstädten hatten die Kaufleute be-
sondere Räume zu ihrem „Konvent", den man schon damals die Börse
nannte. Auf dem Ratsturme durfte über der Uhr auch der Gang
nicht fehlen, von dem der Türmer seine Rundschau über die Stadt
hielt, wo die Stadtpfeifer mit Posaunen und Zinken bliesen. Die
Stadtgemeinde unterhielt für ihre Bürger Bier- und Weinkeller, worin
die Preise des ausgeschenkten Trunkes sorglich bestimmt wurden. Selbst
die Apotheken standen unter Aufsicht und hatten besondere Ordnungen
und Preise.
In den ansehnlichen Städten waren die Häuser der inneren Stadt
um das Jahr 1618 in großer Mehrzahl aus Stein, bis drei und mehr
Stock hoch, mit Ziegeln gedeckt. Die Räume des Hauses werden oft
als sauber, zierlich und ansehnlich gerühmt; die Wände sind häufig
mit gewirkten und gestickten Teppichen, sogar von Sammet, mit kost-
barem Täfelwerk und anderem Zierat geschmückt, und zwar nicht nur
in den alten großen Handelsstädten, sondern auch in solchen, die in
jüngerer Kraft aufblühten. Noch war das Porzellan nicht erfunden;
reichliches Silbergeschirr fand sich nur an großen Fürstenhöfen und in
wenigen der reichsten Kaufmannsfamilien. Die Stelle des Silbers und
Porzellans aber vertrat bei dem wohlhabenden Bürger das Zinn. In
großer Menge, hellglänzend aufgestellt, war es der Stolz der Haus-
frauen. Nicht weniger hoch geschätzt waren die feinen Gläser und Thon-
gefäße aus der Fremde, die oft bemalt und mit frommer oder schalk-
hafter Umschrift versehen waren.
Damals war Kleidung und Schmuck der Frauen und auch der
Männer weit bunter und kostbarer als jetzt. Noch war darin der Sinn
des Mittelalters lebendig, eine Richtung des Gemüts, der unserigen
gerade entgegengesetzt, die an dem Äußern, an stattlicher Repräsentation
Wohlgefallen fand.
Noch war Handwerk und Handel in starkem Gedeihen. Zwar im
Großverkehr mit dem Auslande hatte Deutschland bereits viel verloren;
der Glanz der Hansa war längst verblichen; auch die großen Handels-
häuser Augsburgs und Nürnbergs lebten bereits wie Erben von
dem Reichtume ihrer Väter.
Italiener, Franzosen, vor allem die Niederländer und Engländer
waren gefährliche Mitbewerber geworden; auf der Ostsee flatterten
23. Deutsches Stadtleben im Anfange des 17. Jahrhunderts. 211
schwedische, dänische, holländische Flaggen schon fröhlicher als die von
Lübeck und den Osthäfen; der Verkehr mit den beiden Indien lief in
neuen Straßen und fremden Stapelplätzen. Aber noch hatte der deutsche
Heringsfang große Bedeutung, noch waren die ungeheuren Slavenländer
des Ostens auch dem Landverkehr ein offener Markt.
Und in dem weiten Reiche selbst blühte die Industrie, und eine
weniger gewinnreiche, aber gesündere Ausfuhr der Landesprodukte hatte
einen mäßigen Wohlstand allgemeiner gemacht.
Die Woll- und Lederarbeiten, Leinwand, Harnische und Waffen,
die zierliche Industrie Nürnbergs wurden vom Auslande eifrig begehrt.
Fast jede Stadt hatte damals eine bedeutende Handwerksindustrie unter
Zucht und Aufsicht der Innungen entwickelt. Töpfe, Tücher, Leder-
arbeit, Bergbau, Metallarbeit gaben den einzelnen Orten ein besonderes
Aussehen, auch kleineren einen Ruf, der weit durch das Land reichte
und den Bürgern zu wohlberechtigtem Stolze half. Was am meisten
störte, waren die unsicheren Verhältnisse des Geldwertes. In allen
Städten aber, die größten kaum ausgenommen, hatte der Ackerbau mehr
Wichtigkeit als jetzt. Nicht nur in den Vorstädten und Vorwerken des
Stadt'grundes, auch in der innern Stadt lebten viele Bürger von den
Erträgnissen des Ackerbaues.
In kleineren Städten hatten die meisten Bürger Eigentum in
der Stadtflur, die reicheren wohl auch noch außerhalb. Deshalb waren
in den Städten viel mehr Nutz- und Spanntiere als jetzt, und die
Hausfrau erfreute sich eines eigenen Kornbodens, von dem sie selbst
das Brot buk und, wenn sie geschickt war, landesübliches, feines Back-
werk verfertigte. Auch an dem Weinbau, der im Norden bis an das
Land der Niedersachsen reichte, hatten die Städter großen Anteil. Die
Braugerechtigkeit galt für einen wertvollen Vorzug einzelner Häuser;
fast jeder Ort braute das Bier auf eigene Art; unzählig sind die ört-
lichen Namen des uralten Getränkes; dabei ward viel auf Kraft, süßen
Weingeschmack und öligen Fluß gehalten, und geschätzte Biere wurden
weit versendet.
Noch hatte in der volkstümlichen Küche außer den indischen Ge-
würzen die Lieblingswürze des Mittelalters, der Safran, viel zu färben;
noch wurden auch eßbare Speisen vergoldet aufgesetzt, und der Mar-
zipan war an anspruchsvoller Tafel das vornehmste Konfekt.
Eifrig suchten die Bürger jede Gelegenheit, sich gesellig zu ver-
gnügen. Fastnachtsmummereien waren auch im nördlichen Deutschland
allgemein; dann schwärmten die Masken durch die Straßen; die Lieb-
lingstracht waren Türken, Mohren, Indianer. Als im Kriege der
Rat der Stadt Leipzig die Masken verbot, erschienen sie bewaffnet
mit Spieß und Pistolen, und es gab Tumult mit den Stadtwächtern.
Nicht weniger beliebt waren die Schlittenfahrten, die zuweilen auch im
Kostüm gehalten wurden. Weit seltener als jetzt war der öffentliche
Tanz; selbst bei Hochzeiten und Handwerkerfesten wurde derselbe miß-
trauisch beaufsichtigt, und mit der Abenddämmerung mußte jedes Tanz-
14*
212 24. Beschaffenheit der Dörfer beim Beginn des dreißigjährigen Krieges.
vergnügen aufhören. — Die größeren Städte hatten Rennbahnen, in
denen die Patriziersöhne ritterliche Übungen hielten und nach dem
Ringe stachen; ferner Schießhäuser und Schießgräben für Armbrust
und Büchse. Als große Volksfeste galten durch das ganze Land die
Schützenfeste. Auch an den Festen einzelner Zünfte nahm das Volk
lebendigen Anteil, und fast jede Stadt hatte ihre eigenen Volksfeste,
z. B. Erfurt ein jährliches Wettlaufen für die Ärmeren, wobei die
Männer um Strümpfe, die Frauen um einen Pelz liefen. Ein beliebtes
Spiel der jungen Bürger, das in der Verkümmerung des nächsten
Jahrhunderts fast verschwand, war das Ballspiel. Es gab zu diesem
Zwecke eigene Ballhäuser und einen städtischen Ballmeister. Kamen
vornehme Herren in die Stadt, so wurde wohl gar eine Lage Sand
auf den Markt gestreut und durch Pflöcke und Schnüre dort ein Spiel-
raum abgesteckt.
Was aber um 1618 dem Bürger ein besonderes Selbstgefüh'
gab, war seine Wehrhaftigkeit. Wohl jeder hatte einige Übung ii
Gebrauche der Waffen. Jede größere Stadt besaß ein Zeughaus.
Selbst die schweren Geschütze der Wälle wurden von den Bürgern
bedient, und eine Bürgerschaft, welche ihre Stadt verteidigte, war
unter gewöhnlichen Verhältnissen den jungen Kompagnien der belagern-
den Soldaten fast vorzuziehen. Es kamen die Leiden des Krieges,
Nahrungslosigkeit, Teuerung und Krankheiten. Fremde Moden,
welche man den Soldaten und den vielen umherreisenden Hofleuten
absah, nahmen überhand. Von 1626 ab beginnt in den deutschen
Städten das Stutzertum nach französischem Zuschnitt. Kurze Spitz-
bärte, das Haar lang, in gekräuselten Locken oder gar auf der einen
Seite kurz geschnitten, auf der andern ein Zopf oder eine Locke auf
die Schultern herabhängend, große Schlapphüte, Sporen an den
Füßen, den Degen vor dem Herzen, gerissene oder zerschnittene Kleider,
geckenhafte Bewegungen, dazu eine verdorbene Sprache voll französischer
Wörter — das war die Tracht und Sitte jener Zeit.
Gustav Zreytag.
24. Beschaffenheit der Dörfer beim Beginn des dreißig-
jährigen Krieges.
Deutschland galt um das Jahr 1618 für ein reiches Land. Selbst
der Bauer hatte in dem langen Frieden einige Wohlhäbigkeit erlangt.
Die Zahl der Dörfer in Thüringen und Franken war etwas größer
als jetzt. Auch die Dörfer waren nicht ganz ohne Schutzwehr; breiter
Graben, Zaun oder Wand von Lehm und Stein umgrenzten oft die Stätte
des Dorfes; dann war verboten, Thüren durchzubrechen; an den Haupt-
straßen hingen Thore, welche zur Nacht geschlossen wurden. In der Regel
war der Kirchhof mit besonderer Mauer geschützt; er bildete mehr als
einmal die Citadelle und letzte Zuflucht der Bewohner. Dorf und Flur
24. Beschaffenheit der Dörfer beim Beginn des dreißigjährigen Krieges. 213
Wurden durch Nacht- und Tagwächter beschritten. Die Häuser waren
zwar nur von Holz und Lehm in ungefälliger Form, oft in engen
Dorfstraßen zusammengedrängt; aber sie waren nicht arm an Hausrat
und Behagen. Schon standen alte Obstpflanzungen um die Dörfer, und
viele Quellen ergossen ihr klares Wasser in steinerne Tröge. Auf den
Düngerstätten der eingefriedeten Höfe tummelten sich große Scharen von
kleinem Geflügel; auf den Stoppeläckern lagen mächtige Gänseherden,
und in den Ställen standen die Gespanne der Pferde weit zahlreicher als
jetzt, wahrscheinlich ein großer, starkknochiger Schlag, verbauerte Nach-
kommen der alten Ritterrosse. Sie waren die stolzeste Freude des Hof-
besitzers ; daneben standen die „Klepper", eine uralte, kleine Landrasse.
Große Gemeindeherden von Schafen und Rindern grasten auf den
steinigen Höhenzügen und in den fetten Riedgräsern. Die Wolle stand
gut im Preise, und an vielen Orten wurde auf feine Zucht gehalten;
die deutschen Tuche waren berühmt und Tuchwaren der beste Export-
artikel. Diese nationale Wolle, das Resultat einer tausendjährigen
Kultur, ist den Deutschen im Kriege verloren gegangen. Die Dorfflur
lag — wo nicht die altfränkische Flurteilung in lauge Bänder sich er-
halten hatte — in drei Felder geteilt, deren Hufen viel gespalten und
Beet für Beet sorgfältig Versteint waren. Der Acker war nicht ohne
höhere Kultur. Ein feinmehligcr, weißer Weizen wurde in das Winter-
feld gesät. Außerdeni brachten Anis und Safflor gutes Geld, auch der
Kardenbau war altheimisch; von Ölsaaten wurde Rübsen, wie am
Rheine Raps, in die Brache gesät. Der Flachs ward sorgfältig durch
die Wasserröste zubereitet, und die bunten Blüten des Mohnes, sowie
die schwanken Rispen der Hirse erhoben sich inmitten der Ährenfelder.
An den Abhängen von warmer Lage aber waren in Thüringen
und Franken damals überall Rebengärten, und diese alte Kultur,
welche jetzt in denselben Landschaften fast untergegangen ist, muß in
günstigen Jahren doch einen trinkbaren Wein hervorgebracht haben;
denn es werden in den Chroniken einige Weinjahre als vortrefflich
gerühmt. Auch Hopfen wurde fleißig gebaut und zu gutem Biere
benutzt. Schon säte man von Futtergewächsen den Spörgel und die
Pferdebohne. Die Wiesen, hochgeschätzt, häufig eingezäunt, wurden
sorgfältiger behandelt als 200 Jahre später; die Maulwurfshanfen zn
zerwerfen und die Abzugsgräben, ja sogar Bewässerungsgräben zu
ziehen und zu erhalten, war gewöhnlich. Schon war Erfurt Mittel-
punkt eines großen Samenhandels und höherer Gartenkultur, auch von
Blumen und feinen Obstsorten. Im ganzen war, wenn man ver-
schiedene Zeiten mit einander vergleichen darf, die landwirtschaftliche
Kultur im Jahre 1618 nicht geringer als etwa 1818.
Die Lasten, welche auf dem Bauernstande lagen, Dienstleistungen
und Abgaben waren nicht gering, am größten auf den adligen Gütern;
aber es gab auch nicht wenig freie Bauerndörfer im Lande. Viele geist-
liche Güter waren zerschlagen worden, viele Domänen und nicht wenige
214 24. Beschaffenheit der Dörfer beim Beginn des dreißigjährigen Krieges.
adlige Güter wurden von Pächtern bewirtschaftet. Das alles kam dem
Bauer zu gute. Freilich der Wildschaden war ein drückendes Leiden, und
aus den Gütern des verarmenden Adels war von der alten Hörigkeit noch
vieles geblieben. Die Gemeinderechnungen wurden seit fast hundert Jahren
ordentlich geführt und von den Landesregierungen beaufsichtigt; auch auf
Ortszeugnisse und Heimatsscheine ward schon gehalten, und die Gemeinden
empfahlen einander nachbarlich in gewählten Ausdrücken ihre Angehörigen,
welche aus einem Dorfe nach dem andern zogen. Auch der Handelsver-
kehr war nicht gering; durch Thüringen führte fast gleichlaufend mit den
Bergen eine große Handelsstraße von der Elbe zum Rhein und Main,
und am Abfall des Gebirges gegen die Werra lag der große Heerpfad,
welcher den Norden Deutschlands mit dem Süden verband. Der Fracht-
verkehr auf den kunstlosen Straßen erforderte Vorspann und brachte den
Dörfern Verdienst und Kunde aus der fernen Welt, auch manche Ge-
legenheit Geld auszugeben.
Wenigstens in allen Kirchdörfern waren Schulen, die Lehrer oft
Theologen; auch Schullehrerinnen für die Mädchen fanden sich zuweilen.
Es wurde ein kleines Schulgeld gezahlt, und ein Teil der Dorfbewohner
war in die Geheimnisse des Lesens und Schreibens eingeweiht. Der
Gegensatz zwar zwischen dem Landmann und dem Städter war damals
größer als jetzt. Aber wie abgeschlossen und arm an wechselnden Ein-
drücken das Leben des Bauern auch damals war, man würde sehr
unrecht thun, wenn man ihn für wesentlich schwächer und untüchtiger hielte,
als er jetzt ist. Im Gegenteil war sein Selbstgefühl nicht geringer und
oft besser berechtigt. Wohl war seine Unkenntnis fremder Verhältnisse
größer; denn es gab für ihn noch keine regelmäßigen Zeitungen, und er
selbst war in der Regel nicht weiter gewandert als bis zur nächsten Stadt,
wo er seine Produkte verkaufte — etwa einmal über die Berge, wenn
er Kühe trieb, als Thüringer nach Erfurt auf den Waidmarkt, als
Franke vielleicht nach Bamberg mit seinem Hopfen. Auch war er in
Tracht, in Sprache und Liedern nicht modisch wie die Städter. Er
gebrauchte gern alte, derbe Worte, welche der Bürger für unflätig hielt;
die Förmlichkeiten bei der Begrüßung waren andere als in den Städten,
aber nicht weniger genau. Doch deshalb war sein Leben nicht arm
an Gemüt, an Sitte, selbst nicht an Poesie. Noch hatte der ver-
klingende deutsche Volksgesaug einiges Leben, und der Landmann war
der eifrigste Bewahrer desselben; noch waren die Feste des Bauern,
sein Familienleben, seine Rechtsverhältnisse, seine Käufe und Verkäufe
reich an alten, farbenreichen Bräuchen, an Sprüchen und ehrbarem
Wesen. Auch die echte deutsche Freude an hübscher Handwerksarbeit,
das Behagen an sauberen und kunstvollen Erbstücken teilte der Land-
mann damals mit dem Bürger. Sein Hausgerät war stattlicher
als jetzt. Zierliche Spinnräder, welche noch für eine neue Erfindung
galten, sauber ausgeschnittene Tische, geschnitzte Stühle und Wand-
schränke haben sich einzeln — selten in Thüringen, öfter in Franken
— bis auf unsere Zeit erhalten und werden jetzt von Kuustsammlern
25. Der dreißigjährige Krieg.
215
angekauft. Groß muß der Schatz der Bauerfrauen an Betten, Kleidern,
Wäsche, an Ketten, Schaumünzen und anderem Schmuck gewesen sein,
und nicht weniger begehrungswürdig waren die zahlreichen Würste und
Schinken im Rauchfange. Auch viel bares Geld lag versteckt in den
Winkeln der Truhe oder sorglich in Töpfen oder Kesseln vergraben; denn
das Aufsammeln der blanken Stücke war eine alte Bauernfreude — es
war feit Menschengedenken Friede gewesen, und der Ertrag der Äcker
brachte gutes Geld. Das Leben des Bauern war reichlich, ohne viele
Bedürfnisse; er kaufte in der Stadt die Nesteln für seine Kleider, den
silbernen Schmuck für Weib und Töchter, Würze für seinen sauern Wein,
und was von Metallwaren und Gerät in Hof und Küche nötig war.
Die Kleider von Wolle und Leinwand webten und schnitten die Frauen
im Hause oder der Nachbar im Dorfe.
So lebte der Bauer in Mitteldeutschland noch zu Anfange des
dreißigjährigen Krieges; doch bald wurde ihm deutlich, daß eine schlechte
Zeit auch gegen ihn heranziehe. Die Durchmärsche fremder Truppen be-
gannen, und die großen Leiden des Krieges senkten sich auf ihn. Fremdes
Kriegsvolk von abenteuerlichem Aussehen, durch Blut und Schlachten ver-
wildert, marschierte in sein Dorf, mißhandelte ihn und die Seinen, ver-
wüstete und plünderte, was ihm vor Augen kam. Die Bevölkerung des
flachen Landes verminderte sich mit reißender Schnelligkeit, nur drei Ge-
walten bewahrten den deutschen Landmann vor der gänzlichen Zerstreuung:
seine Liebe zu dem väterlichen Acker, die Bemühungen
seiner Obrigkeit und vor allem der Eifer seines Seel-
sorgers, des Pfarrers. Gustav 5reylag.
25. Der dreißigjährige Krieg.
l. Der Anfang des Krieges. Dieser Krieg, der so unsäg-
liches Elend über Deutschland brachte, und in welchen fast alle Staaten
Europas verflochten wurden, nahm unter der Regierung des Kaisers
Matthias seinen Anfang in Böhmen. Die Veranlassung war
folgende.
Die protestantischen Unterthanen des Erzbischofs von Prag und
des Abtes von Braunau hatten in den Städten Kloster grab und
Braunau zwei Kirchen erbaut und ihr Recht dazu auf den vom
Kaiser Rudolf II. erteilten Majestätsbrief gestützt. Mit Genehmigung
des Hofes zu Wien aber wurde die Kirche zu Klostergrab niedergerissen
und die zu Braunau gewaltsam gesperrt. Nachdem die Protestanten,
welche sich, Beschwerde führend, an den Kaiser selbst gewandt hatten,
abschläglich beschieden worden waren, wurden die Gemüter so entflammt,
daß am 23. Mai 1618 ein bewaffneter Hanfe, geführt von dem Grafen
von Thurn, in das Prager Schloß eindrang und einige kaiserliche
Räte, denen man die Schuld gab, das kaiserliche Schreiben bewirkt zu
216
25. Der dreißigjährige Krieg.
haben, zum Fenster hinauswarf. In Böhmen, Mähren, Schlesien und
Österreich griffen die Protestanten zu den Waffen und stellten den
Grafen Thurn an die Spitze. Auch weigerten sich die Böhmen,
Ferdinand, der inzwischen 1619 deutscher Kaiser geworden war,
als ihren König anzuerkennen und trugen die böhmische Krone dem
Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz an. Durch den Ehrgeiz
seiner Gemahlin Elisabeth gedrängt, nahm er sie an und wurde mit
beispielloser Pracht zu Prag gekrönt. Aber schon am 8. November
1620 verließ er als Flüchtling das Land, nachdem seine Truppen am
weißen Berge bei Prag durch Tilly gänzlich geschlagen worden waren.
Ferdinand bemächtigte sich Böhmens und hielt strenges Gericht; er
vernichtete den Majestätsbrief und ließ 27 der Vornehmsten, die sich
am Aufstand beteiligt hatten, hinrichten. 3000 Familien wanderten
aus und die protestantischen Prediger wurden des Landes verwiesen.
Friedrich V. wurde als Hochverräter seines Landes und seiner
Kurwürde für verlustig erklärt.
2. Des Krieges Fortgang. Der geächtete Kurfürst fand
an dem Grafen Ernst von Mansfeld einen Verteidiger, dem sich bald
Christian von Braunschweig und später der Markgraf Friedrich von
Baden zugesellten. Ihre wilden Söldnerscharen verwüsteten die
Gauen Deutschlands aufs schrecklichste, bis sie von dem tapferen Feld-
herrn Tilly bei Wimpfen, Höchst und Stadtlohn geschlagen wurden.
Tilly war ein tapferer Soldat von großer Strenge und Pünktlichkeit.
Seiner äußeren Erscheinung nach wird er als ein kleiner, hagerer, aber
kräftiger Mann geschildert. Gewöhnlich ritt er einen Schimmel; seine
Tracht war die spanische der damaligen Zeit.
Nun trat ein neuer Feind auf den Schauplatz, Christian IV.,
König von Dänemark. Aber auch des Kaisers Macht wurde verstärkt
durch das Heer, welches Wallensteiu ihm zuführte. Dieser, von
lutherischen Eltern stammend, war durch eine wunderbare Lebensrettung
zur katholischen Kirche zurückgekehrt. Aus den Sternen glaubte er
erkannt zu haben, daß er zu etwas Großem bestimmt sei. Schon in
dem bisherigen Kriege hatte er sich durch Klugheit und Tapferkeit her-
vorgethan und dem Kaiser sogar auf eigene Kosten ein Kürassierregiment
geworben, mit welchem er wesentlich zum Siege am weißen Berge
beigetragen hatte. Dafür hatte er vom Kaiser die Herrschaft Friedland
in Böhmen und den Grafentitel erhalten; später wurde er sogar zum
Herzog ernannt. Jetzt, wo auch der Dänenkönig auf dem Kriegs-
schauplatz erschienen war, machte er dem Kaiser den Vorschlag, daß er
ihm ein Heer werben und erhalten wolle. Sobald die Werbetrommel
Wallensteins wirbelte, strömten von allen Seiten ihm Landsknechte zu,
und bevor er die Elbe erreichte, standen schon 30 000 Mann unter
seinem Befehle. Während Tilly den König Christian bei Lutter am
Barenberge schlug, besiegte Wallenstein den Grafen Ernst von Mansfeld
an der Dessauer Brücke und verfolgte den Flüchtigen bis tief nach
25. Der dreißigjährige Krieg.
217
Ungarn hinein. Dann überschwemmten seine Scharen Schleswig und
Jütland und später auch Mecklenburg, da ihn der Kaiser für seine
geleisteten Dienste mit diesem Herzogtum belehnt hatte. Er belagerte
Stralsund und schwur, da sich die Stadt tapfer verteidigte: und
wenn Stralsund mit Ketten am Himmel hinge, es müsse herunter.
Aber er begrub 12 000 Mann vor den Wällen der Stadt und mußte
sich zurückziehen. Der König von Dänemark machte endlich Frieden
und versprach, sich jeder ferneren Teilnahme am Kriege zu
enthalten.
So stand der Kaiser abermals als Sieger da, kein Feind war
mehr vorhanden. Nun erließ der Kaiser das Restitutionsedikt.
Hiernach sollten nicht nur alle seit dem Passauer Vertrage der Kirche
entfremdeten Güter den Katholiken zurückerstattet werden, sondern es
wurde auch den katholischen Fürsten die Befugnis erteilt, das von den
Protestanten ausgeübte Reformationsrecht ihrerseits in Anwendung zu
bringen, um alle von jenen eingeführten Religionsänderungen rückgängig
machen zu können. Vergebens waren die Vorstellungen, welche die pro-
testantischen Fürsten dem Kaiser wegen dieses harten und unheilvollen
Befehles machten, sie konnten eben nur den Aufschub dieser Maßregel
auf ein Jahr erhalten. Aber innerhalb dieser Frist hatte sich die Lage
der Dinge sehr geändert.
Durch die Klagen der Fürsten über Wallenstein und die Zucht-
losigkeit seines Heeres bewogen, hatte der Kaiser seinen Feldherrn ent-
lassen, der sich grollend auf seine Güter zurückzog. Von Norden her
war ein neuer Feind erschienen, der Schwedenkönig Gustav Adolf,
ein ebenso kluger Staatsmann als großer Feldherr.
1630 landete er an der Küste Pommerns. Zwar stellte sich
Tilly dem Schwedenkönige bei Breitenfeld entgegen, wurde aber
von demselben gänzlich geschlagen und erlag bald darauf der Wunde,
die er erhalten, als er den Schweden den Übergang über den Lech
verwehren wollte. Ganz Deutschland stand jetzt dem Sieger offen. In
dieser Not rief der Kaiser wiederum Wallenstein herbei, um ein Heer
zu sammeln, und obgleich dieser sehr harte Bedingungen stellte, bewilligte
der schwer bedrängte Kaiser alles. Mit dem neu geworbenen, mächtigen
Heere zog Wallenstein dem Schwedenkönige entgegen, aber erst den
15. November 1632 kam es zur entscheidenden Schlacht bei Lützen,
in welcher die Schweden zwar Sieger blieben, aber ihren König
Gustav Adolf verloren, der von zwei Schüssen tödlich getroffen vom
Pferde sank.
Noch volle 16 Jahre dauerte der verderbliche Krieg, bis endlich
in den Städten Münster und Paderborn der Friede zustande kam,
der daher auch der westfälische Friede genannt wird.
Nach Weller und Grude.
218
26. Wallensteins Ermordung.
26. Wallensteins Ermordung.
Wallenstein hatte in den zwei letzten Jahren seines Oberbefehles
beständig den Feind geschont und leistete mit ungeheuren Mitteln nur
geringes. Er drückte und ängstigte des Kaisers Länder mit des Kaisers
Heere und verhielt sich unthätig, obgleich er aus dem Zwiespalte seiner
Gegner leicht hätte Nutzen ziehen
können. Dabei unterhandelte er
heimlich mit Frankreich und Schwe-
den, wie er es seinem Vertrage nach
durfte; — aber mit immer zwei-
deutigerer Haltung gegen seinen
Herrn, den Kaiser. Dieser beschloß
daher Wallensteins Absetzung; han-
delte aber zunächst in tiefer Ver-
borgenheit, und erst nachdem er der
meisten der Anführer, die unter
Wallenstein gedient hatten, -— dar-
unter auch OctavioPiccolomini
— sicher war, warf man die Maske
ab. Wallenstein und eine Anzahl
Wallen stein. seiner Anhänger wurden geächtet.
Dies trieb Wallenstein zum völligen Abfall vom Kaiser, und er
begann mit den Schweden seines Überganges wegen zu verhandeln,
die ihm aber auch nicht recht trauten. Nur von 5 slavischen
Regimentern begleitet, die ihm treu geblieben waren, kam er nach
Eg er, um hinter den Mauern dieser Feste Schutz zu suchen. Hier
aber ward er das Opfer eines Verrates. Die Obersten Buttler und
Gordon, die er selbst aus dem Staube erhoben hatte, stifteten eine
heimliche Verschwörung gegen sein Leben au.
Zuerst sollten des Herzogs Freunde aus dem Wege geräumt
werden. Gordon lud sie daher auf den 25. Februar 1634 zu sich
zum Abendessen in die Citadelle ein. Vorher aber weiheten die Ver-
schworenen die Hauptleute Geraldin, Deveroux,*) Macdonald und
andere, meist Irländer und Schottländer, in ihr Geheimnis ein und
bewogen sie, die Ermordung zu übernehmen.
Der verhängnisvolle Abend erschien, und mit ihm fanden sich die
geladenen Gäste ein, setzten sich mit Gordon und Buttler fröhlich zu
Tische und ließen sich guter Dinge sein. Plötzlich flog die Thür des
Speisesaales auf, und Geraldin trat ein an der Spitze von sechs
Dragonern, mit Hellebarden bewaffnet, und rief: „Holla! wer ist gut
kaiserlich?" „Hoch lebe Ferdinand!" riefen Gordon und Buttler uud
traten auf die Seite. Nun fielen die Mörder über die Gäste her und
') spr. Deveruh.
27. Rußland unter Peter dem Großen.
219
hieben sie nieder. Draußen aber im Vorhofe standen noch vierund-
zwanzig andere Dragoner Geraldins, die unterdessen die Bedienten
niedergemacht hatten, während die aufgezogene Zugbrücke verhinderte,
daß einer in das Schloß hinein oder hinaus konnte.
Darauf wurde die Zugbrücke niedergelassen, und die Verräter
eilten in die Stadt, in welcher die tiefste Stille herrschte, indem keiner
die geringste Ahnung von jenem Blutbade hatte. Jetzt sollte der
Hauptschlag vollbracht werden. Die Straße, welche zu des Herzogs
Wohnung am Markte führte, wurde besetzt, um jeder Unruhe vor-
zubeugen. Buttler, Geraldin und Deveroux begaben sich in aller Stille
wit einem Hausen herzhafter Dragoner nach des Herzogs Wohnung
selbst. Es war abends um 11 Uhr. Buttler blieb an der Hausthür,
Geraldin besetzte die Hinterthür. Der Schotte Deveroux^ aber stürmte
unt seinen Dragonern, jeder eine Hellebarde in der Faust, die Treppe
hinauf. Ein Kammerdiener, der sie abhalten wollte, wurde im Vor-
ziinmer niedergehauen; ein anderer entsprang mit dem Geschrei:
„Rebellen! Rebellen!" Auf diesen Lärm erwachte Wallenstein und
fuhr aus dem Bette auf. Aber in demselben Augenblick wurde die
Thür seines Schlasgemaches gesprengt, und Deveroux stürzte mit
seinen Dragonern hinein. Der Herzog stand am Fenster wehrlos,
uuangekleidet, so wie er vom Lager ausgestanden war. „Bist du der
Schelm, — brüllte ihn Deveroux an, — der das kaiserliche Volk zum
Feinde überführen und Sr. Majestät die Krone vom Haupte reißen
will? du mußt jetzt sterben!" Wallenstein sprach kein Wort, sondern
warf einen ernsten, kalten Blick auf den Bösewicht. „Du mußt sterben!
schrie Deveroux noch einmal. Da bewegte Wallenstein nur die Lippen,
hob die Arme gen Himmel, und in demselben Augenblick erhielt er
von Deveroux mit einer Hellebarde den Todesstoß in die Brust.
welker.
27. Rußland unter Peter dem Großen.
(1689—1725.)
Gegen das Ende des siebzehnten Jahrhunderts galt Rußland
noch für die Wildnis von Europa. Rauh wie das Klima und wild
wie der Boden waren auch seine Bewohner. Der größte Teil der-
selben bestand aus willenlosen Sklaven barbarischer Fürsten, die man
Zstren nannte. In Europa wurden die Russen mehr als ein
asiatisches Volk betrachtet. Und in der That schlossen sie sich auch
durch Sprache, Kleidung, Sitten und Gebräuche mehr an die wilden
Asiaten als an die Europäer an. So blieb Rußland, bis Peter,
welcher nachher den Beinamen des Großen sich erwarb, auftrat und
anfing, sein Volk durch europäische Bildung zu veredeln. Nachdem er
einen gegen die Sicherheit seines Thrones gerichteten Aufruhr ge-
dämpft hatte, entschloß er sich, eine Reise ins Ausland zu machen,
aber nicht mit dem Pompe eines Zaren, sondern bloß als Mitglied
220
27. Rußland unter Peter dem Großen.
einer Gesandtschaft, welche nach altrussischer Sitte die auswärtigen
Höfe besuchen sollte, und unter dem Titel eines Großkommandeurs.
Schon in Königsberg besuchte er die Werkstätten der Handwerker
und Künstler und erkundigte sich mit großer Lernbegierde nach allem,
was ihm Neues vorkam. Dann ging die Reise weiter über Berlin
nach Amsterdam. Amsterdam war ihm eine neue Welt. Das
Gewühl der Kaufleute, der Schiffer, der Soldaten; die Schleusen, die
Dämme, die Maschinen, die Schiffe, alles erfüllte den jungen Zaren
mit freudigem Erstaunen. Um weniger erkannt zu werden, trug er
die Kleidung eines holländischen Schiffszimmermanns und war vom
früheil Morgen bis zum späten Abend beschäftigt, mit allen Merk-
würdigkeiten der Stadt sich bekannt zu machen.
Von Amsterdam setzte er nach dem nahe gelegenen Dorfe Saan-
dam über, dem Sitze des holländischen Schiffsbaues. Hier erschien
er als gemeiner Russe in vaterländischer Tracht und ließ sich uilter
dem Namen Peter Michaelow in die Liste der Werkleute eintragen.
Er bewohnte sieben Wochen lang
ein einfaches Hänschen, bereitete
sich selbst sein Lager und seine
Speisen, führte den Briefwechsel mit
seinen Ministern und arbeitete zu-
gleich mit seinem Zimmermanns-
beile am Mast und Kiel. Noch
jetzt zeigt man zu Saandam die
Hütte, welche er bewohnte. Seine
HHk Mitgesellen nannten ihn llicht anders
lllll als Meister Peter. Auch die Werk-
W statt der Schmiede und Segelmacher
^ besuchte er fleißig und erkundigte
|k sich nach allem. Hierauf begab er
W sich nach Amsterdam zurück und
ließ ein Kriegsschiff von sechzig
Kanonen unter seinerAufsicht bauen,
das er, mit Seeleuten, Offizieren, Bauleuten und Künstlern versehen,
nach Archangel schickte.
Im Jahre 1698 schiffte er sich nach England ein. Zu London
that sich wieder eine neue Welt vor ihm auf. Nichts entging seiner
Aufmerksamkeit, alles ließ er sich erklären und schickte dann einzelne
Modelle in seine Heimat, sogar von einem Sarge. Vorzüglich erregte
das englische Seewesen seine Aufmerksamkeit. Der König veranstaltete
ihm zum Vergnügen ein kleines Scetreffen. Ein so furchtbar schönes
Schauspiel hatte er noch nie gesehen. „Wahrlich," rief er verwundert
aus, „wäre ich nicht zum Zaren von Rußland geboren, möchte ich
englischer Admiral sein!" Über 500 Engländer nahm er in seine
Dienste. Nach einem dreimonatlichen Aufenthalte begab er sich durch
Holland über Dresden nach Wien. Als er aber im Begriffe war,
28. Karl XII., König von Schweden.
221
Italien zu besuchen, erhielt er die Nachricht von einer Empörung der
Strelitzen. Ergrimmt eilte er nach Moskau zurück und hielt, da
der Aufruhr durch seinen General Gordon bereits gedämpft war,
ein furchtbares Gericht. Fast 2000 Menschen fielen als Opfer-der Em-
pörung; die unruhige Schar der Strelitzen wurde ganz aufgehoben.
Wolter.
28. Karl XII., König von Schweden.
Ein Hauptgegenstand von Peters Sorge war der Seehandel; denn
nur dieser konnte seinem weiten Reiche inneres Leben geben. Aber alle
ander Ostsee gelegenen Länder, Finnland, Jngermanland, Esth-
land und Li es land, waren im Besitze der Schweden. Schon längst
hatte er sich diese zur Beute ausersehen; der gegenwärtige Augenblick schien
thw zur Ausführung seines Vorhabens der geeignetste zu sein. Der
neue König von Schweden, Karl XII. > war erst fünfzehn Jahre alt und
schien wenig zu versprechen. Um des guten Erfolges noch gewisser zu
sein, trat er mildem Könige von Dänemark, Friedrich IV., und mit
dem Kurfürsten von Sachsen, August II.» der auch seit dem Jahre
16 96 von den P o l e n zu ihrem Könige
erwählt worden war, in ein Bündnis,
bem gemäß sie über den königlichen
Knaben herfallen und sich gemein-
schaftlich in seine Länder teilen wollten.
Aber wie hatten sich alle in dem Knaben
verrechnet! Karl brach sogleich nach
Dänemark auf, belagerte die Haupt-
stadt Kopenhagen und jagte dem
Könige einen solchen Schrecken ein,
daß dieser noch in demselben Jahre
(1700) mit ihm Frieden machte. Nach-
kent er so den ersten Feind zur Ruhe
gebracht hatte, ging er rasch auf den
Seiten, die Russen, los, welche 80 000
Mann stark, die Festung Narwa in
Esthland belagerten. ObschonKarls . r ... „ .
Heer nur aus 8000 Mann bestand, so griff er dennoch mit diesem Haustein
am 30. November 1700 den zehnmal stärkeren Feind an. Schon in einer
Viertelstunde war der Sieg für Schweden entschieden. Grauenvoll war
die Niederlage und Flucht der Rüsten. Dennoch erschütterte dieser Unfall
Peters große Seele nicht. „Zch weiß es wohl." sagte er, ..die Schweden
sollen uns noch manchmal schlagen; aber wir lernen! Die Zeit wird
kommen, wo wir sie wieder schlagen werden."
Unterdessen hatte Peter Jngermanland erobert und beschlossen, am
Einflüsse der Newa in den finnischen Meerbusen eine neue Stadt zu
bauen, die nach ihm Petersburg heißen sollte. Im Jahre 1703 legte er
Karl M.
222
28. Karl XII., König von Schweden-
den Grund zu derselben, indem er auf einer Insel in dem Hanptstrome
der Newa eine Festung anlegte. Um den Bau schnell zu betreiben, wurden
selbst aus den entferntesten Gegenden des Reiches tausende von Russen,
Kosaken, Tataren, Finnen und Kalmücken zusammengetrieben. Vierzig-
tausend Menschen arbeiteten an demselben. Binnen wenigen Monaten
war die Festung fertig, und nun ging es mit noch größerem Eifer an
den Bau der Stadt selbst. Innerhalb 10 Jahren standen schon mehrere
tausend große und kleine Häuser. Um die neue Stadt zu bevölkern,
mußten alle Städte und Orte des Reiches Kaufleute, Handwerker und
Künstler mit ihren Familien abschicken, um sich für immer in Petersburg
niederzulassen. Auch die meisten Bauleute, welche die weite Rückkehr in
ihre Heimat scheuten, ließen sich in derselben nieder. Mehrere hundert
adelige Familien aus Moskau mußten den Winter in der neuen Residenz
zubringen. Auch aus den benachbarten Ländern, besonders aus Deutsch-
land, ließen sich viele in Petersburg nieder, so daß dasselbe bald zum
Erstaunen aller eine der schönsten und volkreichsten Städte des ganzen
Erdkreises wurde.
Während Peter mit dem Bauen seiner Stadt auf das eifrigste be-
schäftigt war. erhielt er plötzlich die Nachricht, Karl habe mit dem Kur-
fürsten von Sachsen Frieden geschlossen und sei mit seinem siegreichen
Heere gegen ihn selbst in vollem Anzuge. Der Zar erbot sich zum
Frieden; Karl aber, stolz auf sein Glück, ließ ihm die Antwort über-
bringen, nur in Moskau werde er ihm die Bedingungen vorschreiben.
Karl trat mit den aufrührerischen Kosaken in der Ukraine in
Verbindung und belagerte die Stadt Pultawa, um sich der dortigen
Magazine zu bemächtigen. Mit einem Heere von 70 000 Mann eilte
Peter zum Entsätze herbei und schlug am 8. Juli 1709 unter den Mauern
der Stadt das aus 19 000 Mann bestehende schwedische Heer so gänzlich,
daß der verwundete König nur mit Not unter unsäglichen Mühselig-
keiten sich auf das türkische Gebiet nach Bender rettete. Durch diese
Schlacht gingen alle Früchte seiner früheren Siege wieder verloren. Auch
der Kurfürst von Sachsen ergriff sogleich von dem Königreiche Polen
wieder Besitz. Sultan Achmed III. nahm den Flüchtling gastfreundlich
auf. Als aber Karl XII. vernahm, daß die schwedische Rcichsversamm-
lung selbst einen Frieden mit Rußland und Polen unterhandle, verließ
er, um dies zu verhindern, augenblicklich die Türkei. Er jagte mit der
Eile eines Kuriers unter dem Namen Karl Frisch durch Ungarn, durch
Deutschland und erschien, aller Welt zum Erstaunen, am 11. November
1714 inS trä lsund, nachdem er fünf Jahre in der Türkei zugebracht hatte.
Sein früheres Glück kehrte jedoch nicht mit ihm zurück. Er war der
Übermacht seiner Feinde nicht gewachsen. Mehrere Provinzen mußten an
die Russen abgetretekk werden. Um sich für diesen Verlust zu entschädigen,
beschloß er, den Dänen Norwegen zu entreißen. Im Jahre 1718 er-
öffnete er den Feldzug, der aber unglücklich ablief. Der größte Teil
seines Heeres wurde das Opfer einer ungeheuren Kälte, die einbrach ; er
29. Gellert vor Friedrich dem Großen.
223
selbst aber verlor bei der Belagerung der Festung Fried rickshall sein
Leben, wo ihn am 10. Dezember 1718 eine feindliche Kugel traf.
So starb der weitgefürchtete, nordische Held, erst 36 Jahre alt, der
eigentlich nie regiert, sondern bloß Feldzüge geführt hatte. Mit ihm er-
losch Schwedens Ansehen und Ruhm.
Am Tage des Friedensfestes wurde Peter als ..Kaiser aller Reußen"
feierlich ausgerufen und ihm der Beiname des Großen zugelegt.
Wetter.
29. Gellert vor Friedrich dem Großen.
Friedrich der Große liebte die Gelehrten, war aber von Jugend
auf gegen die deutschen Gelehrten eingenommen und hielt sich dagegen
an die französische Sprache und an französische Schriftsteller, von denen
er selbst mehrere an seinen Hof zog. Freilich hatte auch die französische
Sprache bereits ihr goldenes Zeitalter erlebt, während die deutsche
Sprache sich erst den Fesseln zu entwinden strebte, welche sie bisher
getragen hatte. Doch von Gellert, dessen Ruf sich bereits in ganz
Deutschland verbreitet hatte, hatte
auch Friedrich der Große gehört
und wünschte daher den Mann
kennen zu lernen, dessen Fabeln bei
Hohen und Niederen den größten
Beifall gefunden hatten.
Der 18. Dezember 1756 war
der merkwürdige Tag, an welchem
der Professor Gellert nachmittags
3 Uhr in seinem Schlafrock, mit
einer weißen Mütze, unbarbiert und
gar nicht wohlauf an seinem Pulte
saß und jemand an seine Thür pochte.
— Herein! — „Ich bin der
Major Quintus Jcilius und freue
mich, Sie kennen zu lernen. Se.
Majestät der König verlangen Sie zu sprechen und haben mich her-
geschickt, Sie zu ihm zu bringen." — Gellert: „Herr Major, Sie
müssen mir's ansehen, daß ich krank bin; es wird dem Könige mit
einem kranken Manne, der nicht reden kann, nicht viel gedient sein."
— Major: „Es ist wahr, Sie sehen nicht wohl aus; ich werde Sie
auch nicht nötigen, heut mitzugehen; aber das muß ich Ihnen sagen,
wenn Sie Sich mit dieser Ausflucht ganz von dem Gange loszumachen
gedenken, so irren Sie Sich; ich muß morgen wiederkommen, und wenn
Sie da nicht besser sind, übermorgen, und das so fort, bis Sie mit-
gehen können. Entschließen Sie Sich also. Ich lasse Ihnen eine Stunde
Zeit. Um 4 Uhr will ich wieder ansragen, ob ich Sie heute oder ein
224
29. Gellert vor Friedrich dem Großen.
andermal mitnehmen soll." — Gellert: „Ja, das thun Sie, Herr
Major; ich will sehen, wie ich mich alsdann befinde."
Nun ist also der Major fort, und der Herr Professor, der zum
Unglück seinen Herrn Gödicke nicht zu Haus hat, schafft sich mit vielem
Verdruß und großen Umständen einen Barbier und eine Perücke und
ist um 4 Uhr fertig. Der Major kommt, und sie gehen. In dem
Vorzimmer finden sich etliche Personen, welche voller Freude sind,
den Herrn Professor kennen zu lernen. Jetzt aber geht die Thür zu
Sr. Majestät Zimmer auf. Sie treten ein und bleiben mit dem Könige
die ganze Zeit über allein. König: „Ist Er der Professor Gellert?"
Gellert: „Ja, Jhro Majestät." König: „Der englische Gesandte hat
mir viel Gutes von Ihm gesagt. Wo ist Er her?" Gellert: „Von
Hainichen bei Freiberg." König: „Hat Er nicht noch einen Bruder in
Freiberg?" Gellert: „Ja, Jhro Majestät." König: „Sage Er mir,
warum wir keinen guten deutschen Schriftsteller haben." Der Major:
„Jhro Majestät sehen hier einen vor sich, den die Franzosen selbst
übersetzt haben und den deutschen la Fontaine*) nennen." König:
„Das ist viel. Hat Er den la Fontaine gelesen?" Gellert: „Ja, Jhro
Majestät, aber nicht nachgeahmt; ich bin ein Original." König: „Das
ist also einer; aber warum haben wir nicht mehr gute Autoren?"
Gellert: „Jhro Majestät sind einmal gegen die Deutschen eingenommen."
König: „Nein, das kann ich nicht sagen." Gellert: „Wenigstens gegen
die deutschen Schriftsteller." König: „Das ist wahr. Warum haben
wir keine guten Geschichtsschreiber?" Gellert: „Es lassen sich ver-
schiedene Ursachen angeben, warum die Deutschen noch nicht in aller
Art guter Schriften sich hervorgethan haben. Da die Künste und
Wissenschaften bei den Griechen blühten, führten die Römer noch Kriege.
Vielleicht ist jetzt das kriegerische Jahrhundert der Deutschen; vielleicht
hat es ihnen auch noch an Augusten und Louis XIV. gefehlt." König:
„Er hat ja zwei Auguste in Sachsen gehabt?' Gellert: „Wir haben
auch in Sachsen einen guten Anfang gemacht." König: „Wie? Will
Er denn einen August in ganz Deutschland haben?" Gellert: „Nicht
eben das; ich wünsche nur, daß ein jeder Herr in seinem Lande die
guten Genies ermuntere." König: „Ist Er gar nicht aus Sachsen
weggekommen?" Gellert: „Ich bin einmal in Berlin gewesen." König:
„Er sollte reisen." Gellert: „Jhro Majestät, dazu fehlen mir Ge-
sundheit und Vermögen." König: „Was hat Er denn für eine Krank-
heit? Etwa die gelehrte?" Gellert: „Weil sie Jhro Majestät so
nennen, so mag sie so heißen; in meinem Munde würde es zu stolz
geklungen haben." König: „Ich habe sie auch gehabt. Ich will Ihn
kurieren. Er muß sich Bewegung machen, alle Tage ausreiten, jede
Woche Rhabarber nehmen." Gellert: „Jhro Majestät, diese Kur
möchte wohl eine neue Krankheit für mich sein. Wenn das Pferd
gesünder wäre als ich, so würde ich es nicht reiten können, und wäre
spr. Lasongtän.
30. Der Überfall bei Hochkirch.
225
es ebenso krank, so möchte ich auch nicht fortkommen können." König:
..So muß Er fahren." Gellert: „Dazu fehlt mir das Vermögen."
König: „Ja, das ist wahr, daran fehlt's immer den Gelehrten in
Deutschland. Es sind wohl jetzt böse Zeiten?" Gellert: „Ja wohl,
und wenn Jhro Majestät Deutschland den Frieden geben wollten" —
König: „Kann ich denn? Hat Er's denn nicht gehört? Es sind ja
drei wider mich." Gellert: „Ich bekümmere mich mehr um die alte,
als neue Geschichte." König: „Kann Er keine von Seinen Fabeln aus-
wendig? Gellert: „Ich zweifle. Mein Gedächtnis ist mir sehr untreu."
König: „Besinne Er Sich; ich will unterdessen herumgehen,-----------------------
nun, hat Er eine?" Gellert: „Ja, Jhro Majestät, den Maler —
Ein kluger Maler in Athen, Gleich trat ein junger Geck herein
der minder, weil man ihn bezahlte, und nahm das Bild in Augenschein,
als weil er Ehre suchte, malte, O! rief er bei dem ersten Blicke:
ließ einen Kenner einst den Mars im Ihr Götter, welch ein Meisterstücke!
Bilde sehn
und bat sich seine Meinung aus.
Der Kenner sagt ihm frei heraus,
daß ihm das Bild nicht ganz gefallen
wollte,
und daß es, um recht schön zu sein,
weit minder Kunst verraten sollte.
Der Maler wandte vieles ein;
der Kenner stritt mit ihm aus
Gründen
und konnt' ihn doch nicht über-
Ach welcher Fuß! O wie geschickt
sind nicht die Nägel ausgedrückt!
Mars lebt durchaus in diesem Bilde.
Wie viele Kunst, wie viele Pracht
ist in dem Helm und in dem Schilde
und in der Rüstung angebracht!
Der Maler war beschämt, gerühret
und sah den Kenner kläglich an.
Nun, sprach er, bin ich überführet,
Ihr habt mir nicht zu viel gethan.
Der junge Geck war kaum hinaus,
so strich er seinen Kriegsgott aus."
winden.
König: „Und die Moral?" Gellert: „Gleich, Jhro Majestät —
Wenn deine Schrift dem Kenner nicht gefällt,
so ist es schon ein böses Zeichen;
doch wenn sie erst des Narren Lob erhält,
so ist es Zeit, sie auszustreichen."
König: „Das ist recht schön. Er hat so etwas kulantes in Seinen
Versen, das verstehe ich alles. Nun, wenn ich hierbleibe, so muß Er
öfter wiederkommen und Seine Fabeln mitbringen und mir was neues
vorlesen." Gellert: „Ich weiß nicht, ob ich gut lese; ich habe so
einen singenden, gebirgischen Ton." König: „Ja, wie die Schlesier.
Nein, Er muß Seine Fabeln selbst lesen; sie verlieren sonst viel.
Nun, komme Er bald wieder!"
Dies das Gespräch Gellerts mit Friedrich dem Großen. Wir
haben in diesem Gespräche Bescheidenheit, gepaart mit Würde, Klugheit,
verbunden mit edler Offenherzigkeit, zu bewundern. vervaleken.
30. Der Überfall bei Hochkirch.
Äm Jahre 1758 waren die Russen durch Preußen und Pommern
bis Küstrin an der Oder vorgedrungen. Dort traf sie Friedrich und
Deutsches Lesebuch für kalh. Schulen. IV. Für Oberklafsen. 15
226
30. Der Überfall bei Hochkirch.
besiegte sie vorzüglich durch seinen vortrefflichen Reitergeneral Sey blitz
in der mörderischen Schlacht bei Zorndorf, unweit Küstrin. Nachdem
dieser Feind unschädlich gemacht war, eilte er seinem Bruder Heinrich
zu Hilfe, der von Daun hart bedrängt wurde. Er ließ sich von diesem
in eine ungünstige Stellung locken und erlitt in der Nähe von Bautzen
von dem an Zahl doppelt überlegenen Gegner den nächtlichen Über-
fall bei Hochkirch.
Es war am 13. Oktober 1758 in der Nacht, als alle Kolonnen der
österreichischen Armee ihr Lager verließen, um die Preußen zu überfallen.
Bei dem Vortrabe befanden sich freiwillige Grenadiere, die hinter den
Kürassieren aufsaßen, vor dem preußischen Lager aber von den Pferden
sprangen, sich in Haufen formierten und vorwärts drangen. Die Zelte
blieben im österreichischen Lager stehen, und die gewöhnlichen Wachtfeuer
wurden sorgfältig unterhalten. Eine Menge Arbeiter mußten die ganze
Nacht hindurch Bäume zum Verhau fällen, wobei sie sangen und einander
zuriefen. Durch dieses Getöse wollten sie die preußischen Vorposten
hindern, den Marsch der Truppen wahrzunehmen. Die wachsamen
preußischen Husaren aber entdeckten doch die Bewegung des Feindes und
gaben dem Könige sogleich Nachricht davon. Anfangs bezweifelte er
die Bewegung selbst; da aber wiederholte Berichte solche bestätigten,
so vermutete er jedoch andere Ursachen derselben, nur keinen förmlichen
Angriff. Seydlitz und Zielen befanden sich eben beim Könige und
erschöpften ihre Beredsamkeit, seine Zweifel in diesem bedenklichen Augen-
blicke zu bekämpfen; sie brachten es auch dahin, daß Befehle an einige
Brigaden geschickt wurden, aufzustehen, wobei mehrere Regimenter Kaval-
lerie ihre Pferde satteln mußten. Dieser Befehl wurde aber gegen Mor-
gen wieder aufgehoben, und der jetzt unbesorgte Soldat überließ sich
dem Schlafe ohne alles Bedenken.
Der Tag war noch nicht angebrochen, im Dorfe Hochkirch schlug
es 5 Uhr, da plötzlich erschien der Feind vor dem Lager. Es kamen
ganze Haufen auserwählter Soldaten zu den preußischen Vorposten und
meldeten sich als Überläufer. Ihre Anzahl wuchs so schnell und stark,
daß sie bald Vorposten und Feldwachen überwältigen konnten. Die
österreichische Armee rückte kolonnenweise von allen Seiten in das preu-
ßische Lager ein. Viele Regimenter der königlichen Armee wurden erst
durch ihre eigenen Kanonenkugeln vom Schlafe aufgeschreckt; denn die
anrückenden Feinde, die größtenteils ihr Geschütz zurückgelassen hatten, I
fanden auf den schnell eroberten Batterien Kanonen und Munition,
und mit diesen feuerten sie ins Lager der Preußen.
Nie befand sich ein Heer braver Truppen in einer so schrecklichen
Lage, wie die unter dem Schutze Friedrichs sorglos schlafenden Preußen,
die nun auf einmal im Innersten ihres Lagers von einem mächtigen
Feinde angegriffen und durch Feuer und Stahl zum Todesschlafe geweckt
wurden. Es war Nacht und die Verwirrung über allen Ausdruck. Welch
ein Anblick für die Krieger! Die Österreicher, gleichsam aus der Erde
30. Der Überfall bei Hochkirch.
227
hervorgestiegen, mitten unter den Fahnen der Preußen, im Heiligtums
ihres Lagers! Viele hunderte wurden in ihren Zelten erwürgt, noch
ehe sie die Augen öffnen konnten; andere liefen halbnackt zu ihren Waffen.
Die wenigsten konnten sich ihrer eigenen Gewehre bemächtigen, ein jeder
ergriff dasjenige, was ihm zuerst in die Hände fiel, und floh damit in
Reih und Glied. Das Kriegsgeschrei verbreitete sich wie ein Lauffeuer
durch das ganze preußische Lager. Alles stürzte aus den Zelten, und in
wenigen Augenblicken stand trotz der unaussprechlichen Verwirrung der
größte Teil der Infanterie und Kavallerie in Schlachtordnung. Der
anbrechende Tag trug nicht dazu bei, die Verwirrung zu mindern; denn
ein dicker Nebel lag über den streitenden Heeren.
Das Dorf Hochkirch stand in Flammen und wurde dennoch von den
Preußen auf das tapferste verteidigt. Der Sieg schien von dem Besitze
desselben abzuhängen, daher Daun immer frische Truppen zum Angriffe
vorrücken ließ. Nur 600 Preußen waren hier zu besiegen, die, nachdem
sie kein Pulver mehr hatten, den kühnen Versuch machten, sich durch die
große Menge Feinde durchzuschlagen. Ein kleiner Teil war so glücklich,
es zu bewirken; das Los aller übrigen aber war Tod, Verwundung
und Gefangenschaft. Nun rückten ganze Regimenter Preußen an und
schlugen den Feind wieder aus dem Dorfe. Hier war sodann der
Hauptplatz des blutigsten Kampfes. Der Feldmarschall Keith bekam
einen Schuß in die Brust, stürzte zu Boden und gab ohne einen Laut
seinen Heldengeist auf. Auch der Feldmarschall Fürst Moritz von
Dessau wurde tödlich verwundet. Die Preußen, von vorn und im
Rücken angegriffen, mußten weichen, und die österreichische Kavallerie
hieb nun mit Vorteil in die tapfersten Regimenter des preußischen
Fußvolkes ein. Der König führte in Person frische Truppen gegen den
Feind, der abermals zurückgeschlagen wurde; die österreichische Reiterei
aber vernichtete wieder die Vorteile der Preußen.
Der Nebel verzog sich endlich, und beide Heere übersahen nunmehr
den mit Leichen bedeckten Wahlplatz und die allenthalben herrschende
Unordnung. Man formierte nun von beiden Seiten neue Schlachtord-
nungen. Als aber der König vorn und im Rücken feindliche Truppen
gewahrte, zog er seine tapfern Scharen mitten in diesem Mordgetümmel
zusammen und machte nach einem fünfstündigen, verzweifelten Gefechte
einen Rückzug, dem nichts als ein 2000jähriges Alter fehlt, um von
allen Zungen gepriesen zu werden. Die österreichische Armee war in
zu großer Unordnung, um einen solchen Rückzug zu stören; überdies
hatte Daun auch schon bei Kollin zu erkennen gegeben, sein Grundsatz
sei, daß man einem fliehenden Feinde goldene Brücken bauen müsse.
Der König hatte sich ins stärkste Feuer gewagt; ein Pferd wurde
ihm unterm Leibe erschossen, und zwei Pagen stürzten tot an seiner
Seite nieder. Er war in Gefahr gefangen zu werden. Schon hatten
ihn die Feinde bei dem Dorfe Hochkirch umringt; aber er entkam durch
die Tapferkeit der ihn begleitenden Husaren. Allenthalben gegenwärtig,
15*
228 31. Fürsorge Friedrichs des Großen für die 1772 neu erworbenen Landesteile.
wo der Kampf am blutigsten war, schien er sein Leben für nichts zu achten.
Nie zeigten sich sein Geist und seine Fähigkeiten in einem so glänzenden
Lichte wie in dieser Nacht, die, anstatt seinen Ruhm zu schwächen, ihn
vielmehr außerordentlich erhöhte. Archcnhoi).
31. Fürsorge Friedrichs deslGroßen^für die 1772 neu
erworbenen Landesteile.
Nachdem Friedrich der Große im Jahre 1772 bei der ersten Tei-
lung Polens von den ihm überwiesenen Gebieten Besitz genommen hatte,
wandte er den neuen Landesteilen alle Fürsorge zu. Die preußischen
Beamten, welche in das Land geschickt wurden, waren erstaunt über
die Trostlosigkeit der unerhörten Verhältnisse, welche wenige Tagereisen
von ihrer Hauptstadt bestanden. Nur einige größere Städte, in denen
das deutsche Leben durch feste Mauern und den alten Marktverkehr
unterhalten wurde, und geschützte Landstriche, welche ausschließlich von
Deutschen bewohnt wurden, wie die Niederung bei Danzig, die
Dörfer unter der milden Herrschaft der Cisterzienser von Oliva und
die wohlhabenden deutschen Ortschaften des katholischen Ermlands
lebten in erträglichen Zuständen. Andere Städte lagen in Trümmern,
wie die meisten Höfe des Flachlandes. Bromberg, die deutsche
Kolonistenstadt, fanden die Preußen in Schutt und Ruinen. Kulm
hatte aus alter Zeit seine wohlgefügten Mauern und die stattlichen
Kirchen erhalten; aber ganze Straßen bestanden nur aus Kellerräumen,
in denen elende Bewohner hausten. Von den vierzig Häusern des
großen Marktplatzes hatten achtundzwanzig keine Thüren, keine Dächer,
keine Fenster und keine Eigentümer. In ähnlicher Verfassung waren
andere Städte.
Auch die Mehrzahl des Landvolkes lebte in Zuständen, welche
den Beamten des Königs jämmerlich schienen, zumal an der Grenze
Pommerns, wo die wendischen Kassuben saßen. Wer dort einem
Dorfe nahte, der sah graue Hütten und zerrissene Strohdächer auf
kahler Fläche, ohne einen Baum, ohne einen Garten; — nur die
Sauerkirschbäume waren altheimisch. Die Häuser waren aus hölzernen
Sprossen gebaut, mit Lehm ausgeklebt; durch die Hausthür trat man
iu die Stube mit großem Herd ohne Schornstein; Stubenöfen waren
unbekannt, selten wurde ein Licht angezündet, nur der Kienspan erhellte
das Dunkel der langen Winterabende; das Hauptstück des elenden Haus-
haltes war das Kruzifix, darunter der Napf mit Weihwasser.
Das schmutzige und wüste Volk lebte von Brei aus Roggenmehl,
oft nur von Kräutern, die sie als Kohl zur Suppe kochten, von
Heringen und Branntwein, dem Frauen wie Männer unterlagen. Brot
31. Fürsorge Friedrichs des Großen für die 1772 neu erworbenen Landesteile. 229
Wurde nur von den reichsten gebacken. Viele hatten in ihrem Leben
nie einen solchen Leckerbissen gegessen; in wenig Dörfern stand ein Back-
ofen. Hielten die Leute ja einmal Bienenstöcke, so verkauften sie den
Honig an die Städter, außerdem geschnitzte Löffel und gestohlene Rinde;
dafür erstanden sie auf den Jahrmärkten den groben, blauen Tuchrock,
die schwarze Pelzmütze und das hellrote Kopftuch für ihre Frauen.
Nicht häufig war ein Webestuhl, das Spinnrad kannte man gar nicht.
Die Preußen hörten dort kein Volkslied, keinen Tanz, keine Musik,
Freuden, denen auch der elendste Pole nicht entsagt; stumm und
schwerfällig trank das Volk den schlechten Branntwein, prügelte sich
und taumelte in den Winkel. Auch der Bauernadel unterschied sich
kaum von den Bauern; er führte seinen Hakenpslug selbst und klapperte
in Holzpantoffeln auf dem ungedielten Fußboden seiner Hütte. Schwer
wurde es auch dem Preußenkönig, diesem Volke zu nützen. Nur die
Kartoffeln verbreiteten sich schnell; aber noch lange wurden die befohlenen
Obstpflanzungen von dem Volke zerstört, und alle anderen Kulturversuche
fanden Widerstand.
Selbst auf den Gütern der größeren Edelleute, der Starosten und
der Krone waren alle Wirtschaftsgebäude verfallen und unbrauchbar.
Wer einen Brief befördern wollte, mußte einen besonderen Boten schicken;
denn es gab keine Post im Lande; freilich fühlte man in den Dörfern
auch nicht das Bedürfnis danach; denn ein großer Teil der Edelleute
konnte so wenig lesen und schreiben wie die Bauern. Wer erkrankte,
sand keine Hilfe, als die Geheimmittel einer alten Dorffrau; denn es
gab im ganzen Lande keine Apotheken. Wer einen Rock bedurfte, that
wohl, sich selbst die Nadel in die Hand zu nehmen; denn auf viele
Meilen weit war kein Schneider zu finden, wenn er nicht abenteuernd
durch das Land zog. Wer ein Haus bauen wollte, der mochte zu-
sehen, wo er von Westen her Handwerker gewann.
Es war in der That ein verlassenes Land, ohne Zucht, ohne
besetz, ohne Herrn; es war eine Einöde; auf 600 Quadratmeilen
wohnten 500 000 Menschen, nicht 850 auf der Meile. Bis zur Gegen-
wart erhielt sich in Ermland, der Landschaft um Heilsberg und
Braunsberg mit zwölf Städten und hundert Dörfern, die Erinnerung,
daß zwei preußische Tambure mit zwölf Mann das ganze Ermland
durch vier Trommelschläge erobert hatten. Und darauf begann der
König in feiner großartigen Weise die Kultur des Landes, und West-
preußen wurde, wie bis dahin Schlesien, fortan sein Lieblingskind, das
^r mit unendlicher Sorge, wie eine treue Mutter, wusch und bürstete,
neu kleidete, zu Schule und Ordnung zwang und immer im Auge
behielt. Noch dauerte der Streit den dürften um den Erwerb,
230 31. Fürsorge Friedrichs des Großen für die 17 72 neu erworbenen Landesteile.
da warf er schon eine Schar seiner besten Beamten in die"Wildnis;
die Landschaften wurden in kleine Kreise geteilt; die gesamte Boden«
fläche war in kürzester Zeit abgeschätzt und gleichmäßig besteuert, jeder
Kreis mit einem Landrat, einem Gericht, mit Post und Sanitäts-
polizei versehen. Neue Kirchengemeinden wurden wie durch einen
Zauber ins Leben gerufen, eine Kompagnie von 187 Schullehrern wurde
in das Land geführt, — Haufen von deutschen Handwerkern wurden
geworben, vom Maschinenbauer bis zum Ziegelstreicher hinab. Überall
begann ein Graben, Hämmern, Bauen, die Städte wurden neu mit
Menschen besetzt, Straße auf Straße erhob sich aus den Trümmer-
haufen.
Im ersten Jahre nach der Besitznahme wurde der große Kanal
gegraben, welcher in einem Laufe von drei Meilen die Weichsel durch
die Netze mit der Oder und Elbe verbindet; ein Jahr, nachdem der
König den Befehl erteilt, sah er selbst beladene Oderkähne von fünf-
unddreißig Meter Länge nach dem Osten zur Weichsel einfahren.
Durch die neue Wasserader wurden weite Strecken Land entsumpft
und sofort durch deutsche Kolonisten besetzt. Unablässig trieb der König,
er lobte und schalt; wie groß der Eifer seiner Beamten war, sie ver-
mochten selten ihm genug zu thun. Dadurch geschah es, daß in wenig
Jahrzehnten das wilde, slavische Unkraut, welches dort auch über deut-
schen Ackerfurchen aufgeschossen war, gebändigt wurde, daß auch die
polnischen Landstriche sich an die Ordnung des neuen Lebens gewöhnten,
und daß Westpreußen in den Kriegen seit 1806 sich fast ebenso
preußisch bewährte als die alten Provinzen.
Während der greise König sorgte und schuf, zog ein Jahr nach
dem anderen über sein sinnendes Haupt; stiller war es um ihn, leerer
und einsamer, kleiner der Kreis von Menschen, denen er sich öffnete.
Unermüdlich arbeitete er an seinem Heere, an dem Wohlstände seines
Volkes, immer weniger galten ihm seine Werkzeuge, immer höher und
leidenschaftlicher wurde das Gefühl für die große Pflicht seiner
Krone.
Wie er selbst sein Behagen und seine Ausgaben dem Wohl des
Staates unterordnete, zuerst an den Vorteil des Volkes und zuletzt
an sich dachte, so sollten alle seine Unterthanen bereitwillig das tragen,
was er ihnen an Pflicht und Last auflegte. Jeder sollte in dem Kreise
bleiben, in den ihn Geburt und Erziehung gesetzt; der Edelmann sollte
Gutsherr und Offizier sein, dem Bürger gehörte die Stadt, Handel,
Industrie, Lehre und Erfindung, dem Bauer der Acker und die Dienste.
Aber in seinem Stande sollte jeder gedeihen und sich wohl fühlen.
Unablässig war er bemüht, die Morgenzahl des Ackerbodens zu ver-
32. Washington und Franklin.
231
größer«, neue Stellen für Ansiedler zu schaffen. Sümpfe wurden aus-
getrocknet, Seeen abgezapft, Deiche aufgeworfen, Kanäle wurden gegraben,
Vorschüsse bei Anlagen neuer Fabriken gemacht, Städte und Dörfer
auf Antrieb und mit Geldmitteln der Regierung massiver und gesünder
wieder aufgebaut; das landschaftliche Kreditsystem, die Feuersocietät,
die königliche Bank wurden gegründet; überall wurden Volksschulen
eingerichtet, unterrichtete Leute herangezogen, überall Bildung und
Ordnung des regierenden Beamtenstandes durch Prüfungen und strenge
Kontrolle gefördert. Gustav zreyrag.
32. Washington*) und Franklin.
1. Ansiedelungen in Nordamerika. Der Norden von
Amerika war, als er zuerst von Europäern betreten wurde, eine rauhe
Wildnis voll undurchdringlicher Wälder und wüster Sümpfe. Daher
dauerte es lange Zeit, bis hier feste Niederlassungen gegründet wurden.
Die ersten Ansiedler kamen aus England. Sie hatten mit großen
Beschwerden zu kämpfen, um den Boden urbar zu machen; allein ihre
Ausdauer besiegte doch mehr und mehr die Hindernisse, welche sich
ihnen entgegenstellten, und ihr Fleiß bei der Bebauung ihrer Felder
fand allmählich guten Lohn. So kam es, daß die Einwanderung aus
Europa immer stärker wurde und der Anbau des Landes sich weiter
und weiter ausdehnte. In 150 Jahren betrug die Bevölkerung schon
3 Millionen Menschen, und manche neu gegründete Stadt wuchs durch
die Betriebsamkeit ihrer Bewohner mit erstaunlicher Schnelligkeit zu
hoher Blüte empor.
2. Aufstand gegen die Engländer (1773—1783). Das
Land stand von Anfang an unter der Herrschaft der Engländer, welche
die meisten Niederlaffungen angelegt hatten. Und England behandelte
die Ansiedler sehr milde und verlangte von ihnen lange Zeit keine
Abgaben; denn der starke Handelsverkehr, den es mit ihnen unterhielt,
brachte ihm reichen Gewinn. Nun hatte es aber zur Ausbreitung
seiner Herrschaft einen großen Krieg mit Frankreich geführt, und dieser
Krieg hatte ihm viel Geld gekostet. Um seine Schulden abzutragen,
fing es daher an, auch den Nordamerikanern Steuern aufzuerlegen.
Das verdroß diese, und sie sprachen: „England zieht durch seinen
Handel aus unserem Lande Vorteile genug; wir lassen uns von ihm
keine Abgaben vorschreiben." Doch die Engländer beharrten auf ihrer
Forderung. Da standen die Nordamerikaner auf, um die englische
Herrschaft abzuwerfen, und aus dem Aufstande wurde ein Krieg, der
*) spr. Nöschingt'n.
232
32. Washington und Franklin.
7 Jahre dauerte. Sie hatten in diesem einen trefflichen Mann zum
Heerführer, der hieß Washington. Er war der Sohn eines reichen
Gutsbesitzers und hatte frühe seinen Vater verloren, aber durch einen
tüchtigen Lehrer die beste Erziehung erhalten. Dann hatte er als
junger Mann mit Anszeichnung gegen die Franzosen gefochten, welche
in Amerika Eroberungen zu machen suchten. Seine Redlichkeit war
ebenso groß als seine Einsicht und Tapferkeit. Darum vertrauten sich
seine Mitbürger mit Freuden seiner Führung an, als der Krieg mit
England begann. Und Washington leitete diesen Krieg höchst ruhm-
voll. Aus Leuten, welche bisher nur ihre Felder bebaut oder bürger-
liche Gewerbe betrieben hatten, bild.te er in kurzer Zeit kampfestüchtige
Soldaten, wußte auch unter den
schwierigsten Umständen ihren Mut
aufrecht zu erhalten und führte sie
gegen einen starken, wohlgerüsteten
Feind zu entscheidenden Siegen.
So nötigte er England, endlich-
vom Kampfe abzustehen und seiner
Herrschaft zu entsagen. Nord-
amerika wurde ein unabhängiger
Freistaat. Nach der Erreichung
dieses herrlichen Zieles legte der
edle Held seine Feldherrnstelle nie-
der und zog sich, mit dem Tante
eines ganzen Volkes belohnt, in die
Einsamkeit des Landlebens zurück.
3. Washington Präsident
Washington. des Freistaates. Allein seine
Mitbürger bedurften seiner noch
ferner. Er erschien ihnen unter allen der würdigste, dem neuen
Staate vorzustehen. Sie erhoben ihn daher einmütig zu der obersten
Stelle in seinem Vaterlande, zum Präsidenten des nordamerika-
nischen Freistaates. Auch dieses Amt bekleidete er in hohen Ehren.
Als er nach achtjähriger, weisheitsvoller und gesegneter Regierung von
neuem auf sein Landgut zurückkehrte, um dort als einfacher Bürger
seine letzten Tage zu verbringen, folgte ihm der Beifall der ganzen
Welt in seine Zurückgezogenheit. Er starb dort nach zwei Jahren.
Ihm zu Ehren wurde die Stadt Washington gegründet und zur
Hauptstadt des ganzen Freistaats erhoben.
4. Der Buchdrucker Franklin. Neben Washington hat
sich noch ein anderer Nordamerikaner große Verdienste um sein Vater-
land erworben. Das war Benjamin Franklin, der Sohn eines
Seifensieders in der Stadt Bo sto n. Er erlernte die Buchdruckerkunst,
beschäftigte sich aber in allen seinen freien Stunden und oft bis spät
in die Nacht hinein mit dem Lesen guter Bücher. Hierdurch erwarb
32. Washington und Franklin.
233
er sich tüchtige Kenntnisse, und kleine Aufsätze, welche er erscheinen
ließ, wurden mit Beifall aufgenommen. Allmählich brachte er es dahin,
in Philadelphia eine eigene Druckerei zu errichten, und sein unermüd-
licher Fleiß, seine Mäßigkeit und Sparsamkeit verschafften ihm ein
gutes Auskommen, während er durch seine Rechtlichkeit und Einsicht
sich die Liebe und Achtung aller seiner Mitbürger erwarb. Hoch-
verdient machte er sich durch die wichtige Erfindung des Blitz-
ableiters. Jetzt wurde Franklins Name weltbekannt.
Als endlich der Streit mit England begann, wirkte er aufs
kräftigste für Nordamerikas Befreiung. Schon ein siebenzigjähriger
Greis, begeisterteer seine Lands-
leute durch feurige Schriften
zum Freiheitskampfe. Dann
ging er als Gesandter nach
Paris, um seinem Volke die
Freundschaft und Hilfe der
Franzosen zu verschaffen. Sein
schlichtes, würdevolles Wesen
gewann ihm in der glänzenden
Hauptstadt allgemeine Vereh-
rung, ein Bündnis mit Frank-
reich kam durch seine geschickte
Unterhandlung zustande, und
einige Jahre später konnte er
auch den Friedensvertrag mit
England unterzeichnen, der
Nordamerikas Freiheit aner-
kannte. Als er nach langer Franklin.
Abwesenheit in seine Heimat zurückkehrte, wurde er mit lautem Jubel
empfangen; alles wetteiferte, ihm Beweise der Dankbarkeit und Hoch-
achtung zu geben. Trotz seines hohen Alters verwaltete er dann noch
mehrere wichtige Ämter und blieb bis an seinen Tod unermüdlich
sür das Gedeihen des jungen Freistaats thätig. Er starb, 84 Jahre
alt, vom ganzen Volke betrauert. „Ich habe," sagte er vor seinem
Ende, „lange gelebt und einen großen Teil von dieser Welt gesehen.
Jetzt fühle ich das Verlangen, auch eine andere Welt kennen zu lernen,
und überlasse fröhlich und mit kindlichem Vertrauen meine Seele dem
großen und guten Vater der Menschheit, der mich von meiner Geburt
an so gnädig beschützt und gesegnet hat." Die Grabschrift, welche er
sich selbst gesetzt hat, lautet: „Hier ruhet der Leib Benjamin Franklins,
eines Buchdruckers, als Speise für die Würmer, gleich dem Deckel
eines alten Buches, aus welchem der Inhalt herausgenommen und
der seiner Inschrift und Vergoldung beraubt ist. Doch wird das
Werk selbst nicht verloren sein, sondern dermaleinst wieder erscheinen
in einer neuen und schöneren Ausgabe, durchgesehen und verbessert
von dem Verfasser." , Anvrä.
234 33. Die französische Revolution. 34. Die Hinrichtung Ludwigs XVI. rc.
33. Die französische Revolution.
Jahrhunderte hindurch hatte Frankreich das Unglück, von selbst-
süchtigen und ausschweifenden Fürsten beherrscht zu werden. „Der Staat
bin ich!" das war der Grundsatz Ludwigs XIV., welcher vom Jahr 1643
an bis zum Jahre 1715 über Frankreich herrschte. Aus den nichts-
würdigsten Ursachen schleuderte er die Brandfackel des Krieges in die
blühenden Nachbarländer, ließ herzlos seine Völker zur Schlachtbank
führen und vergeudete in dem unerhörtesten Luxus das Mark der Nation.
Unter seinem Nachfolger, Ludwig XV., wuchs die Ausschweifung des Hofes
ins schauerliche; Paris wurde zu einem Sumpf des Lasters. Als
Ludwig XV. starb, überstiegen die jährlichen Ausgaben des Staats die
Einnahmen um 125 Millionen Franken. Ein redlicher Minister deckte
enbitcl) diese Sachlage offen auf. Da drang ein Schrei des Entsetzens
durch das ganze Volk. Alles rief nach Einschränkungen und Verbesserungen.
König Ludwig XVI. war zwar wohlwollend und menschenfreundlich, aber
schwach; und es war so weit gekommen, daß alle Versuche, zu helfen, den
Riß nur noch ärger machten. Schon im Juli 1789 bildete sich unter
entsetzlichem Tumult und Geschrei und mannigfaltigem Blutvergießen eine
Bürgerwehr, Nationalgarde genannt, die als Abzeichen eine dreifarbige
Kokarde trug. Aus den Zeughäusern holte sie sich Säbel, Flinten und
Kanonen, und dann ging es im wilden Sturme gegen die Bastille*),
eine durch Mauern und Türme wohlverwahrte Festung in Paris, welche
bisher der königlichen Gewaltthätigkeit zum Bollwerk gedient hatte. Sie
ward erobert und von Grund aus zerstört. Bedeutende Männer fielen
als das Opfer der Volkswut. Im Oktober endlich drang der Pöbel
(Nationalgarden und Weiber) in unermeßlichen Massen tobend und mordend
in das königliche Schloß zu Versailles**) und nötigte den König,
seinen Sitz nach P a ri s zu verlegen. Die Nationalversammlung verlangte
dasselbe, und der König war jetzt Gefangener seiner Hauptstadt. Was
aber nun mit dem König anfangen? — Dem machte man den Prozeß,
und was half ihm alle seine Verteidigung? Durch eine Mehrheit von
fünf Stimmen wurde er zum Tode verurteilt und am 21. Januar 1793
durch die Guillotine***) enthauptet. Haupt.
34. Die Hinrichtung Ludwigs XVI. und das Schicksal der Seinigen.
1. Die Hinrichtung des Königs. Als dem Könige das
Todesurteil bekannt gemacht wurde, hörte er es ruhig an. Er ver-
langte nur drei Tage Aufschub der Vollstreckung, um sich zum Tode
vorzubereiten, den Beistand eines Geistlichen und freien Umgang mit
den Seinigen. Hartherzig bewilligte man nur die beiden letzten Bitten.
Sonntag, den 20. Januar, abends kamen die Seinigen zu ihm. Sie
fielen ihm um den Hals, und mehrere Minuten vergingen in Schweigen
*) spr. Bastij'. **) spr. Wersahlj. ***) spr. Gifotin'.
34. Dìe Hinrichtung Ludwigs XVI. und das Schicksal der Seinigen. 235
und Schluchzen. Dann führte der König sie in sein Speisezimmer,
und hier waren sie fast noch 2 Stunden allein. Sie schieden nicht,
bis der König ihnen das Versprechen gab, sie am nächsten Morgen,
ehe er zur Hinrichtung geführt würde, nochmals zu sehen. Aber als
er in sein Zimmer zurückgekehrt war, fühlte er sich übermannt vom
lange verhaltenen Schmerze; zu hart war eine nochmalige solche
Prüfung; mit großen Schritten auf- und abgehend, rief er endlich aus:
»Nein, ich gehe nicht, es ist zu viel."
ErschliefruhigeinigeStunden;
um 5 Uhr weckte ihn sein treuer
Kammerdiener dem empfangenen
Befehle gemäß. Er nahm das
Abendmahl und übergab dem
Diener alles, was ihm, dem einst
Mächtigen und Reichen, geblieben
war: seinen Trauring und einige
Haare für seine unglückliche Ge-
mahlin und ein Siegel für seinen
Sohn zum Angedenken, bat ihn auch
wiederholt, die Seinigen zu trösten
und ihn zu entschuldigen, daß er
sie nicht noch einmal gesehen. Schon
hörte man die gräßlichen Vorbe-
reitungen, das Getöse verworrener Ludwig xvi.
Stimmenden Wirbel derTrommeln
und das dumpfe Rasseln fahrender Kanonen. Endlich um 9 Uhr kam
Santerre*), einer der Hauptanführer des Pöbels. „Sie kommen,
um mich abzuholen," sagte Ludwig gefaßt; „ich bitte nur um einen
Augenblick." Er übergab sein Testament einem städtischen Beamten,
forderte dann seinen Hut und sagte mit fester Stimme: „Gehen wir!"
Auf der Treppe sah er den Geistlichen auf sich warten. Er
wollte von ihm Abschied nehmen. „Nein," erwiderte dieser edle und
standhafte Tröster, „mein Beruf ist noch nicht zu Ende," und er
folgte ihm in einem zweiten Wagen, da ihm die Herzlosigkeit nicht
verstattete, an Ludwigs Seite Platz zu nehmen. Langsam ging der
Zug durch eine Doppelreihe von Soldaten — über 40 000 Mann
standen unter den Waffen — dem Revolutionsplatze zu, wo die Guillo-
tine aufgerichtet stand. Es dauerte über eine Stunde, ehe man ankam.
Es war die letzte Prüfung für den armen König, gewiß eine der
härtesten. Als Ludwig auf dem Richtplatze angekommen war und den
Wagen verlassen hatte, trat ihm sogleich der Geistliche zur Seite. Mit
festem Schritte stieg der Verurteilte die Stufen des Blutgerüstes hinan
und empfing dort den Segen des Priesters. Er ließ sich, obwohl mit
Widerstreben, die Hände binden, trat dann aber lebhaft, wenn gleich
*) fpr. ßangtär.
/
236 34. Die Hinrichtung Ludwigs XVI. und das Schicksal der Seinigcn.
schon entkleidet, gegen die linke Seite des Schaffots hervor und begann
mit vernehmlicher Stimme: „Franzosen, ich sterbe unschuldig, und du,
unglückliches Volk------", da übertönte das Wirbeln der Trommeln,
wozu seine Henker schnell das Zeichen gegeben hatten, seine Stimme.
Er trat zurück, die rohe Gewalt der Scharfrichter nicht abwartend;
der Priester rief ihm zu: „Sohn des heiligen Ludwig, steige zum
Himmel empor!" und das einst gekrönte Haupt des milden Königs
fiel. Kaum war die Hinrichtung geschehen, so drängten sich tausende
herbei, und viele davon tauchten, die Gefahr und die Wut der
Schreckensmänner nicht achtend, ihre Schnupftücher in das Blut des
Königs. Die Henker Ludwigs eilten deshalb, den Leichnam ihren
Blicken zu entziehen. Man versenkte den Körper in ungelöschten Kalk,
als wenn man das Andenken des Vaters aus dem Gedächtnisse guter
Kinder, eine schändliche That aus den Tafeln der Geschichte weglöschen
könnte.
2. Hinrichtung seiner Gemahlin und Schwester. Man
konnte nicht hoffen, daß die Königin ihren Gemahl lange überleben
würde; denn sie war bei der Hefe des Volkes noch mehr als er
Gegenstand des Hasses. Am 16. Oktober 1793 wurde Maria
Antoinette,*) die einst allgebietende Königin von Frankreich, Maria
Theresias Tochter, wie eine gemeine Verbrecherin, mit rückwärts
gebundenen Händen auf offenem Karren nach dem Richtplatze geführt.
Auf dem Blutgerüste warf sie nur noch einen wehmütigen Blick auf
die Tuilerien**) und empfing dann mit Ergebung in den Willen Gottes
den Todesstreich. Dasselbe Schicksal hatte am 10. Mai 1794 Ludwigs
tugendhafte Schwester, die Prinzessin Elisabeth. Mit der Ruhe
einer Dulderin stand sie am Fuße des Schaffots, wartend, bis fünf
und zwanzig andere vor ihr hingerichtet waren; ihr Auge blickte in
Demut und Vertrauen betend aufwärts.
3. Das Schicksal seiner Kinder. Das traurigste Los aber
traf den kleinen Dauphin.***) Der herrliche Knabe, weit entfernt,
gefährlich zu sein, war nicht einmal einer Beleidigung fähig. Dennoch
beschloß man den Tod dieses unschuldigen Kindes, und zwar durch ein
Mittel, gegen welches gewöhnlicher Mord eine Handlung des Mit-
leides ist. Der unglückliche Prinz wurde früh den Armen seiner
Eltern entrissen und dem verworfensten Bösewicht übergeben, den die
Gemeinde von Paris unter ihrer Rotte finden konnte. Simon hieß
dieser, ein Schuster, der, als man ihm das Kind gab, mit grinsender
Miene fragte: „Und was ist beschlossen über den jungen Wolf? Er
wurde zum Hochmute erzogen; ich aber werde ihn schon mürbe
machen." So gelang es diesem Ungeheuer, durch eine Reihe der
gröbsten Mißhandlungen diese zarte Blüte zu knicken. Der Dauphin
starb am 8. Juni 1795, erst acht Jahre alt. — Glücklicher war
*) spr. Ahng'toanät. **) spr. Tüilcnhn. ***) spr. Dofähng'.
35. Die Königin Luise während des unglücklichen Krieges. 237
Ludwigs Tochter, nun der einzige noch übrige Sprößling dieser
unglücklichen Familie. Sie wurde am 19. Dezember 1795, gerade an
ihrem siebzehnten Geburtstage, aus ihrem Gefängnisse und Vaterlande
entlassen und an Österreich gegen mehrere gefangene Franzosen aus-
gewechselt. In der Folge ward sie die Gemahlin des Herzoges von
Angouleme.*) Leo u. Weller.
35. Die Königin Luise während des unglücklichen Krieges.
Äie Königin hatte ihren Gemahl, der sie gern immer in seiner
Nähe wußte, auf seinen Wunsch vor dem Ausbruche des Krieges bis nach
Weimar begleitet. Am 13. Oktober in der Nachmittagsstunde brach sie
aus dem herzoglichen Schlosse in Weimar auf. um ihrem Gemahl nach
Auerstädt zu folgen. Aus dem Wege dorthin kam ihr das Gerücht
entgegen, der Feind stehe schon auf den Höhen hinter Kösen, die Straße
nicht mehr sicher. Man riet ihr, umzukehren. Als die Truppen die
Königin nach Weimar zurückfahren sahen, vermuteten sie, der Feind sei
rn der Nähe, und ein weithin schallendes Jauchzen, ein tausendstimmiges
Vivat brach aus den Reihen der kampflustigen Krieger. Die frohe
Stimmung des Heeres belebte sie mit frischem Vertrauen. Auf Zureden
entschloß sie sich, am folgenden Mor-
gen in der Frühe nach Berlin zurück-
zureisen. Auf ihrer viertägigenFahrt
aus Thüringen durch den Harz
und die Alt mark nach Berlin hörte
sie bis kurz vor Brandenburg nur un-
gewisse Nachrichten, bald frohe, bald
schreckliche. Was sie da empfunden,
was sie da gelitten, sie selbst hat es
„unsäglich" genannt, hat sich dieser
Fahrt, zwischen den Bergen der Hoff-
nung und denAbgründen des Zwei-
fels hindurch, mit den Worten er-
innert : „Da wird man inne, was der
Spruch bedeutet: wir wissen nicht,
was wir beten sollen; sondern der
Geist selbst vertritt uns mit unaus-
sprechlichem Seufzen."
Erst am vierten Tage nach
ihrer Abreise von Weimar, am
17. Oktober, ereilte sie nahe bei Brandenburg ein reitender Bote.
Sie nimmt dem heransprengenden Reiter das Schreiben aus der Hand;
es enthält in wenigen Zeilen die Bestätigung ihrer Furcht, die Ver-
‘) spr. Ahng'-gulähm.
238
35, Die Königin Luise während des unglücklichen Krieges.
nichtung ihres Höffens. Es ist, als sei die Lawine, die bisher drohend
über ihrem Wege hing, nun plötzlich erdrückend auf sie herabgerollt. Tief
bestürzt fährt sie weiter über Potsdam nach Berlin. Als sie am späten
Abend dort ankommt, sind ihre Kinder schon fort nach Schwedt an der Oder.
Es hieß, die Franzosen ständen schon vor den Thoren, und auf dieses
Gerücht hin bestimmte der Gouverneur*) der Hauptstadt die Lehrer
der königlichen Kinder, sie fürs erste nach Schwedt zu geleiten und dort
der weitern Bestimmung der Eltern zu harren. In Schwedt traf die
Königin mit ihren Kindern zusammen, erst in Küstrin wieder mit dem
König. Welch ein Wiedersehen! Auf dem Wege nach Königsberg in
Preußen eine Unglücksbotschaft nach der andern!
So vielen Leiden erlag die Gesundheit der Königin. Sie erkrankte
in Königsberg schwer am Nervenfieber. Der Leibarzt Dr. Hufeland
berichtet darüber: „Endlich ergriff der böse Typhus auch unsere herrliche
Königin, an der alle Herzen und auch unser Trost hing. Sie lag sehr
gefährlich darnieder, und nie werde ich die Nacht des 22. Dezember 1806
vergessen, wo sie in Todesgefahr lag, ich bei ihr wachte und zugleich ein
so fürchterlicher Sturm wütete, daß er einen Giebel des alten Schlosses,
in dem sie lag, herabriß, während das Schiff, welches den ganzen noch
übrigen Schatz und alle Kostbarkeiten enthielt, auf der See war. Indes
auch hier ließ Gottes Segen die Kur gelingen; sie fing an, sich zu bessern.
Aber plötzlich kam die Nachricht, daß die Franzosen heranrückten. Sie
erklärte bestimmt: „Ich will lieber in die Hände Gottes, als dieser
Menschen fallen." Und so wurde sie den 3. Januar 1807 bei der heftigsten
Kälte, bei dem fürchterlichsten Sturm und Schneegestöber in den Wagen
getragen und zwanzig Meilen weit über die kurische Nehrung nach Memel
geschafft. Wir brachten drei Tage und drei Nächte, die Tage teils in
den Sturmwellen des Meeres, teils im Eise fahrend, die Nächte in den
elendesten Nachtquartieren zu. Die erste Nacht lag die Königin in einer
Stube, wo die Fenster zerbrochen waren und der Schnee ihr auf das
Bett geweht wurde, ohne erquickende Nahrung. So hat noch keine Königin
die Not empfunden! — Ich dabei in der beständigen ängstlichen Besorgnis,
daß sie ein Schlagfluß treffen möchte. Und dennoch erhielt sie ihren
Mut, ihr himmlisches Vertrauen auf Gott aufrecht, und er belebte uns
alle. Selbst die freie Luft wirkte wohlthätig; statt sich zu verschlimmern,
besserte sie sich auf der bösen Reise. Wir erblickten endlich Memel am
jenseitigen Ufer; zum ersten Mal brach die Sonne durch und beleuchtete
mild und schön die Stadt, die unser Ruhe- und Wendepunkt werden
sollte. Wir nahmen es als ein gutes Omen an."
Dort in Memel, der nördlichsten Stadt Preußens, wo sie langsam
genesen ist, schrieb sie jene hochherzigen Briefe, von denen man gesagt
hat, „sie seien wie mit einer Feder aus dem Flügel des guten Engels
Preußens geschrieben". Adami.
*) spr. Guwernör.
36. Hofers Tvd.
239
36. Hofers Tod.
2m Presburger Frieden <1805) war Österreich genötigt morden,
Tirol an Bayern abzutreten. Dieser Regierungswechsel blieb jedoch auf
das Volk ohne Einfluß; mit unerschütterlicher Treue hing es am alten ange-
stammten Fürstenhause Österreich fest. Um seine Treue durch die That zu
beweisen, erhob es sich mehrfach gegen die Fremdherrschaft und wurde dabei
natürlich von Österreich unterstützt. Zu
den Häuptern des Volksaufstandes gehörte
namentlich Andreas Hofer, mit dem
Beinamen Sandwirt, weil das ihm
zugehörige Wirtshaus zu Passeyr im
Thale der Pasier gewöhnlich „der Sand"
genannt wurde. Ausgezeichnet durch hohe
Sittlichkeit, Mut, unerschütterliche Treue
und Vaterlandsliebe, gewann er bald das
volle Vertrauen seiner Landsleute. An
der Spitze eines Heeres von 20000 Mann
trat er den Bayern und Franzosen ent-
gegen und focht mehrfach mit bestem
Erfolge. Seine Anstrengungen waren
jedoch vergeblich. Kaiser Franz mußte
beim Friedensschlusie zu Schönbrunn
<14. Oktober 1809) sein treues Tirol den
Bayern lassen und seine Tiroler selber auffordern, sich den Siegern zu ergeben.
Getäuscht durch allerlei erlogene Nachrichten von Siegen der Österreicher, ließ
Hofer sich später von neuem verleiten, das Volk unter die Waffen zu rufen.
Das war den Franzosen ganz lieb; denn nun hatten sie Grund, den ihnen
schon längst verhaßten Hofer für vogelfrei zu erklären. Von nun an war er
in seiner Heimat nirgends mehr vor Aufpaffern und Schergen sicher. Leicht
hätte er sich durch die Flucht retten können; aber seine Anhänglichkeit an das
Vaterland ließ das nicht zu; er verbarg sich lieber in einer einsamen Alpen-
hütte unter Schnee und Eis zwei Monate lang vor seinen Verfolgern. Endlich
verriet ihn ein ehemaliger Genoffe, ein Priester, und führte die Häscher am
3v. Januar 1810, mitten in der Nacht, zu Hofers einsamer Hütte auf der
Alp. Dreimal pochten die Häscher; da tritt Hofer heraus und sagt ihnen frei
und stolz: „Ja, ich bin's, den ihr suchet; schonet nur mein Weib und meine
Kinder!" — Sie ergreifen ihn, nehmen ihn gefangen und bringen ihn, mit
Ketten gefeffelt, nach Mantua. Dort wird er vor ein französisches Kriegs-
Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Als er auf dem Richtplatze nieder-
knieen soll, spricht er: ,Lch stehe vor dem, der mich erschaffen hat, und stehend
ustll ich meinen Geist aufgeben." Dann drückt er das Kreuz des Heilandes
un seine Brust und ruft selber: „Gebt Feuer!" Der 19. Februar 1810 war
sein Todestag. Tschache.
240
37. Andreas Hofer. 38. Die Opfer von Wesel.
37. * Andreas Hofer.
1. ^u Mantua in Banden
der treue Hofer war;
in Mantua zum Tode
führt ihn der Feinde Schar;
es blutete der Brüder Herz,
ganz Deutschland, ach! in Schmach
und Schmerz,
mit ihm das Land Tirol.
2. Die Hände auf dem Rücken
Andreas Hofer ging
mit ruhig festen Schritten,
ihm schien der Tod gering,
der Tod, den er so manches Mal
vom Jselberg geschickt ins Thal
im heil'gen Land Tirol.
3. Doch als aus Kerkergittem
im festen Mantua
die treuen Waffenbrüder
die Händ' er strecken sah,
da rief er aus: „Gott sei mit euch,
mit dem verrat'nen deutschen Reich
und mit dem Land Tirol!"
4. Dem Tambur will der Wirbel
nicht unterm Schlägel vor,
als nun Andreas Hofer
schritt durch das finstre Thor.
Andreas, noch in Banden frei,
dort stand er fest auf der Bastei,
der Mann vom Land Tirol!
5. Dort soll er niederknieen;
er sprach: „Das thu' ich nit;
will sterben, wie ich stehe,
und wie ich stand und stritt,
so wie ich steh' auf dieser Schanz.
Es leb' mein guter Kaiser Franz,
mit ihm sein Land Tirol!
6. Und von der Hand die Binde
nimmt ihm ein Grenadier;
Andreas Hofer betet
zum letzten Mal allhier;
dann ruft er laut: „So trefft mich recht!
Gebt Feuer! — Ach, wie schießt ihr
schlecht!
Ade, mein Land Tirol!"
I. Mosen.
38. *Die Opfer von Wesel.
Generalmarsch wird geschlagen zu Wesel in der Stadt,
und alle fragen ängstlich, was das zu deuten hat.
Da führen sie zum Thore hinaus, still, ohne Laut,
die kleine Schar, die heiter dem Tod ins Auge schaut.
Sie hatten kühn gefochten mit Schill am Ostseestrand
und gehn nun kühn entgegen dem Tod fürs Vaterland.
Sie drücken sich wie Brüder die Hand zum letzten Mal;
dann stehn sie ernst und ruhig, die Elfe an der Zahl.
Und hoch wirft Hans von Flemming die Mütze in die Luft:
„Es lebe Preußens König!" die Schar einstimmig ruft.
Dann knattern die Gewehre, es stürzt der Braven Reih',
zehn treue Preußen liegen zerrissen von dem Blei.
Nur einer, Albert Wedell, trotzt jedem Blutgericht,
verwundet nur am Arme steht er und wanket nicht.
Da treten neue Schergen, auch ihn zu morden, vor,
und: „Gebet Achtung! — fertig!" — schallt's schrecklich ihm ins Ohr.
30. Freiherr von Stein.
241
,.O zielet," rüst er, „bester! hier sitzt das deutsche Herz!
Die Brüder überleben, ist mir der größte Schmerz!"
Schill.
Kaum hat er's ausgesprochen, die Mörder schlagen an,'
durchbohrt von ihren Kugeln liegt auch der letzte Mann.
So starben tapfre Preußen, durch Schande nie befleckt,
die nun zum ew'gen Ruhme ein Stein zu Wesel deckt.
w. Schmidt.
39. Freiherr von Stein.
Iu den ersten und hervorragendsten der Männer, welche in der Zeit
der tiefsten Erniederung unseres Vaterlandes seine innere Wiedergeburt
und die Befreiung von der Fremdherrschaft vorbereitet haben, gehört der
FreiherrvonStein. Friedrich Wilhelm III. berief ihn im Jahre 1807
zum ersten Minister, also in einer Zeit, in welcher unser Vaterland unter
dem Drucke der französischen Einquartierung und der kaum zu erschwingen-
den Kriegskontribution schmachtete. Zunächst war daher der kluge Staats-
mann darauf bedacht, die den Franzosen zu entrichtenden Kriegssteuern
so schleunig als möglich zu erledigen und dadurch die Last der Verpflegung
und Unterhaltung der fremden Truppen vom Lande abzuwenden. Aber
zugleich war er auch bemüht, das Volk innerlich zu heben. Der Bauern-
stand war damals größtenteils noch erbunterthänig, d. h. er war nicht
selbst Besitzer von Grund und Boden, sondern hatte ihn nur zum Nieß-
brauch und mußte dem Gutsbesitzer dafür schweren Frondienst, Natural-
Liefernngen und Geldabgaben leisten. So fehlte ihm der kräftige Trieb,
den Acker zu verbessern. Um nun einen freien Bauernstand zu schaffen,
hob der König im Jahre 1807 zunächst auf allen königlichen Domänen
die Erbunterthänigkeit auf. Gleich darauf wurde der freie Gebrauch des
Deutsches Lesebuch für kuth. Schulen. IV. Für Oberkl.rssen. 10
242
39. Freiherr von Stein.
Grundeigentums verfügt. Nun war auch den Bürgerlichen der Erwerb
adeliger Güter und den Adeligen der Betrieb bürgerlicher Gewerbe gestattet.
Die Städte bedurften gleichfalls einer gründlichen Änderung ihrer
Verhältnisse. Im Jahre 1808 erschien eine neue Städteordnung, durch
welche den Städten die Verwaltung
ihres Vermögens und aller ihrer
Angelegenheiten, die Wahl der Ma-
gistrate aus der Mitte der Bürger-
schaften und die Bildung von Stadt-
verordneten-Versammlungen über-
lassen wurde. Durch dieses Gesetz
wurde wieder Liebe zur Gemeinde,
Teilnahme an den öffentlichen An-
gelegenheiten und ein erhöhtes Ge-
fühl von Selbständigkeit und Ehre
erweckt.
Der Minister von Stein wurde
aber seinem heilsamen Wirken leider
nur zu bald entrissen. Ein aufge-
fangener Brief desselben erregte
Napoleons Zorn in so hohem Grade,
daß Stein selbst es für nötig hielt, sein Amt aufzugeben. Der König
entließ ihn mit den ehrendsten Beweisen seiner Anerkennung (1809).
Bonaparte aber verfolgte ihn mit einer förmlichen Achtserklärung. Deshalb
flüchtete der hochverdiente Mann aus Preußen und suchte zuerst in Prag,
sodann, da er auch da sich nicht sicher fühlte, in Petersburg, wohin ihn
Kaiser Alexander eingeladen hatte. Zuflucht. Von dort aus war er für
die Befreiung Deutschlands thätig. Als daher Napoleon 1812 mit Ruß-
land Krieg begann, waren es gerade Steins Ratschläge, welche den Russen
zeigten, wie sie den Kampf siegreich führen könnten. In dem glorreichen
Befreiungskriege hatte Stein die Freude, als oberster Verwaltuugsbeamter
dem Siegerzuge zu folge», frische Kriegerscharen nachzusenden, Kranke
und Verwundete zu pflegen.
Freiherr von Stein.
Als Deutschland von der Fremdherrschaft frei war, wollte Stein das
Werk vollenden, das deutsche Kaisertum wieder Herstellen und Elsaß-
Lothringen wieder mit dem Reiche vereinigen. Aber seine patriotischen
Bemühungen scheiterten. Die Zeit war damals für solche Umgestaltung
noch nicht reif. Er zog sich ins Privatleben zurück. Nach einem segens-
reichen Leben verschied der edle deutsche Mann 1831 in Westfalen. Sein
offenes, freies Gesicht, wie die vorstehende Abbildung es zeigt, bekundet
seinen geraden, ehrlichen, deutschen Sinn. Bei der Stadt Nassau, dem
Geburtsorte Steins, hat ihm das dankbare Volk ein Denkmal gesetzt,
welches von dem Kaiser Wilhelm eingeweiht worden ist, durch welchen
Steins Plan und Werk, die Wiederherstellung des deutschen Reiches, seine
Vollendung erhalten hat. Hahn u. Rcrner.
40. Breslau, den 17. März 1813.
243
40. Breslau, den 17. März 1813.
,,,-§o wenig für mein treues Volk, als für alle Deutsche bedarf
es einer Rechenschaft über die Ursachen des Krieges, welcher jetzt be-
ginnt. Klar liegen sie dem unverblendeten Sinne vor Augen. Wir
erlagen unter der Übermacht Frankreichs; der Friede schlug uns tiefere
Wunden als selbst der Krieg. Das Mark des Landes ward aus-
gesogeu; der Ackerbau sowie der Kunstfleiß der Städte gelähmt; die
Hauptfestnngen blieben vom Feinde besetzt. Übermut und Treulosig-
keit vereitelten meine besten Absichten, und nur zu deutlich sahen wir,
daß Napoleons Verträge mehr noch wie seine Kriege uns langsam
verderben mußten. Jetzt ist der Augenblick gekommen, wo alle
Täuschung anshört. Brandenburger. Preußen, Schlesier, Pommern,
Littauer! Ihr wißt, was euer trauriges Los sein wird, wenn wir
den Kampf nicht ehrenvoll endigen. Große Opfer werden von allen
gefordert werden; denn unser Beginnen ist groß, und nicht gering sind
die Zahl und die Mittel unserer Feinde. Aber welche Opfer auch
gefordert werden, sie wiegen die heiligen Güter nicht auf, für welche
wir sie hingeben, für die wir streiten und siegen müssen, wenn wir
nicht aufhören wollen, Preußen und Deutsche zu sein. Es ist der
letzte, entscheidende Kampf, den wir bestehen für unsere Existenz,
unsere Unabhängigkeit, unsern Wohlstand. Keinen andern Ausweg
giebt es, als einen ehrenvollen Frieden oder einen ruhmvollen Unter-
gang, weil ehrlos der Preuße und der Deutsche nicht zu leben ver-
mag. Mit Zuversicht dürfen wir vertrauen, Gott und ein fester
Wille werden unserer gerechten Sache den Sieg verleihen und mit ihm
die Wiederkehr einer glücklichen Zeit!"
Dieses Wort des Königs Friedrich Wilhelm III., dem schon am
Februar ein Ausruf zur freiwilligen Bewaffnung und am 16. März
die Kriegserklärung an Frankreich vorangegangen war, fiel wie ein
Zündender Funke in die Herzen der Preußen und entflammte eine Be-
geisterung, die nur das eine erstrebte: das Vaterland zu retten,
Deutschland zu befreien und den französischen Übermut zu brechen.
Krieg! Krieg! schallte es darum von den Karpaten bis zur
Ostsee, von dem N i e m en bis zur E l b e. Krieg! rief der Edelmann
und Landbesitzer, der verarmt war; Krieg! der Bauer, der sein letztes
Pferd unter Vorspann und Fuhren tot trieb; Krieg! der Bürger, den
die Einquartierungen und Abgaben erschöpften; Krieg! der Tagelöhner,
der keine Arbeit finden konnte; Krieg! die Witwe, die ihren einzigen
Tohn ins Feld schickte. Jünglinge, die kaum wehrhaft waren, Männer
mit grauen Haaren und wankenden Knieen, Offiziere, die wegen Wunden
und Verstümmelungen längst ebrenvoll entlassen waren, reiche Guts-
besitzer und Beamte, Väter zahlreicher Familien und Verwalter weit-
läufiger Geschäfte, in Hinsicht jedes Kriegsdienstes entschuldigt, wollten
sich selbst nicht entschuldigen; ja sogar Jungfrauen unter mancherlei
Verstellungen und Verlarvnngen drängten sich zu den Waffen; alle
244
41. Körner an seinen Vater.
wollten sich üben, rüsten und für das Vaterland streiten und sterben.
Jede Stadt, jeder Flecken, jedes Dorf schallte von Kriegslust und
Kriegsmusik und war in einen Übungs- und Waffenplatz verwandelt;
jede Feueresse ward eine Waffenschmiede. Und was die Männer unter
den Waffen und für die Waffen thaten, das that das zartere Geschlecht
der Frauen durch stille Gebete, brünstige Ermahnungen, fromme Ar-
beiten, Sorgen und Mühen für die Ausziehenden, Kranken und Ver-
wundeten. Wer kann die unzähligen Opfer und Gaben jener Zeit
zählen, die zum Teil unter den rührendsten Umständen dargebracht
sind! Wer kann die dem Vaterlande ewig teuren Namen der Frauen
nnd Jungfrauen aufrechnen, welche in einzelnen Wohnungen oder in
Krankenhäusern die Nackten gekleidet, die Hungrigen gespeist, die
Kranken gepflegt und die Verwundeten verbunden haben! So geschah
es von einem Ende des Reiches bis zum andern. Die Preußen hatten
vorher schon Fehrbellin, sie hatten die Tage von Roßbach und
Leuthen, die Schlachten von Torgau und Zorndorf; aber sie
haben nie Tage gehabt, wie die nun folgenden von Groß-Görschen
und von derKatzbach, von Dennewitz und von Leipzig; denn
sie haben niemals vorher weder mit einem so großen Geiste, noch für
eine so große Sache das Schwert gezogen. In diesem ihren Beginnen
sind sie allen übrigen Deutschen, wie verschiedene Namen sie auch
führen mögen, die glorreichen Vertreter und das erste Beispiel der
Freiheit und Ehre geworden. Haupt.
41. Körner an seinen Vater.
Wien, am 10. März 1813.
liebster Vater! Ich schreibe Dir diesmal in einer Angelegen-
heit, die, wie ich das feste Vertrauen zu Dir habe, Dich weder befremden,
noch erschrecken wird. Neulich schon gab ich Dir einen Wink über mein
Vorhaben, das jetzt zur Reife gediehen ist. — Deutschland steht auf ; der
preußische Adler erweckt in allen treuen Herzen durch seine kühnen Flügel-
schläge die große Hoffnung einer deutschen, wenigstens norddeutschen Frei-
heit. Meine Kunst seufzt nach ihrem Vaterlande, — laß mich ihr wür-
diger Jünger sein! — Ja. liebster Vater, ich will Soldat werden, will
das hier gewonnene glückliche und sorgenfreie Leben mit Freuden hin-
werfen, um, sei's auch mit meinem Blute, mir ein Vaterland zu erkämpfen.
— Nenn's nicht Übermut, Leichtsinn, Wildheit! — Vor zwei Jahren
hätte ich es so nennen lassen, jetzt, da ich weiß, welche Seligkeit in diesem
Leben reifen kann, jetzt, da alle Sterne meines Glücks in schöner Milde
auf mich niederleuchten, jetzt ist es bei Gott ein würdiges Gefühl, das
mich treibt, jetzt ist-es die mächtige Überzeugung, daß kein Opfer zu groß
sei für das höchste menschliche Gut, für seines Volkes Freiheit. Vielleicht
sagt Dein bestochenes väterliches Herz: Th e o d o r ist zu größeren Zwecken
da, er hätte auf einem andern Felde wichtigeres und bedeutendes leisten
42. Aus Körners Leben.
245
können, er ist der Menschheit noch ein großes Pfnnd zu berechnen schuldig.
Aber, Vater, meine Meinung ist die: zum Opfertode für die Freiheit
und für die Ehre seiner Nation ist keiner zu gut, wohl aber sind viele
zu schlecht dazul
Daß ich mein Leben wage, das gilt nicht viel; daß aber dies Leben
mit allen Blütenkränzen der Liebe, der Freundschaft, der Freude ge-
schmückt ist, und daß ich es doch wage, daß ich die süße Empfindung hin-
werfe, die mir in der Überzeugung lebte. Euch keine Unruhe, keine Angst
zu bereiten, das ist ein Opfer, dem nur ein solcher Preis entgegengestellt
werden darf. — In Breslau, als dem Sammelplätze, treffe ich zu den
freien Söhnen Preußens, die in schöner Begeisterung sich zu den Fahnen
ihres Königs gesammelt haben. Ob zu Fuß oder zu Pferd, darüber bin
ich noch nicht entschieden und kommt einzig auf die Summe Geldes an,
die ich zusammenbringe. — Toni hat mir auch bei dieser Gelegenheit
ihre große, edle Seele bewiesen. Sie weint wohl aber der geendigte
Feldzug wird ihre Thränen schon trocknen. — Die Mutter soll mir ihren
Schmerz vergeben; wer mich liebt, soll mich nicht verkennen, und Du
wirst mich Deiner würdig finden. Dein Theodor.
42. Aus Körners Leben.
t. Körners Entschluß, sich als einen der Kämpfer für Deutschlands
Rettung zu stellen, sobald sich irgend eine Möglichkeit des Erfolges zeigen
würde, war schon gefaßt, ehe der preußische Aufruf erscholl. Nichts hielt ihn
mehr zurück, als dieser erschien. „Deutschland steht auf." schrieb er an seinen
Vater, „der preußische Adler erweckt in allen treuen Herzen durch seine kühnen
Flügelschläge die große Hoffnung einer deutschen Freiheit." Als er von
Wien aus in Breslau ankam, hatte eben der damalige Major von
Lützow die Errichtung der unter seinem Namen bekannten Freischar an-
gekündigt. Auf seinen Nus strömten von allen Seiten gebildete Männer und
Jünglinge zum Kampfe für Deutschlands Befreiung herbei. Begeisterung für
die höchsten Güter des Lebens vereinigte hier die verschiedensten Stände,
Offiziere, die schon mit Auszeichnung gedient hatten, mit angesehenen Staats-
beamten, mit Gelehrten und Künstlern von Berdienst, mit vermögenden Guts-
besitzern und mit einer hoffnungsvollen Jugend. Von einem solchen Bunde
mußte Theodor Körner sich unwiderstehlich angezogen fühlen, und sein Bei-
tritt erfolgte am 19. März.
Wenige Tage darauf wurde die Lützowsche Freischar in einer Dorfkirche
nicht weit von Zobten feierlich eingesegnet. In Körners Briefen findet sich
darüber folgende Stelle:
„Nach Absingung des Liedes" keines Choralgesanges, den Körner ge-
dichtet hatte) „hielt der Prediger des Ortes eine kräftige, ergreifende Rede.
Kein Auge blieb trocken. Zuletzt ließ er uns den Eid schwören, für die
Sache des Vaterlandes und der Religion weder Blut, noch Gut zu
^""en. und freudig zui" Siege oder Tode zu gehen. Wir schwuren! —
246
42. Aus Körners Leben.
Darauf warf er sich auf die Kniee und flehte Gott um Segen für seine
Kämpfer an. Bei dem Allmächtigen, es war ein Augenblick, wo in jeder
Brust die Todesweihe flammend zuckte,
wo alle Herzen heldenmütig schlugen.
Der mit Würde vorgesagte und von
allen nachgesprochene Kriegeseid, auf
die Schwerter der Offiziere geschworen,
und: Ein' feste Burg ist unser Gott rc.
machte das Ende dieser herrlichen
Feierlichkeit."
Als tüchtiger Kamerad erwarb er
sich bald die Achtung seiner Waffen-
brüder und gewann ihre Liebe als
willkommener und treuer Geführte in
Freude und Leid.
Was in den Stunden der Muße
ihn vorzüglich beschäftigte, waren
kriegerische Gesänge.
2. Am 26. August 1813 be-
stimmte der Major von Lützow einen
Teil der Reiterei seiner Freischar zu einem von ihm selbst im Rücken des
Feindes auszuführenden Streifzuge. Eine Stunde vor Beginn des Kampfes
entstand während der Rast in einem Gehölze Körners letztes Gedicht: „Das
Schwertlied". Am dämmernden Morgen hatte er es in sein Taschenbuch ge-
schrieben und las es einem Freunde vor, als das Zeichen zum Angriff gegeben
wurde.
Auf der Straße von Gadebusch nach Schwerin, nahe an einem Gehölze,
kam es zum Gefechte. Der Feind war zahlreicher, als man geglaubt hatte;
aber nach einem kurzen Widerstände floh er über eine schmale Ebene in das
nahe vorliegende Gebüsch von Unterholz. Unter denen, die ihn am kühnsten
verfolgten, war Körner, und hier fand er den schönen Tod, den er so oft
geahnt und mit Begeisterung in seinen Liedern gepriesen hatte.
Die Plänkler, welche schnell in dem niedrigen Gebüsche einen Hinterhalt
gefunden hatten, sandten von da aus auf die verfolgenden Reiter eine große
Menge Kugeln. Eine derselben traf Körner, nachdem sie zunächst durch den
Hals seines Schimmels gegangen war. in den Unterleib, verletzte die Leber
und das Rückgrat und benahm ihm sogleich Sprache und Bewußtsein. Seine
Gesichtszüge blieben unverändert und zeigten keine Spur einer schmerzhaften
Empfindung. Nichts war vernachlässigt worden, was seine Erhaltung noch
hätte möglich machen können. Sorgfältig hatten ihn seine Freunde aufgehoben.
Von den beiden, welche während des fortdauernden Feuerns auf diesem
Punkte ihm zuerst zueilten, um ihm zu helfen, folgte einer, der zu den herr-
lichsten und vollendetsten jungen Männern gehörte, die für den heiligen Kampf
begeistert waren und begeistert haben — der edle Friesen, — Körner ein
Körner.
43. Lützows wilde Jagd.
247
halbes Jahr darauf. Sanft wurde Körner in den nahen Hochwald getragen
und einem geschickten Wundarzte übergeben; aber umsonst war alle mensch-
liche Hilfe.
Körner wurde unter einer Eiche, nahe bei dem Dorfe Wöbbel in, das
von Ludwigslust eine Meile entfernt ist, mit alley kriegerischen Ehrenbezeigungen
und mit besonderen Zeichen der Achtung und Liebe von seinen tiefgcrührten
Waffenbrüdern begraben. vernalcken.
43. * Lützows wilde Jagd.
1. Was glänzt dort vom Walde im Sonnenschein?
Hör's näher und näher brausen.
Es zieht sich herunter in düsteren Reih'n,
und gellende Hörner schallen darein,
und erfüllen de Seele mit Grausen.
Und wenn ihr die schwarzen Gesellen fragt:
Das ist Lützows wilde, verwegene Jagd.
Lützow.
2. Was zieht dort rasch durch den finstern Wald
und streift von Bergen zu Bergen?
Es legt sich in nächtlichen Hinterhalt,
das Hurra jauchzt, und die Büchse knallt,
es fallen die fränkischen Schergen.
Und wenn ihr die schwarzen Jäger fragt:
Das ist Lützows wilde, verwegene Jagd.
248
44. Blücher am Rhein.
3. Wo die Reben dort glühen, dort braust der Rhein,
der Wütrich geborgen sich meinte;
da naht es schnell mit Gewitterschein
und wirft sich mit rüst'gen Armen hinein
und springt ans Ufer der Feinde.
Und wenn ihr die schwarzen Schwimmer fragt:
Das ist Lützows wilde, verwegene Jagd.
4. Was braust dort im Thale die laute Schlacht,
was schlagen die Schwerter zusammen?
Wildherzige Reiter schlagen die Schlacht,
und der Fuuke der Freiheit ist glühend erwacht
und lodert in blutigen Flammen.
Und wenn ihr die schwarzen Reiter fragt:
Das ist Lützows wilde, verwegene Jagd.
5. Wer scheidet dort röchelnd vom Sonnenlicht,
unter winselnde Feinde gebettet? —
Es zuckt der Tod auf dem Angesicht;
doch die wackern Herzen erzittern nicht,
das Vaterland ist ja gerettet!
Und wenn ihr die schwarzen Gefallenen fragt:
Das war Lützows wilde, verwegene Jagd.
ß. Die wilde Jagd und die deutsche Jagd
auf Henkwsblut und Tyrannen! —
Drum, die ihr uns liebt, nicht geweint und geklagt;
das Land ist ja frei, und der Morgen tagt,
wenn wir's auch nur sterbend gewannen!
Und von Enkeln zu Enkeln sei's nachgesagt:
Das war Lützows wilde, verwegene Jagd.
Theodor Körner.
44. * Blücher am Rhein.
Die Heere blieben am Rheine stehn.
Soll man hinein nach Frankreich gehn?
Man dachte hin und wieder nach;
allein der alte Blücher sprach:
„Generalkarte her!
Nach Frankreich gehn ist nicht so schwer.
Wo steht der Feind?" — „„Der Feind? — dahier!""
„Den Finger drauf! Den schlagen wir!
45. Ernst Moritz Arndt.
249
Wo liegt Paris?" — „„Paris? — dahier!"^
„Den Finger drauf! Das nehmen wir
Nun schlagt die Brücken übern Rhein
Ich denke, der Champagnerwein
wird, wo er wächst, am besten sein!"
Ropisch.
45. Ernst Moritz Arndt.
Wer ,-nn. «ich. die schönen Weder^ „Was blasen teWM
Husaren, heraus!" „Deutsches Herz, verzage „E nd nur vll
eint lut nuten Stunbe*1. @ic linb öon (Snift •
leine- Jugend erzählt er selbst salgendes: We'hnach.stage des
Wahres nach der Erscheinung unseres Herrn ^tfu Chr „hljckt
ich zu Schoritz aus der Insel Rügen das Licht dieser >
und zwar als ein wohlgeborner, weil ich stark und gefui .
eiü hochgeborner, weil mein Geburtshaus damals durch ) '
stattliche Treppe und durch Jugendlichkeit und Schönheit y
ritterliches und hochadeliges Ansehen hatte.
Wie es nun auch um diese
Geborenheiten stehen mag, die
Wahrheit bekennend, muß ich sagen,
daß der Stamm, aus welchem ich
entsprossen bin, unter anderem
niedrigen Menschengesträuche ganz
tief unten an der Erde stund, und
daß mein Vater kein vornehmer
Mann war. Er war Verwalter der ,
Schoritzer Güter, die aus einem
halbenDutzend größerer und kleinerer
Höfe und einigen Bauerndörfern be-
stunden. Später pachtete mein Vater
für sich ein Gut, und aus diesem
wuchsen wir in ländlicher Stille
auf. Es war ein häßlicher Hof;
VV\/>V>/AV* STiltpiPll
250
45. Ernst Moritz Arnìt.
Erzählungen und Märchen lebendig, die sie mit großer Anmut vor-
zutragen verstund. Auch die Bibel habe ich einigemal mit ihr durch-
gelesen, und das Gesangbuch mußte auch fleißig zur Hand genommen
werden.
Frühling und Sommer gingen nicht ganz ohne Schule hin; in-
dessen war die Schule unter den Gespielen in Feld und Wald und
auf Wiesen und Heiden und unter Blumen und Vogeln wohl die beste.
Doch ließ der Vater uns nicht immer bloß wild und wie aufs liebe
Ungefähr herumlaufen, sondern wußte es meistens so einzurichten, daß
wir bei dem Herumspringen und Herumspielen irgend etwas zu besorgen
oder zu bestellen hatten. Zuweilen hütete ich unsere Schweine und
Kühe, und noch leuchten mir die ersehnten Abendröten, wo ich fröhlich
meine Kuhherde in den Hof trieb und dann geschwind in der Dämme-
rung noch auf einen Äpfel- oder Kirschbaum kletterte, wo ich süße
Beute für mich wußte. Ich galt für einen treuen, gehorsamen und
fleißigen Jungen, aber zugleich für einen ungestümen und trotzigen,
für einen solchen, der gern seinen eigenen Weg ging.
Gegen das Jahr 1780 bezog mein Vater eine andere Pacht,
etwa eine Meile von Stralsund, und nun wurden wir in eine
ordentliche Schule gethan.
Der rüstige, damals noch in der Fülle der Kraft blühende Vater
mutete uns mit Recht die Übungen und Arbeiten zu, welche er hatte
durchgehen müssen; er sah es überhaupt gern, wenn wir aus eigenem
Triebe oder im wackeren Wettkampfe uns Strengen und Härten auf-
legten, die er eben nicht befohlen hatte. In der Erntezeit, wo viele
Hände und diese oft recht geschwind gebraucht werden mußten, wurden
auch die Jungen einige Stunden vor der Sonne aus dem Bett getrieben
und mußten oft lange vor der Schulstunde Ochsen und Rosse herbei-
treiben oder herbeireiten, oft auch den ganzen Tag in diesen oder ähn-
lichen jugendlichen und hirtlichen Geschäften ausharren. Waren junge
Füllen zuzureiten oder Pferde durch die Teiche zu schwemmen, Bruder
Karl, der nun wieder bei uns war und den Kaufmann, wofür er
bestimmt schien, wieder gegen den Landmann vertauscht hatte, und ich
wurden darauf gesetzt, oft, wenn es ins Wasser ging, der Vater mit
der knallenden Peitsche hinter uns. Baden im nahen Meere, Fischen
in den vielen Teichen und in den Gräben und Bächen der über-
schwemmten Wiesen auf Karauschen, Krebse, Krabben, Hechte und
Aale, Vogelstellen im Herbste, Schlittenfahrten und Schlittschuhlaufen
— alles das verstand sich als die Regel eines tüchtigen Landlebens
von selbst.
Wir hatten nun bis in den Anfang meines siebzehnten Jahres so
fort gelebt, wie es sich eben machte, und meine Eltern konnten wohl
nicht daran denken, mich studieren zu lassen. Da kam es durch fremde
Hilfe, daß ich plötzlich in die gelehrte Schule nach Stralsund verrückt
ward. Dies war ein Sprung! Der arme und blöde Landjunge er-
schien im schlechtesten Aufzuge unter vielen zum Teil zierlichen und nach
46. Die hohle Weide.
251
ihrer Weise vornehmen Jünglingen der ersten Familien der pommerschen
Hauptstadt. Ich trug einen grünen Rock von etgengemachtem Zeug
wenn es ein bißchen besser sein sollte, einen grauen plus )e -
einem alten Rock meines Vaters zusammengenähet und von
schneider etwas zu schwülstig weit zugeschnitten; meine Stiefeln ung a
in ähnlicher Art von dem Leisten des Meisters Silverstolp m Rambin.
Man kann denken, mit welcher Gier die zierlichen Stadtpfauen über
die so aufgeputzte Landkrähe herfuhren, und wie die Krähe st ) 13
zurück machte. Indessen Rot bricht Eisen, und da wich einige etwas
unsanft anzutasten wagten, fühlte ich mein ungeduldiges
aufsieden, und bald lagen ein paar Bursche znsamniengetin S
Wen. In dieser Beziehung hatte ich bald Ruhe- denn m er g z^
Klasse war etwa nur ein einziger, der mich allenfalls hatte s -)
können; dieser aber ließ mich ungeheiet."
Bevor Arndt die Hochschule bezog (1789), war dw französische
Revolution losgebrochen; bis 1800 folgte in Frankreich eine Umwälzung
auf die andere. Napoleon Bonaparte trat dann aw tfe ) »
Konsul und Kaiser auf, und sein soldatisches Joch lastete au ) 1
Deutschland. Das empörte die Herzen deutscher Männer, und ^ )
Arndt trat als entschiedener Franzosenfeind auf. Vor den Fwnz
mußte er nach Stockholm flüchten. 1812 ging er nach Ber in uno
Breslau, wo er Scharnhorst sah, von da nach Prag l '
den Verfolgungen Napoleons nicht sicher, nach Moskau und .pe -
bürg, wo er für Deutschlands Befreiung unermüdlich thätig
Nachdem die Franzosen, durch den russischen Winter und >.cn ^unger
getrieben, nach großen Niederlagen aus Rußland geflohen waren, ega
sich Arndt wieder nach Deutschland zurück. vernawken.
46. *Die hohle Weide.
1. Äer Morgentau verstreut im
Thale
sein blitzendes Geschmeide;
da richtet sich im ersten Strahle
empor am Bach die Weide.
2. Im Nachttau ließ sie nieder«
hangen
ihr grünendes Gefieder
und hebt mit Hoffnung und Verlangen
es nun im Frührot wieder.
3. Die Weide hat seit alten Tagen
so manchem Sturm getrutzet,
ist immer wieder ausgeschlagcn,
so ost man sie gestiitzet.
4. Es hat sich in getrennte Glieder
ihr hohler Stamm zerklüftet,
und jedes Stämmchen hat sich wieder
mit eigner Bork' umrüstet.
5. Sie weichen aus einander
immer.
und wer sie sieht, der schwöret:
Es haben diese Stamme nimmer
zu einen! Stamm gehöret.
6. Doch wie die Lüfte drüber
rauschen,
so neigen mit Geflüster
die Zweig' einander zu und tauschen
noch Grüße wie Geschwister,
252 47. Geharnischtes Sonett. 48. Gin prophetisches Wort vom Turnvater Jahn.
7. und wölben überm hohlen
Kerne
wohl gegen Sturmes Wüten
ein Obdach, unter welchem gerne
des Liedes Tauben brüten.
8. Soll ich, o Weide, dich be-
klagen,
daß du den Kern vermissest,
da jeden Frühling auszuschlagcn
du dennoch nie vergissest?
9. Du gleichest meinem Vaterlande,
dem tief in sich gespaltnen,
von einem tiefern Lebensbande
zusammen doch gehaltnen.
Lückert.
47. * Geharnischtes Sonett.
1. „Aer ich gebot von Jericho den Mauern:
Stürzt ein! und sie gedachten nicht zu stehen;
meint ihr, wenn meines Odems Stürme gehen,
die Burgen eurer Feinde werden dauern?
2. Der ich ließ über den erstaunten Schauern
die Sonne Gibeons nicht untergehen,
kann ich nicht auch sie lasien auferstehen
für euch aus eurer Nacht verzagtem Trauern?
3. Der ich das Riesenhaupt der Philistäer
traf in die Stirn, als meiner Rache Schleudern
ich in die Hand gab einem Hirtenknaben, —
4. je höh'r ein Haupt, je meinen Blitzen näher!
Ich will aus meinen Wolken so sie schleudern,
daß fällt, was soll, und ihr sollt Frieden haben!"
Rückcrt.
48. Ein prophetisches Wort vom Turnvater Jahn.
ttJtr Deutschen gönnen jeglichem Volke die Erringung einer ver-
nünftigen Freiheit, begehren aber dafür mit Recht, daß man auch uns
ungestört in unserm eigentümlichen Wesen lasse. Wir wollen gern die
Leute jenseit des Wasgaus und der Argonnen getreue Freunde und Nach-
barn nennen, wenn sie sich als solche beweisen; wir haben mit Frankreich
noch eine alte Rechnung abzuthun, es hat nichts von uns, wir noch viel
von ihm zu fordern. Sollte aber der Geist der Eroberungen wieder auf-
leben und die Franzosen das linke Rheinufer begehren, so sei unser Feld-
geschrei: „Deutsch-Lothringen und Elsaß!"
Der Rhein kann kein reiner deutscher Strom sein, so lange noch ein
Tautropfen aus Frankreich in ihn herunter träufelt. Zwar habe» die
Franzose«, und unter ihnen die Pariser, durch Niederlagen und zwei-
maligen Besuch gewitzigt, aller Welt weis machen wollen, daß sie aller
48. Ein prophetisches Wort vom Turnvater Jahn.
253
Freunde wären. Sie halten es für Mangel an guter Lebensart, wenn
andere Völker auf ihr wohlerworben Recht gegen die neue Unbill bestehen,
und für unanständig, daß sich auch andere Siegestage zu feiern erkühnen.
Daß sie im Erntemonat 1813 noch im Angesichte von Berlin standen,
schon ihre Herbergen in Gedanken bestellt hatten, schon ihre Kehlen ein-
übten, um. wenn Er geböte, einen Afterkönig in Berlin auszuschreien,
haben sie längst vergessen, und ärgern sich darüber, daß unser Gedächtnis
nicht so kurz ist.
^ Unaufhörlich und in einem Atem krähen sie von der Unantastbarkeit
Frankreichs, und die ärgsten Schreier sind gerade jene Blutmcnschen und
Raubseelen, die kein Volk zufrieden und kein Land heil und ganz gelassen.
Alle Völker haben an den alten und neuen Wunden zu heilen, die ihnen
Frankreich geschlagett; darum hat es zur schuldigen Dankbarkeit verlangt,
allein mit heiler Haut durchzukommen. Alle Völker sind durch die un-
gebetene Gastschaft der Franzosen bis über den Kopf in Schulden ge-
stürzt, woran die Enkel der Begasteten noch zu zahlen haben. Dafür
wollen sie hernach, daß die Sieger bei ihrem Gegenbesuch alles bar be-
zahlten und sich obendrein von ihnen recht schnellen ließen. Sie können
aber nicht begreifen, daß die rechtmäßigen Eigentümer ihr geraubtes Gut
wieder haben wollten. Giebt die Eroberung ein Recht, so verleiht die
Wiedereroberung eine noch gerechtere Befugnis.
Über das Gekrätsch: „Frankreich muß des Gleichgewichts wegen groß,
stark und mächtig sein" darf ein Teutscher billig ergrimmen. Alle so-
genannte Gleichgewichtskriege sind mit Frankreich geführt worden, und
Deutschland hat dabei allemal Haut und Haare lassen müssen. Frankreich
schlug uns durch sein Bündlern und Söldnern mit der Schweiz den Helm
bom Haupt; in Metz verloren wir den Lothringschen Schild; durch Weg-
nahme des Elsasses ward der Harnisch abgewaffnet; mit Straßburg setzten
sie uns das Messer an die Kehle, und durch Mainz führten sie den
Meuchlingsstoß nach dem Herzen. „Wasgaus Höh, Deutschlands Ther-
wopylä!" rief Friedrich als Kronerbe von Preußen. Als König ermaß
er Frankreichs Übergewicht: „Wäre ich König in Frankreich, so sollte
ohne meinen Willen kein Schuß in der Welt fallen." Alle Weltkriege der
neuern Zeit hat das übermächtige Frankreich verschuldet. Seine Über-
macht bei Deutschlands Unmacht ist die ewige Störerin des Gleichgewichts.
Die Kriegsbehaglichkeit von Frankreich ist ein Nimmerstill. So wie
An Waghals, Abenteurer und Windmacher Lärm bläset, muß die ganze
Nachbarschaft Sturmmarsch schlagen. So wie in Frankreich ein Stück
abbrennt, muß die ganze Welt mit Schüssen grüßen. Zweimal ist die
banze Welt zusammengetrommelt vom Ural und Kaukasus bis zu
Herkules Säulen, um die Franzosen notdürftig zu zwingen und zu
zügeln. Und das nennen die Franzosen Gleichgewicht, wodurch sie die
Welt in den Abgrund hinunterdrücken.
Europas Sicherheit, Friedestand. Bildung, Wissenschaft, Kunst,
Tugend und Wohlfahrt beruht darauf, daß Deutschland, was in der
254 48. Ein prophetisches Wort vom Turnvater Jahn.
Mitte liegt, unantastbar sei. Als Mittel-Land hat es Beruf zum Mittler,
kann aber der Mittlerschaft nur dann vollkommen genügen, wenn es erst
wieder seine verrückte Urgrenze eingenommen und seine abgezwackten Ur-
marken. Das ist die einzige Vorkehr und Sicherstellung gegen die all-
gemeine Kriegspest, die sonst immer der Reihe nach herumgeht.
SchriftlicheVerträge, und wenn
man auch so viel davon hätte,
um den Erdball einzuwickeln, halten
gerade so viel, als die von den
Spinnen gewebte Mauer, die als
Mettensommer um das teure Schla-
raffenland hängt.
Jetzt steht das geharnischte,
gepanzerte, gehelmte, geschilderte,
hinter dem dreifachen Ring von
Festungen gegürtete Frankreich als
Trotzer und Droher gegen den bar
und bloß kämpfenden dcutschenLand-
wehrmann.
Ohne Deutschlands gesicherten
Besitz s einerUrgrenze h ören dieKreuz-
züge nicht auf. Ohne diese Gerechtigkeit kommt die Welt nicht wieder zur
Ruhe. Gegen diese Wahrheiten ist Europa taub gewesen. Gott verhüte,
daß nicht die Söhne und Enkel dafür büßen.
Einst wird Preußen als Vorfechter Deutschlands Recht behaupten
müssen. Das wird großen Widerspruch geben. Die gerechte Sache wird
siegen. Aber jeder mag sich zu dem großen, unausweichlichen Kampfe
rüsten und wach und wacker sein, wenn das Heerhorn Jodute bläset.
— Ich sah niemals in dem preußischen Staate das höchste schon
Gewordene menschlicher Regierungskuust; aber ich entdeckte in ihm eine
Triebkraft zur Vollkommnung und einstigen Vollendung.
Deutsch ist der Stamm und die überwiegende Mehrzahl des Volks.
Es beherrscht Ströme und reicht mit ihnen ins Meer, hat ausgedehnte,
von der Natur durch Flachheit, Vorinseln und Binnengewässer wohlver-
wahrte Küsten und im Innern den schönsten Wasserzusammenhang. Selbst
sein namengebendes Land ist eine alte deutsche Pflanzung, die dem
deutschen Heldenmut und Verschönerungsgeiste Ehre macht. So ahnte
ich in und durch Preußen eine zeitgemäße Verjüngung des alten, ehr-
würdigen deutschen Reiches, und in dem Reiche ein Großvolk, das zur
Unsterblichkeit in der Weltgeschichte menschlich die hehre Bahn wandeln
würde. Deutschland, wenn es, einig mit sich, als deutsches Gemeinwesen
seine ungeheuren, nie gebrauchten Kräfte entwickelt, kann einst der Be-
49. Friedrich Wilhelm IV.
-'00
gründer des ewigen Friedens in Europa, der Schutzengel der Menschheit
sein! — Das ruht auf seiner Lage und seinem Volke und bleibt selbst
durch seine neueren Verhältnisse.
49. Friedrich Wilhelm IV.
Als Friedrich Wilhelm IV. den Thron bestieg, ging ein eigen-
tümliches Geisteswehen durch die preußischen Lande. Das Volk er-
hörtet bei jedem Regierungswechsel immer etwas besoildercs; hier
hatte aber eine solche Erwartung auch die Klugen und Besonnenen
ergriffen. Man wußte von dem Kronprinzen schon viele witzige
Äußerungen, die man sich als Beweis seines reichen Geistes freudig
^zählte; man kannte sein edles Herz und sein tadelloses Privatleben;
und so war denn die allgemeine Hoffnung, die man auf seine zukünftige
Regierung setzte, wohl gerechtfertigt. Als er nun in Königsberg
üon den Ständen der nichtdeutschen Provinzen, Posen und Preußen,
die Huldigung annahm, da geschah das bisher in Europa Unerhörte,
der König sprach öffentlich, nicht zu einer geschlossenen, besonders zu
diesem'Zweck berufenen Versammlung, sondern frei zu allem Volk, das
draußen in hellen Haufen versammelt war, schöne, herrliche Worte,
die ihm warm aus dem Herzen strömten. Nachdem er gelobt hatte,
Recht und Gerechtigkeit zu handhaben, schloß er: „Bei uns ist Einheit
on Haupt und Gliedern, an Fürst und Volk, im großen und ganzen
herrliche Einheit des Strebens aller Stände nach einem schönen Ziel,
aach dem allgemeinen Wohl in heiliger Treue und wahrer Ehre. Aus
diesem Geiste entspringt unsere Wehrhaftigkeit, die ohne gleichen ist.
So wolle Gott unser preußisches Vaterland sich selbst, Deutschland und
der Welt erhalten, mannigfach und doch eins, wie das edle Ei^, das,
aus vielen Metallen zusammengeschmolzen, nur ein einiges Edelstes
stl, feinem anderen Roste unterworfen, als allein dem verschönernden
der Jahrhunderte."
^ Einen Monat später wiederholte sich diese feierliche Handlung zu
Zerlin, als die sechs deutschen Provinzen ihm huldigten. Vor der
Huldigung schloß er seine Rede an die Versammelten m Gegenwart
nner unermeßlichen Volksmenge: „Ich weiß. daß ich meine Krone zu
^ehn trage von dem allerhöchsten Herrn, und daß ich ihm Rechenschaft
^huldig bin von jedem Tage und von jeder Stunde meiner Regierung.
Wer Gewährleistung für die Zukunft verlangt, dem gebe ich diese
Worte. Eine bessere Gewährleistung kann weder ich, noch sonst em
Mensch auf Erden geben. Sie wiegt schwerer und bindet fester als
alle Krönnngseide, alle Versicherungen, auf Erz und Pergament verzeichnet;
denn sie strömt aus dem Leben und wurzelt im Glauben. Wem nun
von Ihnen nicht der Sinn nach einer sogenannten gleichen Regierung
steht, die mit Geschützesdonner und Posaunenton die Nachwelt ruhmvoll
erfüllt, sondern wer sich begnügen lassen will mit der einfachen, Vater-
49. Friedrich Wilhelm IV.
lichen, echt deutschen und christlichen Regierung, der fasse Vertrauen zu
mir und vertraue Gott mit mir, daß er die Gelübde, die ich täglich
vor ihm ablege, segnen und für unser Vaterland ersprießlich und
segensreich machen möge." —
Nach der Huldigung der Stände
sagte er u. a.: „Ich will vor
allem dahin trachten, dem
Vaterland die Stelle zu sichern,
auf welche es die göttliche Vor-
sehung durch eine Geschichte
ohne Beispiel erhoben hat, auf
welcher Preußen zum Schilde
geworden ist für die Sicherheit
und für die Rechte Deutschlands.
In allen Stücken will ich so
regieren, daß man immer den
echten Sohn des unvergeßlichen
Vaters, der unvergeßlichen
Mutter erkennen soll, deren
Andenken von Geschlecht zu
Geschlecht in Segen bleiben
wird. Aber die Wege der
Könige sind thränenreich und
thränenwert, wenn Herz und
Geist ihrer Völker ihnen nicht
hilfreich zur Hand gehen. Darum
in der Begeisterung meiner Liebe
zu meinem herrlichen Vaterlande,
zu meinem in Waffen, in Frei-
heit und in Gehorsam gebornen
Volke, richte ich an Sie, meine Herren, in dieser ernsten Stunde die
ernste Frage — können Sie, wie ich hoffe, so antworten Sie mir
im eignen Namen, im Namen derer, die Sie entsendet haben, Ritter,
Bürger, Landleute und von den hier unzählig Gescharten alle, die
meine Stimme vernehmen können — ich frage Sie: Wollen Sie mit
Herz und Geist, mit Wort und That und ganzem Streben, in der
heiligen Treue der Deutschen, in der heiligen Liebe der Christen mir
helfen und beistehen, Preußen zu erhalten, wie es ist, wie ich es so-
eben der Wahrheit entsprechend bezeichnete, wie es bleiben muß, wenn
es nicht untergehen soll? Wollen Sie mir helfen und beistehen, die
Eigenschaften immer herrlicher zu entfalten, durch welche Preußen mit
seinen nur vierzehn Millionen den Großmächten der Erde beigesellt
ist? nämlich Ehre, Treue, Streben nach Licht und Recht und Wahr-
heit, Vorwärtsschreiten in Altersweisheit zugleich und heldenmütiger
Jngendkrast? Wollen Sie in diesem Streben mich nicht lassen noch
versäumen, sondern treu mit mir ausharren durch gute und böse Tage?
Friedrich Wilbelm IV.
50. Barbarossa. 51. Die Fahne vom 61. (achten pommerschen) Regiment. 257
O! dann antworten Sie mir mit dem klarsten, schönsten Laute der
Muttersprache, antworten Sie mir ein ehrenfestes: Ja!"
Diese Worte des Königs, das konnte gar nicht fehlen, erweckten
in ganz Deutschland, nicht in Preußen allein, eine ungeheure Be-
geisterung und erregten die Aufmerksamkeit in ganz Europa.
Schmettau.
50. **23stri>strofia.
1. Cs ist in deinen Liedern, mein Volk, dir prophezeit des alten Bar-
barossa erneute Herrlichkeit.
2. Daß einst die alten Raben verschwinden samt der Nacht, und dqß
aus tiefen Träumen das deutsche Reich erwacht;
3. und daß, die längst verglommen, die deutsche Herrlichkeit, noch einmal
wiederkommen wird in erlauchter Zeit.
4. Und was die alten ^Lieder so wundervoll gesagt, das giebt dir Gott
nun wieder, mein Volk; der Morgen tagt!
5. Der alte Barbarosia ist da im weißen Bart; doch hat er auch im
Silber die alte gold'ne Art.
6. Umjauchzt von allen Stämmen auf Deutschlands weiten Gau'n, mit
seinem Siegerschwerte ist er so groß zu schaun.
7. Gott mit dir, Barbarosia, im weißgewordnen Haar; du machst die
alten Lieder der deutschen Sehnsucht wahr!
8. Gott mit dir, Barbarosia; du bringst zu dieser Zeit dem deutschen
Volke wieder die deutsche Herrlichkeit! D.uandt.
51. Die Fahne vom 61. sachten pommerschen) Regiment.
(Am Tage von Kettlers zweitem Angriffe auf Dijon*) — am
23. Januar — hatten die Garibaldianer am Abend die Fahne des
zweiten Bataillons des 61. (achten pommerschen) Infanterie-Regiments
erbeutet. In einem Schreiben an den General von Kettler bekannte Gari-
baldi frank und frei, die Fahne sei nicht erobert, sondern zerbrochen und
durchlöchert mitten unter einem „Hausen Toter" von einem Mobilgardisten
aufgefunden worden. Das war in der That ehrlich. Da der Verlust
dieser Fahne bei den Preußen um so mehr eine allgemeine Bestürzung
hervorrief, als in den Kriegen 1S64 und 1866 keine einzige preußische
Fahne verloren gegangen war, so sei des Vorganges vom 23. Januar
1871 etwas ausführlicher gedacht.
Die Garibaldianer hatten vor Dijon eine Fabrik sehr stark besetzt.
Die fünfte Kompagnie des erwähnten Regimentes, welche die Bataillons-
*) spr. Dischon <sch weich zu sprechen).
Deutsches Lesebuch für kath. Schulen. IV. Für Oberklaffen. 17
258
52. Mein Lieben.
sahne mit sich führte, erhielt abends 6 Uhr den Befehl, die Fabrik zu
stürmen, wobei in kurzer Zeit fünf Träger der Fahne nacheinander zu
Boden gestreckt wurden. Die sehr zusammengeschmolzene Kompagnie zog
sich endlich zurück, ohne in der Dunkelheit und bei der Vereinzelung der
Mannschaften das Fehlen der Fahne zu bemerken. Erst nachdem sich die
zerstreuten Mannschaften wieder gesammelt hatten, wurde der Verlust
der Fahne entdeckt. Die größte Bestürzung bemächtigte sich der Leute;
es bildete sich sogleich eine Abteilung von Freiwilligen, um die Fahne zu
suchen und wo möglich zu retten. Dies war aber ein vergebliches Be-
ginnen, auch nicht ein einziger Mann kehrte von der Abteilung zurück;
entweder waren die Kühnen getötet oder gefangen genommen worden.
Übrigens hatte der Fahnenverlust, der auf das gesamte deutsche
Heer einen üblen Eindruck hinterließ, zur Folge, daß Manteuffel
sofort eine größere Heeresabteilung gegen Dijon vorsundte. Ihr
Herannahen wartete aber der Held von der Ziegeninsel gar nicht
erst ab; auf die Nachricht, daß er und die Seinen vom Waffenstillstände
ausgeschlossen und nun der ganzen Wucht des Angriffes der Deutschen
ausgesetzt seien, räumte er das stark verbarrikadierte Dijon und führte
seine Scharen hinter die Abgrenzungslinie, und zwar nach Macon*)
zurück. Hier legte er am 13. Februar sein Kommando nieder und
begab sich nach seiner Heimat, der Insel Caprera.
pererinanii.
52. *Mein Lieben.
1. Wie könnt' ich dein vergeffen!
Ich weiß, was du mir bist,
wenn auch die Welt ihr Liebstes
und Bestes bald vergißt.
Ich sing' es hell und ruf es laut:
Mein Vaterland ist meine Braut!
Wie könnt ich dein vergessen!
Ich weiß, was du mir bist!
2. Wie könnt' ich dein vergessen!
Dein denk' ich allezeit;
Ich bin mit dir verbunden,
mit dir in Freud und Leid.
Ich will für dich im Kampfe stehn,
und soll es sein, mit dir vergehn,
Wie könnt' ich dein vergeffen!
Dein denk' ich allezeit.
3. Wie könnt' ich dein vergeffen!
Ich weiß, was du mir bist,
so lang ein Hauch von Liebe
und Leben in mir ist.
Ich suchte nichts, als dich allein,
als deiner Liebe wert zu sein.
Wie könnt' ich dein vergessen!
Ich weiß, was du mir bist.
Hoff,na,II, von Fallcrsltbcn.
') fpr. Makong,
53. Wahlsprüche der Hohenzollern.
259
53. Wahlsprüche der Hohenzolleru.
1. Die Wahlsprüche sollen Spiegel des Charakters sein. Die Summe
der Wahlsprüche eines Fürstengeschlechts, welches wie die Hohenzollern seit
so dielen Jahrhunderten einem Ziele zustrebt, bietet ein Bild des ganzen
Stammes. Wenn nun ein Stamm gute Wurzeln und köstlich Mark und Saft
hat, dann werden auch die Zweige davon durchdrungen
Haben wir Len Stamm mit Dank betrachtet, dessen Zweige sich weit und
weiter ausbreiten, so schließt sich vie Bitte von selber an: Gott erhalte,
schütze und segne unser Königshaus, und lasse essest und fester
stehen auf dem einigen Grunde, dem Welle und Sturm nichts
anhaben kann!
2. „Gott mit uns!" ist der Wahlspruch des ersten deutschen
Kaisers aus dem Hause der Hohenzollern, den derselbe als König
Wilhelm von Preußen schon lange vor dem Tage von Versailles ge-
führt und in wunderbaren Erweisungen der Gnade Gottes bewährt erfunden
hat. „Gott mit uns!" war, wenn auch nicht dem Wortlaute, doch der Be-
deutung nach, schon der Wahlspruch des ersten Kurfürsten von Branden-
burg aus jenem Geschlecht, Friedrich I.
Wie ein goldener Faden zieht sich durch die Denk- und Wahlsprüche der
Hohenzollern jahrhundertelang das freudige Bekenntnis zu Gott und Christo und
zu seinem Wort. Der mächtige Ban unseres preußischen Königshauses ruhet
auf dem allein festen Grunde, der alles trägt und hält, das Hohe wie das Geringe.
3. Friedrich Wilhelm, der große Kurfürst, der Gründer der
preußischen Monarchie, hat, wenn irgend einer, seinen Wahlspruch durch die
That bewährt. Mit demutsvoller Zuversicht wandelte er seinen Weg, und als
er ihn gefunden, als er seiner Kraft sich bewußt geworden, als er durch sie
den Gipfel des Ruhmes und der Herrlichkeit erklommen, da beugt er wieder
sich demutsvoll vor dem Höchsten und giebt ihm allein die Ehre. „Gottver-
trauen, gepaart mit sittlicher Kraft," das ist der Zauber, der die Hohenzollern un-
überwindlich macht. Das hat sich bei den ersten Kurfürsten gezeigt; das sehen
wir in erhöhtem Maße bei Friedrich Wilhelm und seinen gekrönten Nachfolgern.
Thue mir kund den Weg, darauf ich gehen soll; denn mich
verlangt nach dir! (Nach Ps. 143, 8.) Das war der Wahlspruch, den
der vierzehnjährige Kurprinz kurz vor seiner Abreise von Stettin im Januar
!634 in das Stammbuch eines schlesischen Kavaliers schrieb. Wir finden den-
selben gleich auf der ersten Medaille wieder, die er nach seinem Regierungs-
antritt prägen ließ. Nachdem der große Kurfürst die Unabhängigkeit des
Herzogtums Preußen von Polen erkämpft hatte, 1ß56, nahm er zwar als
Wahlspruch: „Gott ist meine Stärke" an, doch hielt er darum seinen Leib-
psalm stets in Ehren, wie wir denn auch das Wort: „Gott ist meine Stärke"
nicht allein, sondern neben diesem das: „Thue mir kund den Weg, darauf ich
gehen soll!" auf den meisten Spruchthalern aus seiner späteren Regierungs-
zeit als Randschrift angebracht finden; einmal unter anderem auf einem Ge-
schichtsthaler von, Jahre 1679 sehr sinnreich als Denkspruch benutzt zu dem darauf
dargestellten denkwürdigen Feldzuge zu Schlitten über das kurische Haff.
4. Friedrich I., der erste König in Preußen, hatte bereits in
früher Jugend den Spruch angenommen: „Jedem das Seine", und ihn auf
Münzen und Medaillen ausprägen lasten. Bei der Krönung in Königsberg
nahm er ihn als Denkspruch des von ihm gestifteten hohen Ordens vom
schwarzen Adler. In den Statuten sagt er, daß er den Adler gewählt habe
17*
260
53. Wahlsprüche der Hohenzollern.
als „ein Sinnbild der Gerechtigkeit" und daß dieser in einer Klaue einen
Lorbeerkranz trage, welcher andeuten solle „die Gerechtigkeit der Belohnungen",
in der andern Donnerkeile, welche bedeuten: „die Gerechtigkeit der Strafen".
„Einem Jedem das Seine" aber sollte andeuten: „die allgemeine Unpartei-
lichkeit, nach welcher nicht nur einem und dem andern, sondern allen immer
und einem jedweden nach Verdiensten das Seine geleistet werden soll."
Aber die Statuten des Ordens gehen noch weiter und fahren fort: „Zu
geschweige», daß, weil der Adler, wie bekannt, allezeit in die Sonne zu sehen
pfleget und nach nichts Geringem und Niedrigem trachtet, er mit diesen Eigen-
schaften uns auch im Geistlichen zum Sinnbilde dienen und anzeigen kann,
wie wir und unsere Ritter unsere Zuversicht und Gottvertrauen einzig und allein
zu Gott, dem Allerhöchsten, erheben und durch den Denkspruch nicht allein den
Menschen — was den Menschen gebühret, sondern auch dem Allerhöchsten das
Seine, und Gott, was Gottes ist, zu geben, uns mit einander verbunden haben."
Auf die Gerechtigkeit, als eine christliche Tugend, hat der erste König in
Preußen sein Königreich gegründet. Die heutige Zeit will an Stelle eines
Königreichs der Gerechtigkeit einen Rechtsstaat haben, und begreift nicht, daß
sie damit die Wurzeln des Königtums von Gottes Gnaden ausreißt. Von
der lebendigen Kraft der Gerechtigkeit, welche zugleich mit der Gnade und
Barmherzigkeit aus der Liebe quillt, schreitet sie zurück zu dem toten Recht
und Gesetz, das niemand vollgültig erfüllen kann, und an die Stelle eines,
von warmen Herzschlage beseelten Königs tritt ihr ein kaltes Gesetzbuch.
Gott erhalte uns unser altes preußisches Königtum, ein Königtum
der Gerechtigkeit vor Gott und vor den Menschen!
Den Spruch „Er weicht der Sonne nicht" ließ König Friedrich Wilhelm I.
seiner Zeit in lateinischer Sprache mit dem auffliegendem Adler auf Fahnen,
Kanonen und auf Münzen anbringen.
Der Adler ist das preußische Wappenzeichen und der Spruch sollte auf
den kühnen, himmelaufstrebenden Flug des jungen Königreichs deuten. Treulich
hütete der König den jungen Aar und pflegte ihn, bis ihm die Schwingen
zu solchem Fluge gewachsen waren und er sie immer mächtiger regen konnte.
Der Spruch hat aber noch eine andere Bedeutung. Die Sonne ist der Quell
des Lichtes. Zum Quell des Lichtes strebt des Adlers Flug empor. In der
geistigen Welt ist Gott — sein Wort und seine Wahrheit — der ewige Quell
des Lichtes, die Sonne. „Licht ist das Kleid, was du anhast," sagt die
Schrift, und: „daß Er wohne in einem Licht." — Auch in diesem Sinne
strebt der preußische Adler der Sonne zu und weicht nicht.
Bei dir, Gott, ist die lebendige Quelle und in deinem Lichte sehen wir das Licht. Ps. 36,10.
5. Wie König Friedrich II. den Thron seiner Väter bestieg, ließ er
gleichsam vorahnend, was ihm und seinen Nachfolgern beschieden sei, auf die
Fahnen der preußischen Armee den Spruch setzen: „Für Ruhm und Vater-
land!" — Als er aber seine Soldaten in die großen Schlachten seiner Kriege
führte, da war es nicht die eitle Begierde nach Ruhm, welche ihn in den
Kampf trieb; davon zeugte der Gesang der alten frommen Kirchenlieder, mit
welchem die Regimenter an ihm vorüberzogen. Als die Offiziere dem Gesänge
wehren wollten, befahl der König, man solle sie singen lassen. Die alte
Gottesfurcht und die alte Treue, die er in ihnen ehrte, erhob ihn selbst und
half ihm seine Siege gewinnen.
- Run danket atte^ott------------
.JJJUi Herzen, Mund und Händen u. s. w.
1. Die Bewohner des Harzes.
261
6. Im Dom zu Königsberg in Preußen liegt die Markgräfin
Elisabeth von Brandenburg, erste Gemahlin des Markgrafen Georg
Friedrich von Anspach und Verwalter des Herzogtums Preußen bestattet.
Auf ihrem Sarge steht der Spruch: „Meine Zeit in Unruhe, meine
Hoffnung in Gott." Mehr als zweihundert Jahre waren dahingegangen,
seitdem diese Fürstin die Unruhe dieser Zeit mit der ewigen Ruhe vertauscht
hatte. Da weilte an ihrer Ruhestätte ein Enkel ihres Hauses, König
Friedrich Wilhelm III., durch schwere Schickungen von Gott geprüft. Sein
Auge fiel auf jenen Spruch; in ihm predigte ihm die längst Entschlafene
Glauben und Hoffnung in der Not. Das Samenkorn fiel auf gutes Land;
es ging auf in der Brust des Königs, trug die köstliche Frucht der Ergebung
und Geduld und brachte zu seiner Zeit eine reiche Ernte des Segens. In
diesem Geiste konnte er, als die Stunde der Befreiung von fremdem Joche
schlug, seinem Volke die zuversichtlichen, zündenden Glaubensworte mit hinaus-
geben in den Kampf: „Mit Gott für König und Vaterland!"
Als er sich aber selbst anschickte zum Heimgänge in das ewige Vaterland,
gedachte er jenes Spruches auf dem Sarge der Ahnfrau und schrieb auf sein
Testament, als ein Wahrzeichen seines tiefbewegten Lebens und des festen
Grundes seines Glaubens:
„Meine Zeit in Unruhe, meine Hoffnung in Gott!"
7. „Ich und mein Haus wollen dem Herrn dienen." Dieser
Spruch ist das Bekenntnis, welches Friedrich Wilhelm IV. im Jahre 1847
vor dem vereinigten Landtage ablegte unv welchem er bis zum letzten Atem-
zuge seines schwer geprüften Lebens treu verblieben ist. Dasselbe Bekenntnis
hat unser jetziger König Wilhelm bei seiner Thronbesteigung in seiner
ersten Proklamation an das Volk aufs neue bekräftigt und gelobt, an den
Überlieferungen seines Hauses festzuhalten.
Wir begegnen diesem Spruch zum erstenmale in der Geschichte des Heer-
führers Josua, welcher, nachdem er das gelobte Land eingenommen und das
Reich Israel aufgerichtet hatte, diese Worte wie ein heiliges Vermächtnis dem
Volke hinterließ. Von den Tagen Josuas steht geschrieben: „Und es fehlete
nichts an allem Guten, was der Herr dem Hause Israel geredet hatte. Es
kam alles." — Von den Zeiten..nach Josua aber heißt es mehr denn einmal:
„Und da die Kinder Israels Übels thaten vor dem Herrn, gab der Herr
sie unter die Hand ihrer Feinde."
Unsere Könige haben ihre Wahl getroffen, wie ehedem Josua.
Sraarsminister v. Mähler.
I). Erd- und Völkerkunde.
1. Die Bewohner des Harzes.
Äer Wald des Harzes, dieser vornehmste Schmuck der ganzen Gegend,
eine Quelle der Hauptfreuden und Genüsse des Reisenden und Wanderers,
ist auch eine Hauptstütze für den Bergbau; ja man kann sich letzteren, der
aus dem Walde seine Maschinen, die dicken Stützen seiner Gruben und
die Feuerung seiner Hütten bezieht, ohne ihn gar nicht als möglich vorstellen.
262
2. Spielwaren in Sonneberg.
Diese Verbindung des Waldes und der Waldleute mit dem Bergbau
führt uns von selbst zu dem berg- und hüttenmännischen Wesen des Harzes,
welches unstreitig auch jetzt noch der hervorstechendste und augenfälligste
Zug in dessen gesamtem Leben ist. Das haben seine Blei- und Silber-
gruben vorzüglich der Gegenden von Goslar, Klansthal, Zeller-
feld, Andreasberg und Harzgerode veranlaßt. Daher dorl eine
große Zahl Anstalten,. die sich auf den Bergbau beziehen; daher weit mehr
noch als die dampfenden Kohlemneiler, als Waldarbeiten aller Art und die
rein und harmonisch tönenden Glocken die Viehherden, mit denen die ein-
samen Hirten weit in die Wälder hineinziehen, das bunte bergmännische
Treiben unsere Aufmerksamkeit und Teilnahme in Anspruch nimmt; denn
überall schwingt dort der Bergmann den Fäustel, schmelzt der braune
Hüttenmann die dem Gebirgs-Schoße entnommenen Erze; überall sieht
man dort Gruben und Halden, sieht man Poch- und Walzwerke, lärmende
Eisenhämmer, rauchende Hoch- und Flammenöfen, zahllose große Trieb-
räder der Schachte und Karren mit Erz, in unaufhörlicher Bewegung.
Trotz der Liebe zu geselligen Vergnügungen, zu öffentlichen Festen
und feierlichen Aufzügen waltet im Charakter des Harzer Bergmannes ein
ernster und frommer Sinn vor. Sieht man ihn zur Kirche einherschreiten
in seinem originellen Sonntagsschmuck, so erscheint er in gerader, strammer
und ernster Haltung und bietet treuherzig sein „Glück auf!" Von
jeher hat er Gottesfurcht und Religiosität geübt, und alles, was auf
Religion und Glauben bezug hat, steht bei ihm in großem Ansehen.
Vieles erinnert bei ihm auch heute noch, an die alte,, fromme Väter-
weise, und die dortigen Bergleute sind wohl gegenwärtig die einzige
Arbeiterklasse, welche nie ohne gemeinsamen Gottesdienst an ihr Tagewerk
geht.. Daß sie von solchem Sinn durchdrungen sind, darauf wirken schon
die Gefahren hin, denen sie sich täglich unterziehen niüssen. Auf dunklem
und unsicherem Pfade in die schweigsame und gefahrvolle Tiefe hinab-
steigend, in ihr zwischen mächtig überlastenden Erd- und Steinmassen
unmächtig eingeschlossen, wird der Bergmann tief durchdrungen von dem
Gefühl der Abhängigkeit von Gottes Schutz, und daß nur mit dessen Hilfe
er morgens und abends den verhängnisvollen Weg zurücklege und bet
der schweren Arbeit seine Tage hach, kommen.
2. Spielwaren in Sonneberg.
Wir finden in dem Bereiche des Thüringer Waldes Glashütten,.
Porzellan-Fabriken und -Malereien von bewährtem Namen, ferner jene
weitverbreitete Stahlindustrie, die bei Suhl und Schmalkalden als
Gewehrfabrikation, inRuhla undSteinbach alsMessersabrikation einen
hohen Grad der Entwickelung erreicht hat, und vor allen jene allbekannten
feinen Holz- und anderen Waren, die von Sonneberg und Umgegend nach
den Hauptorten Europas und über den Ozean zu allen Völkern gehen,,
die Herzen der Kinder, sowie den indianischen Häuptling, der sich mit ihnen
schmückt, erfreuen, und denen kein Palast und keine Hütte verschlossen bleibt.
s. Die Donau.
263
Die Sonneberger Waren, hauptsächlich aus Kinderspielzeug bestehend,
sind entweder aus Holz, Schiefer, Papier oder aus Glas, Eisen, Blech
und Leder gefertigt. Was insbesondere die Holzwaren anbelangt, so
tverden sie in ungeheurer Mannigfaltigkeit geliefert und sind meist, abge-
rechnet die Bemalung, welche später in Sonneberg erfolgt, die winterliche
Arbeit der Bauernfamilien in den umliegenden Dörfern. Aus diesen
kommen Sonnabends die Spielwaren, als da sind Trommeln, Pfeifen,
Gewehre, Kegel, Nußknacker, Klappern und Tiere, dann die Nutzwaren
vom Salzfaß bis zum zierlichsten Nähkästchen, Schachteln und sonstige
Hausgeräte in Körben und Schubkarren haufenweise nach der genannten
Stadt, die durch ihre großartige Gcwerbs- und Handelsthätigkeit einen
weltberühmten Namen erworben hat.
Die Anfertigung dieser Waren umfaßt einen Distrikt von mehr als
20 Orten. Die fast ausschließliche Fertigung von Kinderspielwaren
beschäftigt und ernährt allein üngefähr 8000 Menschen. Der einzelne
Arbeiter wird keineswegs durch einen auch nur mittelmäßigen Lohn für
seinen Fleiß und seine Geschicklichkeit erfreut. So muß z. B. ein Drechsler,
der lediglich nur Posthörnchen arbeitet, mit Weib und Kindern sich vereint
anstrengen, uw wöchentlich gegen 90 Dutzend zu liefern; dafür erhält er
kaum 4,5 Mark.
Bei diesem kargen Gewinne führen die armen Leute ein kümmerliches
Leben; denn sie müssen ja von dem geringen Lohne den Preis für das
Arbeitsholz, die Ausgaben für Wohnung, Kleidung, Nahrung. Feuerung,
Steuer u. s. w. bestreiten. Das unschuldige Kind, welches am lustig
strahlenden Weihnachtsabende mit Frohsinn nach jenem Posthörnchen greift,
hat keine Ahnung von dem trüben Dämmerlichte, das dort am Walde in
der armseligen Hütte seines Verfertigers zittert; aber daß es die Eltern
wüßten und rechtzeitig dem Kinde erzählten, das wäre gut. Nutzen.
3. Die Donau.
i3ie Donau ist der größte Strom Deutschlands. Er zerfällt in 3 Teile,
die deutsche Donau bis Presburg, die ungarisch-slavische bis Orsowa*)
und die walachisch ^bulgarische bis zur Mündung ins schwarze Meer.
Die Donauquelle befindet sich auf dem Schwarzwalde. Bei Presburg
beträgt die Seehöhe nur etwa noch 130 Meter. Daraus läßt sich schließen,
daß die Ebenen der mittlern und untern Donau tief liegen und der Lauf des'
Stromes, der von Ofen noch seines Weges zurückzulegen hat, langsam,
also der Schiffahrt äußerst vorteilhaft werden muß.
Die Donau-Quellen vereinigen sich bei Donau-Esch in gen zu einem
Fluß. Er durchfließt nach seinem Austritt aus dem Großherzogtum Baden'
das preußische Fürstentum Hohenzollern-Sigmaringen und den Süd-
teil des Königreichs Württemberg. Auf diesem Laufe durchbricht er
schäumend die Wände der schwäbischen Alp und setzt dann am südlichem
’) spr. Orschowwa.
264
3. Die Donau.
Abhange des Gebirges seinen Lauf ruhiger fort bis zur Festung Ulm. Hier
wird er schiffbar und betritt das Königreich Bayern. Er nimmt nun seinen
Lauf zwischen den Vorbergen der Alpen und den Hügelreihen, die von der
schwäbischen Alp und dem Fichtelgebirge ausgehen. Unterhalb Regens bürg
stellen sich ihm die Gebirge des Böhmerwaldes entgegen. Verstärkt durch
den Lech, der von Augsburg, durch die Isar, die von München, und endlich
durch den Inn, der von Tirols Hauptstadt, Innsbruck, herkommt, bahnt er
sich den Ausgang durch die Felsenwände unterhalb Pas sau und tritt in das
schöne Österreich.
Besonders herrlich ist der zwischen Linz und Wien liegende Teil des
Fluffes. Bei der erstgenannten Stadt fließt er, von Bergen eingeengt, in
einem ungeteilten Strome. Unter-
halb der Stadt aber fängt er bald an,
viele große und kleine Inseln zu um-
fassen und sich in viele Arme zu spalten.
An vielen Stellen ragen aus dem
Wasser Sandbänke heraus; sind sie
bewachsen, so nennt man sie Auen.
Diese mit Espen, Linden, Pappeln,
Ahornbäumen, Weiden und Gebüschen
aller Art bedeckten Auen bieten große
Weideplätze für eine unzählige Menge Lachmöwe. i/8 n. g.
von Wild dar; die kleinen Arme,
Einbuchten und Seeen zwischen den Sandbänken und Inseln sind gewöhn-
lich mit unzähligen Wasservögeln bedeckt: mit wilden Enten und Gänsen,
mit Reihern, Kranichen, Kiebitzen,
Krähen und besonders mit Möwen.
Außerdem erhöhen den Genuß der
Donaureise herrlich gelegene Dörfer
und Schlösser, die aus den Gebüschen
des Ufers oder der Auen wie aus
einem Versteck hervorsehen. Zu-
weilen zieht der Fluß sich lang
gestreckt vor den Blicken hin wie
eine große Chaussee;*) öfter noch
ist er auf allen Seiten von Bergen
eingeschloffen, und wir fahren wie
in dem engen Kreise eines einsamen
Bergseees. Eine Wendung des
Schiffes bringt uns in eine andere
abgeschloffene Wassermaffe hinein.
So scheint es, als reihe eine Kette Gcmcmcr K>cl-,h. >/§ n. g.
von Seeen sich an einander, an deren schroffen, felsigen Ufern mir zu scheitern
fürchten. — Bemerkenswert sind noch die Stromengen und Strömungen,
') spr. Schosseh.
3. Die Donau.
265
genannt Strudel und Wirbel, unterhalb des Städtchens Grein. Hier werden
die Berge immer höher und schroffer. Dichte Wälder werfen ihre Schatten
über den Strom, der bald schwarz und düster dahinschleicht, bald mit weißem
Schaum brausend weiterstürzt. Hier und da erheben sich alte Burgen auf den
Felsen. Man fährt an einer Insel vorbei, auf deren Spitze ein Kruzifix steht.
Sie teilt die Donau in zwei Teile, deren einer über Felsblöcke dahinbraust.
Schon in weiter Entfernung hört man das Getöse, und das Schiff wird vom
Strudel so schnell vorwärts getrieben, daß man kaum Zeit hat, die Gegenstände
am Ufer zu beschauen.
Noch bei vielen merkwürdigen Städten, Burgen und Schlössern fährt das
Dampfschiff vorbei. Endlich nach neunstündiger Fahrt landet es in der Nähe
von Wien. Hier am Donauhasen ist ein beständiges Gewimmel von Menschen
und Wagen; man merkt die Nähe der großen Stadt. Von Wien bis
Pr es bürg, der frühern Hauptstadt Ungarns, ist nur noch eine Strecke von
" Meilen.
Unter den Nebenflüßen
des Oberlaufes ist die Alt-
mühl auf der linken Seite
darum von besonderer Wichtig-
keit, weil sie mit der Regnitz
durch den Ludwigskanal in
Verbindung steht, wodurch eine
Vereinigung zwischen Donau.
Main und Rhein, sowie
zwischen dem schwarzen Meere
und der Nordsee hergestellt ist.
Die ganze obere Donau
bewegt sich im Hoch- und Berg-
lande. nämlich zuerst in meist
tief eingeschnittenem Bette durch
die schwäbisch-bayerische
Hochebene und dann durch das
österreichische Bergland.
Erst etwa sechs Meilen oberhalb
Wien tritt sie in einen schmalen
Streifen Tiefland; zu beiden
Seiten lagern jedoch in der
Ferne Berge, rechts Vorberge
Gemeiner Reiher. i|10 n. G-. ber Alpen, links die südöst-
lichste mährische Terrasse.
Näher bei Wien treten die Berge wieder ganz nahe an die Ufer heran; rechts
^ Wienerwald, links die mährischen Höhen. Darauf tritt die Donau
in ein größeres Tiefland, in das österreichische mit dem Marchfelde, ein.
wo die Ufer der Donau flach sind, welches indeffen schon bei Prcsburg wieder
endet, indem dort links die kleinen Karpaten und rechts die Leitha-Höhen
sich an den Strom herandrängen.
266
4. Bewohner des deutschen Hochgebirges.
Von Presburg an, wo der mittlere Lauf beginnt, bis zum Ende der'
östlichen Richtung des Donaulaufs, oberhalb Buda-Pest, ist es ein ungleich
größeres Tiefland, das ober ungarische, welches von dem Strome durch-
schnitten wird. Der Strom spaltet sich in unzählige Arme, so daß es schwer
wird, zwischen den vielen flachen Inseln noch einen Hauptfluß zu unterscheiden.
Durch eine Stromteilung wird die von Presburg bis Ko morn reichende, elf
Meilen lange, fruchtbare Insel Schütt gebildet. Die einsamen Ufer sind mit
niederem Walde oder mit Weideland bedeckt. Hier und da erblickt man eine
Herde breitgehörnter Rinder, brauner Pferde und borstiger Schweine, und ans
den Sandbänken des Ufers halten graue Reiher oder schwarze Enten Wacht.
Aus den Büschen schaut ausnahmsweise ein niederes Hüttendach hervor; beinahe
Noch seltener begegnet man einem Lastschiffe oder einigen Fischerbooten; aber
viele Schiffmühlen ziehen sich längs der Ufer hin. Unterhalb der berühmten
Festung Ko morn, wo die Waag in die Donau fällt, werden die Ufer wieder
belebter. Die kleinen Dörfer bestehen aus niederen, schilfb^deckten Hütten, aus
denen der Rauch sich selbst einen Ausweg sucht. Inseln und Sandbänke hören
fast ganz auf, und die Seiten des Flusses werden höher. Bald dringen auch die
Vorhügel des Bakonywaldes bis zum rechten Ufer vor. Man sieht regel-
mäßigen Feldbau, dann auch Weingärten, und die Dörfer werden ansehnlicher,
die Häuser wohnlicher. Bei Waitzett wendet sich der Strom nach' Süden und
durchfließt die niederungarische Tiefebene. Am rechten Ufer bleiben
die schönen Vorberge des Bakonywaldes der Donau noch treu, und hier wachsen
die feurigen Weine, die unter dem Rainen der Ofener bekannt sind. Am linken
Ufer dehnen sich aber öde, baumlose Sand- und Heidestrecken, steppenartige
Grasfluren und Sümpfflächen unabsehbar aus. Rach der Aufnahme der Drau
und weiterhin der Sau, an deren Mündung die Festung Belgrad liegt,
wendet sich der Strom südöstlich und wird weiterhin bis zum Austritt aus der
österreichischen Monarchie voll Bergen eingeschlossen, rechts vom serbischen
Bergland, links von Bergen des siebenbürgischen Hochlandes. BeiOrsowa
bilden die Bergmassen das „eiserne Thor", eine Stromenge, wo der vorher
1100 Meter breite Strom bis auf 100 Meter eingezwängt wird. Die Verbin-
dungsstraße zwischen Serbien und Bulgarien auf der einen, zwischen'
Ungarn und der Walachei auf der andern Seite, ist auf beiden Ufern in
Felsen gehauen. Von hier bis zur Mündung erstreckt sich der untere Lauf. In
einem großen, flachen Bogen durchströmt die Donau das walachische Tiefland,
rechts an den türkischen Festungen Widd in, Rustschuk und Silistria und den
ferner liegenden Bergen des serbischen und bulgarischen Verglandes vorbei.
Endlich mündet sie, geteilt in viele Arme, welche ein großes Deltaland umschließen,
in das schwarze Meer. Ruyner.
4. Bewohner des deutschen Hochgebirges.
viele gewöhnliche Geschäfte, bei deren Verrichtung der Bewohner des Flach-
landes wenig oder gar nichts von Mühe verspürt, sind für den Älpler nicht
nur höchst anstrengend, sondern bisweilen ebenso gefährlich als in dem Erfolge
unsicher. Jahre hat er auf die Urbarmachung seiner Wiesen und seines Ackers arr
des Berges Abhange verwendet; ein einziger Gewitterguß vernichtet schonungslos
. Bewohner des deutschen Hochgebirges.
268
4. Bewohner des deutschen Hochgebirges.
diese Mühe, die Felder fußhoch mit Steingetrümmer überschüttend. Des Lebens
Notdurft spornt ihn an, aufs neue ans Werk zu gehen, die Steine weg oder
in die Tiefe und die Fruchterde oben auf zu bringen, bis sein Held wieder
hergestellt ist; und doch befindet er sich jetzt in demselben Zustande der bangen
Ungewißheit, ob vielleicht nicht schon in den nächsten Tagen das Werk unsäglicher
Anstrengung abermals vernichtet sein werde. Da ist also seine Besitzstätte eine
fortwährende Kampfes- und Übungsstätte zur Ausdauer, Unverdrossenheit,
Genügsamkeit und zum Gottvertrauen.
Aber religiöser Sinn wird noch durch anderes geweckt. Er sammelt
hoch oben am steilen Abhange eine Kütze Gras für den Wintervorrat; er kann
hierbei den Tod sich holen. Er macht einen Weg nur von einem Dorf zum
anderen, aber über ein Bergjoch und notgedrungen an einer jener Stellen
vorüber, von denen es in Schillers Berglied heißt:
Am Abgrund leitet der schwindlichte Steg,
er führt zwischen Leben und Sterben.
Er kann hier von verderbenbringenden Wettern überrascht oder, bei
Schneegestöber, Sturm und Nebelregen den unkenntlich gewordenen Pfad ver-
fehlend, einem furchtbaren Grabe in der Tiefe der jähen Wand zugeschleudert
werden. Solche Gefahren mahnen doppelt an den dort oben, der über Sonnen-
schein und Sturmesbrausen gebietet, und so findet sich der Alpenbewohner vor
Beginn des Geschäfts oder der Reise mit seinem Schöpfer ab. Gar oft kann
man unten am Fuße des Joches, über welches die Wanderung geht, oder oben
auf dem Bergrücken, in der Öde zwischen grauen Felsen und glänzenden Schnee-
feldern und jenseits in der Tiefe Zeichen und Stätten flehender und dankender
Andacht gewahren.
Die vielen Gefahren, auf welche die Bewohner der Alpen gefaßt sein
müssen, machen sie auch unerschrocken, zuversichtlich, gewandt und
stark, spannen alle Kräfte ihres Körpers, Geistes und Gemüts, bilden die-
selben aus und erhalten sie frisch. Wer Gelegenheit gehabt, die Älpler zn |
beobachten, wenn sie schwer beladen auf gefährlichen Pfaden wandern, wo jeder |
falsche Tritt ein Schritt zum Grabe ist, der wird begreifen, wie aus diesen
Kindern des Hochgebirges jenes gelenke, unverzagte, tollkühne Geschlecht der
Gemsjäger hervorgehen kann, die nicht allein sich, sondern auch die schwer-
wiegende Last der von ihrem Blei tödlich getroffenen Gemse oft über Gletscher,
an Abgründen vorüber, von den steilsten, glattesten, bröcklichsten oder schlüpf-
rigsten Pfaden herunter ins Thal schleppen.
Und der immer nötige Kampf mit der Natur, um ihr des Unterhaltes
wegen nach Möglichkeit abzutrotzen, übt in hohem Grade der Alpenbewohner
Erfindungskraft und Kunstsinn. Sie sind bekannt als tüchtige Mecha-
niker, weltberühmt von ihren plastischen Arbeiten die Holzschnitzereien, z. B. aus
Berchtesgaden in den bayrischen Alpen. Nicht minder anziehend ist ihre
Kunst des Gesanges. In vielen Gegenden ertönt uns aus der niedrigsten
Bauernhütte Gesang und Zitherspiel entgegen. Und welchen fremden Wanderer
belebt nicht jene jauchzende Freude der Alpen aus dem Munde des Senners
und der Sennerin, die von den saftgrünen Matten und sonnigen Grashängen
entgegenschallt? „Die Straußschen und Lannerschen Zauberwalzer sind nur
5. Wien.
2G9
die verklärten Töne des von den Sennhütten aus luftiger Höhe herabtönenden
Jodelns."
Auch dieses Jodeln oder Jauchzen, im Salzkammergut „ludein" oder
„vlmen" id. h. auf der Alm singen) genannt, der Alpen eigentümlichster Ge-
sang, der sich von den Grenzen Frankreichs bis an die von Ungarn fast bei
allen alpinischen Hochgebirgsvölkern findet, ist aus der Natur der Alpen her-
vorgegangen, indem er auf die Erweckung des in den hohen Felswänden schlum-
mernden Echos berechnet ist; denn um dasselbe zu wecken, ist ein laut schal-
lender Gesang nötig, aber bester von einem einzelnen, als von einem ganzen
laut jauchzenden Chor, und so begegnet uns hier in der Menschenwelt der
Alpen dasselbe, wie bei den Tieren, von denen man in den Gebirgen immer
nur einzelne Sänger hört. Nutzen.
5. Wien.
Äer Wiener hat recht, wenn er sagt: „'s giebt nur ane Kaiserstadt,
's giebt nur a Wien!" Denn nicht nur durch ihre Größe und die Schön-
heit ihrer Lage, sondern auch durch die vielfachen Erinnerungen, die sich
an sie knüpfen, sowie ganz besonders durch die hervorstechenden liebens-
würdigen Eigentümlichkeiten ihrer Bewohner ist diese Hauptstadt des
österreichischen Kaiserstaates zugleich die merkwürdigste Stadt Deutschlands.
Schon von den alten Römern angelegt, widerstand sie späterhin mit
ihren festen Mauern, Türmen. Wällen und der standhaften Tapferkeit
ihrer Bewohner mehrmals den furchtbarsten Angriffen der siegreich
vordringenden Türken. Mächtigen deutschen Kaisern aus dem habs-
burgischen Geschlechte diente sie zur Residenz, und die bedeutendsten
unserer deutschen Musiker, Haydn, Beethoven und Mozart,
haben den größten Teil ihres Lebens darin zugebracht und hier, unter
den für alle Kunst empfänglichen Wienern, ihre Meisterwerke geschaffen.
Die Stadt liegt in einer trefflich angebauten, durch Abwechselung
von Berg, Ebene und Waffer sehr angenehmen Gegend am rechten Ufer
der D o n a u, deren Spiegel fortwährend mit einer großen Menge frem-
der Schiffe bedeckt ist. welche die Erzeugnisse des fernen Ozeans vom
schwarzen Meere aus unserem Vaterlande zuführen. Im Norden der
Stadt bildet der Fluß mit seinen verschiedenen Armen mehrere reizende
Inseln, die mit schattenreichem Gehölz, herrlichen Anlagen und prächtigen
Gebäuden geschmückt sind; im Westen erblickt man einen kleinen Gebirgs-
rücken, aus einer Kette nicht sehr hoher Berge gebildet, an und zwischen
welchen anmutige Wälder, liebliche Weinpflanzungen, lachende Fluren,
blühende Gärten mit prachtvollen Landhäusern die angenehmste Ab-
wechselung darbieten; im Osten eröffnet sich dem Blicke eine unüberseh-
bare, fruchtbare Ebene, welche sich bis nach Ungarn hin erstreckt, und
im Süden endlich begrenzen hohe, zum Teil mit Schnee bedeckte Berge
die Aussicht.
270
6. Aus Ungarn.
Die innere Stadt hat enge, meist unregelmäßig gebaute Straßen
mit drei bis fünf, bisweilen sogar sechs bis acht Stockwerk hohen
Häusern. Die Straßen wimmeln am Tage vom Menschengewühl und
dem ununterbrochenen Strome auf- und abfahrender Wagen und
Karossen so sehr, daß der Fußgänger dadurch nicht selten in Lebens-
gefahr kommt und sich nur durch das Hineinspringen in einen Wagen-
tritt oder in die nahe liegenden Häuser vor Quetschungen retten kann.
Um die innere Stadt liegen, weitläufig und freundlich gebaut, die
Vorstädte Wiens.
Wien, der Zusammenfluß des höchsten Adels und der Sitz der
reichsten Kaufmannschaft des ganzen Kaiserstaates, ist reich an großen
Läden. Doch unter allen tritt ein Bauwerk gauz besonders hervor,
es ist die Stephanskirche mit ihrem 132 Meter hohen Turme. Diese
Kirche ist eine der schönsten in der Welt und ein vorzügliches Denkmal
altdeutscher Baukunst. Sie ward 1144 angefangen und in der Mitte
des 15. Jahrhunderts vollendet.
Unter den vielen öffentlichen Vergnügungsorten zeichnet sich
besonders der in der Nähe der Stadt gelegene Lustgarten, Prater,
aus. Er besteht abwechselnd aus Garten- und Waldpartieeu und ist
im Sommer täglich von den fröhlichen Wienern fleißig besucht. In
den langen Hauptalleeen bewegen sich oft tausende von stattlichen
Karossen mit geschmückten Herren und Damen hin und her.
Gincrmann.
6. Aus Ungarn.
Du setzest dich aufs Dampfboot und schiffst von Wien aus die
Donau hinab, um nach Presburg zu steuern. Noch scheint dir
alles deutsch zu sein; aber schon vor dieser alten Ungarstadt gehört
das linke Ufer nicht mehr der deutschen Zunge. Sobald das Dampf-
boot dem alten Königssitze Presburg sich nähert, so wird die
österreichische Flagge niedergelassen und die ungarische, grün,
weiß und rot, aufgehißt, damit das Schiff in Presburg mit dem
Schmucke der Nationalfarben anlangen möge. Dieses Manöver, das
die Bootsleute niemals unterlassen, erinnert daran, daß das
„Königreich Ungarn" in der österreichischen Monarchie einen selb-
ständigen Staat bildet. Dieser Staat gehörte vom 11. bis 12. Jahr-
hundert zu den mächtigsten in Europa; aber seine Könige vermochten
ebenso wenig als früher die Könige von Bulgarien und Serbien
ein eigenes selbständiges Königreich zu behaupten, und die Ungarn
trugen daher ihre Krone den österreichischen Fürsten an. Aber ihre
Bolkseigentümlichkeit haben sie im vollsten Maße behauptet, vielleicht
mehr als jedes andere Volk. Während der Kaiser in Wien als
i6, AuS Ungarn,
271
Herr gebietet, muß er in Presburg die „Landtafcl" (bestehend
aus dem höheren und niederen Adel) regieren lassen, und
dem Willen der „Magnaten" sich fügen. Der Adler mit zwei
Köpfen ist das treue Abbild dieser doppelten österreichischen
Monarchie.
Presburg war früher die Residenz der alten ungarischen Könige.
Jetzt ist Buda-Pest die volkreichste Stadt und die Krönungs- und
Residenzstadt Ungarns.
Hinter Buda-Pest beginnen die Pußten. Sie sind keines-
wegs schauerliche Einöden oder entvölkerte Sandsteppen, wie man
gewöhnlich meint; es sind vielmehr endlose Viehtriften mit zahl-
reichen Wohn- und Wirtschaftsgebäuden, die freilich bei der
ungeheuern Ausdehnung des Flächenraums fast verschwinden, während
der leere, unbewohnte Teil bei weitem der überwiegende ist.
Von Stelle zu Stelle bietet auch ein Feldbrunnen, der freilich
so kunstlos als nur möglich angefertigt ist, einen kühlen
Trunk.
Die Bewohner dieser weiten Ebenen sind zumeist Hirten, unter
sich in viele Kasten geteilt, je nach der Gattung des Viehes, das sie
zu hüten haben. Die unterste Stufe nimmt der Schweinehirt ein,
während der Pferdehirt auf der obersten Sprosse dieser Leiter steht.
Es sind merkwürdige Leute mit scharf markierten Zügen, sonnenver-
branntem Antlitz, schwarzen, funkelnden Augen und fetttriefendem Haare.
Ihre Kleidung besteht aus weiten, grobleinenen Beinkleidern und einem
kurzen Hemde von gleichem Stoffe mit weiten Ärmeln. Da sie diese
beiden wesentlichen Bestandteile ihres Anzuges so lange tragen, bis
sw ihnen buchstäblich vom Leibe fallen, so schmieren sie dieselben
tüchtig mit Speck, um das Ungeziefer fern zu halten. Ihre Kopf-
bedeckung ist ein runder, breitkrämpiger Hut, und den Schlußstein
dieser Garderobe bildet ein zottiger Schafpelz, den sie, je nach der
Jahreszeit, bald mit der glatten, bald mit der rauhen Seite nach
außen kehren, weshalb er, wie das ungarische Sprichwort sagt, „im
Winter wärmt, im Sommer kühlt". Die Mühe, welche die
guten Leute mit der Bewachung ihrer Herden haben, ist eben
nicht groß; sie überlassen diese Sorge gewöhnlich ihren weißen,
großen Wolfshunden, welche auf einem Hügel oder Dünger-
raufen ihren Sitz aufschlagen, um das Feld überblicken zu
können.
Merkwürdig ist die Art und Weise, wie die Pferdehirten die
wilden Pferde bändigen. Es wird nämlich aus einem Stricke eine
Schlinge gemacht, deren eines Ende der Hirt an seiner Hand befestigt;
bann schleicht er sich an das wilde Roß und wirft ihm die Schlinge
um den Hals, sich selbst aber in ziemlicher Entfernung zu Boden.
Indem er nun den Strick fester anzieht, will das Pferd in entgegen-
272
7. Alpenlied. 8. Rätsel.
gesetzter Richtung davon rennen; aber die Schlinge schnürt ihm immer
fester den Hals zu, und so stürzt es endlich atemlos zu Boden. In
diesem Augenblicke springt der Hirt auf und stellt sich über das Roß,
so daß es gerade zwischen seine Beine zu liegen kommt. Dann lockert
er langsam die Schlinge; das Pferd erhebt sich, aber durch diese Be-
wegung hat es den Hirten auch schon auf dem Rücken sitzen, der mit
ihm davon sprengt und es nun rennen läßt, bis es müde und gefügig
wird. Mut, Gewandtheit und eine eigentümliche Geschicklichkeit in
Abrichtung und Behandlung der Pferde thun das übrige. Binnen
kurzem entspinnt sich zwischen Roß und Reiter jenes freundschaftliche I
Verhältnis, wie es eben nur auf diesen Heiden und unter diesen
Menschen vorkommt. Das Roß kennt die Hand seines Herrn, dieser
jede Bewegung seines Pferdes; sie sprechen mit einander eine Gebärden-
sprache , die beiden vollkommen verständlich ist. Der Hirt teilt jeden
guten Bissen mit seinem Rosse, kann aber dafür ihm auch blindlings
vertrauen. Zaik.
7,
1. Auf hoher Alp
wohnt auch der liebe Gott;
er färbt den Morgen rot,
die Blümlein weiß und blau
und labet sie mit Tau.
Auf hoher Alp ein lieber Vater wohnt.
2. Auf hoher Alp
von kräuterreichen Höh'n
die Lüftlein lieblich wehn,
gewürzig, frei und rein.
Mag's auch sein Odem sein?
Auf hoher Alp ein lieber Vater wohnt.
3. Auf hoher Alp
erquickt sein milder Strahl
das stille Weidethal;
des hohen Gletschers Eis
glänzt wie ein Blütenreis.
Auf hoher Alp ein lieber Vater wohnt.
Alpenlied.
4. Auf hoher Alp
des Gießbachs Silber blinkt;
die kühne Gemse trinkt
an jäher Felsen Rand
aus seiner hohlen Hand.
Auf hoher Alp ein lieber Vater wohnt.
5. Auf hoher Alp
in Scharen, weiß und schön,
die Schaf' und Zieglein gehn
und finden 's Mahl bereit,
daß sich ihr Herze freut.
Auf hoher Alp ein lieber Vater wohnt.
6. Auf hoher Alp
der Hirt sein Herdlein schaut;
sein Herze Gott vertraut;
der Geiß und Lamm ernährt,
ihm auch wohl gern beschert.
Auf hoher Alp ein lieber Vater wohnt.
Rrummacher.
8. * Rätsel.
Bäume find es, an denen ich hange;
Tücher find es, in denen ich prange;
Länder sind es, welche ich halte;
Llumen sind es, die ich entfalte,
wenn mich der Stickerin Finger führt
und mein Stachel den Grund berührt.
9. Ter Kohn.
273
9. Der Föhn.
Im ganzen Bergrevier der Schweiz ist kein Wind bekannter und
von großartigerer Wirkung als der Föhn. Er ist warm und trocken.
In den Alpenthälern tritt er zunächst hoch oben auf, stoßweise kommt
er herab, stürzt in die Tiefe und wütet mit stürmischer Gewalt. Ge-
wöhnlich hält er 2 — 3 Tage an. Seine Entstehung erklärt man sich
folgendermaßen: Der warme und feuchte Südwestwiud giebt seine
Feuchtigkeit in Gestalt von Schnee oder Regen an den südlichen Ab-
hängen der Alpen ab, so daß der Wind auf der Höhe trocken ankommt;
beim Herabstürzen in die an die Hauptkette stoßenden nordöstlichen
Thäler der Alpen muß sich die Luft verdichten und dadurch erwärmen
und immer trockener werden. Oft steigt daselbst das Thermometer in
wenigen Stunden um 10 Grad. Der Föhn weht zu allen Jahres-
zeiten, in einem Jahre oft 15 bis 20 mal, am öftersten aber im
Frühjahre. Bei Nacht tritt er gewöhnlich heftiger auf als am Tage.
Die Erscheinungen, welche ihn begleiten, sind sehr hübsch. Am süd-
lichen Horizonte zeigt sich leichtes, sehr buntes Schleiergewölke, das sich
an die Bergspitzen setzt. Die Sonne geht am starkgeröteten Himmel
bleich und glanzlos unter. Noch lange glühen die Wolken in den
lebhaftesten Purpurfarben. Die Nacht bleibt schwül, taulos, von
einzelnen kälteren Luftschichten strichweis durchzogen. Der Mond hat
einen rötlichen, trüben Hof. Die Luft erhält den höchsten Grad von
Klarheit und Durchsichtigkeit, so daß die Gebirge viel näher erscheinen;
der Hintergrund nimmt eine bläulich violette Färbung an. Von fernher
ertönt das Rauschen der oberen Wälder; die Bergbäche tosen mit
größerer Schmelzwasserfülle weithin durch die stille Nacht; ein unruhiges
^ben scheint überall rege zu werden und dem Thale sich zu nähern.
Mit einigen heftigen Stößen, die besonders im Winter erst rauh und
kalt sind, kündet sich der angelangte Föhn an, worauf plötzliche Stille
der Lüfte folgt. Um so heftiger brechen die folgenden heißen Föhn-
fluten ins Thal und werden oft zu rasenden Orkanen, die zwei bis
drei Tage mit abwechselnder Gewalt die Region beherrschen, die ganze
Natur in Aufruhr versetzen, Bäume in die Tiefe schleudern, Felsstücke
losreißen, die Waldbäche anfüllen, Häuser und Ställe abdecken und
zum Schrecken des Landes werden.
Unruhig ziehen die Gemsen sich auf die Nordseite des Berges
oder in tiefe Felsenkessel. Kühe, Pferde, Ziegen suchen mit Mißbehagen
"och frischer Luft, während der Föhn ihnen Rachen und Lunge aus-
trocknet. Kein Vogel ist in Wald und Feld zu erblicken. Die Menschen
leilen das allgemeine Unbehagen, das beengend auf Sehnen und
Nerven wirkt und dem Gemüte eine lastende Bangigkeit aufdrückt,
gleichzeitig wird sorgsam das Feuer des Herdes oder Ofens gelöscht.
vielen Thälern ziehen die Feuerwachen rasch von Haus zu Haus,
um sich von jenem Auslöschen zu überzeugen, da bei der Ausdörrung
Es Holzwerkes durch den Wind ein einziger verwahrloster Funke
Deutsche? Lesebuch für kath. Schulen. IV. Für Obelklassen. lg
274
10. Preis der Tanne. 11. Die Gotthardbahn.
großes Brandunglück stiften könnte. Und doch wird der Föhn, obwohl
er gefährlicher ist als jeder andere Wind des Gebirges, im Frühling
mit Freuden begrüßt. Im ganzen Berggebiet bewirkt er ungeheure
Schnee- und Eisschmelzungen und verändert dadurch mit einem Schlage
das Bild der Landschaft. Er ist der rechte Lenzbote und wirkt in
vierundzwanzig Stunden so viel als die Sonne in vierzehn Tagen,
indem auch die alte, zähe Schneeschicht, welche die Sonne lange ver-
geblich beleckt, ihm nicht widersteht. Tschubi.
10. * Preis der Tanne,
1. Jüngsthin hört' ich wie die Rebe
mit der Tanne sprach und schalt:
„Stolze, himmelwärts dich hebe,
dennoch bleibst du starr und kalt!
4. So sich brüstend sprach die Nebe;
doch die Tanne blieb nicht stumm,
säuselnd sprach sie: „Gerne gebe
ich dir, Nebe, Preis und Ruhm.
2. Spend' auch ich nur kargen Schatten
Wegemüden, gleich wie du;
führet doch mein Saft die Matten,
o wie leicht, der Heimat zu.
5. Eines doch ist mir beschiedcn:
mehr zu laben als dein Wein
Lebensmüde; — welchen Frieden
schließen meine Bretter ein!"
3. Und im Herbste, — welche Wonne
bring' ich in des Menschen Haus!
Schaff' ihm eine neue Sonne,
wenn die alte löschet aus."
6. Ob die Nebe sich gefangen
gab der Tanne, weiß ich nicht;
doch sie schwieg, — und Thränen hangen
sah ich ihr am Auge licht.
I»st. Rerncr.
11. Die Gotthardbalm.
über den St. Gotthard führt seit alters eine Straße, für
welche auf der Nordseite das Thal der Reuß, auf der Südseite
das Thal des Tessin benutzt ist. Als man schon an ein paar
Stellen der Alpen den beschwerlichen Bau von Eisenbahnen
glücklich ausgeführt hatte, dachte man auch daran, in der Rich-
tung der alten Gotthardstraße zum schnelleren und leichteren
Verkehr einen Schienenweg herzustellen. Dazu bot sich vom
Vierwaldstätter See an das Thal der Reuß als ganz geeignet dar;
aber wie wollte man da, wo die steilen Höhen des Gotthard be-
ginnen, weiter kommen? Denn über diese kann eine Eisenbahn
nicht gelegt werden. Es blieb daher nur übrig, mitten durch die
Felsmassen des breiten Gebirgsstockes einen Weg zu bahnen,
indem man einen Tunnel anlegte. Man denke aber, was das
sagen will: einen Weg von zwei deutschen Meilen durch hartes
Gestein hindurch zu bahnen und zwar so hoch und so breit, daß
Eisenbahnwagen auf doppeltem Geleise fahren können! Nach
reiflicher Überlegung faßte man dennoch den kühnen Entschluß,
von dem Thale der Reuß aus einen Tunnel durch die Felsmasseß
des St. Gotthard hindurch bis zum Thal des Tessin bei der
Stadt Airolo zu bauen. Man nalm die Arbeit von beiden Seite#
11. Die Gotthardbahn.
275
18*
Kehrtunnel im Thaïe des Tessin.
270
11.' Die Gotthardbahn.
aus, vom Tliale der Reuß im Norden, wie vom Tliale des Tessin
im Süden in Angriff. Große Bohrmaschinen arbeiteten sich immer
tiefer in das harte Gestein hinein, indem sie Löcher bohrten, in
welche Dynamit zum Sprengen der Felsmassen gelegt wurde.
So förderte man täglich die Arbeit ganz merklich-, aber dennoch
brauchte man 9 Jahre, um diesen langen Felsengang zu vollenden,
und von den Hunderten von Arbeitern, die mit den gefährlichen
Verrichtungen beschäftigt waren, sind gar viele verunglückt oder
den großen Anstrengungen unterlegen. Der erfinderische Leiter
des Baues, Favre, starb vor der Beendigung seines Werkes,
indem er im Tunnel plötzlich vom Schlage getroffen wurde.
Es war im Jahre 1880, als die Arbeiter, welche vom Norden
und Süden her den Stollen immer tiefer ins Gestein hinein-
trieben, im Tunnel sich begegneten. So gut hatten sie die
Richtung innegehalten, daß beide Schachte ganz genau aufein-
ander trafen. Damit war das schwerste Stück Arbeit der ganzen
Bahnlinie, welche nach dem Gotthard ihren Namen führt, vollendet.
Aber auch an anderen Stellen machte die Herstellung der Bahn
große Schwierigkeiten. Die Gotthardbahn nimmt nämlich ihren Anfang
zwischen dem Zuger und Vierwaldstätter See und schlängelt
sich mühsam bald durch Felsengänge, bald an den steilen Ufern
der Seeen, bald an jähen Bergabhängen hin. Die Thäler der
Reuß und des Tessin sind zum Teil so eng und zugleich ist die
Steigung so steil, daß man an manchen Stellen sich gar keinen
Rat wußte, wie man die Eisenbahn, die doch nur sehr allmählich
steigen darf, legen sollte. Da kam man auf einen Ausweg, welchen
das vorstehende Bild veranschaulicht.
Es zeigt uns im Tliale des Tessin eine Stelle, an welcher der Bahn
ein hoher, steiler Berg entgegentritt. An den Abhängen desselben
konnte sie selbst in Schlangenwindungen nicht in die Höhe geführt
werden. Daher blieb nur übrig, den Weg in das Innere des
Berges hineinzulegen.
Wir sehen einen Eisenbahnzug, welcher, von der Schweiz
kommend, oberhalb des Ortes erst aus einem Tunnel heraus-
getreten ist, wiederum einem Tunnel, zufahren, von dem sowohl
das Eingangsthor, wie auch links darunter das Ausgangsthor sicht-
bar ist. Aus letzterem ist eben ein anderer Zug herausgekommen,
welcher in der Richtung nach Italien weiter fährt. Im Berge
führt die Eisenbahnstrasse kreisförmig fast wieder auf dieselbe
Stelle zurück. Ein solcher Tunnel hat den Namen „Kehrtunnel“
und dient nur dazu, für die Bahn die nötige Steigung heraus- i
zubekommen. Sowohl im Tliale der Reuß, wie des Tessin sind
mehrere Kehrtunnels angelegt.
Die Gotthardbalm geht, nachdem sie aus dem lieblichen Thale
des Tessin herausgetreten ist, in südlicher Richtung weiter bis sie
den Anschluß an die Bahn erreicht, welche nach Mailand führt.
12. Der Mont-Blanc.
277
12. Der Mont-Blanc.*)
linier den penninischen Alpen ragt wie ein Koloß, welcher die ganze
Gebirgskette beherrscht, der Mont-Blanc mit seinen drei Gipfeln empor,
die mit ewigem Schnee bedeckt sind. Über die Meeresfläche erhebt er sich
4800 Meter. Mont-Blanc (weißer Berg) heißt er deshalb, weil ihm der
Schnee, der seinen Scheitel verhüllt, ein weißglänzendes Ansehen giebt. Der
höchste Gipfel des Mont-Blanc ist ein schmaler Rücken von einer Breite von
2 Metern, welchen man den Rücken des Dromedars nennt. Mit mehreren
Führern versuchte ich es, diesen Riesenberg zu besteigen. Wir nahmen eine
Eieine Leiter mit, hatten unsere Schuhe mit Eissporen bewaffnet und waren
"üt festen Stöcken versehen, die unten einen Stachel hatten.
*) sxr. Mohng'blahng'.
278
12. Dcr Mont-Blanc.
Der Weg über die Gletscher war von der Gefahr des Ausgleitens und
Hinabstürzens bedroht und in jeder Hinsicht äußerst mühsam. Aber welche
Beschwerden überwindet nicht das Verlangen, mehr zu sehen und zu lernen!
Wir hielten uns, 3 bis 4 Meter von einander entfernt, einer den andern an
einem langen Seile fest. Von den Felsen war die Pflanzenwelt verschwunden,
und nur etliche Grashalme sproßten einsam hier hervor. Endlich kamen wir
an eine Lagerstelle, wo wir uns niederließen, um auszuruhen. Beim Weiter-
gehen griff der Schnee und der Wind meine Augen so an, daß ich kaum noch
um mich sehen konnte.
Wir stießen noch auf mehrere Gletscher und mußten über gefährliche
Klüfte springen. Über die größeren Spalten hatten sich Schnee- und Eis-
brücken gelegt, die wir passieren mußten, obgleich sie einen augenblicklichen
Einsturz drohten und unermeßliche Abgründe unter ihnen sich uns entgegen
sperrten. Den Schnee fand ich ungemein rein und von blendender Weiße.
Alles Leben hört hier auf, und es herrscht Tod und Grabesschweigen, das
nur durch den knarrenden Schnee unterbrochen wurde. Weiter nach dem
Gipfel zu thaten sich nach allen Seiten hin Abgründe aus; der Schnee wurde
auch so eisig und hart, daß die vorangehenden Führer mit Äxten Fußtritte
zum Weitersteigen einhauen mußten. Die Luft wurde so dünn, daß ich kaum
Atem schöpfen konnte. Es übermannte mich eine große Müdigkeit und eine
Abspannung aller Kräfte. Ein kleine Bewegung verursachte, daß mein Puls
schneller ging und mein Herz heftig klopfte. Alle Eßlust hatte ich verloren,
und jede Speise war mir zuwider.
Die zunehmende Dünne der Luft war jedoch die Hauptbeschwerde, die ich
empfand. Ich fühlte mich so abgemattet, daß ich keinen Schritt mehr thun
zu können glaubte, aber vorwärts! sagte ich zu mir selbst, ein Weichling nur
verzagt-------und siehe, es ging.
Der Schnee wurde nun wellenförmig, und jetzt — jetzt stand ich auf
dem Gipfel des Mont-Blanc, auf dem höchsten Punkte eines ganzen Weltteils.
Alles Lebendige war tief unter mir. Dem Himmel, aber auch dem Schöpfer
dieses Berges, stand ich näher. So begeistert, so groß als hier, hab' ich mich
nie gefühlt. Ach, von jeder Sünd' und Schwäche wünschte ich jetzt rein zu
sein wie die Lust, die ich einatmete. Meine Seele war freier, sie schien alle
Fesseln, die ihr der Körper anlegt, abgestreift zu haben. Selig fühlt' ich mich
wie die Unsterblichen.
Die Luft war hell und klar, und die Aussicht, die ich von dem schmalen
Rücken des Berges hatte, war unbeschränkt und unbeschreiblich. Östlich lag
das mailändische, südöstlich das piemontefische Gebiet und südlich
Genua vor meinen Blicken. Einen Teil des südlichen Frankreichs, eine Kette
Schweizergebirge, Gletscher, Alpen, wie Maulwurfshügel, das Chamouny-*)
Thal sah ich zu meinen Füßen. Den Mont-Rosa ausgenommen, welcher
fast ebenso hoch als der Mont-Blanc ist, erschien mir das andere Ganze mit
seinen Berggipfeln wie ein hügeliger Boden. Die Sonne war gesunken, als
ich den Dromedar verließ, von dem ich auf ewig Abschied nahm.
') spr. Schamuni.
Lrissc-N.
13. Die Schiffswerften in Amsterdam.
279
13. Die Schiffswerften in Amsterdam.
Amsterdam, Hollands Hauptstadt, ist einer der berühmtesten
Handelsplätze Europas. Ter Boden, auf welchem die Stadt erbaut
ist- besteht aus Torfmoor. Daher hat man ungeheure Pfähle ein-
rammen müssen, um den Häusern einen festen Grund zu bereiten. Die
Amstel, welche Amsterdam durchstießt, ist des Warentransports wegen
in eine Menge Kanäle geteilt, die an hundert Inseln bilden, welche
durch viele steinerne und hölzerne Brücken mit einander verbunden sind.
In der Mitte dieser Brücken hat man Fallthüren angebracht, welche
man aufzieht, wenn Schiffe mit ihren Masten durchfahren wollen.
In einer Seestadt zieht es den Fremden ans Meer. Im Hasen
von Amsterdam herrscht eine ungeheure Thätigkeit. Mit Staunen be-
trachtet man die gewaltigen Sst- und Westindienfahrer, die da vor
Anker liegen oder gehen und kommen. Aber ebenso lebhaft ist es auch
auf den Werften, die in seiner Nähe eine kleine Stadt zu bilden
scheinen. Da zeigen sich die riesenhaften Gerippe der im Bau be-
griffenen Schiffe, an denen die Menschen gleich Zwergen herumklettern,
um sie Stück für Stück gleichsam mit Muskeln und Haut zu bekleiden.
Gleich zerstreuten Riesengliedern liegen Tausende von Masten und un-
geheuren Balken umher, dort Haufen von dicken Bohlen, von Werg
und schwertähnlichen Nägeln, hier zwei bis vier Meter lange Anker und
Taue von Leibesdicke. Mächtige Pechkessel sieden über knisterndem Feuer
und schwärzen alles umher mit ihrem dicken, schmutzigen Qualme. Das
Dröhnen ungeheurer Hämmer und das Knarren der Winden vermischt
sich mit dem einförmigen Zählen und Zurufen beim Heben und Fort-
schaffen der Lasten. Man erstaunt über die Einfachheit der mechanischen
Hilfsmittel, womit diese Riesenbaue nach Belieben gehoben und wieder
gesenkt, auf die Seite gelegt oder vorwärts bewegt werden. Aber auch
was die bloße Kraft nerviger Arme und Ruderer vermag, kann man
mit Bewunderung an den stämmigen Arbeitern wahrnehmen.
Eins der großartigsten Schauspiele ist es, ein Seeschiff vom Stapel
laufen zu sehen. Eine dichte Menschenmasse bedeckt dann das Ufer
und kann den Augenblick kaum erwarten, bis die Unterlagen, auf denen
das Schiff ruht, hinweg gezogen werden. Indem dies geschieht, senkt
sich das Schiff auf die Rollen oder Walzen.
Jetzt wird auch das Tau gekappt, und nun setzt sich der riesen-
hafte Bau erst langsam und gemächlich, dann immer schneller und
schneller auf seinen Rollen in Bewegung, bis er endlich unter dem
Gezische der Wogen ins Meer hinein rauscht. Erst taucht der Schnabel,
dann wieder das Hinterteil tief ins Wasser, und nur nach und nach
wird das Gleichgewicht hergestellt. Hoch laufen die Wellen am Ufer
empor, die umherliegenden Schiffe schwanken, und ein tausendstimmiges
Zujauchzen begrüßt das gelungene Werk.
E. M. Arndt.
280
14. Die Schwammfischerei. 15. Der Lotse.
14. Die Schwammfischerei.
-Fast in allen Meeren trifft man Schwämme; aber ihre Güte ist nach
den verschiedenen Meeren verschieden. Die zartesten und weichsten sind die
syrischen; nach ihnen kommen die aus dem Griechischen Archipel und
der Berberei.
Die Schwammfischerei erfordert sehr viel Kühnheit, Ausdauer und
Körperkraft. Sie beginnt im Juni und endet im August oder September.
Um diese Zeit sieht man eine große Anzahl von Barken mit griechischen
Fischern sich nach Beirut und Tripolis begeben. Je fünf bis sechs Fischer
arbeiten immer gemeinsam. Sie fahren früh morgens ziemlich weit auf das
Meer hinaus. Dieses muß vollständig klar sein, so daß man imstande ist,
bis auf den Grund hinabzusehen. Sobald ein Felsenriff endeckt ist, an welchem
man Schwämme vermuten kann, wird das Segel eingezogen und der Anker
herabgelassen. Der Taucher läßt sich sodann mit Hilfe eines großen Steines,
der an ein Seil gebunden ist, ins Meer hinab, reißt den Schwamm los und
steckt ihn in ein Netz, welches vor seiner Brust angebracht ist. Die feinsten
Schwämme befinden sich in der größten Tiefe und werden deshalb mit bedeu-
tend mehr Mühe heraufgeholt als die groben, die oft nur wenige Meter tief zu
erreichen sind. Die Schwämme wachsen ziemlich schnell, so daß nach zwei Jah-
ren die geplünderten Stellen wieder bewachsen sind.
Sobald die Schwämme an das Land gebracht sind, wirft man sie in eine
große, mit Waffer gefüllte Grube und tritt sie dann mit den Füßen aus, damit
der Schleim abgesondert, und der schwarze Saft ausgewaschen wird, der beim Treten
aus der inneren, härteren Maffe dringt. Die auf diese Weise behandelten und
getrockneten Schwämme enthalten zwar noch eine Menge Sand; der Fischer
will denselben aber auch nicht auswaschen, damit seine Ware schwerer wiege.
Er bringt dieselbe nach Tripolis auf den Markt, wo sich um die Mitte des
Septembers eine Menge Kaufleute von den größeren Handelsplätzen des Mit-
telländischen Meeres und selbst von Paris einsinden, um ihre Einkäufe zu
machen. Buch der Erfindungen.
15. *Der Lotse.
1. „ Siehst du die Brigg dort auf den
Wellen?
Sie steuert falsch, sie treibt herein
und muß am Borgebirg' zerschellen,
lenkt sie nicht augenblicklich ein.
2. Ich muß hinaus, daß ich sie
leite!"
„„Gehst du ins offne Wasser vor,
so legt dein Boot sich auf die Seite
und richtet nimmer sich empor.""
3. „Allein ich sinke nicht vergebens,
wenn sie mein letzter Ruf belehrt;
ein ganzes Schiff voll jungen Lebens
ist wohl ein altes Leben wert.
4. Gieb mir das Sprachrohr! Schiff-
lein, eile!
es ist die letzte höchste Not!"
Vor fliegendem Sturme, gleich dem
Pfeile,
hin durch die Schären eilt das Boot.
16. Neapel und der Vesuv.
281
5. Jetzt schießt es aus dem Klippenrande.
„Links müßt ihr steuern!" hallt ein Schrei.
Kiel oben treibt das Boot zu Lande,
und sicher fährt die Brigg vorbei.
Giesebrecht.
16. Neapel und der Vesuv.
<§üd-Italien ist unstreitig der fruchtbarste und gesegnetste Teil von
ganz Italien, darin die prächtige Stadt Neapel am Meere, mit dem Vesuv
in der Nähe. Die Lage ist reizend schön und wird nur von den Umgebungen
Konstantinopels übertroffen. Der Himmel erscheint hier monatelang ununter-
brochen wolkenlos und so blau oder noch blauer als bei uns in den schönsten
Frühlingstagen. Die Luft ist so rein, daß meilenweit entfernte Dörfer ganz
nahe erscheinen. Das südliche Meer ist dem nördlichen gegenüber ein anderes.
Wer je das Meer oder tiefe Seeen betrachtet hat. der weiß, wie sehr ihre
Schönheit von der Farbe der Luft abhängt, und wie ein grauer Himmel nur
immer auf ein graues Waffer niederscheint. Sobald man aber in Neapel
sich vom Ufer so weit entfernt hat, daß der Grund nicht mehr durchscheint,
ist die See, besonders im Schatten des Fahrzeugs, vom schönsten reinsten
Jndigoblau; doch wechseln die Farben beständig in den mannigfaltigsten Ab-
stufungen. Überblickt man vom hohen Ufer die Wafferfläche, und es naht
ein Wind vom Meere her, so verdunkelt sich das Gewässer in weiter Ferne;
ein breiter Schatten rückt allmählich näher. Der glatte, silberne Spiegel gerät
in schwankende Bewegung; kleine Wellen erheben sich und schlagen plätschernd
wie zum Spiel ans Ufer. Aber schon folgen größere; lange Bänke grüner
Wogen kommen brüllend; ihre weißen Häupter und Kämme erheben sich
immer wilder; donnernd prallen sie an den Strand und brechen zurück-
schmetternd die nächste Linie der andringenden Wafferhügel. Herrlich ist auch
der hüpfende Sonnenglanz auf dem mäßig bewegten Meer. Geht die Sonne
unter, so spielen auf dem Waffer alle Farben des Regenbogens. Nachts,
besonders im Sommer und nach Gewittern, schimmern die Wellen in mattem
Lichte; um des Fischers Ruder sprühen Funken, und die Spur seiner Barke
ist Feuer. Dies rührt von Millionen sonst unsichtbarer Bewohner des Meeres
her, deren Leuchten durch eine stärkere Bewegung des Wassers gesteigert wird.
Wirft man einen Hund ins Meer, so kommt er leuchtend zurück; sich schüttelnd,
sprüht er Funken.
Auf dem Ostgestade des Busens von Neapel erhebt sich der Vesuv aus
der Ebene, abgesondert und ohne unmittelbaren Zusammenhang mit den
nächsten Bergen. Er ist die Krone der ganzen Landschaft, und so prachtvoll
sein Anblick ist, so prächtig ist der Ausblick von seiner Höhe.
Ein mehrstündiger Weg führt anfangs durch die üppigsten Pflanzungen
von Wein, Feigen und Aprikosen, später durch ein schrecklich ödes, braun-
rotes Lavagefild bis zum steilen Kegel des Berges. Auch diesen hinauf
geht es anfangs ziemlich gut; es sind noch große, festliegende Steine da, auf
welche man beim Steigen treten kann; sobald man aber höher kommt, wird
ber Weg durch das Geröll und Gebröckel kleiner verbrannter Steine und durch
282
17. Italien. Rom.
die rotbraune Erdasche außerordentlich beschwerlich. Bei jedem Schritte auf-
wärts sinkt mau wiederum einen halben Schritt zurück. Natürlich muß man
oft anhalten und ausruhen, damit die Kräfte sich sammeln. Hier und da ist
der Boden sehr heiß, und ein weißer Nauch qualmt manchmal unter den Steinen
hervor. Nach einer halben Stunde ist die beschwerliche Besteigung des Kegels
vollendet, wir stehen glücklich oben am Rande des Kraters.
Der Krater des Vesuvs ist ein ungeheurer rundlicher Kessel, dessen Rand
umher 10 bis 16 und mehr Meter hoch ist und ans verbranntem Gestein und
Asche besteht; natürlich ist dieser Rand an einer Stelle höher als an der anderen.
Um den ganzen Krater kann man bei großer Vorsicht auf dem schmalen Rande,
der ihn umgiebt, herumgehen, wozu etwa 1 Stunde erforderlich ist. Daß sich
seine Gestalt bei heftigen Ausbrüchen immer verändert, ist bekannt.
In der Mitte' des ungeheuren Kessels ist ein Boden, der eigentliche
Feuerschlund. Man sieht da einen kleinen Kegel, der 8 bis 10 Meter hoch
zu sein scheint und durch das Gestein und die Asche, die der Vulkan immer
auswirft, gebildet ist. Auf dem Gipfel dieses Kegels ist eine Öffnung, aus
welcher ein weißer, schwefelgelblich schimmernder, dichter Dampf aufwallt; einige
kleinere Öffnungen sind daneben. Am Fuße dieses kleinen Kraters bemerkt man
an verschiedenen Stellen, deren Zahl sich vermehrt, sobald es dunkel wird, das
Feuer der Erde. Wie düsterrote Kohlenglut sieht man hier das Gestein des
Berges brennen; zwischen dem Feuer hin ziehen sich Lagen der schwarzen, mit
gelbem Schwefel überzogenen Erde. Die innere Wand des Kraters ist steil
und gewährt dem Auge eine gar wilde, schauerlich öde Ansicht.
Unter unseren Füßen brüllt der Donner der Erde dumpf wie der
Kanonengruß ferner Meerschiffe, bald tiefer, dumpfer, grauenvoller, wütender,
ein Getöse hohl zusammenschlagender Felsenberge. Ein Atemzug der Stille,
und der dichte graue Dampf, der über der Öffnung des kleinen Kegels schwebt,
rötet sich, rötet sich heißer, glühender, brennender. Ein breiter Flammenstrahl
fährt sausend, zischend, rollend empor; ein Haufen heißer Steine und Asche
steigt funkelnd über das Feuer hinaus in die Nacht und fällt rings auf den
kleinen Kegel nieder. Meycr.
17. Italien. Nom.
Eins der schönsten und fruchtbarsten Länder Europas ist Italien.
Der Dichter preist es mit den Worten:
Kennst du das Land, wo die Citronen blühn,
im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,
ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
die Myrte still und hoch der Lorbeer steht?
Mit Bewunderung durchzieht der Wanderer die schönen Städte
dieses gesegneten Landes; das prächtige Mailand mit seinem herr-
lichen Dome; das gleichsam aus dem Meere aufsteigende Venedig
mit seinen Marmorpalästen und Hunderten von Gondeln, welche rasch
und geräuschlos die Kanäle durchfurchen; das heitere Florenz mit
seinen Kunstschätzen und das einzige Neapel, reizend am Meere ge-
legen in der Nähe des feuerspeienden Berges Vesuv, Italiens größte
17. Italien. Rom.
283
Stadt (450 000 Einw.). Doch das Hauptziel seiner Wanderung ist
das ewige Rom, wie es seines hohen Altertums wegen genannt wird.
Rom ist die Hauptstadt der katholischen Christenheit, das Jerusalem
des neuen Bundes, der Sitz des Statthalters Christi, des Papstes,
das Ziel der Wanderung von tausend und aber tausend Pilgern, die
aus allen Teilen der christlichen Welt dorthin strömen, um am Grabe
der heiligen Apostelfürsten Petrus und Paulus zu beten, den Segen
des heiligen Vaters zu empfangen und die christlichen Denkmäler und
Kunstschätze, die hier aus allen Zeiten aufgehäuft sind, anzustaunen.
Von Nom aus ist zweimal die Welt beherrscht worden, zu den Zeiten
der alten Römer und dann im Mittelalter, in den blühendsten Zeiten
des Papsttums, als die Statthalter Christi nicht bloß als Väter der
Gläubigen verehrt, sondern auch als Schiedsrichter zwischen Fürsten und
Völkern betrachtet und um Entscheidungen bei Regelung der öffentlichen
Verhältnisse angegangen wurden. Man kann daher ein zweifaches Rom
unterscheiden, das alte, heidnische mit seinen Tempeln, Säulengängen,
Triumphbögen und anderen großartigen Bauten, und das neue, christliche
Rom, das sich auf, neben und aus den Trümmern des alten erhebt.
Die Gegend um Rom, durch welche die Reisenden aus dem Norden
herkommen, ist öde und einsam. Kein Baum erhebt sich, nur einzelne
alte Säulen und andere Bautrümmer sieht man emporragen. Der
Blick des Wanderers späht in die Ferne; da plötzlich ragt das Zeichen
des Kreuzes empor über eine Wolke von Rauch und Tunst. Es ist
das Kreuz der Peterskirche auf dem Vatikanberge, und bald entschleiert
sich unter ihm der herrlichste Bau des neuen Roms, die herrlichste
und ehrwürdigste Kirche der Christenheit. Sie umschließt den geheiligten
Boden, der das Blut der Apostel und Märtyrer trank. Die Engels-
l>urg, Roms Festung und Stadtgefängnis, erbaut über dem prachtvollen
Mausoleum des Kaisers Hadrian, wird hierauf sichtbar. Hoch oben
schimmert der goldene Engel, von dem die Burg den Namen führt.
Bald steigt auch das Kolosseum empor, die Ruine des größten
Amphitheaters der Stadt, das vom Kaiser Vespasian erbaut wurde,
nachdem er Jerusalem zerstört hatte. Es soll in einem Jahre von
12 000 gefangenen Juden aufgeführt worden sein und 100 000 Zuschauer
gefaßt haben. Schöner und immer schöner wird die Ansicht, immer
wehr Bauwerke, immer mehrere der 364 Kirchen, welche Rom zählt,
immer mehrere der herrlichen Paläste werden sichtbar, und im Hinter-
gründe erscheinen die albanischen und sabinischen Hügel.
Rom hat einen weit größeren Umfang, als man nach der Größe
seiner Bevölkerung, die mit den ab- und zugehenden Fremden etwa
240 000 beträgt, vermuten sollte. Es umschließt aber so viele
großartige öffentliche und Privatgebäude, so viele Plätze und Merk-
würdigkeiten, daß wir nur auf eines und das andere hinweisen können.
Die Peterskirche ist ein so ungeheures Gebäude, daß man 100 Jahre
über ihrem Baue zubrachte und 200 Millionen Mark darauf ver-
wendete. Schon die Vorhalle ist so groß, daß eine ziemlich große
284
17. Italien. Rom.
Kirche, wie wir sie in den Städten unserer Provinz finden, bequem
darin Platz hat. Sie ist gegen 216 m lang und 93 m breit, bis
zum Dache 130 m hoch. So scheint das Wort des Dichters Jean
Paul fast keine Übertreibung, wenn er sagt: „die Gänge in der
Peterskirche seien Straßen, in denen Kirchen stehen." An der Vor-
derseite hat sie fünf große Thore und 2 Türme, im Innern 29
Altäre, und ist mit Marmor bekleidet. Der Hochaltar, an welchem
nur der Papst das heilige Meßopfer darbriugt, steht mitten in der
Kirche, von allen Seiten frei; über ihm ist ein Thronhimmel, der von
vier über 30 m hohen ehernen Säulen getragen wird. Ünter dem
hohen Altare befindet sich eine unterirdische Kapelle mit den Gräbern
der heil. Apostel Petrus und Paulus und zahlloser Märtyrer, vor
denen 112 Lampen brennen, die nur am Karfreitage ausgelöscht werden.
Über dem Hochaltar ist int Dache der Kirche die herrliche doppelte
Kuppel, die von vier ungeheuren Pfeilern getragen wird; jeder Pfeiler
hat etwa 30 m int Durchmesser. Denkt man sich die Pfeiler aus-
gehöhlt, so würde man in jedem derselben einen Raum für eine mäßig
große Kirche gewinnen. Man kann in die Kuppel hineingehen und
von ihrer Galerie in die Kirche hinabschauen. Auch kann man zwischen
den beiden Gewölben der Kuppel hindurchsteigen bis in ihren obersten
Aufsatz, die Laterne genannt, wo man Rom und die Umgegend
übersieht. Ein unvergleichlicher Anblick! Unter den Füßen Paläste,
Riesengebäude, majestätische Kirchen und Ruinen, weiter die verödete
Campagna mit zahllosen Trümmerhaufen aus alter Zeit; die Berge
von Tivoli, Frascati und Albano bilden zu dem. großartigen Gemälde
den malerischen, dunkelblauen Hintergrund. Das Kreuz an der Laterne
ist 158 m vom Boden entfernt. Am östlichen Ende in der Peterskirche
steht der päpstliche Thron. „Je öfter wir zu diesem Wundertempel
wiederkehren," schreibt ein Reisender, „desto mehr bildet sich das Auge
zur Schätzung seiner Größe heran; unser Staunen beginnt erst, wenn
wir zu messen anfangen, und z. B. die Engel am ersten Pfeiler, die
wir in Mauneshöhe wähnen, weit über uns schweben sehen, oder
wahrnehmen, wie in der Karwoche oft 80 000 Menschen in dieser
unermeßlichen Halle sich verlieren. St. Peter ist wie eine Stadt für
sich; ganz Rom, die ganze Kolonie der Fremden geht hier allmählich
aus und ein; eine stets gleiche, duftige Atmosphäre haucht in diesem
größten aller Tempel, in dessen einzelnen Teilen gleichzeitiger und
verschiedener Gottesdienst gefeiert wird. Für alle Zungen stehen hier
Beichtstühle; denn St. Peter ist nicht für Rom, er ist für die ganze
Christenheit da. Bald ist es ein ungeheurer, schweigsamer Tempel,
bald erfüllen ihn Tausende, und er erscheint noch leer. Hier ver-
sammelt die Orgel in der Chorkapelle einen Haufen Andächtiger, dort
ziehen Gruppen von Engländern von Bild zu Bild; hier betet ein
Landmann, seinen Bündel neben sich, dort endlich tritt eine leise singende
Prozession aus einer Kapelle hervor." Vor der Kirche ist der schöne
Peters^latz, 70 m lang, zirkelrund, umgeben von dreifachen Säulen-
17. Italien. Rom.
285
Peters kirche.
286
18. Der Taucher.
gangen in Halbzirkeln; in den Hallen stehen über 300 Heiligenstatuen.
Mitten auf dem Platze steht ein 30 m hoher Obelisk aus Ägypten,
eine Säule aus einem einzigen Stein; ihm zur Seite befinden sich
zwei schöne Springbrunnen. An die Kirche stößt der Vatikan. Der
Vatikan enthält 22 innere Höfe und 11 000 Zimmer, von denen einige
2 00 Schritte lang sind, auch die sixtinische Kapelle mit dem jüngsten
G erichte, dem berühmten Gemälde von Michel Angelo (sprich Mikel
Andschelo), al sresco, d. h. auf frischen Kalk gemalt; hier wird an
den letzten Tagen der Karwoche das berühmte Miserere, dieses Meister-
stück kirchlicher Musik, bei ausgelöschten Lichtern in der Dämmerung von
32 Stimmen ohne Begleitung von Instrumenten gesungen, und der ganze
Gottesdienst dieser Tage hat an Erhebung und Erbauung in der ganzen
Welt nicht seinesgleichen. Auch bewundert man in dem Vatikan die
Logen (Gänge) und Zimmer, die der unsterbliche Raphael gemalt hat,
das Museum, die Bibliothek mit 64 000 Bänden, 'das Münzkabinet.
würkkemb. Lesebuch.
18. *Der Taucher.
1. „Rler wagt es, Rittersmann oder Knapp',
zu tauchen in diesen Schlund?
Einen goldnen Becher werf' ich hinab,
verschlungen schon hat ihn der schwarze Mund.
Wer mir den Becher kann wieder zeigen,
er mag ihn behalten; er ist sein eigen!"
2. Der König spricht es und wirft von der Höh'
der Klippe, die schroff und steil
hinaushängt in die unendliche See,
den Becher in der Charybde Geheul.
„Wer ist der Beherzte, ich frage wieder,
zu tauchen in diese Tiefe nieder?"
3. Und die Ritter, die Knappen um ihn her
vernehmen's und schweigen still,
sehen hinab in das wilde Meer,
und keiner den Becher gewinnen will.
Und der König zum drittenmal wieder fraget:
„Ist keiner, der sich hinunter waget?"
4. Doch alles noch stumm bleibt wie zuvor;
und ein Edelknecht, sanft und keck,
tritt aus der Knappen zagendem Chor,
und den Gürtel wirft er, den Mantel weg,
und alle die Männer umher und Frauen
auf den herrlichen Jüngling verwundert schauen.
5. Und wie er tritt an des Felsen Hang
und blickt in den Schlund hinab,
die Wasser, die sie hinunter schlang,
die Charybde jetzt brüllend wiedergab,
und wie mit des fernen Donners Getose
entstürzen sie schäumend dem finstern Schoße.
18. Der Taucher.
287
6. Und es wallet und siedet und brauset und zischt,
wie wenn Wasser mit Feuer sich mengt.
Bis zum Himmel spritzet der dampfende Gischt,
und Flut auf Flut sich ohn' Ende drängt,
und will sich nimmer erschöpfen und leeren,
als wollte das Meer noch ein Meer gebären.
7. Doch endlich, da legt sich die wilde Gewalt,
und schwarz aus dem weißen Schaum
klafft hinunter ein gähnender Spalt,
grundlos, als ging's in den Höllenraum;
und reißend sieht man die brandenden Wogen
hinab in den strudelnden Trichter gezogen.
8. Jetzt schnell, eh' die Brandung wiederkehrt,
der Jüngling sich Gott befiehlt,
und — ein Schrei des Entsetzens wird rings gehört, —
und schon hat ihn der Wirbel hinabgespült,
und geheimnisvoll über dem kühnen Schwimmer
schließt sich der Rachen; er zeigt sich nimmer.
9. Und stille wird's über dem Wafferschlund,
in der Tiefe nur brauset es hohl,
und bebend hört man von Mund zu Mund:
„Hochherziger Jüngling, fahre wohl!"
Und hohler und hohler hört man's heulen,
und es harrt noch mit bangem, mit schrecklichem Weilen.
10. Und würfst du die Krone selber hinein
und sprächst: „Wer mir bringet die Krön',
er soll sie tragen und König sein!"
Mich gelüstete nicht nach dem teuren Lohn.
Was die heulende Tiefe da unten verhehle,
das erzählt keine lebende, glückliche Seele.
11. Wohl manches Fahrzeug, vom Strudel gefaßt,
schoß jäh in die Tiefe hinab;
doch zerschmettert nur rangen sich Kiel und Mast
hervor aus dem alles verschlingenden Grab.
Und heller und heller, wie Sturmes Sausen,
hört man's näher und immer näher brausen.
12. Und es wallet und siedet und brauset und zischt,
wie wenn Wasser mit Feuer sich mengt.
Bis zum Himmel spritzet der dampfende Gischt,
und Well' auf Well' sich ohn' Ende drängt,
und wie mit des fernen Donners Getose,
entstürzt es brüllend dem finstern Schoße.
18. Der Taucher.
13. Und sieh! aus dem finster flutenden Schoß
da hebet sich's schwanenweiß.
und ein Arm und ein glänzender Nacken w'rd bloß,
und es rudert mit Kraft und mit emsigem Fleiß,
und er ist's, und hoch in seiner Linken
schwingt er den Becher mit freudigem Winken. —
14. Und atmete lang und atmete tief
und begrüßte das himmlische Licht.
Mit Frohlocken es einer dem andern rief:
„Er lebt! Er ist da! Es behielt ihn nicht!
Aus dem Grab, aus der strudelnden Wasserhöhle
hat der Brave gerettet die lebende Seele/
15. Und er kommt; es umringt ihn die jubelnde Schar;
zu des Königs Füßen er sinkt,
den Becher reicht er ihm knieend dar,
und der König der lieblichen Tochter winkt.
Die füllt- ihn mit funkelndem Wein bis zum Rande;
und der Jüngling sich also zum Könige wandte:
16. „Lang' lebe der König! Es freue sich,
wer da atmet im rosigen Licht!
Da unten aber ist's fürchterlich,
und der Mensch versuche die Götter nicht
und begehre nimmer und nimmer zu schauen,
was sie gnädig bedecken mit Nacht und Grauen!
17. Es riß mich hinunter blitzesschnell,
da stürzt' mir aus felsigem Schacht
wildflutend entgegen ein reißender Quell;
mich packte des Doppelstroms wütende Macht,
und wie einen Kreisel mit schwindelndem Drehen
trieb's mich um, ich konnte nicht widerstehen.
18. Da zeigte mir Gott, zu dem ich rief
in der höchsten schrecklichen Not. -
aus der Tiefe ragend ein Felsenriff;
das erfaßt' ich behend und entrann dem Tod.
Und da hing auch der Becher an spitzen Korallen,
sonst wär' er ins Bodenlose gefallen.
19. Denn unter mir lag's noch bergetief
in purpurner Finsternis da;
und ob's hier dem Ohre gleich ewig schlief,
das Auge mit Schaudern hinuntersah,
wie's von Salamandern und Molchen und Drachen
sich regt' in dem furchtbaren Höllenrachen.
18. Dcr Taucher.
289
20. Schwarz wimmelten da in grausem Gemisch,
zu scheußlichen Klumpen geballt,
der stachlichte Roche, der Klippenfisch,
Des Hammers greuliche Ungestalt,
und dräuend wies mir die grimmigen Zähne
der entsetzliche Hai, des Meeres Hyäne.
21. Und da hing ich, und war's mir mit Grausen bewußt,
von der menschlichen Hilfe so weit,
unter Larven die einzige fühlende Brust,
allein in der gräßlichen Einsamkeit,
tief unter dem Schall der menschlichen Rede
bei den Ungeheuern der traurigen Öde.
22. Und schaudernd dacht' ich's; da kroch's heran,
regt hundert Gelenke zugleich,
will schnappen nach mir; in des Schreckens Wahn
laß ich los der Koralle umklammerten Zweig:
gleich faßt mich der Strudel mit rasendem Toben;
doch es war mir zum Heil, er riß mich nach oben."
23. Der König darob sich verwundert schier
und spricht: „Der Becher ist dein,
und diesen Ring noch bestimm' ich dir,
geschmückt mit dem köstlichsten Edelgestein,
versuchst du's noch einmal und bringst mir Kunde,
was du sahst auf des Meeres tiefunterstem Grunde."
24. Das hörte die Tochter mit weichem Gefühl,
und mit schmeichelndem Munde sie fleht:
„Laßt, Vater, genug sein das grausame Spiel!
Er hat euch bestanden, was keiner besteht;
und könnt ihr des Herzens Gelüste nicht zähmen,
so mögen die Ritter den Knappen beschämen."
25. Drauf der König greift nach dem Becher schnell,
in den Strudel ihn schleudert hinein:
„Und schaffst du den Becher mir wieder zur Stell',
so sollst du der trefflichste Ritter mir sein
und sollst sie als Eh'gemahl heut noch umarmen,
die jetzt für dich bittet mit zartem Erbarmen."
26. Da ergreift's ihm die Seele mit Himmelsgewalt,
und es blitzt aus den Augen ihm kühn,
und er siehet erröten die schöne Gestalt
und sieht sie erbleichen und sinken hin:
da treibt's ihn, den köstlichen Preis zu erwerben,
und stürzt hinunter auf Leben und Sterben.
Deutsches Lesebuch für kath. Schulen. IV. Für Oberklaffen. 19
290
19. An dem Guadalquivir.
27. Wohl hört man die Brandung, wohl kehrt sie zurück,
sie verkündigt der donnernde Schall;
da bückt sich's hinunter mit liebendem Blick:
es kommen, es kommen die Wasser all,
sie rauschen herauf, sie rauschen nieder, —
den Jüngling bringt keines wieder. Schiller.
19. An dem Guadalquivir.
Cs war ein schöner, südlicher Wintertag zu Anfang Januars. Die
Sonne schien frühlingswarm von dem wolkenlosen, durchsichtig blauen
Dattelpalme, ‘/iso n- G.
Nr. 1 u. 2. Staubblattblüten. Nr. 8. Stempelblüte. Nr. 4. Fruchttragende
Knospe. Nr. 5. Drei verbundene Früchte.
20. Straßen und Straßcnleben in London.
291
Himmel herab, und hätten nicht die entlaubten Äste der Ulmen und
Feigenbäume und der Schnee auf den starren Gebirgsketten an den Winter
gemahnt, so würde ich nicht geglaubt haben, daß man den 4. Januar
schrieb. Denn die Umgebungen Sevillas,*) der Hauptstadt Anda-
lusiens, prangten bereits im vollen Schmucke des erwachenden Lenzes.
Die Weizensaaten standen überall schon einen Fuß hoch; blaue Schwert-
lilien, weiße duftende Narzissen, gelbe Ranunkeln und andere Blumen
schmückten in Menge die unangebauten, mit dünnem, kurzem, hellgrünem
^raswuchs bedeckten Niederungen. Die purpurfarbenen Knospen der
blattlosen Mandelbäume begannen schon hier und da ihre großen, weißen
Blumen zu entfalten, und blaue Gürtel von blühendem großblätterigen
Immergrün machten sich längs der teils aus entblätterten Brombeer-
sträuchern, teils aus immergrünen Myrten bestehenden Hecken bemerklich.
Die dunkelbelaubten Orangenalleeen der Promenade waren übersät mit
goldfarbenen Apfelsinen und Pomeranzen,und die kolossalen Fruchttrauben,
welche aus den luftigen Kronen einzelner schlanker, hier und da in den
Bärten hoch über die übrige Vegetation sich erhebenden Dattelpalmen
herabhingen, fingen bereits an, sich rötlich zu färben. Ein lauer Süd-
wind erfüllte die Luft mit dem würzigen Dufte blühender Citronenbäume
und schwellte sanft die Segel der zahlreichen Schiffe, welche den Strom
heraufkamen, und von denen die größeren wegen der Ebenheit des Landes
und der blendenden Weiße ihrer von der Sonne beschienenen Segel schon
in weiter Ferne dem Auge sichtbar waren. Willkomm.
20. Straßen und Straßenleben in London.
Was die Stadt so eigentümlich schön macht, sind einmal die
großen Parks, in denen man es an manchen Stellen ganz vergessen
kann, daß man sich nicht mitten auf dem Lande befindet, und dann
die Squares**) und Terrassen. Sowie man eine Strecke gegangen ist,
trifft man das eine oder das andere, und immer wird das Auge
durch das frische Grün derselben angenehm berührt. Die Squares
sind Gärten, welche sich innerhalb eiserner Gitter mitten auf den
großen Plätzen befinden. Die Eigentümer derjenigen Häuser, welche
den Platz umgeben, haben die Schlüssel und die Benutzung der An-
lagen, welche gegen die Straße hin mit hohem Buschwerk eingefaßt
stnd dadurch gegen das Hineinsehen der Vorübergehenden geschützt
sind. Mitunter grenzen sie so nahe zusammen, daß man fast ununter-
brochen an den grünen Gehegen hingeht.
In den Straßen selbst aber überbietet das Gewühl jede Vor-
stellung und wird in Paris und Neapel nur durch das Geschrei
und Rufen der Kutscher und Wagenlenker wüster und betäubender.
London ist wortkarg. Selbst wenn der Wagenknäuel am Strande oder
*) spr. ßewihljas. **) spr. Skuchrs (einsilbig).
19*
292
21 i Norwegens Natur.
vor der Börse so in einander wirrt, daß man glauben sollte, alles
müsse zerschmettern, hört man kein Schreien, kein Fluchen, kein Schelten.
Ein Schutzmann hebt die Hand, ohne ein Wort zu sagen, und die
Wagen halten wie durch Zauber gebannt.
Die Polizeileute selbst lassen sich in keine Wortdebatten ein,
höchstens hört man von ihnen, gegen jedermann gleich höflich, ein
ernstes: go on (weiter gehen). Dem festländischen Kleinstädter heben
sich die Haare zu Berge, wenn er in diesen Wagen- und Menschen-
strudel gerät — gewöhnlich aus der Scylla in die Charybdis — und
er staunt, daß nicht Wagen und Menschen zerschellen, einander zer-
malmen, daß hier keine Grobheiten, Straßengemeinheiten, Schimpfereien,
wie sie der Pöbel aller großen Städte zum besten giebt, vorkommen,
und die Polizei stets zuvorkommend artig ist, mit ernster Leutseligkeit
jede Frage beantwortet und den Fremden auf seine Fragen höflich
zurechtweist.
Achtung vor dem Gesetze ist der feste Grundpfeiler des öffent-
lichen Lebens in allen seinen Beziehungen, und dadurch ist das eng-
lische Volk so groß und mächtig geworden. Heilig wird das Gesetz
geachtet, weil alle vom geringsten Bettler bis zur Königin vor dem
Gesetze gleich sind.
Die Heiligung des Sonntages ist in England viel strenger als
in Deutschland. Der Engländer pflegt am Sonntag keine Besuche zu
empfangen und zu machen. Eisenbahnzüge und Omnibus sind Sonn-
tags, wenn auch in geringer Anzahl, vorhanden. Der Verkehr stockt
also nicht gänzlich. Aber alle öffentlichen Vergnügungen hören an
diesem Tage auf, die Theater und Gemäldegalerien, die Sammlungen
der Kunst-Gegenstände und Ausstellungen, die Kaffee- und Spielhäuser
sind geschlossen. In langen Zügen bewegen sich die ernsten Kirchgänger
zur Kirche. Es ist allgemeine Regel, den Gottesdienst zweimal zu
besuchen. Die Postanstalten werden in Verschluß gehalten, so daß man
weder Briefe wegschicken, noch empfangen kann. Das Lesen nicht-
religiöser Schriften pflegt man zu meiden. Nur in der Bibel, im
allgemeinen Gebetbuch oder in anderen geistlichen Schriften darf und
soll gelesen werden.
Gerade der gewöhnliche Mann kann jedoch in England an Sonn-
tagen Erheiterung haben durch Ausflüge iu die ländlichen Umgebungen
der Städte, die durch billig fahrende Eisenbahnen und Dampsboote er-
leichtert werden. Auch findet man in einigen übervölkerten Stadt-
teilen den ganzen Sonntag hindurch viele Kaufläden, besonders Fleisch-
uud Bäckerläden und Bierschenken geöffnet. §. Lewald.
21. Norwegens Natur.
Welche Küste! Nichts von den Dünen des deutschen Meeres oder
der Ostsee, auch nichts von den senkrecht abgeschnittenen Lehm- und
Mergelwäuden, auf denen zuweilen der Buchenwald bis über die äußersten
22. Die lange Nacht in Hammerfcst.
293
unterhöhlten Spitzen hängt. Ebenso wenig erblickt man grünschimmernde
Saaten, die über den flachen Strand ins blaue Wasser schauen, oder
Stranddörfer und Fischerhütten zwischen dem schwarzen Tannenwalde, der
im gelben Sande wurzelt.
Die ungeheuren Felsenmassen, aus denen Norwegen besteht, sind voll
tiefen Spalten durchsetzt, in denen die Flüsse und Bäche hinziehen. Diese
Spalten silld die Thäler; in ihnen wohnen die Menschen mit ihrem Fleiß,
mit ihrem mühseligen Feldbau und ihren Herden. Will man nun voll
einem Thale ins andere, so giebt es keinen andern Weg, als hohe Berge
zu überklettern, die zuweilen ewigen Schnee tragen, zulveilen auch mehr
abgedacht sind. Aber alle diese Berge sind nicht spitz zulaufend, sondern
Gebirgsrücken, welche oben große Flächen bilden; darum heißen sic auch
Felder (Fjelder). Zuweilen ziehen sich die Fjelder in senkrechter Steilheit
hinauf und fallen ebenso nieder. Schwindelnde Fußsteige führen dann
wohl zwischen den Klüften hin, und ein beherzter Fuß mag sie wandeln;
aber häufig müssen auch große Umwege gemacht werden. Zahllose
Gebirgsbäche kommen stark rauschend von den hohen Fjeldern herab, iit
deren Seecn sie ihre Sammelplätze haben. Unzählige Schneidemühlen
werden dadurch in Bewegung gesetzt, sowie überhaupt alle Werke der
Industrie mit Hilfe des Wassers betrieben. Der Wanderer irrt durch die
nackteil Klippen; er windet sich durch die unermeßlichen Labyrinthe von
Sumpf und Wildnis. So weit sein Auge reicht, erkennt er nichts als
die Öde eines Alpenhochlands. Plötzlich aber stockt sein Fuß, schaudernd
springt er zurück; er steht an einem gähnenden, schwindelnden Abgrunde,
an einem Spalt, der oft mehr als 1000 m tief senkrecht eingeschnitten,
auf viele Meilen Länge von dem jenseitigen Ufer trennt. Und was
er unten erblickt, der schmale Wasserstreif, welcher zu ihm heraufblitzt, es
cht das Meer, von dessen Nähe er keine Ahnung hatte. mügge.
22. Die lange Nacht in Hammerfcst.
Än Hammerfcst ist die lange Nacht die Zeit der Nahe für alles Handels-
seben, und man möchte sagen: am Polarkreise setzt die Natur dadurch dem
ruhelosen Menschengeschlechte einen Markstein seiner Thätigkeit. Das Wasser
öde, die Fische haben Frieden, der schmutzige Seelappe und der nordische
Fischer liegen in Erdhütten am qualmigen Feuer und warten dort im trägen
Winterschlafe, bis der neue Tag erscheint. Die Kaufleute in Hammerfest
bringen ihre Bücher in Ordnung, und dann sitzen sie wohl am Bostontische Tag
und Nacht, halten Bälle und Schmausereien, spielen sogar Komödie und sehnen
sich endlich unruhig nach der Zeit, wo der Lichtstreif im Osten hervorbricht. In
Hammerfest wohnt außer den Kaufleuten kein anderer gebildeter Mensch als ein
Pustor und ein Arzt.
Die Zeit der langen Nacht ist doch nicht ganz so, wie wir sie uns vor-
stellen. Die Sonne geht freilich acht Wochen unter den Horizont, und vier
Wochen lang, von Mitte Dezember bis Mitte Januar, ist tiefe Finsternis, so
294
23. Das Nordkap.
daß beständig Licht gebrannt werden muß. Indes ist sie doch nicht so schwarz,
daß nicht bei Hellem Wetter zur Zeit der Mittagsstunde eine Art Dämmerung
einträte, bei der man am Fenster eine halbe Stunde oder eine ganze lesen
könnte. Die Sterne stehen dabei glänzend hell am Himmel; Nordlichter sind
auch hier nicht so selten als mehr südlich. Ist aber trübes Wetter, so herrscht
die finsterste, ununterbrochene Nacht. Mitte Januar wird die Dämmerung
lichter, und ist der Tag erst einmal angebrochen, so wächst er auch rasch-
Nun gleicht die Natur den Unterschied aus, und im Juni und Juli beschreibt
die Sonne Kreise um den Himmel, ohne sich jemals vom Horizonte zu ent-
fernen. - Der ganze Unterschied zwischen Mittag und Mitternacht ist dann, daß
die Strahlen etwas bleicher und matter werden, ohne daß sie aufhören, die
belebende Wärme zu verlieren. Es ist sehr eigentümlich, daß, so lange diese
tageshelle und sonnenvolle Nacht dauert, der Wind ganz schweigt und eine
durch nichts gestörte Ruhe in der Natur herrscht, als wolle diese dadurch die
Zeit des Schlafes ankündigen. Mit dem Morgen erhebt sich der Wind wieder,
und die Wetter werden losgelassen von den Nebelgeistern und abends ein-
gefangen; die Sonne der Nacht scheint aber oft so heiß, daß sie lästig werden
kann. Ein Bekannter erzählte mir, daß, als er sich in Hammerfest aus
einem Balle befand und gerade um Mitternacht an den Bord des Schiffes
zurückfuhr, die Sonne so.mächtig war, daß er den Rock auszog. Das Thermo-
meter zeigte 18 Grad. Dieser anhaltende Tag und Sonnenschein macht es wohl
auch allein möglich, daß noch Ernten gedeihen.
Wie seltsam ist aber der Mensch! Reiche Handelsherren bringen ihr
ganzes Leben unter diesem fürchterlichen Klima zu, von denen manche, wenn
sie wollten, im schönen Süden leben könnten. Wer hierher kommt, sagte mir
einer, thut cs natürlich des Gewinnes wegen. Ist man aber ansäßig, so kommt
man nicht wieder fort; denn wer kauft uns ab, was wir besitzen? Menschen,
welche Vermögen besitzen, wandern nicht nach Hammerfest; es sind nur solche,
die es sich erwerben wollen. Aber wer hier geboren ist, der liebt diese Einöden
ebenso innig wie der Lappe seine Renntieralpen oder der Grönländer seine Eis-
buchten. Mügge.
23. Das Nordkap.
Durch einen tiefen, über eine Meile breiten Meeresarm vom
festen Lande getrennt, liegt, als der am weitesten nach Norden vor-
geschobene Posten Europas, die Insel Magerö, deren steile Fels-
wände sich zu einer Hochebene erheben, welche an dem nördlichsten
Ende, dem Nordkap, bis zu einer Höhe von 550 Meter emporsteigt.
Majestätisch erhebt sich das kühne Vorgebirge — eine dunkle ungeheure
Masse von Glimmerschiefer — über den Wogen.
Vor mir, so weit das Auge reichte, dehnte sich in azurner Bläue
das Polarmeer. Kein Hauch bewegte die spiegelglatte Fläche. Wohin
23. Das Nordkap.
295
Las 'Jioiotup.
296
23. Das Nordkap.
ich den Blick auch schweifen ließ, überall zeigte die Natur den gleichen
Ausdruck der Öde und trostlosester Verlassenheit. Großartig, erhaben,
das war sie, aber traurig, über die Maßen traurig. Den Boden be-
deckte loses Geröll, welches unter der vereinten Wirkung von Zeit und
Kälte sich vom Felsgrunde losgelöst, kein Baum jedoch, keine menschliche
Wohnung war in Sicht, auf welcher der Blick verweilen konnte —
nur wilde, schroffe Felsenwände starrten mir entgegen. An der west-
lichen Seite des Kaps machten sich vier tiefe Einschnitte bemerklich,
weiterhin zeigte sich eine Bucht; an der entgegengesetzten Seite fielen
die Klippen verhältnismäßig flach und allmählich ins Meer ab. Dort
erhob sich ein kleines Felseneiland, gegen welches die Brandung mit
wildem Toben anstürmte; zwei mächtige Baumstämme lagen am Rande
des Riffes.
Ein Hauch so tiefer, unendlicher Trauer lag über der ganzen
Landschaft ausgebreitet, daß sich mir der Anblick auf ewig unvergeßlich
ins Gedächtnis prägte. Tiefe Niedergeschlagenheit bemächtigte sich
meiner, umsonst suchte ich dieselbe niederzukämpfen, — am liebsten
hätte ich diesem Ort voll schauerlicher Öde und Einsamkeit den Rücken
gekehrt. Aber ich hatte eine lange, beschwerliche Reise zurückgelegt,
nur um hier von dem Gipfel dieses gewaltigen Felsens, dem
letzten Stückchen festen Bodens im Norden Europas, das herrliche
Schauspiel der Mitternachtssonne zu genießen; wie konnte ich jetzt
den Fuß zur Umkehr wenden, ehe der Zweck meines Hierseins sich
erfüllt!
Selbst an diesem schönen Sommertage und ungeachtet des hellen
Sonnenscheines war das Wetter kalt; mittags um 2 Uhr 30 Min.
stand das Thermometer auf 6°; die Sonne hatte ein bleiches fahles
Aussehen, während das Himmelsgewölbe in matter Bläue glänzte,
welche nach dem Horizonte zu in einen fast weißen Farbenton
auslief.
Landeinwärts zeigte sich die Zwergbirke, nur an besonders ge-
schützten Punkten war sie jedoch zu einer geringen Höhe gediehen, an
andern Stellen dagegen erschien sie, kaum wahrnehmbar, in einer
Länge von etwa 30 Centimeter, bei einem Durchmesser von etwa
1 Centimeter; und um diese Größe zu erlangen, bedurfte sie eines
oder gar zweier Menschenalter. Dabei erhob sie das Haupt nicht zur
Sonne, sondern schmiegte sich, einer Schlingpflanze gleich, dicht am
Boden hin, damit nicht die Gewalt des Windes sie mit sich
fortreiße.
p. i*. Du CljstiUu, übersetzt von Heinis.
1
24. Dehnen. 25. Die russischen Ostseeprovinzen. 297
24. * Sehnen.
1. Ein Lichlenbaum steht einsam
im Norden ans kahler höh';
ihn schlaserl; mit weitier Decke
umhüllen ihn Eis und 5chnee.
2. Er träumt von einer Palme,
die fern im Morgenland
einsam und schweigend trauert
aus brennender Lelsenwand.
Heine.
25. Die russischen Ostseeprovinzen.
Wenn man von Memel auf der großen Petersburger Straße
die weiten Gefilde der drei Ostseeprovinzen durchfliegt, so glaubt man
wohl, durch eine Einöde zu fahren, in der nur Wald und Sand,
Gestrüpp und Sumpf abwechseln. Lange Tannenwälder ziehen sich ohne
Ende zur Seite des Weges hin. Hier und da sieht man ein ödes
Haus wie verlassen daliegen, dessen schafspelzige Einwohner wir in
ihrer Sprache nicht verstehen, und die wie Nachteulen uns über den
Weg huschen. Platt und eben liegt das Bild der Landschaft am Boden.
Nichtsdestoweniger aber hat auch dieses Land seine besonderen Reize
und seine eigene Schönheit.
Die Länder, welche die Letten und Esthen bewohnen, liegen
in einer so hohen nördlichen Breite, daß diese kein günstiges Zeichen
für die Milde ihres Klimas sein kann. Der Winter ist sechs Monate
lang voll von Stürmen, Eis, Schnee und kalten Frosttagen. Der
Sommer ist kurz und heiß, der Herbst trübe, regenreich und schmutzig.
Einen jugendlichen Frühling giebt es kaum. Ganz besonders ist diesen
Ländern die Feuchtigkeit der Luft und des Bodens eigentümlich. Es
Eöpfelt hier oft tage-, ja wochenlang, ohne daß es zu einer kräftigen
Entladung und Aufheiterung kommt. Selbst der Schnee fliegt häufig
wit Regen vermischt herab. Wie die Ostseeprovinzen zwischen dem
Slaven- und Germanentum liegen, so liegen sie auch zwischen den
deutschen und den russischen Wetterformen. Die Jahreszeiten scheiden
stch nicht so schroff wie in Rußland; die Übergänge sind aber auch
298
25. Die russischen Ostseeprovinzen.
nicht so mild wie in Deutschland. Der kalte sibirische Wind kann hier
nicht mehr so entschieden herrschen, wo die Ostsee und westliche Ein-
flüsse noch im Sommer kühlen und im Winter wärmen. Daher findet
man hier ein beständiges Schwanken zwischen Tauen und Frieren,
zwischen Schnee und Regen. In den dunklen Herbstmonaten scheint es
förmlich, als habe die Sonne die Erde verlassen. Undurchdringliche
Wolken decken einförmig den Himmel; Wege und Stege versinken in
Sumpf, und fast aller gesellige Verkehr gerät in Stillstand. Die
schönsten klimatischen Erscheinungen sind dagegen die hellen Sommer-
nächte und die winterlichen Nordlichter.
Livland und Kurland haben noch Fichten- und Kiefernwälder,
wie sie in den meisten andern Ländern Europas gar nicht mehr zu
finden sind. Hier und da giebt es sogar noch Urwälder, die so dicht
und wild sind, daß sie noch kein menschlicher Fuß betrat. Manche
Gutsbesitzer haben so viele grünende Masten in ihren Wäldern stecken,
daß sie die ganze englische Flotte damit versehen könnten. Trotz der
großen Waldungen, der Sümpfe, Seeen, Moorgründe und völlig öden
Sandstriche ist doch das Land im ganzen nicht unfruchtbar. Vielmehr
scheint es namentlich dem Roggen, der Gerste, dem Flachse vorzugs-
weise zuzusagen, die nirgends in der Welt fröhlicher und vollkommener
gedeihen als hier. Die Fruchtbarkeit nimmt jedoch von Süden nach
Norden zu ab. In dem südlichen Litauen, dem Weizenlande, findet
sich die größte Fruchtbarkeit. Die Kurländer sehen schon neidisch auf
die Litauer, werden aber ihrerseits wieder von den nördlichen Liv-
ländern ihres üppigen Bodens wegen beneidet. Die Esthländer sind
im ganzen genommen dürftiger als alle ausgestattet. Seit langen Jahr-
hunderten gehen die Getreidesrüchte dieser Ostseeprovinzen in alle Welt.
Schweden, Holland, England und andere Länder wurden mit
dem Brote dieser merkwürdigen Kornkammer seit undenklichen Zeiten
gefüttert. Die liv- und kurländischen Saaten werden auf allen Märkten
als vorzüglich gelobt, und wegen mancher trefflichen Eigenschaften stehen
sie in London, Amsterdam und Kopenhagen in höherem Preise
als das Korn aller andern Länder. Sie wanderten von hier seit langen
Zeiten auf allbekannten Wegen zu den Seestädten am Meeresstrande,
bauten dort vieler reicher Kaufleute Häuser, schufen die Bürgerschaften
von Riga, Reval, Narva und anderen Städten und knüpften die
Verbindungen des Landes mit den entferntesten Gegenden. Der Flachs-
und Hanfbau ist in Kur- und Esthland nicht gerade bedeutend. Der
berühmte rigaische Flachs kommt meistens aus Livland, sowie aus den
litauischen und weißrussischen Gauen.
Rohl.
26. Der Kaukasus. 27. Der Oncga- und Ladoga-See und die Newa. 299
26. Der Kaukasus.
Sei Anapa am Schwarzen Meere beginnt als ein schwacher Berg-
rücken der Kaukasus, der an 200 Meilen nach dem Kaspischen Meere sich
hinzieht, immer mehr sich entfaltet und gewaltige Schneeberge in die
Wolken erstreckt. Es ist ein großartiges, aber rauhes Gebirge. Seine
Höhen sind größtenteils nacktes Gestein; nur die niederen Berge und die
Thäler sind anmutig, vielfach bewohnt und oft sogar an den steilsten
Abhängen mit Getreidefeldern geschmückt. Nach Norden schickt der Kaukasus
nur geringe Arme, und es beginnt bald die ungeheure Ebene, welche bis
ans Eismeer sich erstreckt. Auf dieser Seite des Gebirges breitet sich
auch eine 15 Meilen breite, mit hohen Kräutern bewachsene Ebene aus,
wo hinter 3 Meter hohen Skabiosen und riesigen Gräsern die räu-
berischen Tscherkessen sich verstecken. Nur hier und da findet man ein
Dorf. Herden sind der Reichtum der Bewohner, mit denen sie im
Frühjahr tiefer ins Gebirge ziehen. — Steigt man von Norden her nach
Süden zu über das Gebirge, so kommt man in das milde Thalland, in
welches die Hochebene von Armenien und Kurdistan sich abdacht. Im
Juni treibt die große Hitze die Bewohner in das Gebirge, und wenn sie
um der Kälte willen dieses wieder verlassen, finden sie in ihren Thälern
und Ebenen wiederum ihre verlassenen Dörfer und ein freundliches lieb-
liches Klima.
In seinem westlichen Teile hat das Gebirge ungeheure Wälder, die
30—40 Meilen weit am Schwarzen Meere sich hinziehen und durch
Brombeergesträuch mit langen Stacheln fast undurchdringlich werden. Auch
Epheu uud Weinreben schlängeln sich von einem Baume zum andern.
Gleich einer Schnur findet man die Reben auf den Platanen und der
eßbaren Kastanie hoch in den Gipfeln mit Trauben besetzt. Vertheil.
27. Der Onega- und Ladoga-Sce und die Newa.
1. Der Onegasee hat eine von Südost nach Nordwest gerichtete,
mit langen, schmalen nördlichen Ansätzen versehene Gestalt, dreißig
Meilen Länge und zwölf bis fünfzehn Meilen Breite. Seine Ufer sind
felsig und liefern teilwcis sehr schönen Marmor. Obschon er in
großer Zahl Untiefen hat, unterstützt er doch die Schiffahrt, wird
jedoch meist in eigentümlichen Barken mit einer Bemannung von fünf
bis sieben Köpfen befahren. Seinen eigenen Wasserüberschuß sendet der
Onega durch den zwanzig Meilen weit mit wenigen Krümmungen nach
Südwest gehenden Swir in den Ladogasee.
Der Ladoga ist der größte Binnensee Europas; er dehnt sich in
Gestalt eines nach Nordwesten gerichteten Parallelogramms aus. Seine
bedeutendste Länge ist dreißig, seine Breite achtzehn Meilen. Seinen
Ufern nach gleicht er dem Onega, und mehrere Inseln und Jnselchen
gruppieren sich in seinem nördlichen und westlichen Teile, wo er sich
300
28. Der Stör.
dem Busen von Wiborg bis fast zur Berührung nähert. Das ganze
Westuser ist ausgezackt und bildet schmale, lange Buchten. Die Tiefe
des Ladogaseees ist sehr verschieden, und reißende Strömungen sowie
heftige Winde, die seine Wasser bewegen, machen die Fahrt auf dem-
selben sehr oft gefahrbringend. Außer den schon erwähnten Zuflüssen
vereinigen sich von Norden her die Abflüsse zahlloser Landseeen mit dem
Ladogawasser. Die Gesamtzahl der Ladogazuflüsse kann man, dreist
auf sechzig veranschlagen, und doch hat dies gewaltige Binnenbecken
und riesenhafte Wassergebiet nur einen einzigen Abfluß; es ist dies die
Newa, die ihren Lauf in den Finnischen Busen richtet.
2. Die Newa, die lange Zeit ihre glänzenden Wogen im Ver-
borgenen und ungekannt durch, ein unkultiviertes Land rollte und gegen-
wärtig eine der glänzendsten Hauptstädte Europas verschönert, tritt bei
einer Insel aus dem Ladogasee, die einst von den Schweden befestigt
war, um dem Vordringen der Russen nach Westen ein Ziel zu setzen.
Das darauf errichtete Fort nannten die Schweden Nöteborg-, es
widerstand aber dem Eroberungsgeiste und Geschick Peters des Großen
nicht, und der neue Besitzer verwandelte dann den Namen desselben in
„Schlüsselburg", prophetisch verkündend: „Dieser Schlüssel wird
mir das Feindesland eröffnen." Die seinem großen Geiste und scharfen
Blicke nicht entgehende Wichtigkeit dieser Flußmündung des Ladogaseees
bewahrheiten die folgenden Jahrhunderte ans das glänzendste. Die
Newa hat von Schlüsselburg ab eine auf die Hälfte ihres ganzen Laufs
südwestliche, dann wieder nordwestlich gewendete Richtung, im ganzen
gegen dreißig Meilen Länge und eine beträchtliche Breite bei nur ge-
ringer Tiefe. In der Umgebung von Petersburg bildet sie viel-
fache Verzweigungen und mündet, mehrere Flüßchen an sich ziehend,
in einem Delta in der Kronstädter Bucht des Finnischen Meer-
busens. Vom Ende Oktober ab bedeckt sich dieser Strom mit einer
festen Eisdecke, deren Aufbruch erst Ende April und selbst später
stattfindet. Etzel.
28. Der Stör.
In den Fischen, welche weite Reisen unternehmen, gehört auch der Stör.
Er liebt es jedoch nicht, wie der Hering, in großer Gesellschaft zu reisen, son-
dern zieht lieber seine Straße allein, und wahrend jener das Meer nie ver-
laßt, zieht der Stör durch die Thore der Wasserstraßen, welche tief in das
Innere der Länder führen, sieht Kirchen und Bäume sich in den Wasiern
spiegeln, hört das Blöken der Herden und das Geklapper der Wassermühlen.
Er kommt oft hundert, ja zweihundert Stunden in die Flüffe hinauf, springt
über niedere Wasserfälle hinweg, indem er den langen Körper wie einen
Sprenkel biegt und wieder aus einander schnellt, schwimmt mit großer Ge-
schicklichkeit die lang sich hinziehenden Wasierstürze hinauf, indem er sie schräg
durchschneidet. Er ist allen Fischern ein willkommener Gast, weniger seines
Fleisches wegen, welches allerdings auch genossen wird und dem Kalbfleische
29. Sibirien.
301
ähnlich schmeckt, als vielmehr seines Rogens wegen, aus dem man den Kaviar
macht, der als Leckerbissen weit und breit verschickt und teuer bezahlt wird.
Er ist ein gesuchter Handelsartikel, geht durch ganz Europa, wird wie Butter
auf Semmel gestrichen und meistens zum Wein genosien. Wie viele Störe
werden auf diese Weise schon mit dem Genuß einer einzigen Semmel beim
Frühstück vertilgt! Man sollte glauben, daß bei den vielen Nachstellungen
das Geschlecht dieser Fische schon längst zu gründe gegangen wäre. Aber
ein einziger Stör, der nicht ergriffen wurde, hinterläßt eine Nachkommenschaft
von vielen tausenden, die das salzige Waffer des Meeres mit demselben Be-
hagen verschlucken, wie das süße Flußwaffer, in welchem sie geboren wurden.
St?r. pgg n. G,
Stellte ihnen der Mensch nicht nach, vor den Flußfischen brauchten sie
sich nicht zu fürchten; denn sie erreichen eine Größe von 2 — 5 Meter.
Im Meere aber hat solch eine Größe nicht viel zu bedeuten; daher denn auch
der Stör zu seiner Verteidigung noch ganze Reihen gekrümmter Stacheln
trägt, die nach allen Seiten hin seine Angreifer bedrohen. Diese Stacheln
sind aus festem Knochen und sitzen aus ebenso festen Schildern, die fast wie
die^ eisernen Köpfe großer Nägel aussehen, mit welchen man die Thore der
Festungen zum Schutz gegen den Feind sichert. Eine Reihe dieser Knochcn-
schildcr laust den Rücken entlang, eine längs dem Bauchrande, eine an jeder
Seite des Leibes. Und doch gehört der Stör zu den Knorpelfischen. Mit
diesen Schildern ausgerüstet, trotzt der Stör seinen Feinden, die besonders
dm Schwanz fürchten, indem er mit demselben nicht sanft um sich schlägt.
Der zugespitzte Kopf ist zwar auch gepanzert, hat aber ein zahnloses Maul,
das nur Jagd auf Insektenlarven, Muscheltiere und kleinere Fische macht.
Gude.
29. Sibirien.
Zwischen dem Uralgebirge, dem Polarmeere, dem nörd-
lichen stillen Ozean und der Altai kette breitet sich Sibirien aus,
lkils aus flachen Ebenen, teils ans sanft hügeligem Lande bestehend.
Die Terrassen und Gebirgszweige der Altai kette laufen wie Land-
spitzen und Vorgebirge tief in die weite Ebene. Die mineralischen
Schätze dieser Grenzgebirge haben eine nicht unbedeutende Bevölkerung
hierher gezogen, von welcher eine Anzahl Städte am Fuße des Ural -
und Altaigebirges bewohnt werden. Am Jrtischflusse liegt die
Pelzwarenstadt T o b o l s k, in der Nähe des B a i k a l s e e e s die Handels-
302
29. Sibirien.
stabt Irkutsk. Hier wirft der Boden auch reichliche Ernten ab
und trägt gute Weiden. Auch Wälder giebt es auf den Hügeln am
Fuße der Gebirge und in den Ebenen. Nördlich vom 62. Parallel-
kreise reift jedoch das Korn nicht mehr. Hier streifen die vom Eis-
meere kommenden scharfen Winde ungehindert über die schutzlosen
Ebenen. In höheren Breiten erblickt man nicht einmal mehr die
endlosen, düsteren Tannenwälder, und alles ist eine weit ausgedehnte
Wüstenei von Salzsteppen, unbegrenzten Sümpfen und salzigen oder
süßen Wasserseeen. Fortwährend ist der schwammige Boden bis tief
unter die Oberfläche gefroren. Die Oberfläche selbst, die vor Ende
Juni gar nicht auftaut, überzieht sich Mitte September schon wieder
mit Eis, und neun oder zehn Monate deckt tiefer Schnee die Erde.
Heftige Stürme sind gerade nicht zu häufig; aber wenn sie eintreten,
wagt kein lebendes Wesen, sich ihnen auszusetzen. Weil Sibirien
auf drei Seiten von hohen Gebirgen umschlossen ist, welche den
wärmeren Winden keinen Zutritt gestatten, ist es eben so kalt und
unwirtbar, so daß nur 4 Millionen Nomaden es bewohnen. Unab-
sehbare Schneegefilde und eisbedeckte Felsen begrenzen den Horizont;
die Natur liegt fast in ewigem Winter eingehüllt. In den südlichen
Provinzen der sibirischen Wildnis bewirkt die brennende Sommersonne
eine fast zauberische Veränderung. Der Schnee ist kaum zergangen,
so überzieht sich der Boden schon mit Rasen, und buntfarbige Blumen
sprossen auf, tragen ihren Samen, aber sterben nach wenigen
Monaten wieder ab, wenn der lange Winter sein Reich wieder antritt.
Eine noch kürzer dauernde Vegetation bedeckt spärlich die Ebenen
im weiten Norden, und an den Küsten des Eismeeres kann kaum
das Renntiermoos noch kümmerlich wachsen. Durch den Reichtum
an pelztragenden Tieren gereizt, haben die Russen in den weniger
strengen Teilen der sibirischen Wüsten Kolonien gegründet und
Städte erbaut. Jakutsk am Lenaflusse ist vielleicht die kälteste
Stadt der Erde. Der Boden ist fortwährend bis zu einer Tiefe
von hundert Meter gefroren, von denen nur etwa ein Meter im
Sommer auftaut, wenn eine Wärme von 20 — 25 Grad im Schatten
eintritt. Weizen und Roggen geben dann einen 15- bis 40 fachen
Ertrag. Aber im Winter ist die Kälte so heftig, daß zwei und
auch wohl drei Monate lang sogar das Quecksilber beständig
gefroren ist.
Dann ist es eine Kunst, im unwirtsamen Sibirien zu reisen.
In ihre Pelze gehüllt, mit großen Mützen, das Fell nach außen
gekehrt, und in Stiefeln aus Renntierfellen, die fast bis zum Gürtel
reichen, mit Masken und Halsbändern sitzen die Reisenden unbeweg-
lich auf ihren hohen jakutischen Sätteln. Alle schweigen. Die Luft
ist dunkel und dick, die Karawane zieht durch fühlbaren Nebel.
Der Morgen bricht kaum an, so scheint ein blutiger Streif der
Morgenröte am Rande des Horizontes durch die Nebel. Die Sonne
30. Die Steppen der Kirgisen.
303
geht auf wie eine feurige Kugel, und Plötzlich spielen tausend Regen-
bogen auf dem Schnee, auf den beeisten Sumpfgräsern und den
Zweigen der Sträucher. Die Schatten der Bäume, vom Nebel
zurückgeworfen und vergrößert, steigen wie Riesen empor und
nehmen phantastische Gestalten von Türmen, Säulen, Kuppeln, ja
ganzen Schlössern an. Ein prächtiges Schauspiel, doch alles
nur für einen Augenblick! Die Sonne sinkt, und mit ihr schwindet
der Zauber; von neuem bettet sich das tote Feld unter dem
Leichentuche des Schneees. Kein Vögelchen ist zu sehen, keine
Stimme zu hören; das ist noch furchtbarer als das Grab!---------------
Endlich ist, nach den Merkzeichen zu urteilen, das Nachtlager
nicht mehr fern; die Karawane lebt auf. Die Treiber ermuntern
ihre Rosse. Schwarzgebrannte Baumstümpfe ragen aus dem Schnee
hervor — dies ist eine Brandstätte. Die vordersten Reiter steigen
von ihren Pferden herab, die von den Jakuten sogleich abgeladen
werden, während andere nach Weideplätzen suchen, d. h. nach Stellen,
wo es den Tieren leichter ist, mit den Hufen das spärliche Moos
unter dem Schnee hervor zu graben; noch andere schleppen Lager-
holz herbei. Allmählich fängt das Holz knisternd an zu brennen,
und die Kaufleute lagern sich auf Filzdecken in Erwartung des
Theees und des Abendessens rings um das Feuer. Die Kleidung
aller ist weiß von gefrorenen Dünsten, die Halsbänder und Masken
vom Eise steif, man nimmt sie ab, um sie zu trocknen. Die
Reisenden atmen freier. — Der Atem zischt und fliegt als Reif
umher; sie sprechen, und die Bewegung der Lippen ist fast in der
Luft sichtbar. — Nicht selten erhebt sich in der Nacht der Sturm
mit Schneegestöber und bedeckt Pferde und Reisende mit hohem
Schnee. Manchmal muß man in dieser Lage mehrere Tage ver-
bleiben und dann ebenso viele Tage den ermatteten und hungrigen
Pferden zur Erholung gönnen. Mauer.
30. Die Steppen der Kirgisen.
Die ungeheure sibirische Ebene erstreckt sich südwestlich um den
Aralsee herum bis zum Kaspischen Meere und dem Hoch-
lande von Persien. Dieses Tiefland, teils Sandwüste, teils
wit Rohr und Schilf bewachsenes Sumpfland, umfaßt Turkestan
und Turan mit seinen bekannten Städten Buchara und
Samarkand und die nördlicher gelegenen Gebiete der freien
Kirgisen. Die Kirgisensteppen bieten zum Teil einen merkwürdigen
Pflanzenwuchs dar. Die schöneren Gegenden der sonst dürren
und wenig fruchtbaren Ebene sind von asiatischen Hirtenvölkern
bewohnt und üppig mit weißblühenden Rosenarten, mit Kaiser-
304
30. Die Steppen der Kirgisen.
krönen, Tulpen und anderen Blumen geschmückt. In einigen Gegenden
erheben sich die blühenden Kräuter zu einer wundersamen Höhe. Wenn
man in den niedrigeil tartarischen Fuhrwerken sich durch die weglosen
Teile dieser Krautsteppen bewegt, so kann man nur aufrecht stehend übet
sie hinwegsehen. Kaum vermögen es die Räder, die waldartig dicht-
gedrängten Pflanzen vor sich niederzubeugen. Alidere dieser asiatischen
Steppen sind bloße Grasebenen. Noch andere sind mit saftigen, immer-
grünen, salzhaltigen Pflanzen bedeckt. Viele leuchten aus der Ferne wie
die Schneefelder von dem flechtenartig aufsprießenden Salze, das wie frisch-
gefallener Schnee den thonigen Boden verhüllt.
Trampeltier. ij*) n. G.
Die Kirgisen, welche diese Steppen bewohnen, führen während der
schönen Jahreszeit ein wahrhaft angenehmes Leben. Nicht an einen Fleck
gebunden, ziehen sie in ihrem großen Gebiete umher und überlassen sich
ganz dem Eindrücke der ewig frischen und immer wechselnden Natur, die
über ihr Leben einen eigenen Reiz verbreitet. Ihre Hauptnahrungsquelle
sind ungeheure Schafherden, die bei reichen Kirgisen an 20 000 Stück
zählen. Ein anderes wichtiges Haustier ist ihnen das zweibuckelige Kamel,
das sie als Lasttier brauchen. Auf ihren dauerhaften Pferden fliegen sie
pfeilschnell durch die Ebenen. Aus der Wolle der Schafe bereiten sie
dichte Decken zur Bekleidung ihrer Wohnungen und zu anderen Zwecken.
Aus den Kamelhaaren weben sie ebenfalls brauchbare Zeuge. Mit Vieh,
Häuten und Wolle treiben sie auch Tauschhandel mit Russen, Bucharen
und Chinesen, von denen sie Mehl, Küchengeräte, Waffen, Schießbedarf,
fertige Kleider u. s. w. erhalten. Nebenbei führen sie auch die Waren
der Kaufleute auf ihren Kamelen durch die weiten Steppen von einem
Lande ins andere.
31. Mongolen.
305
Der Winter macht aber jedesmal dem genußreichen Sommerleben
der Kirgisen ein Ende. In ihren luftigen Filzhütten sind sie wenig gegen
die strenge Kälte, gegen die heftigen Winde und den eindringenden Schnee
gesichert. Sie legen dann die Kinder oft in warme Asche, um sie vor
dem Erfrieren zu schützen. Auch ihre Herden sind in dieser Jahreszeit
fast dem Verschmachten preisgegeben. Doch mit dem wiederkehrenden
Frühlinge haben die Kirgisen bald die ausgestandene Not wieder ver-
gessen und rüsten sich aufs neue zu dem fröhlichen Nomadenleben, dem
freilich oft blutige Feindseligkeiten zwischen den verschiedenen Stämmen
viel von seinem Reize nehmen. Bertholt.
31. Mongolen.
Im Norden der großen Bucharei und der Wüste Gobi im
Süden Sibiriens zieht sich durch das mittlere Asien eine ungeheure
Ebene hin, im Durchschnitt wohl 50 bis 100 Meilen breit und über
300 Meilen lang. Sie liegt ungefähr unter denselben Graden der
Breite fine die herrlichen lombardischen Ebenen; aber welch ein Unter-
schied der Natur und der Menschen! Jenes scheinbare asiatische Flach-
land ist der Wahrheit nach ein Gebirge, ein ebenes Hochland, welches
überall mehrere tausend Meter, ja so hoch über der Meeresfläche erhaben
ist wie die höchsten europäischen Alpenwohnungen. Nur nach der Nord-
westseite ragen die Riesenberge des großen Altai noch weit über dieses
Hochland hervor; nach den meisten anderen Seiten zeigt sich hingegen
ein gewaltiger Abfall in tiefere Länder. Steigt man von diesen auf-
wärts, so führt der Weg durch Thäler, in die sich wilde Bäche hinab-
stürzen, zwischen losgerissenen Masien und schroffen Berghäuptern
hindurch. Hat man aber endlich die Höhe erreicht, so verschwindet alle
Mannigfaltigkeit, alle Schönheit; nirgend ein Baum, nirgend ein
Strauch; nichts Festes, Beharrliches, sich Auszeichnendes in diesem
Landmeer von Kies und Sand. Etwa zwei Monate lang brennt die
Sonne am Tage mit gewaltiger Glut, und des Nachts tritt dennoch
Eiskälte ein. Nordwinde herrschen den größten Teil des Jahres hin-
durch, und die Trockenheit ist so groß, daß es nicht einmal schneit,
viel weniger regnet. Auf dem mageren Boden suchen die Tiere ängst-
lich ihre notdürftige Nahrung.
So ist das Stammland der Mongolen, und wie das Land, so
die Menschen. Ihre nur mittelmäßige Größe würde man ihnen kaum
als Mangel anrechnen, wenn nur sonst die Verhältnisse ihres Körper-
baues angenehm und richtig wären. Aber an dem überlangen, starken
Oberleibe sitzen schmale Hüften und kurze, krumme, magere Beine. In
dem blassen Gesichte treten dicke Lippen und eckige Backenknochen her-
vor, während die Nase breit und platt ist, und in den weiten, tiefen
Augenhöhlen kleine, schiefgestellte Augen blinzeln. Der Bart fehlt von
Natur ganz, der Kopf wird künstlich geschoren, und nur hinter jedem
Deutsches Lesebuch für kath. Schulen. IV. Für Oberklassen. 20
306
32. Pflanzen und Tiere in Indien.
Ohre bleibt ein langer, zusammengedrehter Zopf hängen. Diese Ge-
stalten, sowohl Männer, als Weiber, darf man sich fast nicht anders
denken als auf mageren, raschen Pferden und in steter Bewegung.
Mauer.
32. Pflanzen und Tiere in Indien.
1. Zuckerrohr, Reis, Bambus. Wer hält es der Mühe für
wert, einen Grashalm zu betrachten? Er ist ja so gemein und gering
geachtet, daß man ihn nicht eines Blickes würdigt. Aber ist der Halm, der
den schweren Fruchtknopf tragen kann, ohne zu zerbrechen oder umzusinken,
nicht ein Wunderbau? Hast du schon einmal das Innere der Röhre mit
den Zellen und Fasern für den auf- und absteigenden Saft betrachtet?
Wie wichtig ist das unscheinbare Gras für den Wohlstand des
Landes! Wenn die Heuernte mißrät, wie klagt da der Landmann! Und
unsre Getreidearten sind sie nicht auch nur Gräser? Ihnen verdanken wir
unsre unentbehrlichsten Nahrungsmittel. Aber auch den Zucker und den
Reis liefern uns Gräser!
Das Zuckerrohr gleicht einem großen Schilfe. Sein Halm wird bis
über 3 Meter hoch und besteht wie bei allen Gräsern aus kurzen Gliedern,
die durch Knoten begrenzt werden. Bei jedem Knoten entspringen die langen,
schilsartigen, den Stengel umfassenden Blätter, die anfänglich frisch grün sind,
später aber gelb werden. Das Rohr ist im Innern mit einem lockeren,
zelligen Mark erfüllt, welches in großer Fülle den Zuckersaft enthält. Die
Stengel werden ausgepreßt, und durch Abdampfung des auf diese Weise
erhaltenen Saftes wird der Rohzucker gewonnen, der nach verschiedenen
Reinigungsprozesien den weißen (raffinierten) Zucker giebt.
Der Reis wird zweimal bewäsiert, einmal nach der Aussaat und
dann nach der Reinigung; die Ernte verrichtet man daher, entweder im
Kahne fahrend, oder im Sumpfe watend, indem man die Halme mit Sicheln
oder krummen Messern abschneidet, in Bündel bindet und dann durch Ochsen
ausdreschen läßt; dann werden die Körner auf eignen Mühlen enthülst und
zuletzt getrocknet. Den Reis findet man außer in Südasien auch in
Afrika, Amerika, Südfrankreich, Oberitalien, der Türkei und
Ungarn. Die Riesen unter den Rohrgräsern sind die Bambus-
gewächse, welche die Tropenlandschaften zieren, indem,sie mit ihren schlank
aufstrebenden, hohlen Stämmen und winkelig gestellten Ästen samt der Laub-
kuppel schattige Bogengänge bilden; sie werden auf Malabar und Ceylon
bis 30 Meter hoch. In der Ebene wie auf den Bergen bilden sie unabsehbare
und undurchdringliche Wälder.
2. Die Kokospalme. Überall in der Südsee und in den indischen
Gewäffern, wo die Kokospalme vorkommt, da begrüßt sie in mehr oder
weniger großen Massen schon in weiter Ferne die herannahenden Reisenden;
wie Wölkchen erscheinen ihnen über dem flachen Küstenland die Wipfel der
Kokospalme, die in der Luft zu schweben scheinen, weil man den schlanken,
dünnen Stamm, der eine Höhe von fünfzehn bis dreißig Meter hat, aus
der Ferne nicht sehen kann. In Ostindien liegen in den ausgedehnten
Kokoswaldungen ganze Ortschaften. Unübersehbar ist der Segen, den
Gottes Güte in diesen einzelnen Baum niedergelegt hat. Der ganze Stamm
ist blattlos und nackt; er zeigt nur die Narben der abgefallenen Blätter;
32. Pflanzen und Tiere in Indien.
307
aber oben trägt er eine breite Krone von ungefähr 12 Blättern, deren jedes
bis 4 Meter lang und V»—3/4 Meter breit ist und ungefähr wie eine
ungeheuer große Feder aussieht; zwischen den schattigen Schirmblättern sitzen
die Blüten, hängen die großen Nüsie in Form einer Traube. Es hängen
ihrer oft bis 3OO auf einem Baume, von denen etliche reif und hart, andere
halbreif sind, während die übrigen erst zu wachsen anfangen. Jede ist so
groß wie ein Kopf und von eirunder Form; sie verschließt die Kokosmilch,
Die Kokospalme.
Welche für die Eingebornen bei der großen Hitze ein erquickender Labetrunk
sit. Später verwandelt sich der Saft in einen Kern, der hart ist und
^andgfg^jg schmeckt; daraus bereitet man das Kokosöl, das z. B. bei der
^'ifenbereitung gebraucht wird. Die Schale ist so hart, daß man sie auf*
àgeil muß; von den wilden Völkerstämmen wird sie als Trinkgeschirr ge-
sucht. Die Blätter verwendet man zum Dachvecken, wie bei uns das
^Eroh, ferner als Sonnenschirme, zu Flechtwerk, zu Körben, ja sogar als
“aPicr zum Schreiben mit eisernen Griffeln. Das Laub ist das Hauptsutter
20*
308 32. Pflanzen und Tiere in Indien.
der zahmen Elefanten. Aus den Fasern der Rinde, wie der äußeren Nuß-
schale macht man Stricke und Tauwerk, besonders Ankertaue, da sie dem
Hanfe an Festigkeit und Dauer gleich, aber weit dehnbarer (elastischer) sind;
daher sie in den plötzlichen Stürmen des Indischen Meeres mehr nachgeben
und weniger reißen. Die hohlen Baumstämme dienen zu Wasserrinnen:
aus den Wurzeln flicht man Körbe und Wannen; das Netzgewebe an jeder
Blattwurzel wird zu Kinderwiegen und Packleinwand verbraucht. Die
Stämme verwendet man sonst noch zu Balken, Latten und Masten. — Um
so vieler und großer Segnungen willen steht der Baum in der größten
Verehrung: bei der Geburt eines Kindes in Ceylon wird ein Kokos gepflanzt,
und die Ringe, die der Baum beim Wachsen um den Stamm ansetzt, bilden
den Kalender des Eingebornen. So ist dieser Baum in der Pflanzenwelt
für die Küsten und Inseln des tropischen Weltmeeres ein ebenso lauter
Wunderzeuge göttlicher Gnade, als das Kamel in der Tierwelt für die
Wüsten und Oasen Afrikas und Asiens.
3. Der Muskatnußbaum wird sechzehn Meter hoch und blüht das
ganze Jahr, so daß man seine rötlichen Früchte dreimal zu sammeln pflegt.
Man entfernt das Fleisch von dem Kerne, schneidet die Muskatblüte (der
netzartig geteilte, orangefarbene Samenmantel, welcher die Nuß umhüllt) ab,
um sie für den Verkauf zu trocknen, legt dann den Kern, Muskatnuß genannt,
in die Sonne, räuchert ihn, tgucht ihn in Salzwasser und trocknet ihn wieder.
4. Die Tigerjagd. Der Königstiger in Indien ist beinahe von
der Größe drs Löwen, aber schlanker, gestreckter, oben rotgelb, unten weiß
und hat unregelmäßige, einfache Querstreifen. Er ist das fürchterlichste
Raubtier, indem er Stärke, Blutdurst und Grausamkeit in sich vereinigt.
Der männliche Tiger unterscheidet sich vom weiblichen dadurch, daß er um
die Backen herum eine ganz kurze Mähne hat, die eher einem Barte, als
einer Mähne ähnlich ist. Die Jungen verbirgt das Weibchen im tiefsten
Gebüsch; auf dem nächsten Wege lagert es sich und würgt alles, was ihm
entgegenkommt, teils aus Besorgnis für die Jungen, teils um ihnen immer
frische Nahrung zu bringen. Es ist vorgekommen, daß eine solche Tigerin
8 Postboten hintereinander getötet hat, bis sich endlich niemand mehr fand,
der den gefährlichen Weg durch die Schlucht, wo sie lagerte, gehen wollte.
Da mußte eine ganze Abteilung englischer Reiterei aufgeboten werden, sie
32. Pflanzen und Tiere in Indien.
309
zu erlegen. Dabei geschah es einmal, daß ein Tiger, der unversehens aus
dem Gebüsch hervorbrach, einen Offizier vom Pferde riß und mit chm ms
Gebüsch sprang. Durch den Schreck und den Sturz vom Pferde war dieser
anfänglich besinnungslos; im Dickicht aber erwachte er, und obschon an
Händen und Füßen furchtbar zerfleischt, gelang es ihm doch ln dieser furcht-
baren Lage, seine Pistole, die er im Gürtel trug, zu ergreifen und dem
Tiger die Kugel durchs Herz zu schießen. Auf diese Weise wurde er
wunderbar aus den Klauen des kühnsten aller Räuber errettet. Mit der
Schußwaffe richtet man gegen den Tiger sonst wenig aus, wen er sich
gleich einem Vogel aus der Luft mit einem Sprunge von 5—6 Dieter
auf den Gegner wirft; daher fürchten sich auch sonst beherzte Jäger, ihm
entgegenzutreten, und aus Feigheit haben manchmal bewaffnete Männer
einen ihrer Gefährten, der in die Klauen des Tigers geraten war, seinem
Schicksale überlaßen.
Die beste Art, den Tiger zu jagen, geschieht auf eigens dazu ab-
gerichteten Elefanten. Die dichten Wälder, Kafseepsianzungen, mit Bambus-
schilf verwachsene Uferstrecken sind seine liebsten Aufenthaltsörter, -vort
sucht man ihn auf. Die Jäger, in einer Art von Kasten, welche auf^dcm
Rücken des Elefanten befestigt sind, stehend, umstellen den Platz, -^urch
Treiber, die mit Spießen bewaffnet sind, werden die Tiger unter Trommel-
schlag und Paukenlärm aufgescheucht
und aus dem Gebüsch herausgetrieben;
oft steckt man auch das dürre Gras
und Schilf in Brand. Heulend fahren
sie aus dem Walde; draußen werden
sie mit Schüssen empfangen, und nun
beginnt, wenn der Jäger nicht trifft,
der Kampf mit dem Elefanten. Ge-
lingt es diesem, den Gegner mit dem
Rüssel zu fassen oder mit den Zähnen
zu erreichen, so schleudert er ihn ent-
weder in die Luft oder tritt ihn unter
seine Füße.
5. Der Orang-Utang. Auf
den indischen Inseln, besonders auf
Borneo, lebt ein Affe, der auf den
Füßen aufrecht gehen kann wie ein
Mensch, wobei er in den Händen einen
Stock trägt; auch in der Bildung der
Ohren und Hände ist er dem Menschen
ähnlich. Er heißt Orang - Utang
und lebt in großen, unbewohnten
Waldungen, wo er sich selbst Laub- . ..
Hütten gegen die Sonne baut und Elefanten, die in sein Gehege kommen, i
Prügeln und Steinwürfen verjagt. Wenn diese Affen ausgewachsen sin ,
haben sie die mittlere Größe eines Mannes; jung gefangen, lallen sie li )
zu vielerlei abrichten, z. B. Holz und Wasser in die Küche zu tragen, sich anzu-
kleiden wie ein Mensch, mitWemselben Anstande zu essen und zu trinken wie
viele Menschen. Aber bei alledem ist ein solcher, auch noch so klug abgerichteter
Affe doch ein tückisches und boshaftes Tier, das alles gern zerstört und zerreißt.
310
33. Japan.
33. Japan.
Wie Europa das britische, so besitzt Asien dasJnselreichJapan,
das ebenfalls von rührigen, unternehmenden Menschen bewohnt ist.
Man könnte die Japanesen die Engländer des Ostens nennen.
Das eigentliche Japan besteht aus der Hauptinsel NiPon und
den beiden Nebeninseln Sikok und Kiusiu. Schon mehrere Jahr-
hunderte vor Christi Geburt setzten sich chinesische Kolonisten auf diesen
fruchtbaren Inseln fest und verbanden sich mit den Urbewohnern zu
einem einzigen Volke, das sich im Verlaufe der Zeit auch auf den
weiter nach Norden gelegenen, meist vulkanischen Inseln ausbreitete.
Doch sind diese letzteren zum Teil auch noch von einem wilden Jäger-
und Fischervolke, das zwar sanfte Sitten und nicht geringe geistige
Fähigkeiten, jedoch gar keine bestimmte Gottesverehrung hat, bewohnt.
Die eigentlichen Japanesen folgen zum Teil, wie die gebildeten
Chinesen, den Lehren ves Co nfucius,zum Teil sind sie Anhänger
der Buddha-Religion, die von der Halbinsel Korea hiereingeführt
worden sein soll. Nipon, die Hauptinsel, wird in seiner ganzen Länge
von einer Bergkette durchschnitten, welche größtenteils vulkanischen
Ursprungs ist, viele zum Teil noch jetzt thätige Vulkane enthält und
ihre Gewässer südlich in den Pacific, nördlich in den japanesischen
See entsendet.
Die Berge erheben sich manchmal vereinzelt, manchmal in Gruppen,
und die Thäler münden gemeiniglich in breite, wohlkultivierte Ebenen.
In den steinigen Gebirgsstrichen trotzt die Natur noch oft dem Fleiße
des Feldbaues, und oft erheben sich gewaltige, sonderbar geformte
Felsen zwischen Feldern, die dem rauhen Boden mühsam abgewonnen
sind. Die vielen Flüsse, die vorhanden sind, haben der Natur des
Landes zufolge einen kurzen, reißenden Lauf. Das Klima Japans ist
ein regelmäßiges und gesundes zu nennen. Wegen der nördlichen und
nordwestlichen Winde, die von dem eisbedeckten asiatischen Festlande
kalt hervorwehen, ist das Klima der Nordwestküste durchschnittlich kälter
als die entsprechenden Breitegrade im mittleren Europa. Schon im
32.o ytzrdlicher Breite oder auf ziemlich gleichem Breitegrade mit
Alexandrien kommt Eis vor; Seeen unter dem 36.° nördlicher Breite,
ungefähr der Lage von Gibraltar entsprechend, sind oft mit Eis bedeckt,
das im 38. und 40.o schon stark genug ist, um darauf zu Fuß passieren
zu können. Die durch die Bergkette, welche ganz Nipon durchschneidet,
besser geschützte südöstliche Küste erfreut sich eiues milderen Klimas
als die westliche und infolgedessen einer ungemeinen Fruchtbarkeit.
Beinahe auf der ganzen Südostküste von Nipon, Sikok und Kiusiu
trägt der Reis zwei Ernten. Die große Anzahl von Leuten, die ein
hohes und rüstiges Alter erreicht, scheint für das Klima günstig zu
sprechen. Das herrliche Klima und der Fleiß seiner Bewohner haben
Japan zu einem der fruchtbarsten Länder der Welt gemacht. Die
steilsten Bergabhänge, in Terrassen abgeteilt und sorgfältig bewässert,
33. Japan.
311
geben noch eine reiche Ernte, und wo kaum Platz zum Fußfassen vor-
handen ist, stößt das Auge auf kleine Feld- und Gartenstücke. Das
Bewässern der Felder wird von besonders dazu bestimmten Personen
sorgfältig überwacht, die einem jeden nach Verhältnis der zu bestellenden
Felder eine entsprechende Quantität Wasser aus den Kanälen ablassen;
nichtsdestoweniger würde der Boden den Anforderungen der großen
Bevölkerung kaum genügen können, wenn nicht die genügsame Lebens-
weise der Japaner unglaubliche Quellen in den scheinbar unfruchtbarsten
Gegenden fände. Fische, Krebse, Schaltiere, sowie viele Arten von
Seetang oder Seegras bilden Hauptbestandteile eines japanischen
Mahles, und besonders giebt letzteres, gehörig zubereitet, manche sehr
schmackhafte Suppen, Salate, Gemüse und Konfekte. Im Mai wett-
eifert die Thätigkeit der Menschen mit der schaffenden Kraft der Natur,
und ein lachendes Grün erfrischt und entzückt das Auge, das im Juni,
tiefer und voller sich färbend, den Sommer verkündet. Das Bambus-
rohr, die Palme und der Bananenbaum breiten ihre zierlichen Zweige
aus, und die Orangen und tausend andere süßduftende Pflanzen erfüllen
die Luft mit ihren Wohlgerüchen. Im Juli wird die erste Ernte heim-
gebracht, und die gleich darauf eintretende Regenzeit bereitet den Boden
für die zweite Saat. Im September und Oktober bilden schon Herbst-
blumen ein zweites Frühjahr, und der spät eintretende Winter gestattet
der Natur eine kurze Ruhe, aus der sie im nächsten Frühjahr zu neuer
Thätigkeit erwacht. Manche Früchte erreichen eine fabelhafte Höhe;
z. B. hat man weiße Rüben von % Meter Länge vielfach gesehen,
und manche südlichen Pflanzen und Früchte sind durch die sorgfältige
Gartenkunst der Japaner einheimisch gemacht, so daß dies seltene Land
dadurch zu einem so anmutigen und fruchtbaren Garten gemacht ward,
der es jetzt ist. Die große Liebe der Japaner für eine schöne Natur
läßt diese sich nicht mit den herrlichsten Gehölzen von Kastanien,
Eichen und der wundervollen japanischen Kiefer, zwischen denen bunte
Blumen blühen, begnügen; sondern selbst in den bevölkerten Städten
müssen sie etwas Vegatation haben, und sogar das kleinste Haus hat
ein Gärtchen, sei es auch nur einige Fuß groß, mit Zwergpflanzen.
Die Gewässer Japans sind fischreich, und auch das Reich der
Bögel und Säugetiere ist zahlreich bevölkert. Büffel, Ochsen und
Kühe sind vorhanden, werden aber nur als Lasttiere verwendet, da
religiöse Bedenken dem Japaner verbieten, ihr Fleisch zu genießen.
Die zahlreichen Pferde sind meist kleiner und kräftiger Rasse. Esel,
Maultiere, Elefanten, Kamele sind unbekannt. Schweine sind in
geringer Zahl vorhanden; der Hunde und Katzen aber, letztere oft
ungeschwänzt geboren, sind Legionen. Hirsche sind in den Gebirgen
häufig, gleicherweise Bären, die nach den von ihnen gesehenen Spuren
von bedeutender Größe sein müssen. Hyänen und Panther sollen zu-
zeiten vorkommen, Hasen gleichfalls und Füchse in ganz unglaublich
großer Anzahl. Eber halten sich in den Dickichten der Gebirge auf,
und Ratten und Mäuse sind eine große Landplage. Wasservögel sind
312
33. Japan.
in zahlreichen Gattungen vorhanden. Die Reiherbeize bildet eine der
beliebtesten Unterhaltungen der Japaner, und der Fasan, welcher sich
hie und da in den Bergen findet, ist bei weitem der schönste jagdbare
Vogel, den man kennt.
Die Bewohner der
großen Städte in der
Ebene haben im ganzen
Reiche ähnliches Aussehn
und ähnliche Bildung.
Es sind meist wohl-
gebildete Leute, oft über
Mittelgröße und fast
durchgängig von ange-
nehmem Äußeren, wei-
ßerer Hautfarbe und
Der Büffel. 1I30 n. G.
guten Sitten. Die meisten, die auf höhere Bildung und Stellung An- !
spruch machen, sind entweder in Tokio (sonst Jeddo) erzogen worden, oder
haben wenigstens einige Zeit in diesem Paradiese der Japaner zugebracht.
Bereits eine Stunde vor Tokio reiht sich Haus an Haus auf
beiden Seiten der Straße; so gelangt man in die Vorstädte, wo eine
zahlreiche Gassenjugend, ganz wie in den Großstädten Europas, durch
Angaffen der Fremden sich besonders bemerklich macht, und endlich ist
man in der Stadt, ohne ihren Anfang zu kennen.
Der Stadtplan von Tokio ist in jedem Buchladen zu haben. Er
unterscheidet sich in nichts von dem Plane, welcher holländischen Reise-
werken aus dem 17. Jahrhundert beigegeben ist, und liefert einen
schlagenden Beweis für das Beharren des Volkes am hergebrachten.
Trotz der großen Feuersbrünste hat sich die Anlage der Stadt seit '
zwei Jahrhunderten nicht verändert. Besonders bemerkenswert sind I
die zahlreichen Kanäle, welche beinahe stets mit Kähnen übersät sind.
Der Japanese kennt die Billigkeit des Wassertransports viel besser
als der Deutsche, und ganz Japan ist von einem Kanalsystem bedeckt,
durch welches der Transport der Lebensmittel und Rohprodukte beinahe
ausschließlich vermittelt wird. Die Rückfracht der Kähne, welche die
Hauptstadt mit Lebensmitteln versehen, ist freilich nicht der reinlichsten
Art; denn sie besteht meistens aus Dünger.
Die Brücken sind sämtlich von Holz; beinahe alle haben Wacht-
posten nunmehr europäisch gekleideter und mit Perkussionsgewehren
bewaffneter Soldaten.
Der Japanese schläft wenig und treibt sich bis spät in die Nacht
hinein auf den Straßen umher. Wie im Orient, so ist auch in Japan
die farbige Papierlaterne das beliebteste Beleuchtungsmittel und verleiht
dem nächtlichen Treiben höchst phantastische Farbentöne. Die Häuser von
Tokio sind, mit Ausnahme einiger Paläste, welche, Burgen ähnlich, von
Fürsten und Adel bewohnt werden, aus sorgfältig gehobelten Brettern
gezimmert und machen den Eindruck von Nürnberger Schachtelhäusern.
34. Der Theestrauch.
313
Man lebt sehr einfach: Fische, Reis, Thee bilden bei Reichen und
Armen die einzige Nahrung. Eier ißt der Japanese seltener, Fleisch
nie. Wie der Chinese bedient er sich der Holzstäbchen zum Essen. Reis
ersetzt ihm Brot und Gemüse; aus Reis bereitet er sein geistiges Ge-
tränk, Sakki genannt; aus Reisstroh macht er Matten und Mäntel.
Die Einkünfte der Fürsten werden nach Reisbüscheln berechnet.
Durch Japan weht ein Wind, der eine Umwandlung der bestehen-
den Verhältnisse veranlaßt. Der Respekt der Massen vor der alten
Religion und vor den bevorzugten Kasten hat durch die mächtigen
Fremden einen tüchtigen Stoß erlitten. Die Kastenordnung bekommt
einen Riß nach dem andern. Die Kaufleute, sonst die letzten, werden
durch den Handel mit den Fremden reich. Trachten und Sitten ändern
sich. Der Handel bringt fremde Erzeugnisse ins Land, und es wird
nicht lange mehr dauern, daß das einheimische Gewerbe mit den
fremden Fabrikaten konkurrieren kann.
Das herrliche Land mit seiner zahlreichen und fleißigen Be-
völkerung kann dann — wer möchte es nicht wünschen! — eine Kultur-
stätte in Asien werden. In Japan reichen sich die alte und die neue
Welt die Hände; die Japanesen haben die Aufgabe, ein wichtiges
Glied in der Kette zu schmieden, welche die moderne Zivilisation um die
Erde spannt. Heine u. Hofacker.
34. Der
Der Theestrauch erreicht, sich
selbst überlassen, eine Höhe von 3—4
Meter; unter der Kultur hält man
ihn niedriger, oft nur V2 — 1 Meter
hoch, weil er dann desto mehr Zweige
treibt. Er ist ganz mit glänzenden,
dunkelgrünen Blättern bedeckt, denen
unserer Sauerkirschen ähnlich. Die
großen, schön weißen, schwachduftenden
Blumen kommen einzeln aus den
Blattwinkeln und gleichen einiger-
maßen den wilden Rosen- Die Blätter
werden dreimal im Jahre einge-
sammelt ; die ersten und zartesten geben
den besten, den Kaiserthee. Das
Trocknen geschieht entweder in eisernen
Pfannen, die über ein gelindes Ofen-
feuer gesetzt werden, oder in Sieben,
die von heißen Dämpfen durchzogen
werden. So sollen die beiden Haupt-
arten des Theees entstehen, der grüne
und der schwarze. Hausbere.
Theestrauch.
Thccstrauch. ifo n. G.
314
35. Auf einer Reise nach dem Sinai.
35. Auf einer Reise nach dem Sinai.
Eine Pilgerfahrt nach dem Sinai gehört zu den merkwürdigsten Aus-
flügen, welche von Kairo aus unternommen werden. Sie ist weder kost-
spielig, noch gefährlich; man besteigt ein Dromedar und schließt sich einer
der Karawanen an, welche in der besseren Jahreszeit fast täglich von Kairo
abgehen und oft Menschen aus vielen Völkern vereinigen. Der Weg führt
über Suez.*) Gegenwärtig führt eine Eisenbahn von Alexandrien über
Kairo nach Suez, sowie der die Landenge von Suez durchschneidende Kanal
von Port Said nach Suez, durch welchen Mittelmeer und Rotes Meer mit
einander verbunden sind. Dort, wo im Norden das Rote Meer sich gabelt
und östlich den Golf von Akaba, westlich den Golf von Suez bildet,
beginnt es die Sinai-Halbinsel zu umschließen, aus welcher eine majestätische
Berggruppe emporsteigt. Zwischen Kairo und Suez ist Wüste. Man zieht
auf einer Straße, die eigentlich aus einer Menge gleichlaufender Fußpfade
besteht, alle von Kamelen getreten, welche in breiten Reihen nebeneinander
gehen. Die weite, öde Fläche gewährt nur einen traurigen Anblick; Dromedar-
skelette liegen auf dem Wege sowie zu beiden Seiten desselben, Opfer der Er-
mattung und der Grausamkeit ihrer Treiber. Nur dann und wann erblickt das
Auge eine flüchtig vorübereilende Gazelle oder einen hoch am Himmel kreisenden
Adler, dessen scharfes Auge nach gefallenen Tieren umherschweift. Karawanen
von und nach Kairo ziehen unter Leitung der auf Eseln voranreitenden Führer,
begegnen sich gleich Schiffen auf dem Ozean, grüßen sich schon von weitem
mit Zeichen oder Zuruf und bringen Leben und Abwechselung in die Einförmig-
keit der Wüste. Der Abend bricht herein, das erste Nachtlager wird gemacht.
') spr. Su-ähß.
36. Reise durch die Wüste.
315
Unwillkürlich denkt der sinnige Mensch an Moses und seine Israeliten,
welche vor 3300 Jahren denselben Weg wanderten, vielleicht an derselben
Stätte rasteten. Ein Bild vom Leben der alten Hirtenvölker umgiebt ihn.
Gleich einem Zauberschlage wirkt der Haltruf des Führers, und schon nach
wenigen Augenblicken ist alles Bewegung und Thätigkeit. Im Nu erheben
sich auf dem brennenden Sande Baracken aus Kisten, Schläuchen und Sattel-
geräten, über denen ausgebreitete Mäntel und Decken sich zum Dache gestalten.
Gin schmaler, fußliefer Graben vertritt die Stelle der Küche; einige Dorn-
büsche und trockener Kamelmist geben Holz und Kohlen für ein in Fleisch-
brühe gekochtes Reismus; das Wasier aber, frisch aus den Schläuchen, schmeckt
löstlich wie Nektar. Die Dromedare werden abgezäumt und suchen sich, in
der Weite umhergrasend, ein kümmerliches Futter; kommen sie zurück, dann
reicht man ihnen einige Hände voll trockener Bohnen, worauf sie sich um
die Zelte gleich einem Walle lagern.
Die Nacht bricht schnell herein, ein brennendes Rot breitet sich plötzlich
wie über den Himmel, so auch über die öde Sandfläche aus. Bald ist die
Dämmerung verschwunden, der Mond steigt herauf, und ein stilles, bleiches
Zauberlicht erfüllt die einsame Landschaft. Um rotflackernde und knisternde
Feuer gruppieren sich die merkwürdigen, in weiße Mäntel gehüllten Gestalten
der braunen Araber, bald plaudernd, Geschichten und Thaten der Wüste
erzählend, bald hantierend, bald zur Ruhe ausgestreckt. Ein paar aus jeder
Gruppe beschäftigen sich mit Brotbereiten; der eine knetet den Teig aus
Bohnenmehl in einer hölzernen Schüsiel, der andere formt die dünnen Brot-
luchen, welche, nachdem sie auf glühendem Sande schnell gebacken sind, unter
dem Genuß von Kamelmilch noch heiß verschlungen werden. Ist das Mahl
dorüber, dann rücken die braunen Kerls in kleinere und größere Kreise zu-
sammen, und nun geht's ans Erzählen der immer frischen Märchen und
Sagen, oder man unterhält sich von mitgemachten Fahrten und Abenteuern,
Karawanenüberfällen, Plünderungen u. s. w., wozu das Wegelagerertrciben
der Araber immer neuen und unerschöpflichen Stoff bietet. Inmitten dieser
Gruppen beschleicht den Europäer nicht selten ein unheimliches Gefühl; er
sieht sich unter einer Herde von Räubern, welche ihn zwar augenblicklich
Uach den Grundsätzen des Gastrechts selbst mit dem Leben schützen, doch unter
beränderten Umständen wenigstens plündern, wenn nicht töten würden.
36. Reise durch die Wüste.
Längs des Weges, den wir verfolgten, lagen Kamelgerippe in Menge,
hie und da ein Menschenschädel, zerstreute Knochen und ganze Menschen-
gerippe, die Reste von Unglücklichen, die dem Wassermangel und noch
häufigem der tödlichen Ermattung erlagen. Besonders häufig sind solche Un-
glückliche bei Karawanen, die im Sommer oder Spätfrühjahre durch die Wüste
Ziehen, zur Zeit, wenn im höheren Süden die tropischen Regen herrschen.
Die Hitze ist dann, wie in den südlichen Tropenländern, zum Verschmachten
und selbst in der Nacht oft erstickend, so daß der ermattete Körper zu keiner
-Beit eine Erholung findet. Überfällt nun in solchem Zustande den er-
schöpften Wanderer ein heißer Wind, ein Samum oder, noch schlimmer,
ein Cham sin, und muß er, der sich ohnehin kaum mehr fortschleppen
lann, noch gegen den glühenden Sand, gegen eine durch Staub verfinsterte
36. Reise durch die Wüste.
Atmosphäre, gegen den Andrang eines brennendheißen Sturmes an-
kämpfen, der seine Kehle trocknet, ihm Schwindel verursacht, und hat
er nichts, um in einem solchen furchtbaren Zustande sich zu stärken, so
sinkt er um, und ein Schlagfluß endet sein Leben, oder er stirbt vor
Mattigkeit, ohne daß sich jemand seiner liebend annimmt; denn jeder
hat mit sich selbst zu thun, und freundliche Teilnahme in solcher
Not muß man überhaupt bei den Karawanen in der Wüste nicht
suchen. Besonders häusig unterliegen die armen Sklaven diesen Leiden;
gezwungen, zu Fuß im glühenden Saude den Kamelen zu folgen,
geprügelt, schlecht genährt und nur sparsam mit schlechtem, salzigem
Lvuiien-narawane.
Wasser erquickt, unterliegen sie der Barbarei und dem klimatische
Einflüsse. Kalt zieht die Karawane vorüber, die Seufzer des Sterben-
den dringen in kein Herz, — es ist ja nur ein Sklave! —
Wir hatten eines Tages einen Anblick, den ich nimmermehr ver-
gesse. Dicht am Wege lag das Gerippe eines Kameles und nahe
dabei das eines Menschen; zwischen beiden ein zerrissener, verwitterter
Wasserschlauch. Vielleicht hatte der Unglückliche noch den letzten
1
36. Reise durch die Düste.
317
Tropfen herauszupressen versucht, um seinen brennenden Durst zu
stillen, bevor Ohnmacht seine Augen umhüllte und er neben dem
Kamele niedersank. — Unter gewissen Bedingungen, z. B. bei herr-
schenden heißen und sehr trockenen Winden, verfault in der Wüste keine
Leiche. Der Körper trocknet aus und wird zur natürlichen Mumie,
indem eine dicke, lederartige Haut die Knochen bedeckt. Häufig aber
werden die wilden Tiere durch die Leichen herbeigezogen, und sie sind
es, welche die Knochen weit umher über den Sand der Wüste aus-
streuen. Besonders findet dies in der Nähe der Brunnen und an
Stellen statt, wo das Regenwasser sich in Felseuspalten längere Zeit
hindurch hält; denn alle reißenden Vierfüßler sausen viel und lieben
die Nähe des Wassers, woher ich auch glaube, daß sich im Innern
großer und wasserarmer Wüsten, und weit entfernt von Wasserplätzen,
außer Raubvögeln, Schlangen, Eidechsen u. dergl., keine wilden,
wenigstens keine reißenden Tiere befinden.
So grell die Farben waren, mit denen die südliche Phantasie
unserer arabischen Reisegefährten, welche die Wüste schon zu wieder-
holten Malen durchkreuzt hatten, ihre Erzählungen ausschmückten, so
blieben doch die Schilderungen der Schrecknisse der Wüste, wie sie die-
selben darstellten, weit hinter denen zurück, welche man von den
Europäern hie und da hört und liest. Daß die Wüste ihre zahlreichen
Opfer fordert und erhält, das bestätigen allerdings die zahllosen
Menschen- und Tiergerippe, die längs des Karawanenweges liegen ;
daß aber die Schilderungen mancher älteren Reisenden von der furcht-
baren Wirkung der Chamsine und der Samume, von der Verschüttung
ganzer Karawanen durch Sandwolken u. s. w. höchst übertrieben sind,
und solche Fälle Wohl öfter mögen erzählt worden sein, als sie sich
wirklich ereigneten, das ist ebenso gewiß. Unter diese Erzählungen
gehört auch die bekannte vom Aufschneiden der Kamele in höchster
Wassersnot, um sich mit dem in dem Magen befindlichen Wasser zu
laben. Alle Araber und Nubier, die ich darum befragte, und die stets
zu höchst übertriebenen Erzählungen aufgelegt sind, versicherten, daß
sie davon nur als von außerordentlichen Fällen reden gehört, dieselben
aber nie selbst erlebt hätten. Auch bemerkten sie sehr richtig, daß das
in dem Magen der Kamele befindliche Wasser eine so abscheulich
stinkende und mit halb verdautem Futter gemengte Jauche bilde, daß
es selbst bei dem brennendsten Durste nicht möglich wäre, sie zu
trinken, da sich die Natur dagegen sträuben würde. Solche Erzäh-
lungen scheinen offenbar zu jenen Sagen von Gemsenjägern zu gehören,
welche sich die Fersen aufschneiden, um durch das Kleben des Blutes
festeren Stand auf den steilen Felsenplatten der Hochgebirge fassen zu
können.
Auf der weiten Sandebene, welche wir betraten, und die außer
einigen kleinen und ganz isolierten Bergen dem Auge keinen Ruhepunkt
darbietet, sahen wir von 10 Uhr morgens bis 4 Uhr abends eine
318
36. Reise durch die Wüste.
herrliche Fata Morgana. Wir sahen um uns herauf dem wasser-
losen Sande Wasser in Menge und in den verschiedensten Formen.
Da waren Flüsse, Teiche, Seeen und unabsehbares hohes Meer, dessen
Wellen vom Winde bewegt wurden. Die Berge, welche in der Wüste
zerstreut liegen, erschienen uns als Inseln, und in dem Wasserspiegel,
der uns umgab, erblickten wir ihre Bilder in verkehrter Lage. Ferne,
einzelstehende Felsen erschienen mit Hilfe nur einiger Einbildungskraft
als Schiffe mit vollen Segeln, die sich vergebens bemühten, vom
Flecke zu kommen. Unter besonders günstigen Umständen wurde diese
Luftspiegelung oft so stark, daß wir uns dem vermeintlichen Wasser
bis auf weniger als hundert Schritte nähern konnten: da zerfloß das
Bild plötzlich wie durch einen Zauberschlag, und nichts lag vor uns
als der gelbe, heiße Sand der Wüste. Welche Höllenqual muß solche
Täuschung dem armen Wanderer verursachen, der im Todeskampfe der
Ermattung nach einem Tropfen Wasser lechzt! Besonders schön zeigt
sich diese Luftspiegelung um die Mittagszeit. Wir waren ungefähr
eine Stunde hinter der Karawane und eben im begriff ihr nachzueilen;
langsam zog sie vor uns her, alle Kamele in eine Fronte gereiht,
wie es die Nubier gern thun, wenn es das Terrain erlaubt. Da
sahen wir plötzlich Menschen und Tiere mehrere Klafter hoch in der
Luft oder vielmehr auf einem Wasserspiegel gehen. Je näher wir
kamen, desto tiefer sank die Erscheinung; der Höhenunterschied zwischen
uns und der Karawane wurde geringer, der Sehwinkel größer, und
als wir ganz nahe kamen, gingen die Kamele, wie andere Kamele
auf der Erde, und ihre Führer schlenderten singend nebenher. Eines
Tages sollten wir die Schrecknisse und Strapazen der Wüste noch näher
kennen lernen, als es bisher der Fall war. Die Hitze hatte in den letzten
Tagen bedeutend zugenommen, und um Mittag stand das Thermometer
auf 300 gf, fre|en Schatten. Der Wind ging heiß, als käme er
aus einem Ofen, und dabei war das Sonnenlicht, welches der gelbe
Sand reflektierte, so grell, daß es uns vor den Augen flimmerte.
Schon am Morgen fielen uns fünf Kamele um, von denen zwei
augenblicklich starben. Unsere Leute ermatteten, und wir konnten sie
nur mit Mühe so zusammenhalten, das uns keiner derselben zurück-
blieb. Hitze und Anstrengung verursachten uns einen brennenden
Durst, und mit Begierde würden wir in einem fort getrunken haben;
aber das Wasser in unsern Schläuchen war zum Entsetzen ekelhaft
geworden; ohnehin trübe, salzig und warm, hatte es in den Schläuchen,
den ganzen Tag der Sonne ausgesetzt, einen fauligen Geschmack an-
genommen, der uns nach jedem Schlucke eine solche Neigung zum
Brechen verursachte, daß wir nur schnell jederzeit einen Schluck Rum
mußten folgen lassen, der uns aber andererseits wieder zu stark er-
hitzte. Alle litten durch den Genuß dieses Wassers, das durch Mischung
mit Wein, Essig, Rum u. dergl. noch untrinkbarer wurde, an Kolik-
schmerzen. Nur eine starke Punschessenz, von der wir einige Flaschen
besaßen, milderte in etwas den üblen Geschmack.
36. Reise durch die Wüste.
319
Noch waren wir vom Nil an 13 bis 14 Karawanenstunden ent-
fernt, und es war vorauszusehen, daß noch ein Marsch in der Hitze
des Tages uns nicht nur bedeutende Verluste an Kamelen zuziehen
würde, sondern auch für uns selbst traurige Folgen haben könnte.
Nach Beratung mit unseren Führern ließ ich daher, mit Ausnahme
einer kleinen Quantität zu unserem dringendsten Bedarf, den ganzen
Wasservorrat unter unsere Nubier verteilen, die mit Jubel darüber
herfielen und mit Begierde die abscheuliche Jauche tranken. Dann
teilte ich die Karawane, hieß die Lasttiere mit dem ganzen Trosse
zurückbleiben, dagegen einige Kamele in Begleitung einiger Führer
die ganze Nacht durch bis zum Nile ziehen, daselbst das beste Kamel
mit frischem Wasser beladen und schnell mit demselben in die Wüste
zurück uns entgegen kommen. Die zurückbleibende Karawane zog mit
uns noch langsam bis Mitternacht vorwärts. Wir streckten uns dann
erschöpft auf den Sand hin. — Die Kühle der Nacht ließ uns zwar
schlafen, wir wurden aber von fürchterlichen Träumen geplagt; wir stan-
den an den kristallenen Quellen unserer heimatlichen Alpenthäler, tranken
den Göttertrank, tranken in einem fort, der Durst aber blieb brennend
wie zuvor, und wenn wir erwachten, lag die Hand auf dem Sande der
Wüste. Wir wollten zu unserer Jauche die Zuflucht nehmen; es war nicht
möglich, die Natur sträubte sich, und wir bekamen Neigung zum Erbrechen,
wenn wir den Schlauch nur ansahen. Es war eine wahre Höllennacht!
Am 21. Februar saßen wir mit Sonnenaufgang wieder auf,
kranken mit Schaudern unsern Mokka, der mit dem stinkenden Wasser
gekocht war und wie eine garstige Arzenei schmeckte, erquickten uns mit
etwas hartem Biskuit, das jeder auf dem Sattelknopfe seines Reit-
kamels zerschlug, und ritten vorwärts. Wir zogen sechs Stunden, die
Hitze war dieselbe wie gestern; doch war sie uns weit empfindlicher.
Wir fanden auf dem Wege drei unserer Kamele der vorangegangenen
Karawane, die in der Nacht gefallen waren. Der Durst quälte uns
auf eine furchtbare Weise; einige meiner Gefährten wurden sehr un-
wohl, auch mich befiel Übelkeit. Da entdeckte, als die Not aufs
höchste gestiegen war, der Scheih Hussein am fernen Horizonte der
Sandebene einen schwarzen Punkt, und bald erkannte das scharfe Auge
k>es Nubiers denselben für ein beladenes Kamel! Das war ein Jubel!
Lust zum Leben und frischer Lebensmut waren auf einmal wieder
Zs, unsere Herzen zurückgekehrt; wir fühlten uns stark, und was unsere
-^iere laufen konnten, ritten wir dem Kamel entgegen. Hussein hatte
recht gesehen; es war einer unserer Leute, der uns eine ganze Kamel-
kadung frisches Nilwasser brachte. Wir sprangen von unseren Tieren,
öffneten die Schläuche und tranken uns voll zum Zerplatzen, ohne zu
bedenken, daß uns das schaden könnte. Wenn es aber auch das Leben
gekostet hätte, glaube ich, man würde uns nicht haben zurückhalten
können. War auch das Nilwasser trübe und lau, gegen unsere Schlauch-
janche war es ein Nektar, und nie in meinem Leben hat mir ein Trunk
besser geschmeckt. . , Brehm.
320
37. Löwenritt.
Hottentottenkral.
37. *Löwenritt.
1. Wüstenkönig ist der Löwe; will er sein Gebiet durchfliegen,
wandelt er nach der Lagune, in dem hohen Schilf zu liegen.
Wo Gazellen und Giraffen trinken, kauert er im Rohre;
zitternd über dem Gewalt'gen rauscht das Laub der Sykomore.
2. Abends, wenn die hellen Feuer glühn im Hottentottenkrale,
wenn des jähen Tafelberges bunte, wechselnde Signale
nicht mehr glänzen, wenn der Kaffer einsam schweift durch die Karroo,*)
wenn im Busch die Antilope schlummert und am Strom das Gnu:
3. steh, dann schreitet majestätisch durch die Wüste die Giraffe,
daß mit der Lagune trüben Fluten sie die heiße, schlaffe
Zunge kühle; lechzend eilt sie durch der Wüste nackte Strecken,
knieend schlürft sie langen Halses aus dem schlammgefüllten Becken.
4. Plötzlich regt es sich im Rohre: mit Gebrüll auf ihren Nacken
springt der Löwe. Welch ein Reitpferd! Sah man reichere Schabracken
in den Marstallkammern einer königlichen Hofburg liegen,
als das bunte Fell des Renners, den der Tiere Fürst bestiegen?
*) spr. Karuh.
37. Löwenritt.
321
Hyäne, i/ig n. st.
5. In die Muskeln des Genickes schlägt er gierig seine Zähne.
Um den Bug des Riesenpferdes weht des Reiters gelbe Mähne;
mit dem dumpfen Schrei des Schmerzes springt es auf und flieht gepeinigt;
sich, wie Schnelle des Kameles es mit Pardelhaut vereinigt!
6. Sieh, die mondbcstrahlte Fläche schlägt es mit den leichten Füßen,
starr ans ihrer Höhlung treten seine Augen, rieselnd fließen
an dem braungefleckten Halse nieder schwarzen Blutes Tropfen,
und das Herz des flücht'gen Tieres hört die stille Wüste klopfen.
7. Gleich der Wolke, deren Leuchten Israel im Lande Jemen
führte, wie ein Geist der Wüste, wie ein fahler, luft'ger Schemen,
eine sandgeformte Trombe in der Wüste sand'gem Meer,
wirbelt eine gelbe Säule Sandes hinter ihnen her.
8. Ihrem Zuge folgt der Geier, krächzend schwirrt er durch die Lüfte;
ihrer Spur folgt die Hyäne, die Entweihcrin der Grüfte,
folgt der Panther, der des Kaplands Hürden räuberisch verheerte;
Blut und Schweiß bezeichnen ihres Königs grausenvolle Fährte.
9. Zagend auf lebeud'gem Throne sehn sie den Gebieter sitzen
und mit scharfer Klaue seines Sitzes bunte Polster ritzen;
rastlos, bis die Kraft ihr schwindet, muß ihn die Giraffe tragen;
gegen einen solchen Reiter hilft kein Bäumen und kein Schlagen.
Deutsches Lesebuch für kath. Schulen. IV. Für Oberklassen. 21
322
38. Die Tierwelt Afrikas.
10. Taumelnd an der Wüste Saume stürzt sie hin und röchelt leise.
Tot, bedeckt mit Staub und Schaume, wird das Roß des Reiters Speise.
Über Madagaskar fern im Osten sieht man Frühlicht glänzen. —
So durchsprengt der Tiere König nächtlich seines Reiches Grenzen.
Lreiligrath.
38. Die Tierwelt Afrikas.
1. Charaktertiere. So öde und wüste auch viele Strecken Afrikas
sind, so birgt es doch einen großen Reichtum an Tieren. In der Karroo,
einer Steppe nördlich vom Kaplande, sieht nian oft ganze Herden von
Das Nashorn. 1/50 n. G.
Straußen von den benachbarten Höhen herabsteigen; Giraffen und
Antilopen durchwandern die grüne, gewaltige Ebene in der Frühlingszeit,
wo sich vom Regen des Winters ein üppiger Graswuchs in den unabsehbaren
Das Nilpferd. *150 n- ®.
Flüchen entfaltet. Afrika allein gehören an: die Giraffe, das Zebra, das
Gnu und das Nilpferd, welche sich in keinem andern Erdteile wieder-
finden. Den Elefanten, das Nashorn, die Hyäne, das Krokodil
38. Die Tierwelt Afrikas.
323
Und den Löwen hat Afrika mit Asien gemein; aber diese Tiere haben hier
sämtlich etwas Eigentümliches und sind von den andern Arten zum Teil so ver-
schieden wie das Pferd vom Esel.
2. Das Nilpferd (Behemoth. Hiob, Kap. 40). Das Nilpferd ist
ein lebendiger Überrest jener in der Sündflnt untergegangenen Tiermassen
der Mammute und ähnlicher Kolosie, an denen die Vorwelt Überfluß hatte.
Die Giraffe, pzg n. G.
Unter den Landtieren sind die friedlichen Kräuterfresier die größten und
schwersten. Sie werden freilich durch ihren starken Appetit dem Ackerbaue
schädlich und sind besonders den Reis- und Zuckerfeldern gefährlich. Die
Nilpferde sind unschuldige Geschöpfe, die keinen Menschen und kein Tier
beleidigen, auch nicht wie die reißenden Tiere mit Waffen zum Angriff ver-
21*
324
38. Die Tierwelt Afrikas.
sehen sind, ob sie sich schon, wenn sie angegriffen werden, mit furchtbarer Stärke
verteidigen können. Sie werfen die Kähne, in denen sich die Jäger befinden,
um und bringen dadurch letztere in große Gefahr. Die auf sie abgefeuerten
Flintenkugeln dringen nur in die Haut ein und vermögen daher nicht, sie zu
töten. Die Fleischmasse eines Nilpferdes schätzt man der von vier bis fünf
starken Ochsen gleich.
Die Stimme, die etwas dem Wiehern des Pferdes gleicht, und die Seiten-
ansicht des Kopfes und Halses, welche, wenn es im Wasser herangeschwommen
kommt, der Gestalt eines kolossalen Pferdes ähnelt, hat ihm den Namen Nil-
oder Flußpferd gebracht.
3. Die Giraffe lebt meist im Innern von Süd- und Ostafrika, wo sie
in Herden von 30 bis 40 Stück vorkommt. Sie ist ein sonderbar gestaltetes
Tier, vorn hoch, hinten niedrig; die Vorderfüße sind lang, die Hinterfüße
kurz, so daß der Rücken schräg wie ein Dach abläuft. Zwei kleine mit der
Körperhaut überzogene Hörner zieren den Kopf; sie hat ein schönes, geflecktes
Fell, weißlich-rot mit rötlich-gelben Flecken. Wenn sie sich mit dem Halse
zur Erde bücken will, so muß sie die Vorderfüße aus einander rücken; beim
Niederlegen kniet sie, wie das Kamel. Die Giraffen leben in Nudeln bei-
sammen und grasen selten, sondern nähren sich besonders von Dattelpalmen-
und Akazienzweigen, die sie mit ihrem langgestreckten Halse hoch herunterzu-
holen und mit der schmalen Zunge geschickt umzubiegen und abzubrechen
wiffen. Durch die langen Sätze sind sie auf der Flucht schneller als ein Pferd;
so furchtsam sie auch sind, wehren sie sich durch Ausschlagen selbst gegen den
Löwen. — (Siehe umstehende Abbildung.;
Zebra, ifo n. G.
4. Das Zebra ist kleiner als ein Pferd, hat eine leichte, ebenmäßige
Gestalt und feine Füße, aber den Schwanz des Esels. Sein Fell ist weiß-
gelb und schwarz gestreift. Es ist wild und unbändig; begnügt sich mit schlech-
tem Futter und lebt in Herden besonders im Kaplande.
39. Kautschuk und Guttapercha.
325
39. Kautschuk uud Guttapercha.
iüenn man den Stengel einer Wolfsmilchpflanze abbricht, so zeigt
sich an den Bruchflächen ein weißer Tropfen. Dies ist der sogenannte
Milchsaft. In den tropischen Gegenden giebt es Bäume, welche solchen
Milchsaft in größter Fülle enthalten. Unter ihnen ist namentlich der
Federharz- oder Kautschukbaum von Wichtigkeit. Sein Milchsaft
verdichtet sich und liefert das Federharz (Onmwi elastienm) oder den
Kautschuk, wonach er seinen Namen erhalten hat. Indessen wird dieser
Stoff von verschiedenartigen Bäumen in Brasilien, Mittel-Amerika,
Afrika und Ostindien gewonnen. Nach einem Baume des letztgenannten
Kautschuk-Daum, '/z u. G.
Landes führt die Masse auch den Namen 'Guttapercha. Der erste
Kautschuk kam in Form künstlicher Flaschen zu uns. Diese bildete man
dadurch, daß man einen Klumpen Lehm am Ende eines Stockes wieder-
holt in flüssiges Federharz tauchte und später, nachdem der Harzübcrzug
erstarrt war, den trockenen Lehm ausklopfte.
Knaben kamen hin und wieder auf den Einfall, aus einer solchen
Flasche dünne Streifen zu schneiden und zu einem Gummiballe zusammen-
zuwickeln. Wegen seiner Elastizität und gänzlichen Undurchdringlichkeit
für das Wasser fertigte man aus dem Gummi allmählich mancherlei Gegen-
326
40. Die Hauptstadt der neuen Welt.
stände, z. B. Überschuhe, an. Aber recht brauchbar wurde der Kautschuk
erst, als man lernte, ihn durch Verbindung mit Schwefel unlösbar zu
machen. Zwar verliert er dadurch etwas an seiner Federkraft, aber auch
an seiner natürlichen Klebrigkeit, und verändert sich in Kälte und Wärme
nicht oder nur unbedeutend. Dieser Erfindung verdankt der Kautschuk
vorzugsweise den großartigen Aufschwung der Fabrikation, die mit ihm
betrieben wird. Heutzutage ist die Menge der Gegenstände, die aus
diesem Stoff gefertigt werden, bis ins unglaubliche gestiegen.
Luch der Erfindungen.
40. Die Hauptstadt der neuen Welt.
lilew-Aork*) hat eine ausnehmend günstige Lage. Auf der
einen Seite mündet der Hudsonfluß,**) auf der anderen der öst-
liche Fluß in den Meerbusen von Long-Jsland.***) Das tiefe
Fahrwasser auf allen Seiten erlaubt den größten Schiffen den Zugang.
Mehrere Inseln lagern sich vor der Mündung des Hudson derartig,
daß sie gegen Stürme Schutz gewähren und den Hafen sichern. Zahl-
lose Landhäuser, Gärten und Fabrikgebäude, die an den Ufern sich
hinziehen, verkünden schon von weitem die Nähe einer großen Stadt.
Dasselbe thun auch die Schiffe. Immer mehr häuft sich ihr Gewirr,
bis man endlich inmitten eines kühn anstrebenden Mastenwaldes das
Häusermcer von New-Aork selbst wahrnimmt. Kaum weiß man, wo-
hin man zuerst die Blicke wenden soll, ob nach den Usern und Häuser-
massen oder nach den unzähligen Fahrzeugen, die sich wie eine hölzerne
Mauer um die Stadt ziehen und hier die Anker werfen oder lichten,
dort Segel auf- oder einziehen oder Waren aus- und einladen. Da
sieht man die Dampfer, die auf den mächtigen Strömen Amerikas
durch die Wälder ins Innere dringen. Bisweilen zeigt sich auch die
lange dunkle Masse eines jener riesigen Ozeandampfer, welche die Ver-
bindung mit Europa befördern. Kleine Ruderboote und winzige
Schiffchen mit Segeln gleiten zwischen den großen Kauffahrern durch.
Man sieht die Flaggen aller Nationen, ein ausdrucksvolles Bild des
großen Welthandels.
Das Schiff ist angekommen, das Toben der Maschine hat auf-
gehört, die Anker sind hinabgerollt. Eine Brücke wird geschlagen,
welche das schwankende Bretterhaus mit dem Lande verbindet. Schon
wartet daselbst ein gedrängter Haufe von Lastträgern, Fremdenführern
°) spr. Nju-Dohrk. **) spr. Hödd'sen. ***) spr. Long-Eiländ.
40. Die Hauptstadt der neuen Welt.
327
und anderen Personen. Die heraussteigenden Fremden werden von
ihnen in Empfang genommen. Man bittet, schmeichelt, drängt, dreht
und stößt sich so lange, bis sie sich endlich dazu entschließen, einem
dieser Leute sich und ihre Habe anzuvertrauen. Aber wehe ihnen,
wenn sie dabei an den Unrechten kommen! Die Umgebungen des Hafens
sind ganz besonders der Tummelplatz der Gauner, die jeden Neuling
zu betrügen suchen.
Der Hafen mit seinen unzähligen Schiffen ist wahrhaft großartig;
aber die Stadt selbst mit ihren fast endlosen Straßen gewährt keines-
wegs einen einnehmenden Anblick. Haus an Haus reihet sich in den
Straßen, in eintöniger Reihe schließen sie sich aneinander, und kein
Plätzchen, welches irgend benutzt werden konnte, ist dabei unberücksich-
tigt gelassen. Der größte Teil der Stadt ist in Rechtecken gebaut,
so daß die Straßen beinahe sämtlich nach zwei Richtungen hin laufen.
Nur zwei Straßen zeichnen sich aus. Die prachtvollsten Gebäude und
die schönsten Kaufläden zieren in ihnen beide Seiten, und zu gewissen
Stunden des Tages kann man hier die ganze geputzte Welt New-Yorks
sehen. Zwischen den breiten Fußgängen ist ein breiter Weg für die
Wagen gelassen, die in ununterbrochenen Reihen auf- und niederrollen.
Keinem Fußgänger fällt es ein, diesen Weg zu betreten, der für ihn
nur gefährlich sein würde; denn nur in wenig Städten ist der Ver-
kehr mit Wagen und Pferden so groß als in New-York. Besonders
zeichnen sich darunter die großen Omnibus und die leichten Wagen der
Amerikaner aus. Nachts erleuchtet helles Gaslicht die Straßen. Die
öffentlichen Gebäude sind geschmackvoll und größtenteils von Marmor
und Quadern ausgeführt. Unter den zahlreichen Kirchen sind manche
schöner und prachtvoller als die Kirchen in den größten Städten
Deutschlands.
Nirgends fast als in New-York findet man eine so große Ver-
tretung der verschiedensten Völkerstämme. Da sicht man den kupfer-
farbigen Indianer, den stolzen Eingeborenen des Landes, in seiner
eigentümlichen Tracht einherschreiten. Obgleich er die weißen Männer
haßt, die ihn aus seinen Jagdgründen vertrieben, den Urwald gelichtet,
das Wild getötet und auf seinem Grund und Boden sich angesiedelt
haben, so kommt er doch zu ihnen, um seine Jagdbeute an Fellen
ihnen zu verkaufen. Da sieht man ferner den Yankee,*) den echten
Amerikaner, mit geschäftiger Eile durch die Straßen lvandern. Da
sieht man die Vertreter fremder Nationen, den stolzen Engländer mit
rötlichem Haar und scharf gebogener Nase, den schwarzäugigen Italiener,
*) spr. Zähngkih.
328
41. Lied eines Landmanns in der Fremde.
den beweglichen Franzosen, den sonnenverbrannten Spanier, den gemüt-
lichen Deutschen im blauen Kittel und mit dem Wanderstabe in der
Hand. Dazwischen gewahrt man überall die Neger, deren Vorfahren
einst aus dem heißen Afrika als Sklaven hierher geschleppt sind. Jetzt
hat die Sklaverei aufgehört, und die Neger geüießen neben den gleichen
bürgerlichen Rechten immer mehr auch gleiche Achtung mit den Weißen
im Verkehr.
Unglaublich schnell ist New-Dork infolge seiner günstigen Lage
zum ersten Handelsplatz der neuen Welt emporgeblüht. Im Jahre 1700
hatte die Stadt 4500 und jetzt zählt sie fast 2 Millionen Einwohner.
Bcrlhell.
41. **£tcb eines Landmanns in der Fremde.
1. Traute Heimat meiner Lieben,
sinn’ ich still an dich zurück,
wird mir wohl, und dennoch trüben
Sehnsuchtsthränen meinen Blick.
2. Stiller Weiler, grün umfangen
von beschirmendem Gesträuch,
kleine Hütte, voll Verlangen
denk' ich immer noch an euch!
3. An die Fenster, die mit Reben
einst mein Vater selbst umzog;
an den Birnbaum, der daneben
ans das niedre Dach sich bog.
4. Was mich dort als Kind erfreute,
kommt mir wieder lebhaft vor;
das bekannte Dorfgeläute
wiederhallt in meinem Ohr.
5. Selbst des Nachts in meinen
Träumen
schiff' ich ans der Heimat See,
schüttle Äpfel von den Bäumen,
wäss're ihrer Wiesen Klee;
6. lösch' aus ihres Brunnens Röhren
meinen Durst am schwülen Tag;
pflück' im Walde Heidelbeeren,
wo ich einst im Schatten lag. —
7. Wann erblick' ich selbst die Linde,
auf den Kirchenplatz gepflanzt,
wo, gekühlt im Abendwinde,
unsre frohe Jugend tanzt?
8. Wann des Kirchturms Giebelspitze,
halb im Obstbaumwald versteckt,
wo der Storch auf hohem Sitze
friedlich seine Jungen heckt?
9. Traute Heimat meiner Väter,
wird bei deines Friedhofs Thür
nur einst, früher oder später,
auch ein Rnheplätzchen mir!
Salís.
43. Die Prärien oder Savannen.
329
42. Die Prärien oder Savannen.
3n dem großen Thale des Mississippi ist der Boden zum
größeren Teile mit Wiesen, Prärien oder Savannen genannt, bekleidet.
Sie haben ihre eigentümlichen Reize. Ist die Prärie klein, so besteht
ihre größte Schönheit in der Nähe des umgebenden Waldsaumes,
welcher dein Ufer eines Seees gleicht, mit tiefen Einbiegungen wie
Buchten und Einfahrten und mit langen Spitzen wie Landzungen und
Vorgebirgen. Wenn die Ebene ausgedehnt ist, sieht man die Umrisse
des Waldes wie die Küste in großer Entfernung vom Ozean. Der
Blick schweift bisweilen über die grüne Fläche, ohne einen Baum, einen
Strauch oder irgend einen andern Gegenstand in der unermeßlichen
Ausdehnung zu entdecken außer der Wildnis von Gras und Blumen.
Der nardamerikanische Düffel. l/z„ n. G.
In diesen ungeheuren Ebenen, wo Tausende von Büffeln und
wilden Pferden in frohem Genusse des Lebens weiden, sind Feuers-
brünste nichts seltenes. Im Sommer, wenn das mannshohe Riedgras
trocken wird, ist oft ein kleines Feuer eines wandernden Indianer-
stammes die Ursache eines Brandes, welcher mit der Schnelligkeit des
Windes über die weiten Prärien sich verbreitet, Wälder und Gebüsche
in Asche verwandelt und selbst schmälere Flüsse überschreitet, bis ein
breiter Strom, ein See, eine kahle Bergkette seiner verheerenden Gewalt
Grenzen setzt. Die Tiere des Waldes, die Büffel der Ebene verlassen
ihre Wohnplätze und stürmen in atemloser Hast immer vorwärts, um
denl ihnen mit unglaublicher Schnelligkeit folgenden Feuer zu entrinnen.
Da ist kein Wald zu dicht, kein Abgrund zu tief, hinein, hinab geht
die rasende Flucht. Gleich einer Schar Wandermäuse stürzen die
schwarzmähnigen, hartknochigen, gewaltigen Büffel mit glühendem Auge
herab, einer über den andern, auf den andern und vorwärts, was
noch lebt. Hunderte mit zcrspaltenem Hirnschädcl, mit zerbrochenen
330
43. Cincinnati.
Knochen bleiben liegen und werden bald eine Beute der gefräßigen
Flammen. Und mitten darunter die flüchtigen, stolzen Pferde der
Wildnis mit ihren Feinden, den Wölfen! Alles denkt nur an feine
Rettung! Wölfe uub Leoparden rennen vorüber an dem sterbenden
Hirsche, wie an dem Rehbocke, der mit kühnem Sprunge über das
Bergwasser zu setzen sich bemüht. Keiner kümmert sich um den andern;
denn das Feuer hat mit seinen heißen Flammen bereits ihre Füße
berührt, ihre Haare versengt! Wird die Flucht gelingen? Vielleicht,
wenn ein rettender Strom, ein kühlender See sich zwischen sie und die
Flammen stellt. Dahinein geht's ohne Bedenken; es giebt keine Wahl!
Ob tausende der Tiere der Wildnis ertrinken, ehe sie das rettende
Ufer erreichen, niemand merkt den Abgang, denn unerschöpflich waren
bis jetzt noch diese Schätze der Prärien. Und im nächsten Jahre,
da wächst auf dem ausgebrannten, gedüngten Boden das Gras doppelt
hoch, Büsche und Blumen sprießen hervor, und niemand ahnt, daß
hier vor einem Jahre ein Feuer wütete, wenn nicht im grünen Grase
die weißen Knochen der vernichteten Tiere dem Reisenden erzählten
von einem Waldbrande in den Savannen. uwci.
43. Cincinnati.*)
Cincinnati, die Königin des Westens und die deutsche
Hauptstadt Amerikas, erzählt ein Reisender, erhebt sich von den
blühenden Ufern des O h i o **) breit und stolz in aufsteigenden Terrassen und
grünen Hügeln. Wo die massiven Häuser und Paläste von rötlichem
Sandstein zwischen den grünen Bäumen mit dicken Kronen und die Fabriken
mit hohen Schornsteinen sich jetzt erheben, war gegen das Ende des vorigen
Jahrhunderts noch eine Wildnis und Wüste voll zerstreuter Rothäute,
ohne die Spur eines Weißen. Jetzt übersteigt die Einwohnerzahl bereits
die der meisten Städte unseres Vaterlandes. Wiewohl die Deutschen der
Zahl nach die Minderheit bilden, so haben dennoch die Straßen, die
Gebäude, die Gewerbe und überhaupt der ganze Ton der Stadt einen
deutschen Anstrich. Überhaupt genießen die Deutschen in geistiger
Beziehung vor den übrigen Bewohnern entschieden den Vorrang.
Die Ohio-Gegenden um Cincinnati erinnern oft an die Rh ein -
lande. Und wenn man dabei von den verschiedensten Seiten deutsche
Töne und Lieder hört und deutsche Gesichter sieht, ist die Täuschung
zuweilen vollkommen. Ich zweifle nicht, daß Ohio mit seiner stolzen,
glücklich gelegenen, blühenden Hauptstadt das eigentlich amerikanische
Deutschland wird. Die englische Sprache, die sonst überall Siegerin
über andere geworden, hat sich hier allein genötigt gesehen, nachzugeben.
Die Amerikaner, Engländer und Irländer lernen deutsch, nm mitDentschen
deutsch zu reden, und an ihren Läden steht angeschlagen: „Hier spricht
man deutsch", eine Anzeige, die sich auch in anderen amerikanischen Städten
*) spr. ßinßineti. **) spr. Oheio.
44. Chicago.
331
immer häufiger einfindet und sich auch in London, wo sich noch vor
wenigen Jahren die meisten schämten, als Deutsche erkannt zu werden,
immer dreister hervorwagt.
Cincinnati ist das Vorratshaus, die Hauptstation zu den uner-
meßlichen Gebieten des Mississippi-Flußnetzes, die bildende und
versorgende Mutter sür diese neue Welt. Am Ohio empfängt es Dampf-
schiffe, Waren und Menschen von der alten Welt in der neuen für
Neu-Orleans und die gesamten Mississippi-Staaten.
Mauer.
44. Chicago.*)
Iu dem Wunderbarsten des an Wundern so reichen nordameri-
kanischen Freistaats gehört die riesenhafte Entwickelung vieler seiner
Städte. Orte, die vor Jahrzehnten noch unbedeutende Dörfer, ja oft
nur einsame Ansiedelungen waren, zählen jetzt ihre Einwohner nach
Zehn-, ja nach Hunderttausenden. Als das Wunder der Wunder aber
muß unbedingt die Stadt Chicago im Staate Illinois**) bezeichnet
werden. Im Jahre 1830 noch ein Torf mit wenigen hunderten von
Bewohnern, ist sie jetzt ein Welthandelsplatz mit 400 000 Ein-
wohnern, der mit Recht für den größten Getreidemarkt der Welt ge-
halten wird. Und Chicago verdankt dies Wachstum nicht aufgehäuften
Schätzen, auch nicht seiner Lage (denn die Ufer des Michigan-***)
See es sind nirgends flacher und sumpfiger, als gerade da, wo der
kleine nur wenige Meilen aufwärts sür mäßig große Flußkähne schiff-
bare Vach mündet, auf dessen beiden Seiten es sich ausbreitet), sondern
den künstlich geschaffenen Verkehrswegen; diese sind Kanal
und Eisenbahnen.
Chicagos Bewohner legten einen Kanal an, der den See mit
dem schiffbaren Jlliuoisflu sse verbindet. Ebenso stehen die Eisen-
bahnen in Verbindung mit den Strömen Mississippi und Ohio,
sowie mit dem fernen Osten. Somit ist die ungemein große Bedeu-
tung Chicagos fast lediglich das Geschöpf des Gemeiusinus und des
Unternehmungsgeistes seiner Bürger. Mit gewaltigen Schwierigkeiten
hatten diese bei ihren großartigen Bauten zu kämpfen; es fehlte ihnen
an den bescheidensten Geldmitteln. Dennoch wurden Kanal und Eisen-
bahnen auf Kredit gebaut, und mit ihnen baute sich die Stadt auf,
eine Stadt von Palästen. Mit der Stadt wuchs der Anbau des
Staates; an beiden Seiten der Eisenbahnen ließen sich Ansiedler aus
den besten Klassen nieder; sie fanden einen lohnenden Markt in
Chicago. So trieben Stadt und Staat einander wechselseitig zu immer
rascherem Gedeihen in die Höhe, welches sich auch den angrenzenden
Staaten mitteilte.
Mitten in diesem lustigen Gedeihen entdeckte man einen Krebs-
schaden , an welchem die Stadt kränkelte und unterzugehen drohte.
*) spr. Schikago. **) spr. Jllineus. ***) spr. Mitschigän.
332
44. Chicago.
Sie war auf einem so sumpfigen Boden erbaut worden, daft eine
Überschwemmung durch den See sie gefährdete. Die riesigen Ziegel-
massen, aus denen ihre Handelspaläste aufgetürmt waren, drückten
sich immer tiefer in den Morast hinein. In Kellern voll Wasser konnte
man keine Magazine halten, wie ein solcher Welthandelsplatz sie braucht,
auf sumpfigen Straßen konnte kein lebhafter Verkehr stattfinden; eine
ungesunde Lage mußte aus das Kommen neuer Ansiedler abschreckend
einwirken. In solcher verzweifelten Lage wären die Bewohner einer
europäischen Großstadt vielleicht ratlos gewesen und geblieben. Nicht
so bei einer Bevölkerung freier amerikanischer Bürger, welche sich nur
auf sich selbst verlassen dürfen. Da beschließt der Bürgermeister nach
kurzer Verhandlung mit dem Stadtrat, die ganze Stadt drei
Meter zu heben.
Der Beschluß wurde sofort ausgeführt. Große und kleine Gebäude
hob man durch Schrauben in die Höhe, setzte sie auf Walzen und
beförderte sie an aridere Stellen. Nunmehr legte man läugsweise
mächtige Balken unter die vier Grundmauern, rammte starke Pfähle
(Roste) unter die Häuser, unterfuhr diese mit neuen Grundmauern und
stellte dann die Gebäude darauf. Dieses großartige Unternehmen
wurde durch den glücklichsten Erfolg gekrönt. Man war seiner Sache
so gewiß, daß man ruhig in dem Hause wohnen blieb und darin
Geschäfte machte, während es gehoben wurde. Um den Bürgern
Mut zu machen, übernahm der Stadtrat die Kosten des Hebens auf
städtische Rechnung und ließ die Eigentümer bloß die mäßigen Zinsen
für das dazu erforderliche Kapital bezahlen. Und so ist denn die
ganze Stadt Chicago jetzt gehoben, 3 Meter über ihre frühere Höhe;
aus der schmutzigsten ist eine der reinlichsten, gesundesten und statt-
lichsten Städte der neuen Welt geworden.
Damit noch nicht zufrieden, machten sich die Behörden der Stadt
sofort an ein nicht minder wunderbares Unternehmen. Eine so große
und so riesig wachsende Stadt braucht viel Trinkwasser von der besten
Güte. Bis dahin hatte man sich meist mit dem Wasser des Flusses,
mit Zisternen und zuletzt mit einer Röhrenleitung aus dem Michigan-
See versorgt. Allein der Schmutz, welchen eine so große Stadt in
ihre Abzugskanäle sendet', und der hier durch den Fluß in den See
mündet, begann das Wasser desselben weit hinaus zu vergiften.
Wie bei vielen andern amerikanischen Großstädten war es unmög-
lich, eine Wasserleitung dadurch herzustellen, daß man einen Fluß ab-
dämmte und in Röhren auffing; denn teils lagen die nächsten Flüsse
zu fern, teils waren sie zu wasserarm. Man mußte hier eine
Wasserleitung schaffen, die für eine Bevölkerung von Millionen genügte;
denn auf eine solche rechnen die ehemaligen Dörfler von Chicago. Es
blieb also nichts übrig, wollte man ein Werk für alle Zeiten schaffen,
als einen Tunnel unter den Seegrund hinaus zu treiben, bis dahin,
wohin die Verunreinigung des Wassers des Seees nicht mehr reicht —
45. San Franzisko.
333
und diese Riesenarbeit ist vollendet. Vom Tunnel aus führt in den
See ein Schacht, in welchen von oben herab das gereinigte Wasser ein-
dringt. Der Tunnel hat mehr als Manneshöhe. Die Stadt hat über
einen Wasserreichtum zu gebieten wie keine andere Stadt der Welt!
Für einen Deutschen ist es ein wohlthuendes Gefühl, zu wissen,
daß ein volles Drittel der Bewohnerschaft von Chicago und Illinois
aus seinen Landsleuten besteht. Die Deutschen gehörten zu den frühesten
Ansiedlern beider. Im Staate Illinois besteht deshalb auch die Ein-
richtung, daß an den öffentlichen Schulen überall die deutsche Sprache,
wo eine stärkere deutsche Bevölkerung sich befindet, durch besondere
Lehrer und Lehrstunden vertreten ist. In Chicago sind die Deutschen
durchweg geachtet und vollauf gleich berechtigt. Sie werden ohne
Unterschied als Beamte gewählt und in Staatsangelegenheiten um ihre
Meinung mitbefragt. Do„ais.
45. San Franzisko.
Als wir uns dem klippenvollen Ufer von San Franzisko genähert
hatten, liefen wir in einen 15 Meilen langen, von Nord nach Süd sich
erstreckenden Hafen ein, der im Notfall die sämtlichen Flotten der ganzen
Welt aufzunehmen vermöchte. SanFranzisko liegt vor uns, jene Stadt
mit über dreihnnderttausend Einwohnern, strahlend in des Goldes und des
gewerblichen Reichtums Pracht, in seinem Zauberschoß fabelhafte Schätze ver-
schlossen haltend, und alles das darbietend, was menschlicher Kunstfleiß und
Erfindungsgeist hervorzubringen vermocht haben. Hier liegt sie groß und
weit ausgedehnt und hat mit ihren Goldfeldern einen Volksstrom in mächtigen
Wogen von Europa, Asien und Australien an sich gezogen. Und diese
Stadt, diese Reichtümer, diese Pracht, diese Volksbewegung, dieser wunderbare
Umsatz aller möglichen Dinge ist eine Schöpfung seit dem Jahre 1849.
San Franzisko breitet sich terrasienförmig innerhalb zweier mit
hohem Buschwerk bewachsenen Höhen, welche in den Hafen als Erdzungen
hinausschießen, auf einem sandigen, abschüssigen Erdstreifen aus, welcher weiter-
hin sich wiederum in ansehnliche Flugsandfeldcr erweitert. Zwischen diesen
dehnt sich die Stadt beinahe in einem Viereck nach den ziemlich nackten
Höhen, auf welchen der oberste Teil liegt, hinauf, während der andere auf
Pfählen oder auf Schiffswracken in der See, die noch in alle leeren Räume
zwischen den niedrigsten Straßen hineinspült, selbst erbaut ist. Dieser ganz
niedrige Teil der Stadt ruht bloß auf Schutt, den man in größter Eile
zwischen den Pfählen aufgeschüttet hat. In dem Hafen liegt eine aus mehreren
tausend Schiffen und aus einer Menge Dampfsahrzeugen bestehende Handels-
flotte, darunter Schiffe in allen möglichen Formen, — von dem stattlichen
Dreimaster bis zur kleinen Schaluppe, bald scharf gebaut und schnell segelnd,
bald plump und schwerfällig, bald neu angestrichen und aufgeputzt, bald
deutliche Spuren der Wut des Meeres und der Stürme tragend — welche
sich hier von allen Weltmeeren sammeln und ihre vielfarbigen Flaggen entfalten.
Die eigentlichen Straßen, welche durch die Stadt gehen, sind sehr
geräumig und durchschneiden einander in rechten Winkeln. Sie sind entweder
mit Brettern quer belegt wie Brücken, oder auch sandig wie Landstraßen,
aber nie mit Steinen gepflastert. Die Häuser dieser Straßen zeigen die größte
334
46. Die Pacific-Eisenbahn.
und sonderbarste Mannigfaltigkeit, die man sich denken kann. Bald ist es
eine kleine Bretterhütte auf Rollen oder Walzen, rot oder weis; angestrichen,
bald sind es geräumige hölzerne Wohnungen, von einem oder zwei Stock-
werken, bald wieder elegante Steingebäude aus roten Mauersteinen, bald
erhebt sich dort ein großes Haus von Eisen wie ein riesenartiger Bienenkorb.
Aber alle diese Gebäude von Holz, Stein, Segeltuch oder Eisen, welche dort
in unordentlicher Mischung durcheinander stehen, stimmen in einem Punkte
überein: sie sind sämtlich Läden oder Vorratshäuser.
Hier zeigt sich der Chinese in seiner weiten Kleidertracht, mit seinem
Hute, der einem Sonnenschirme gleicht, mit seinem Haarzopfe und seinen
dicksohligen Schuhen; der Stutzer aus Europa in seinem modischen bunten
Putz; der Goldwäscher vom Oberlande, ziemlich einem Straßenräuber gleichend,
mit fliegendem Haare, langem Bart, großen Stiefeln und zerrissenen Kleidern;
der feingebürstete und glattpolierte Krämer, gewöhnlich ein Deutscher, mit
seinem einschmeichelnden Wesen; endlich der Matrose mit dem Hute in dem
Nacken und das Halstuch nachlässig auf die Brust geknüpft. Mit einem Wort:
dieses Gemälde von San Franzisko ist das bunteste Allerlei, und ohne diesen
Wirrwarr gesehen und diesen Lärm, diese Unordnung vernommen zu haben,
welche sich überall offenbart, kann man kaum durch irgend eine Beschreibung
einen vollständigen Begriff davon bekommen.
Gleichwohl ist der Eindruck von San Franzisko ein höchst widerlicher und
empörender. Alles trägt Spuren von der Hast des Tages und der Stunde,
von den Anstrengungen der Gewinnsucht, von den Kunstgrissen der Betrügerei
und Begierde. Hier giebt es keine andere Triebfeder als das Geld, nichts
anderes, das gewürdigt, und nichts anderes, dem nachgetrachtet wird. Des
Goldes Glanz überstrahlt alles. Es ist wahr, man kann nicht blind sein
gegen das Große und Bewunderungswürdige, das sich als Frucht der mensch-
lichen Thätigkeit darstellt; aber fragt man nach dem Grunde, der es hervor-
gerufen hat, so begegnet man allezeit diesem Wunderdinge, das Mammon
heißt, vor welchem die Menschen anbetend niedergesunken sind, und dessen
Dienste sie sich ganz ergeben haben. Kannegießer.
46. Die Pacific-Eisenbahn.*)
Um den Osten Nordamerikas mit dem äußersten Westen zu verbinden,
faßte man den kühnen Gedanken, quer durch das Land eine Eisenbahn zu
bauen. Bis nach Omaha, dem äußersten Punkte, bis wohin die Zivilisation
in das Innere von Nordamerika gedrungen war, ging bereits eine Eisenbahn,
welche in New-Pork ihren Anfang nimmt. Nun führte man den Schienen-
weg bis nach Kalifornien fort. Das ist von New-Aork ab eine Entfernung
so weit wie von Lissabon nach St. Petersburg, d. h. die Eisenbahu würde in
Lissabon ansangen, durch ganz Portugal, Spanien und Frankreich, durch ganz
Deutschland und noch durch einen Teil von Rußland hindurchgehen. Auf
dieser ungeheuren Strecke geht die Bahn über Brücken, die über Abgründe
und breite Ströme gebaut sind, und durch stundenlange unterirdische Tunnel.
Sie führt über Schneegebirge, so hoch wie die Berge, welche die Schweiz von
Italien trennen. Mitten durch die Gebiete, welche von den Jndianerstämmen
bewohnt werden, durch die Urwälder Amerikas hindurch fahren die Züge in wag-
') spr. Paßifik (Ton auf der 2. Silbe).
47. Der Niagarafall.
335
halsiger Eile. Nicht selten fliegen die Kugelnder Rothäute in die Wagen, oder-
inan findet eine Strecke der Bahn aufgerisien und muß Notschienen legen
helfen.
Eine solche in fliegender Hast zurückgelegte Reise dauert sieben Tage,
während man früher wohl sechs Monate dazu brauchte; freilich geht es dabei
auch ununterbrochen, Tag und Nacht, vorwärts; denn in den Wüsteneien,
die der Zug durchbraust, bestehen die wenigen einzelnen Stationen meistens
nur aus elenden Bretterhütten und Zelten. Um diese Fahrt überhaupt für
die Reisenden nicht nur zu ermöglichen, sondern sie auch die Bequemlichkeit
ihrer Wohnungen nicht vermissen zu lasten, hat man die Bahnzüge mit
Schlaf- und Speise-Wagen versehen, und zwar sind dieselben mit aller mög-
lichen Fürsorge ausgestattet. In den Schlafgemächern ruht man auf elastischen
Matratzen, und in den Speise-Sälen wird zu jeder Tageszeit nach der Karte
gespeist. Einige Wagen enthalten sogar Gesellschafts-Salons mit Pianos.
Für Küche und Vorratskammern bestehen ebenfalls eigens eingerichtete Wagen.
Lumüller.
47. Der Niagarafall.
Der St. Lorenzstrom hat mitten in den ungeheuren Wäldern des
westlichen Nordamerika seine Quellen, welche in fünf große Seeen zusammen-
fließen. Diese stehen durch den großen St. Lorenzstrom miteinander in
Verbindung, welcher von dem einen in den andern fließt. Die vier ersten
dieser Seeen liegen bedeutend höher als der Ontario, welcher daher schlecht-
hin der untere See genannt wird. Zwischen dem Erie-*) und dem
Ontario-See bildet der Strom einen Waperfall von ungeheurer Höhe,
welcher der Niagarafall genannt wird. Ehe der Niagara zu seinem Fall
kommt, bildet er in ziemlich gekrümmtem Laufe starke Stromschnellen, welche
zwischen von Kiefern beschatteten Inseln wild und reißend hindurch strömen,
und endlich stürzt er, durch eine Insel in zwei große Teile gespalten, etwa
50 Meter senkrecht in einen länglich ovalen Felsenkestel hinab, welcher dem
gewaltigen Strom nur einen verhältnismäßig schwachen Abfluß gestattet.
Dadurch entsteht in dem 600 Meter breiten Becken eine so bedeutende An-
schwellung, daß man, obgleich von den Wellen mäcktig hin- und hergeworsen,
ohne Gefahr in kleinen Booten darin umherrudern kann. In der Mitte
bildet der Fall eine große hufeisenförmige Einbiegung, welche durch den hoch
in die Luft aufwirbelnden Wasiernebel kenntlich ist. Schon in einer Ent-
fernung von 10 Meilen ist das Tosen des Niagarasalles hörbar.
Über alle Beschreibung furchtbar und schön zugleich ist der Anblick in
der Nähe, besonders wenn die Sonne sich in dem staubähnlichen Wasternebel
in tausend immer wiederkehrenden Regenbogen bricht. — Der Lauf des Niagara
von der Ausmündung des Erie-Seees bis zu seiner Einmündung in den
Ontario-See beträgt etwa 5^ Meilen. Er ist bei seinem Austritte aus dem
Erie 1400 Meter breit. Während seines kurzen Laufes durchbricht er hohe,
schroffe Felsenwände, welche unterhalb seines Falles durch eine Eisenbahnbrücke
verbunden sind. Einige Meilen weiter unterhalb tritt der Strom aus den Bergen
hervor und breitet sich mehr als zehnfach aus, worauf er dann mit ruhigen
Wellen und sanften Krümmungen fortfließt, bis er den Ontario-See erreicht.
') spr. Ihn.
48. Das Petroleum.
337
Die Begierde, das größte Naturwunder der neuen Welt zu sehen, führt
jährlich viele Tausende von Reisenden hierher. Seit einigen Jahren hat man
von New-Aork und Boston aus unfern des Falles Gasthöfe angelegt, welche
die schon so romantischen Umgebungen verschönern. Kunststraßen führen jetzt
dahin, wo noch vor wenig Jahren das Geleit eines Indianers durch eine
unwegsame Wüste nötig war. Durrcnhsfer ». Meyer.
48. Das Petroleum.
Unter den verschiedenen Beleuchtungsstoffen, durch welche in der
neueren Zeit der Mensch der Nacht in das Regiment greift und während
der langen Winterabende etwas Besseres zu treiben in den Stand gesetzt
wird, als Märchen aus „Tausend und einer Nacht" oder schaurige Ge-
spenstergeschichten zu erzählen, ist das Petroleum derjenige, welcher
die weiteste Verbreitung und die größte Bedeutung gewonnen hat.
Wohl schüttelten viele Leute die Köpfe bei der Nachricht, daß drüben
in Amerika an manchen Orten das Öl aus der Erde gepumpt wird,
wie bei uns zu Lande das Wasser, oder daß es dort Teiche und Flüsse
giebt, von deren Oberfläche man das Ol abschöpft; aber die Nachrichten
waren keineswegs unwahr oder übertrieben.
Am reichsten fließen die Erdölquellen in Pennsylvanien in Nord-
amerika. Die ersten Versuche, welche die Ölbohrer machten, sielen so
glücklich aus, daß die meisten Bauern Pennsylv aniens die Hacke liegen
und den Pflug stehen ließen, um Öl zu bohren. Es entstanden in der
erwähnten Gegend Tausende von Brunnen; aber die Unternehmungen
waren wie ein Lotteriespiel. Unter hundert Männern, welche für schwere
Summen von den Landeigentümern das Recht gekauft hatten, Bohrlöcher
von 10 cm im Durchmesser in die Tiefe zu führen, hatten achtzig bis
neunzig das Geld weggeworfen und Arbeit und Mühe als Zugabe zum
Verluste gelegt; nur zehn bis fünfzehn fanden Öl, allerdings zuweilen
in so ungeheurer Menge, daß mancher durch eine einzige Quelle binnen
weniger Monate zu einem Millionär wurde. In das Riesenmäßige stieg
der Ertrag, als im Sommer 1861 ein Bohrer tiefer als bisher ging
und dadurch einen immer fließenden Brunnen gewann, welcher täglich
etwa 1000 Faß Öl gab. Gleiche Versuche an anderen Orten hatten
gleichen Erfolg. Im Winter 1861 auf 1862 wurden täglich 15000 Faß
gefördert; es fehlte an Geräten, das fließende Öl aufzunehmen, und
der Preis sank an Ort und Stelle auf ungefähr fünfzig Pfennige für
das Faß.
Das rohe Petroleum ist eine bald hell-, bald dunkelbraune, ziemlich
dickflüssige Masse, welche im Wasser sich nicht auflöst, sondern als
besondere Schicht auf demselben schwimmt, von durchdringendem,
aber nicht gerade unangenehmem Geruch und sehr leicht entzündlich
ist. Kaum hatte der erste fließende Brunnen einige Tage seinen Reich-
tum ausgespieen, so wollte ein neuer Arbeiter, welcher die Natur des
Deutsches Lesebuch für kath. Schulen. IV. Für Oberklassen. 22
338
49. Wie es in Süd-Amerika aussieht.
Petroleums nicht kannte, an einem Schwefelhölzchen seine Zigarre anbren-
nen. So wie das Helle Feuer das in der Luft befindliche Gas berührte,
so verwandelte sich dieselbe auf eine weite Strecke hin in ein Flammen-
meer, in welchem 22 Arbeiter auf die gräßlichste Weise umkamen; der
Brunnen selbst aber wurde zum feurigen Strome, der nicht eher aufhörte
zu brennen, als bis das Öl erschöpft war. Solche Unglücksfälle sind
mehr als einmal vorgekommen. Das Petroleum, welches wir in unsern
Lampen brennen, ist raffiniert und darum weniger feuergefährlich. — Die
gegenwärtige Zeit hat in der Verbesserung der alten und in der Erfindung
neuer Leuchtstoffe ganz außerordentliche Fortschritte gemacht. Zu den
längst bekannten Talg und Wachslichten sind die Stearinkerzen, welche
man aus Stearinsäure, einem Bestandteile des gewöhnlichen Talges,
und die Paraffinkerzen, welche man aus Braunkohle bereitet, gekommen.
Das Rüböl ist auf den Straßen durch Steinkohlengas, in den Stuben
und Werkstätten durch Photogen. Solaröl und Petroleum fast ganz
verdrängt worden.
49. Wie es in Süd-Amerika aussieht.
1. In den Steppen schwärmen zahllose Scharen wilder Stiere,
Pferde und Maulesel. Wenn unter den senkrechten Strahlen der nie
bewölkten Sonne die bis dahin üppige Grasdecke vertrocknet und der
verhärtete Grasboden viele Risse bekommt; wenn allmählich die Lachen,
an denen die Fächerpalme wächst, verdunsten, dann schweifen Pferde
und Rinder, von Hunger und brennendem Durste gequält und in finstere
Staubwolken gehüllt, umher. Tritt endlich nach langer Dürre die
Regenzeit ein, so verwandelt sich die Steppe in ein unübersehbares,
frischgrünes Grasmeer, in welchem der Wind Wellen schlägt; im frohen
Genusse ihres Lebens weiden nun Pferde und Rinder; aber in dem
hochaufschießenden Grase hält sich der schön gefleckte Jaguar ver-
borgen, um mit einem tüchtigen Sprunge die vorüberziehenden Tiere
zu erhaschen. Er ist ein Katzentier, wie der bengalische Tiger und
der afrikanische Löwe, aber viel kleiner und schwächer. Überhaupt
steht Amerika in bezug auf die vierfüßigen Tiere Asien und Afrika
weit nach; es hat keine Elefanten, Nashorne, Kamele, keine Tiger
und Löwen. Wenn der Erdboden vom Regen erweicht ist, dann sieht
man bisweilen den feuchten Letten sich langsam und schollenweise heben;
plötzlich wird die aufgewühlte Erde hoch in die Luft geschleudert; eine
riesenhafte Wasserschlange oder ein gepanzertes Krokodil steigen aus
der Gruft hervor; der Regenguß hat sie vom Scheintode geweckt. Doch
vom Regen schwellen die Flüsse in der Steppe; diese verwandelt sich
in einen See; die Pferde retten sich mit ihren Füllen auf höhere Stellen;
aus Mangel an Weide schwimmen die Tiere umher, um sich mit den
blühenden Grasrispen kümmerlich zu nähren. Viele Füllen ertrinken,
viele werden von den Krokodilen erhascht.
49. Wie cs in Süd-Amerika aussieht.
339
2. Der brasilianische Urwald. Eng zusammengedrängt
stehen die Bäume neben einander; dazu winden sich unzählige Schling-
pflanzen von Stamm zu Stamm, von Ast zu Ast. Auf den Bäumen
Jaguar. >/zg n. G.
hält der amerikanische Löwe, der Kn g u ar, seine nächtliche Jagd. Er ist
der Schrecken der Affen; in ihr entsetzliches Geheul, das sie in wilder
Flucht erheben, stimmen die buntgefiederten Papageien laut kreischend
ein. Aus Mangel an Nahrung, Licht und Luft faulen viele Bäume
schnell an, werden von zahllosen Termiten oder weißen Ameisen zernagt
und stürzen unter krachendem Geräusch zusammen. Drinnen im Walde
brüllen die H e u l a f f e n, zirpen die C i-
kaden; schwirren die Heuschrecken;
die buntfarbigsten, an Glanz mit den
RegenbogenfarbenwetteiferndenSchmet-
Der Pfeffcrftesscr. n. G.
Das Faultier. 1/20 n. G.
terlinge eilen von Blume zu Blume an den sonnigen Sandufern der
Flüsse. Tausende glänzender Käfer blinken, den Edelsteinen gleich, aus
22*
340
49. Wie es in Süd-Amerika aussieht.
dem Grün der Blätter. Schlangen, noch schöner von Farbe als die
Blumen, winden sich an den Bäumen in die Höhe und haschen nach
Insekten und Vögeln. Die
grün, blau und rot gefärbten
Papageien erfüllen in den
Gipfeln der Bäume die Luft
Kolibri n G Termiten: a„ Soldat, b. Arbeiter.
13 ' % n. G.
mit ihrem krächzenden Geschrei. Der Pfefferfresser klappert mit
seinem langen, hohlen Schnabel und ruft wehklagend nach Regen.
Der gemeine Damphr. i/7 n. G.
Der amerikanische Laternenträger. % n. G.
Die zarten Kolibris, welche an Pracht und Glanz mit Diamanten,
Smaragden und Saphiren wetteifern, schwirren um die farbigen Blumen.
49. Wie es in Süd-Amerika aussieht.
341
Es wird Nacht, nur das Faultier, an den Bäumen klebend, der
Ziegenmelker und der Ochsenfrosch lassen ihre Stimme noch er-
Dcr Ameisenfresser, 'hg n. G.
schallen; blutsaugende Fledermäuse flattern durch das Dunkel, und
die tausende von leuchtenden Käsern, unter denen der Laternen-
träger der bekannteste ist, schwärmen gleich Irrlichtern umher.
Das Gürteltier. 1ls n. G.
Das Lama. J/üs n. G.
Merkwürdige Tiere sind außerdem noch 1) der Ameisenfresser,
der mit seinen langen Krallen an den kurzen Füßen den turmartigen
342
50. Dcr Guano.
Bau der Termiten eröffnet und mit der sehr langen, kleberigen Zunge
die Bewohner herausholt; 2) die Gürteltiere; sie leben wie der
Dachs in Bauen und können mit ihren langen Krallen sich sehr rasch ein-
graben; der obere Teil des Körpers ist mit einem dichten Panzer
bedeckt, dessen Schilder in geraden Reihen stehen.
In den Anden
vereinigen sich, so weit sie
inderheißenZoneliegen,
alle Jahreszeiten; am
Fuße die Hitze des Som-
mers, auf den Hochebenen
ewiger Frühling wie in
den Schneegipfeln ewiger
Winter; was für die
Wüsten Afrikas das
Kamel ist, das ist für
die Gebirgsgegenden das
Lama, eine Kamelziege,
welche zum Transport
von Waren gebraucht
wird.
Hier ist die Heimat
des Riesen unter den
Geiern, des Kondor,
welcher sich im majestäti-
schen Fluge unter den
Eisgipfeln der Anden
wiegt. Er ist dasjenige
Tier, das sich am höchsten
in den Luftraum erheben
kann. Die beschneiten
Grasebenen des Gebir-
ges sind sein Lieblings-
aufenthalt ; dort sucht
er seine Speise unter
den Herden der ameri-
kanischen Gemsen, die
in diesen Höhen weiden.
Mit ausgespannten Flü-
geln mißt er vier Meter und ist in seinem Aussehen dem grauen
Geier sehr ähnlich. Nach Alex. v. Humboldt.
Der Kondor. >/,2 n- G.
50. Der Guano.
Äieses jetzt so beliebte Düngungsmittel wird von der Küste und von
den Küsteninseln von Peru nach Europa abgeholt. Durch Alexander
50. Der Guano.
343
v. Humboldt wurde es bekannt, daß derGuano zurDünguug, namentlich
des Mais, benutzt werde. Gegenwärtig wird er in Tausenden von Tonnen
Ftttgan?. Vii n. G.
nach Europa transportiert. Er stammt von Secvögeln her. Diese leben
bloß von Fischen und anderen Seetieren; der Dünger ist daher besonders
reich an Stickstoff, Phospbor und Schwefel. Diese sind es, welche besonders
düngende Kraft enthalten. Dazu kommt noch, daß der Guano diese Stoffe
344
51. Die Tiefe des Meeres.
in einer Form und Verbindung enthält, wodurch sie im Wasser schnell auf-
gelöst und in diesem Zustande von den Pflanzenwurzeln leicht aufgesogen
werden können. Der regenlose Tropenhimmel wässert überdies diese düng-
kräftigen Stoffe nicht aus.
Man findet den Guano zuweilen in Schichten von fast 20 Meter
Mächtigkeit, zu deren Anhäufung große Zeiträume erforderlich gewesen
sein müssen. Er ist eine dichte, erdige, etwas fettig sich anfühlende Masse.
Nicht selten findet man darin Federn, Knochen und Eier von Vögeln,
auch ganze, Mumien ähnliche, vertrocknete Vögelchen.
Zu den Guanovögeln gehören die Fettgans, der Albatros, die
M ö w e, die S e e s ch w a l b e. In unermeßlichen Schwärmen belagern sie
die Guanostätten.
DerTransport ist ein höchst unangenehmes Geschäft, indem der Guano
unter dem Einfluß der tropischen Sonne die Luft auf dem Schiffe verpestet.
Nutzn er.
51. Die Tiefe des Meeres.
tüte tief ist das Meer, und wie ist sein Grund beschaffen? Diese
Fragen, welche ohne Zweifel ihren Zauber auf den Geist des ersten
nachdenkenden Seemanns ausgeübt haben, der jemals die ozeanischen
Fluten durchschnitt, sind erst in der neuesten Zeit mit größerer Sicher-
heit beantwortet, und zwar gebührt den Amerikanern der Ruhm, mehr
als alle andern seefahrenden Nationen zur Enthüllung dieser Geheimnisse
beigetragen zu haben.
Betrachtet man den ganzen Atlantischen Ozean als ein Längen-
thal, so zeigt sich die tiefste Einsenkung der Thalsohle 5600 bis 6200
Meter zwischen Kap San Roque und Sierra Leone, ziemlich
in der Mitte zwischen dem amerikanischen und afrikanischen Ufer.
Welch einen Anblick würde uns diese imposante Bergwand ge-
währen, wenn es uns vergönnt wäre, eben so frei auf jenen unter-
seeischen Gefilden, als auf der festen Erde umherzuwandeln; oder
wenn unser Auge mit eben der Leichtigkeit durch die klaren Salz-
fluten dringen könnte, wie durch die Räume des atmosphärischen
Ozeans!
52. Äquatorialstrom.
345
In geringen Entfernungen von Madeira, dem Archipel des
Grünen Vorgebirges und den Bermuden hat das Meer schon
eine Tiefe von 3700 bis 4700 Meter, so daß, von jenen ozeanischen
Gründen aus gesehen, diese Inselgruppen als die höchsten Gipfel
mächtiger Gebirgszüge erscheinen würden, großartig und erhaben wie
die Alpen oder Kordilleren. Nach Norden erhebt sich der Meeres-
boden und bildet zwischen Irland und Neufundland eine flache
Ebene, die wahrscheinlich nirgends tiefer ist als 330 Meter. Früher
hätte man diese Entdeckung für eine vollkommen wertlose gehalten;
sie ist aber dadurch höchst wichtig geworden, daß sie die Möglichkeit
nachwies, das großartige Projekt eines unterseeischen, die alte und
neue Welt verbindenden Telegraphen zu verwirklichen, wie dies bereits
ausgeführt ist.
Viel weniger tief als die große offene See sind unsere euro-
päischen Binnenmeere. Sogar in der Mitte der Ostsee geht die
Tiefe meist nicht über 60 bis 75 Meter hinaus. — Zwischen der
britischen Küste und dem gegenüberliegenden Festland ist die
Tiefe der Nordsee überall leicht erreichbar; doch wird sie bedeutender
zwischen den schottischenJnseln und der n o r w e g i s ch e n K ü st e,
wo sie 250 Meter beträgt. Das Mittelmeer ist hin und wieder
über 1000 Meter tief, und selbst im schwarzen Meer giebt es
einzelne Stellen von 900 Meter. Seicht hingegen ist das Adria-
tische Meer. Hartwig.
52. Äqnatorialstrom.
Unter dem Äquator und dicht an der afrikanischen Küste
beginnt der mächtige Äquatorialstrom, der mit einer ungewöhnlichen
Geschwindigkeit nach Westen fließt. Rasch an Masse zunehmend und auf
beiden Seiten des Äquators mehr und mehr sich ausbreitend, gelangt er
zur Ostspitze von Südamerika, Kap Roque, wo er sich in zwei Arme
spaltet. Der eine fließt nach Süden, die Küste Brasiliens entlang, und
nimmt allmählich zwischen dem Wendekreis des Steinbocks und der
Mündung des Rio de la Plata eine südliche Richtung an. Seine
Spuren lassen sich weit in den Indischen Ozean hinein verfolgen.
Der nördliche Arm des Äquatorialstromes dagegen läuft die
Nordostküste von Südamerika entlang und erreicht durch den Ein-
fluß des schräg auf ihn stoßenden Amaz on en str oms die enorme Schnellig-
keit von 99 Seemeilen in 24 Stunden. So setzt er sich gegen Westen
fort und durchfließt langsam die ganze Breite des Ka r a i b i s ch e n Meeres.
Hierauf zwingt ihn der vorgeschobene Tamm von Central-Amerika,
in den Mexikanischen Meerbusen einzubiegen, den er in seinem ganzen
Umkreis durchfließt, um endlich zwischen Florida und Cuba seine war-
men Fluten unter dem neuen, vielbekannten Namen des Golf ström es
mit reißender Schnelligkeit ins offene Meer zu ergießen. Anfangs begleitet
346
52. Äquatorialstrom.
der Golfstrom erst in nördlicher, dann in nordöstlicher Richtung die Küste
von Nordamerika; in der Breite von Washington jedoch entfernt er
sich gänzlich vom festen Lande und stießt südlich von der großen Bank
von Neufundland direkt dem Alten Kontinente zu. Weit ins
Meer hinaus unterscheidet er sich von den nahen unbewegten Wasser-
schichten, die gleichsam sein Ufer bilden, durch seine indigoblane Farbe,
seine wärmere Temperatur und die Massen schwimmenden Seetangs, die
er mit sich führt. Auch manche Seetiere der tropischen Gewässer begleiten
ihn unter Breiten, die sonst ihrem Leben feindlich sind, und wandern,
seinen lauen Fluten vertrauend, nach Norden und Nordost. So gelangt
er, allmählich an Wärme und Schnelligkeit verlierend, aber einen immer
breiteren Raum des Ozeans einnehmend, bis zum Meridian der
Azoren, wo er sich wiederum in zwei Hauptarme spaltet.
Der eine wird, vermöge seiner natürlichen Bewegnngsrichtung,
hauptsächlich aber wohl durch die vorherrschenden Nord- und Nordwest-
winde, gegen die Küsten von Europa getrieben und dringt zum Teil
durch die breite Straße zwischen Island und Großbritannien ins
arktische Meer, wo sich seine letzten Spuren bis über Spitzbergen und
Nowaja Semlja hinaus erkennen lassen. Der andere Arm wendet
sich südlich der afrikanischen Küste zu.
Wenn wir die Klimate an den entgegengesetzten Küsten des nord-
atlantischen Meeres mit einander vergleichen, so finden wir einen
bedeutenden Unterschied zu gunsten der alten Welt. Die eisigen Regionen
von Labrador liegen unter derselben Breite wie Plymouth,*) wo
Myrte und Lorbeer das ganze Jahr im Freien stehen. New-Jork,
mit einer südlicheren Lage als Rom, hat einen kälteren Winter als
Bergen in Norwegen, welches 20o nördlicher liegt.
Während an den nordwestlichen Küsten des alten Kontinents das
Meer einen großen Teil des Jahres bis über die Breite von 80"
hinaus offen bleibt, sind die gegenüber liegenden Ufer von Grön-
land mit ewigem Eise bedeckt.
Es leidet keinen Zweifel, daß wir Nordwesteuropäer diese größere
Milde unseres Klimas vorzugsweise dem Golfstrome verdanken, der
einen großen Teil seiner im Mexikanischen Busen bis auf 23" R. er-
wärmten Fluten beständig unseren Küsten zuführt und dem Meeres-
wasser zwischen Island und Großbritannien eine wenigstens 6" und
8" höhere Temperatur verleiht, als man in den entsprechenden Breiten
des südlichen Stillen und Atlantischen Ozeans findet.
Das entgegengesetzte Verhältnis herrscht in den Meeren, welche das
rauhe Grönland umfluten. Hier ergießen sich kalte Strömungen südwärts
längs den Küsten von Nordamerika. Bei Neufundland wird ihre
Tenlperatur im Mai nicht höher als 7" R. gefunden, kälter als die
umgebende Luft, und sogar im Frühsommer führen sie noch immer ungeheure
*) spr. Plimmudds.
53. Das Leuchten des Meeres.
347
Eisberge mit sich, die oft bis zur Breite von New-Jork gelangen und
erst im lauen Golfstrome völlig verschwinden.
Betrachten wir andere Küsten in den verschiedenen Weltteilen, so
finden mir, daß überall Wirkungen durch den Einfluß der Strömungen
hervorgebracht werden, die den bereits beschriebenen entsprechen. Der
südwestlicheAtlantische Ozean wird nicht wie die europäischen Meere durch
rückläufige Äquatorial-Strömungen erwärmt; er ist überall dem freien
Zufluß der eisigen Gewässer des Südpolar-Meeres geöffnet und sogar
während der Sommermonate dem kühlenden Einflüsse des Treibeises
ausgesetzt. Aus diesem Grunde haben die Südspitze von Amerika, das
Feuerland, die Falklandsinseln, Süd-Georgien, Sand-
wichs*)-Land ein viel kälteres Klima als die europäischen Küsten
und Inseln unter gleicher Breite.
Wenn die Westküste von Europa sich der ihr durch den Golfstrom
zukommenden Wärme erfreut, so verdanken die Küsten von Chile**) und
Peru ihr angenehmes und gemäßigtes Klima einem mächtigen Strom
kalten Wassers, der, aus demSüdlichenEismeer in den Großen Ozean
eindringend, nach Nordosten fließt, gegen die amerikanische Küste stößt,
sie nach Norden verfolgt und erst unter dem Äquator eine westliche
Richtung einschlägt. Mitten in der Tropenzone hat dieser kalte peru-
vianische Strom zu gewissen Jahreszeiten nur 12°R., während die
ihn begrenzenden ruhenden Wasser eine Temperatur von 23 ° zeigen.
Hartwig.
53. Das Leuchten des Meeres.
Ein Reisebeschreiber erzählt darüber folgendes: Kaum war es
dunkel geworden, so schien die See überall gleichsam im vollen Feuer
zu stehen. Jede Welle, die sich brach, hatte einen leuchtenden Saum,
und wo das Schiff die See berührte, zeigten sich Streifen von phos-
phorischem Lichte. So weit das Äuge in die Ferne reichte, stellte sich
uns überall dieselbe Erscheinung dar, und selbst die Äbgründe des
unermeßlichen Ozeans schienen mit Licht erfüllt. Große leuchtende
Körper, die wir nach der Gestalt für Fische hielten (hier ist nicht zu
übersehen, daß keineswegs die Fische leuchteten, sondern nur ein solches
Leuchten von sich ausgehen ließen, indem sie rund um ihren Körper
mit den kleinen phosphoreszierenden Tierchen in Berührung kamen,
was, da es an vielen tausend Punkten ihrer Oberfläche zugleich geschah,
natürlich ihre Körperform als leuchtend erscheinen lassen mußte),
schwammen um uns her; einige näherten sich dem Schiffe und hielten
denselben Strich, andere entfernten sich seitwärts schnell wie Blitze.
Zuweilen näherten sie sich unter einander, und traf sich's, daß ein
kleiner einem großen zu nahe kam, so kehrte jener eilend zurück und
suchte auf alle Art zu entkommen. Ich ließ einen Eimer dieses leuch-
*) spr. Szänduitsch. **) spr. Tschile.
348
54. Die Koralleninseln.
tenden Wassers zur näheren Untersuchung heraufziehen und fand darin
unzählige, ganz kleine, leuchtende Kügelchen, welche sich unglaublich
schnell bewegten. Nachdem das Wasser eine Zeitlang ruhig gestanden
hatte, erschien die Zahl der leuchtenden Körperchen bemerklich verringert;
aber sobald man das Wasser wieder rührte oder bewegte, war es
wieder hell und die kleinen Funken fuhren darin sehr lebhaft in allen
Richtungen umher, auch selbst, nachdem das Wasser wieder allmählich
ruhig geworden war.
Wir hatten den Eimer vermittelst eines Seiles von der Decke
herabhängen lassen, um die Bewegung des Schiffes zu vermeiden; dessen
ungeachtet bewegten sich diese Lichtstäubchen hin und her, so daß ich
von ihrer willkürlichen Bewegung überzeugt ward. Das Funkeln ver-
stärkte sich aber, so oft man in dem Eimer mit der Hand oder mit
einem Stecken rührte. Im ersteren Falle blieb zuweilen ein solches
phosphorisches Fünkchen am Finger sitzen; kaum war es so groß als
der kleinste Nadelknopf. Das geringste Vergrößerungsglas gab die
kugelförmige Gestalt und etwas bräunliche Farbe dieser gallertartigen,
durchsichtigen Pünktchen zu erkennen. Unter dem Mikroskop entdeckte
man eine sehr feine Röhre, welche von einer runden Mündung an
der Haut ins Fleisch oder in das Innere dieses kugelrunden Geschöpfes
ging. Das Eingeweide bestand aus vier bis fünf ganz kleinen Säcken,
welche mit der eben genannten Röhre in Verbindung zu stehen schienen;
das stärkste Vergrößerungsglas zeigte nicht mehr, sondern das obige
nur deutlicher.
Gewiß, der Anblick des unermeßlichen Weltmeeres, mit Myriaden
kleiner Stäubchen angefüllt, denen der Schöpfer Leben, Bewegung,
Wanderungskraft nebst dem Vermögen erteilt hat, im Finstern ent-
weder zu leuchten, oder ihr Licht nach Willkür zurückzuhalten und alle
Körper, die sie berühren, zu erleuchten, muß mehr Erstaunen und
Ehrfurcht erwecken, als ich zu beschreiben vermag. s-rster.
54. Die Koralleninseln.
Äie Inseln des großen Ozeans breiten sich zu beiden Seiten des
Äquators aus. Am gedrängtesten und zahlreichsten fiitb sie zwischen den
Wendekreisen, wo sie, wie die Sterne der Milchstraße, in dichten Gruppen
liegen. Man hat sie in zwei scharf geschiedene Klassen gebracht: in hohe
und niedere. Die ersteren erheben sich oft zu bedeutender Höhe über
den Spiegel des Meeres; sie tragen bisweilen thätige Vulkane und scheinen
überhaupt durch vulkanische Kräfte aus dem Meere emporgehoben zu sein.
Die niederen Inseln ragen hingegen etwa nur 6 Meter über den Meeres-
spiegel empor, sind sehr klein und durch kleine Tiere, Korallentiere,
entstanden.
Es ist ein wunderbares Leben und Weben in den Korallentieren.
Klein, von röhrenförmiger Gestalt, ohne Kopf und ohne Herz, gleichen
diese Geschöpfe eher einem Stückchen Strohhalm als einem Tiere. An
54. Die Korallcninscln.
349
dem einen Ende ihrer häutigen Röhre stehen rings im Kreise zarte Fäden,
Fangarme genannt, mit denen sie nach Nahrung greifen. Außer diesen
empfindsamen Fangarmen ist alles an dem Tiere unbeweglich; denn seine
schleimige Haut wird nach und nach in einen Kalkpanzer eingehüllt. Der
zarte Leib vergeht, der steinerne Sarg jedoch bleibt, und da die Tiere
zu Millionen friedlich vereint leben, so bilden schon die versteinerten Leiber
eines einzigen Geschlechtes den Grundstein zum Anbau einer Insel. Ein
neues Geschlecht siedelt sich ans den Gräbern seiner Vorfahren an, und
auch dieses vergeht. Aber es bettet sich unmerklich ein Geschlecht an das
andere, bis endlich nach einer langen Reihe von Jahren ans der Tiefe
des Meeres ein Jnselbau entstanden ist, der Bäume und Häuser tragen,
Tiere und Menschen beherbergen kann.
Man kennt gegenwärtig über 400 Arten von Korallentieren. Die
meisten enthält der Stille Ozean, und zwar zwischen den Wendekreisen.
Sie bauen nicht immer nach demselben Plane, sondern richten sich nach
demBauplatze, den sie vorfinden.
Ziehen sie eine Mauer längs der
Küste einer schon vorhandenen
Insel, und zwar so, daß zwischen
der Mauer und der Küste noch
ein breites und tiefes Fahrwasser
bleibt, so nennt man den Bau
ein Dammriss. Das größte be-
findet sich an der Nordküste von
Neuholland. Es steigt mit
einem Male aus dem Ozean auf
und zieht sich über 200 Meilen
längs der Küste hin. Das Rollen
der Wogen längs des Riffes ist
schon in weiter Ferne hörbar.
Ein Wasserschwall türmt sich
nach dem andern mit tiefblauer
Farbe an demselben empor und
stürzt schäumend und sich über-
schlagend mit blendend weißer
Farbe wieder in den Ozean
zurück. Tag und Nacht hört Edelkoralle (Stamm mit vielen Tierchen),
man das Tosen der gewaltigen Vergrößert.
Brandung, als grollte ein nimmer endender Donner. Der hinter dem
Riffe eingeschlossene Meeresarm ist ruhig und seiner ganzen Länge nach
mit Sicherheit zu beschissen. Einen andern Bau zeigen die Küstenriffe.
Sie ziehen sich so dicht am Saume einer Küste hin, als wollten sie
dieselben befransen.
Einen zauberhaften Anblick gewähren die Korallenbäume. Es sind
steinerne Stämme mit Ästen und Zweigen, über und über mit rührigen
350
55. Vulkanische Ausbrüche.
Zellen bedeckt, aus denen die Fangarme der Bewohner wie zarte Blüten-
fäden heraushängen. Aufrecht stehen diese Bäume da, in bunter Farben-
pracht und zierlichen Gruppen wie die Blumen auf einem Blumenbeete.
Zwischen ihnen spielen ganze Scharen von Gold- und Silberfischen.
Lum aller.
55. Vulkanische Ausbrüche.
Im Zustande der Ruhe Pflegen die Vulkane Dämpfe, Gase und
Schlacken auszustoßen. Die Lavasäule kocht im Kraterschachte auf und
nieder, oder es findet ein ruhiges Ausfließen kleiner Lavaströme statt.
Vorzeichen eines nahen Ausbruches sind häufige Wiederholungen von
Auswürfen, Erderschütterungen und zuweilen plötzliche Verminderungen
des Quellen- und Brunnenwassers. Die geschmolzene Lava wird bis-
weilen in einem Krater bis an den Rand emporgehoben, so daß sie
in einem zähen Strome abfließt. Häufiger durchbricht sie verschiedene
Teile der Seiten des Kraters, indem sich durch ihren Druck Spalten
und Schlünde bilden. Auf diese Weise entstehen sowohl innerhalb des
großen Hauptkraters, als auch an den Seiten des Berges Eruptions-
krater. Die Ausbrüche sind von Getöse, Gewittern und Feuersäulen
begleitet, die sich bisweilen baumartig über den Krater erheben. Zu-
letzt folgen Ausstoßungen von Rauch, Asche und Gasen. Oft finden
heftige Regengüsse statt, deren Wasser sich mit der vulkanischen Asche
verbindet und in verheerenden Schlammströmen in die Ebene herabstürzt.
Hauptkrater auf der Insel Hawaii.
Die Abbildung stellt den ungeheuren Krater des Kirauea auf
Hawaii, einer der Sandwichsinseln, dar, aus dessen Boden sich
eine Anzahl von Eruptionskratern erheben, welchen glühende Lava,
Dämpfe und Asche entströmen. Ein Teil des Hauptkraters ist mit
glühender Lava erfüllt.
55. Vulkanische Ausbrüche.
351
Scheinbar erloschene Vulkane geraten bisweilen nach langer Ruhe
wieder in Thätigkeit. Nachdem der Vesuv jahrhundertelang geruht
hatte, wurden Plötzlich im Jahre 79 n. Chr. nach mehrtägigem Erd-
beben Asche und alte vulkanische Ablagerungen in solcher Menge aus-
geworfen, daß die Städte Pompeji und Herkulanum von ihnen über-
schüttet wurden.
Was macht solche Feuerausbrüche erklärlich? Es liegt nahe, den
feurig-flüssigen Kern daniit in Verbindung zu bringen, den die Erde
im Innern birgt; denn woher sonst die glühende Lava? Doch das
Feuer allein erklärt den Feuerausbruch, das Toben und Donnern noch
nicht. Was treibt die Funken blitzschnell in die Höhe? Was schleudert
kleine Lavamassen und Steintrümmer hoch in die Lüfte? Was sprengt
den Felsenleib des Vulkans und treibt den Lavafluß aus der Tiefe
empor? Wer einen Dampfkessel hat zerspringen sehen, wird an die
furchtbare Dampfkraft des Wassers denken, und wer sich an die dem
Krater entsteigenden Wasserdämpfe erinnert, wird sich sofort auf der
richtigen Fährte fühlen. In der That reichen Feuer und Wasser aus,
die Ausbrüche der Vulkane zu erklären. Daß das Wasser tief in die
Erde eindringt, ist unzweifelhaft. Kommt es in die Nähe des feurig-
flüssigen Erdkerns, so kann es nicht fehlen, daß es sich in Dampf ver-
wandelt. Dieser aber muß auf die Wände seines Gefängnisses, die
feste Erdrinde, ebenso drücken, wie der Dampf im Kessel auf dessen Wände.
Ist nun in der Nähe eine Öffnung in der Erdrinde, also ein Vulkan,
so kann der Dampf glühendslüssige Materien aus dem Erdinnern empor-
schleudcrn und dabei selbst mit entweichen; der vulkanische Ausbruch ist fertig.
Demnach erscheinen die Vulkane als die beständigen Verbindungs-
wege zwischen dem noch heißflüssigen Erdinnern und der Erdoberfläche,
und hinsichtlich ihrer Wirkung können sie füglich mit den Sicherheits-
ventilen der Dampfmaschine verglichen und Sicherheitsventile der
Erde genannt werden.
Denn ist ein Abzugsrohr für die unterirdischen Dämpfe nicht
vorhanden, ist die Erdrinde eine festgeschlossene Masse, so verschafft sich
der Dampf mit Gewalt einen Ausweg; vermöge seiner Spannkraft
zertrümmert er die Erddecke unter furchtbaren Stößen und erzeugt ein
Erdbeben, eine noch viel entsetzlichere Erscheinung als ein Vulkan-
ausbruch. Gedenken wir nur des fürchterlichen Erdbebens, das am
1. November 1755 das schöne Lissabon heimsuchte, binnen fünf
Minuten den größten Teil der Stadt zerstörte und mehr denn
60 000 Menschen vom irdischen Schauplatze abrief. Doch nicht bloß
der Grund von Lissabon, nein alle Gebirge Portugals wurden in ihren
Fundamenten aufs schrecklichste erschüttert; die meisten öffneten sich in
ihren Gipfeln, welche auf wunderbare Weise zerrissen und zerspalten
wurden, und große Massen wurden in die henachbarten Thäler ge-
schleudert. Der große Quai*) (Uferstraße), aus Marmor erbaut, sank
*) spr. Käh.
352
56. Bildung der Erdoberfläche.
plötzlich mit der darauf befindlichen Volksmenge nieder, und nicht ein
Leichnam kam an die Oberfläche zurück. Eine Menge vor Anker liegen-
der Böte wurde samt der Mannschaft verschlungen; niemals sind
Bruchstücke davon an die Oberfläche zurückgekommen. Das Meer ver-
mehrte die Schrecken; es zog sich zurück, so daß ein Teil seines Bodens
trocken gelegt war. Dann stürzte es Plötzlich wie ein Tiger zurück
aufs Land, 16 Meter über seine gewöhnliche Höhe, und wütete
vernichtend, wohin es sich warf. Auch ganz Spanien uub Nordafrika
wurden von den Schrecken dieses Erdbebens heimgesucht. SeydUtz.
56. Bildung der Erdoberfläche.
Wenn man mit einem Male das Meer ablassen könnte,
würde es auf seinem Grunde nicht viel anders aussehen als an
vielen Stellen unserer Erdoberfläche. Wir würden da große,
lange Sandflächen und Berge von Kalk und Gips sehen, die
sich aus dem Meerwasser gebildet haben, alle untermischt mit
häufigen Muscheln und andern Seetierüberresten. Denn wenn
man unsere meisten Berge ansieht, bemerkt man gar leicht, daß
sie in einem großen Meere und unter einem großen Meere ge-
bildet sind. Viele von ihnen sind ganz erfüllt von Muschel-
und Seetierüberresten, und auf manchen Bergen von Neu-
Holland, die jetzt viele Meilen weit vom Meere landeinwärts
liegen, sieht man noch jetzt Korallenbäumchen aufrecht stehen;
Korallen, Haarsterne, Armfüßer n. s. w. im Kalk.
und der ganze Boden sieht so aus, als wenn er plötzlich wäre
vom Meere verlassen worden, von dem er einmal jahrhunderte-
lang bedeckt gewesen war. Aber man braucht nicht so weit
zu reisen, um etwas Ähnliches zu sehen. Auch in und auf
56. Bildung dcr Erdoberfläche.
353
unsern Kalkbergen findet man Korallenarten unä Muscheln, die
nur im Meere gelebt haben und gewachsen sein können. Man
sieht es manchen unserer Sandgegenden an, daß hier einmal
lange Zeit hindurch Wasser darüber geflutet haben muß; und das
Salz, das manche unserer Berge und Ebenen in sich führen, muß auch
noch aus jener Zeit herrühren, wo ein salziges Meer da stand.
Es muß jene große Veränderung, wodurch viele unserer
Länder und Berge vom Meere verlassen und zu festem Lande
wurden, auf einmal gekommen sein. Doch ist das nicht die
einzige Veränderung, die mit unserem Erdboden vorgegangen
sein muß. Im Württembergischen, in Thüringen, in
Braun'schweig und an anderen Orten Deutschlands, ferner
in Frankreich und sogar in dem kalten Sibirien hat man
Knochen ausgegraben, die von Elefanten, Nashörnern und
anderen solchen Tieren waren, die nur in heißen Ländern leben
konnten, dabei auch an den
nämlichen Orten Palmen,
Bambusrohr und andere Ge-
wächse aus warmen Län-
dern. Diese Tiere und Pflan-
zen, die oft mit einander,
wie noch in ihrem jetzigen
Vaterlande, vorkommen,
müssen einmal in jenen
jetzt so kalten Ländern
gelebt haben. Es muß also
da einmal viel wärmer ge-
wesen sein, als es jetzt ist.
Die Knochen und andere
Überreste von Tieren der
Vorwelt, die man in allen Skelett vom Biesenfaultier. Vioo “• u.
Teilen der Erde, am häufigsten aber in den nördlichen Gegen-
den gefunden hat, gehören fast alle zu den jetzt lebenden Tier-
geschlechtern, nur sind sie zum Teil größer als die jetzigen,
aber weichen auch in der Gestalt von ihnen ab. So hat man
die meisten Gattungen der Säugetiere gefunden. Sehr ver-
schieden von den jetzt lebenden Säugetieren waren: das Mam-
mut s t i e r , eine große, wollig behaarte Elefantenart mit
langen Mähnen, das Riesenelen, das zentnerschwere Geweihe
hatte. Noch verschiedener von dem gegenwärtigen Tier-
geschlechte war das Ohiotier (hat seinen Namen vom Ohio-
flusse in Nordamerika, wo man es fand); es war so hoch, aber
länger als unsere größten Elefanten, hatte große Stoßzähne,
aber auch zackige Backenzähne wie die fleischfressenden Tiere,
und war mit langen Haaren bedeckt. Das Riesenfaultier
muß auch ein gar besonderes Tier gewesen sein. Es war von
Deutsches Lesebuch für kath. Schulen. IV. Für Oberklassen. ZZ
354
56. Bildung der Erdoberfläche.
Mammut. Vollständig erhalten im Polareise Sibiriens.
Die Weichtiere, welche in der fossilen Tierwelt eine
Hauptrolle spielen, sind in den ältesten und älteren Schichten
durch die Armfüßer, in den jüngeren und jüngsten Gebilden
durch die Muscheln und Schnecken vertreten. Zu ersteren
der Schnauze bis zum Rücken 3^ Meter lang und l3/4 Meter
hoch; sein Kopf gleicht dem unserer Faultiere. Dabei hatte es
auch wie diese keine Vorder- und Eckzähne, sondern nur Backen-
zähne, aber furchtbar lange und scharfe Klauen, daher man es
auch Großklauentier heißt.
Mutmaßliche Gestalten des Mastodon und des Mammut.
Beide ungefähr von der Größe des indischen Elefanten.
Überreste von Vögeln der Vorwelt hat man im ganzen
noch wenig gefunden, in größerer Menge aber die Amphibien
und darunter Eidechsen von 7 — 8 Meter Länge, ferner Krokodile,
so groß wie die noch jetzt lebenden Arten; doch hat man auch
Haifische aufgefunden, die von ungeheurer Größe gewesen sein
müssen. — Der Überreste von Insekten sind wenig, desto häufiger
aber die der Würmer.
56. Bildung der Erdoberfläche.
355
gehören auch die ausgestorbeneu Belemniten, deren ver-
steinerte innere Schalen als „Donnerkeile“ häufig in der Jura-
und Kreideformation auftreten.
Ein Belemnit.
An manchen Orten, wie z. B. in Sibirien, hat man solche
Tiere der Vorwelt noch mit Haut und Haaren und Fleisch ge-
funden , welches für Hunde und Wölfe noch genießbar war. Es
muß also die große Veränderung, wodurch es nach den Polen
unserer Erde hin so kalt wurde, wie es jetzt ist, noch nicht
viele Jahrtausende her und plötzlich geschehen sein; denn nur
in einem so kalten Lande wie Sibirien konnte sich das Fleisch
solcher Tiere der Vorwelt so ungestört erhalten.
Drahtförmiges und kristallisiertes Gediegen-Silber.
Die Gebirge, welche keine Tier- und Pflanzen-Überreste
und keine Salze enthalten, nennt man Urgebirge. Sie bestehen
aus Thonschiefer, woraus unsere Schiefertafeln gemacht werden,
oder aus Glimmerschiefer, dessen Hauptbestandteile Glimmer
und Gneis sind. Der Glimmer teilt sich in dünne, glänzende
23*
356
56. Bildung dcr Erdoberfläche.
Blättchen. Die Urgebirge haben die meisten Erze: Gold, Silber,
Blei, Zinn, Kupfer und Eisen in sieh. Man findet diese meistens
in Gängen, welche man mit ehemaligen Spalten in den Gängen
vergleichen kann, die sich von oben herein durch die hinein-
geschossenen Erdmassen ausgefüllt haben.
to CO ^ C1' o
£
*5
<T> P
3 CO
Nebenstehende Prostlzeichnung
eines von Porphyr durchbrochenen
und durch Granit gehobenen Stein-
kohlenlagers veranschaulicht die ab-
wechselnd über einander gelagerten
Schichten von Sandstein, Schiefer-
thon und Steinkohle, unter denen
die letztere selbst immer nur in
der geringsten Ausdehnung und
Mächtigkeit vorhanden ist. Die
untersten Schichten sind links durch
den Porphyrkegel durchbrochen,
rechts durch Granit von unten ge-
hoben, und dadurch nebst den über
ihnen lagernden Schichten aus ihrer
ursprünglich horizontalen Lage ge-
bracht und zum Teil gewaltsam in
ihrem Zusammenhange unterbrochen
worden, was mannigfache Ver-
werfungen und Verrückungen zur
Folge gehabt hat. Die ungefähr
in der Mitte der unterbrochenen
Schichten befindliche dunklere drei-
eckige Fläche veranschaulicht die
Ablagerung des roten Sandsteins,
während die dunkleren Figuren
innerhalb der einzelnen Schichten
fossile Überreste von Sigillarien,
Stigmarien, Kalamiten und anderen
Gewächsen aus der Steinkohlen-
periode bezeichnen. Die Ziffern
zur Seite links entsprechen den
auf Seite rechts auf dieselbe Weise
numerierten Benennungen der
Schichten. Die Ziffer 1 fehlt
natürlich, weil links der Granit
sich nicht so hoch emporgehoben
hat.
Die Gebirge, welche hauptsächlich aus Sandstein, Thonschiefer
und Kalkstein bestehen und wie die Urgebirge häufig von Granit
und Porphyr durchbrochen sind, nennt man Übergangs- und
Kohlengebirge, weil sie große Steinkohlenlager enthalten.
57. Von der Entstehung und dem Bau der Erde.
357
Auch findet man in diesen Gebirgen viele Muscheln und Pflanzen-
abdrücke. Enthalten sie außerdem auch noch Steinsalzlager
und Überreste vollkommener Tiere und Pflanzen, so heißen sie
Flötzgebirge.
Diese Steinmassen liegen in großen Lagen über einander, die
man Schichten nennt, und die dem Gebirge das Aussehen geben,
das etwa eine Mauer bat, in der recht große Quaderplatten von
verschiedener Form eine über die andere gesetzt sind. Solche Lagen
nennt der Bergmann Flötze, und überhaupt bedeutet flötzen oder
flößen ein Ansetzen durchs Wasser, was offenbar jene Gebirge her-
vorgebracht hat. Diese Gebirge enthalten zwar nicht so viele
Erze als die Urgebirge, doch an manchen Orten einen sehr kupfer-
reichen Schiefer, auch etwas Blei und Galmei und sehr viel Eisen.
Den losen Sand, Lehm und Töpferthon in den Ebenen und
Hügellandschaften nennt man aufgeschwemmtes Land. Da
findet man außer dem Lehm und dem Töpferthon und außer
Braunkohlen nicht viel Besonderes. Über allen diesen Gebirgsarten
liegt dann die Damm- und Gartenerde. Nach Schubert.
57. Von der Entstehung und dem Bau der Erde.
Reinem menschlichen Ange war es vergönnt, die Entstehung
der Erde mit anzusehen; denn als sie der erste Mensch betrat, war
sie bereits fertig. Wir wissen von ihrer Entstehung nur so viel gewiß,
daß sie durch das allmächtige Gotteswort aus den Stoffen, die dasselbe
am Anfang erschaffen hatte, in ihre jetzige Gestalt gebracht worden ist.
Der wißbegierige Mensch hat aber das sehr natürliche Verlangen, näheres
zu erfahren über die Art, wie die Erde gebildet wurde; und dieses Ver-
langen findet einigermaßen Befriedigung in dem, was die Wissenschaft
der Geologie (Lehre von der Bildung der Erde) durch ihre For-
schungen entdeckt hat. Man konnte zu dem, was darüber bekannt ist,
nur dadurch gelangen, daß man die Erde in ihrer jetzigen Gestalt genauer
betrachtete und untersuchte, ähnlich wie etwa ein Mechaniker durch Zer-
legung oder auch durch Beschauung einer fertig ausgestellten Maschine
finden kann, wie dieselbe gemacht ist. Freilich zerlegen können wir die
Erde nicht, ja schon dem Beschauen und Untersuchen setzen sich die
größten Hindernisse entgegen, und jedenfalls ist das uns Zugängliche
im Verhältnis zum Ganzen sehr wenig. Mit vollkommener Gewißheit
kennt man daher von dem gegenwärtigen Zustand der Erde nur ihre
allgemeine Gestalt und die Beschaffenheit ihrer Oberstäche, aber äußerst
wenig von ihrem Innern. Dieses ist uns nur zugänglich in den
Gebirgen, in Schluchten und an den steilen Seiten der Berge, wo sie
nicht mit Gras oder Schutt bedeckt sind, sowie an einigen anderen
Punkten durch künstliche Öffnungen, wie durch Brunnen, Steinbrüche,
Bergwerke und Eisenbahn-Durchstiche, z. B. in den Alpen. Die natür-
358 57. Von der Entstehung und dem Bau der Erde.
lichen Öffnungen, welche sich an der Oberfläche befinden, nämlich die
Quellen und feuerspeienden Berge, können nicht unmittelbar untersucht
werden, sondern man kann nur aus den Stoffen, welche daraus hervor-
kommen, schließen, wie es im Innern etwa aussehen mag.
So unsicher und wenig zahlreich aber auch die Wege sind, auf
denen man zu einiger Kenntnis von der Bildung der Erde gelangen
kann, der menschliche Geist hat sie doch sehr eifrig verfolgt, und dies
besonders in der neuesten Zeit. Wir wollen versuchen darzulegen, wie
sich die Männer der Wissenschaft heutzutage nach den Untersuchungen,
welche an den verschiedensten Punkten der Erde vorgenommen sind,
die Sache vorstellen.
Ein geistreicher französischer Astronom, Namens La place,*) hat
folgende wissenschaftliche Ansicht (Hypothese) aufgestellt. Die Stoffe, aus
welchen die Erde besteht, haben sich im Anfange durch eine so große
Hitze, wie wir sie uns nicht vorstellen können, im luftförmigen Zustand
befunden, und die Erde war also eine Dunstkugel. Indem die Hitze
nachließ, wurde die Kugel flüssig, und bei noch größerer Abkühlung
erstarrte sie rundum an der Oberfläche. Es entstand zu äußerst eiue
Kruste daran, innerhalb welcher der noch größere Teil als feuerflüssige
Masse eingeschlossen blieb. Die Wärme nahm auch jetzt noch im Innern
ab, und so wuchs die Dicke der Kruste nach einwärts, wenn auch nicht
an allen Stellen im gleichen Maße. In dem feuerflüssigen Innern
blieben noch viele Gase (Luftarten) von außerordentlicher Spannkraft
mit eingeschlossen, so daß von dort aus noch immer eine Rückwirkung
auf die Kruste möglich und notwendig war. Diese konnte vom Innern
teilweise emporgehoben, hinausgedrückt oder gar durchbrochen werden,
und der Inhalt konnte durch die Risse hervorquellen, — Ereignisse,
welche die größten Umwälzungen und Zerstörungen auf der Oberfläche
veranlassen mußten. Auch nach Bildung der Kruste blieb die Kugel noch
eine Zeitlang mit einer dichten Hülle von Wasserdampf umgeben.
Endlich wurde diese zu Wasser verdichtet, stürzte hernieder und umgab
die Erde an den tiefsten Einsenknngen ihrer Oberfläche als Meer.
Was Laplace als eine Ansicht ausgesprochen, dafür haben die
Geologen später durch ihre Untersuchungen an der Oberfläche der Erde
und, soweit es anging, in deren Innerem Beweise aufzufinden gesucht,
also Thatsachen, welche die Richtigkeit jener Ansicht bestätigen sollten.
Diese Thatsachen sind folgende:
Erstens beobachtet man im Innern der Erde eine Wärme, welche
nicht von der Sonne herkommt, sondern ihr eigentümlich ist. Die
Sonnenwärme dringt nämlich mit ihrer Wirkung nur einige Meter tief
in die Oberfläche ein. In einer gewissen Tiefe ist die Erdwärme
Sommer und Winter gleich. Wir sehen dies z. B. an tief gelegten
Kellern, an bergmännischen Gruben und noch besser an kalten Quellen,
die während der heißesten Sommerszeit frisches Wasser liefern und im
*) spr. Laplaß.
57. Von der Entstehung und dem Bau der Erde.
359
Winter nie einfrieren. Steigt man aber durch künstlich angelegte
Öffnungen oder Löcher, wie wir sie in den Schachten der Erz- oder
Steinkohlenbergwerke haben, in eine bedeutendere Tiefe hinab, so findet
man, daß die Erdwärme immer größer wird. je weiter man hinein-
kommt. Man hat sich davon durch Beobachtungen mittelst des Thermo-
meters überzeugt. Diese Wärme nimmt ziemlich gleichmäßig zu, und
zwar durchschnittlich für jede Strecke von 30 Metern um einen Grad
des hundertteiligen Thermometers. Hieraus läßt sich vermuten, daß
in einer Tiefe von ungefähr acht Meilen alles feuerflüssig sein müsse.
Fürs zweite: Die heißen Quellen und die feuerspeienden
Berge können kaum anders als durch die Einwirkung des feuerflüssigen
Innern auf die Erdkruste erklärt werden. Sie sind gleichsam Kanäle,
Ventile, durch welche das Innere mit der Oberfläche in Verbindung steht.
Fürs dritte: Man beobachtet, daß noch gegenwärtig große
Strecken Landes allmählich immer höher aus dem Meere sich erheben,
namentlich ist das an den Küsten von Schweden und Finnland erkenn-
bar. Daß überhaupt alles, was jetzt Land ist, sowohl Ebene als
Gebirge, im Anfang unter Wasser gewesen und erst später daraus
emporgehoben wurde, dafür sind die unwiderleglichsten Beweise in den
Resten von Meerestieren gegeben, welche in den Gesteinen der höchsten
Gebirgsgipfel gefunden werden. Diese Hebungen sind wahrscheinlich
durch die feuerflüssige Masse und die eingeschlossenen Luftarten (Gase)
im Erdinnern bewirkt worden.
Diese Thatsachen sprechen zwar vielfach für die Vermutungen
von Laplace, sind aber doch noch bei weitem keine vollgiltigen Beweise
für deren Richtigkeit, da ihnen andere Thatsachen geradezu wider-
sprechen. Deshalb wurden auch von anderen Gelehrten hiervon ganz
abweichende Ansichten geltend gemacht und werden heute noch ver-
teidigt. Ohne ans diesen Streit einzugehen, erwähnen wir nur. daß
die Bildungen, welche man als durch Feuer entstanden betrachtet,
Plutonische, und die durch Wasser entstandenen neptunische ge-
nannt werden, nach dem altgriechischen Götternamen Pluto, Gott der
Unterwelt (des Feuers), und Neptun, Gott des Meeres.
Auslagerung geschichteter auf eruptiven Gesteinen.
(a‘. Eruptive, t.—i. geschichtete Gesteine.)
In Übereinstimmung mit der plutonischen Ansicht werden bei den
Gesteinen, aus welchen die Erdkruste besteht, nach ihren allgemeinen
Eigenschaften zweierlei Arten unterschieden. Die einen schließen
durchaus keine Überbleibsel von Pflanzen oder Tieren ein und be-
stehen meistens aus mehreren Mineralien, welche eine Zusammen-
360
57. Von der Entstehung und dem Bau der Erde.
Häufung von wohl unterscheidbaren Kristallen bilden. Die anderen
schließen überall, wo sie vorkommen, Überreste von Tieren oder Pflanzen
ein und sind meist nur von einfacher Mineralart. Eine Kristallisation
ist bei ihnen entweder schwer erkennbar oder gar nicht vorhanden.
Sie sind es, in denen man eine geschichtete Beschaffenheit bemerkt, was
bei den ersteren nie der Fall ist.
©ncti.
Da die geschichteten Gesteine Niederschläge oder Ablagerungen aus
Wasser sind, so nennt man sie mit Beziehung auf ihre Entstehung
neptunische Gesteine, im Gegensatze zu den nicht geschichteten Massen-
und Ganggesteinen, welche Plutonische heißen, wenn sie, wie Granit,
Porphyr, Gneis und Basalt, wahrscheinlich aus einem feuerflüssigen
Zustande in großer Tiefe unter der Erde erstarrt, emporgetrieben worden
sind, vulkanische, wenn sie wie die Lava im geschmolzenen Zustande
an die Oberfläche treten und hier erstarren. Sowohl die (älteren) plu-
touischen, als die (jüngeren) vulkanischen Gesteine werden Eruptiv-
gesteine genannt, weil sie von unten nach oben die geschichteten
Gesteine gewaltsam durchbrachen.
Wenn die eruptiven Massen geschichtete durchbrochen und zerrüttet
haben, so ist dies ein Beweis, daß sie erst aufgestiegen sind, als letztere
schon abgelagert und erhärtet waren.
In den geschichteten Gebirgen be-
finden sich versteinerte Tier- oder
Pflanzenreste. Die genauere Prüfung
derselben hat nun ergeben, daß in
den verschiedenen Lagen der geschich-
teten Gebirge von den tiefsten bis zu
den obersten sich auch verschiedene
Arten von Tieren oder Pflanzen
finden, und zwar immerinden gleich-
artigen Lagen auch die gleichen Tiere,
mögen diese Gebirgsschichten noch so
weit von einander entfernt sein. Nun
läßt sich wohl mit Recht so schließen:
Gebirge, welche die gleichen Tier-
arten einschließen, müssen auch zu derselben Zeit entstanden sein, solche
über, die verschiedenartige Tierreste enthalten, zu verschiedenen Zeiten.
Grüner Feldsteinporphyr.
57. Von der Entstehung und dem Bau der Erde.
301
So läßt sich auch sagen: Finden sich am Fuße eines Berges andere
besondere Arten als ans seinem Gipfel, so sind die Gesteine unten zu
einer anderen Zeit entstanden als die oben. Gewissermaßen sind also,
was für die Geschichte eines Volkes die geschriebenen oder gedruckten
Urkunden sind, für die Geschichte der Flötzgesteine die Tierreste oder
Versteinerungen (Petrefakten).
Wenn man das, was die Wissenschaft der Geologie nach der
obigen Darlegung uns lehrt, mit der Schöpfungsgeschichte vergleicht,
wie sie im ersten Buch Moses niedergelegt ist, so scheint es ans den
ersten Blick, als ob hier unlösliche Widersprüche bestünden. Diese
Widersprüche lassen sich aber vielfack schon jetzt lösen, und eine spätere
Zeit wird vielleicht noch mehr Übereinstimmung der wissenschaftlichen
Forschung mit dem untrüglichen Worte Gottes bringen.
Es heißt in der heiligen Schrift, daß Gott Himmel und Erde und
alles, was auf und in der Erde, im Wasser und in der Luft ist und lebt,
in sechs Tagen ans nichts geschaffen hat. Gegen diese Wahrheit spricht
kein einziger Satz der Geologie. Sie redet allerdings nicht von Tagen,
sondern von großen Schöpfungsperioden, welche auf einander folgten.
Aber das Wort „Tag" in der Schöpfungsgeschichte bedeutet auch nicht
das, was wir darunter verstehen, nämlich den Zeitraum, welcher
zwischen Aus- und Untergang der Sonne verläuft, sondern einen Zeit-
raum von uns unbekannter Ausdehnung. So haben es seit uralten
Zeiten selbst die hebräischen Schriftgelehrten
erklärt. Es gab auch in der That bei den
„Tagen" der Schöpfung keinen solchen Maß-
stab für die Tageslängen; denn erst am vierten
Schöpfungstage wurde die Sonne geschaffen,
nach welcher wir unsere Tage messen, und
erst von diesem Schöpfnngsakte an hatte die
Erde das, was wir unter Tag und Nacht, Eäuimförmigcr Basalt.
Morgen und Abend verstehen.
Auch in bezug auf die Aufeinanderfolge der einzelnen Schöpfungen
trifft die Lehre der Geologie mit der Lehre der heiligen Schrift zu-
sammen. Denn um nur die lebendigen Geschöpfe zu erwähnen, so
geht aus beiden hervor, daß zuerst die Pflanzen entstanden sind, als-
dann die Wassertiere, hierauf die Landtiere und zuletzt von allen
der Mensch.
Moses, der seine Schöpfungsgeschichte nach unmittelbaren göttlichen
Eingebungen niederschrieb, erzählt offenbar nur die Entstehnngsweise
der jetzigen Gestalt der Erde, und die vorausgegangenen, durch viel-
fach wiederholte Reihen von gewaltigen Ereignissen wieder zerstörten
Bildungen finden sich bei ihm nur in den Anfangsworten „Am An-
fang schuf Gott Himmel und Erde" angedeutet. Der Zustand der
Erde nach der letzten Umwälzung ist durch die Worte „Tie Erde
war wüst und leer u. s. f." bezeichnet, und nun wird von ihm die-
jenige Neubildung erzählt, die heute noch besteht. Man kann dem-
362
58. Die Erde als Wohnsitz der Menschen.
nach sagen, daß Moses von der Schöpfungsgeschichte nur ein ganz all-
gemeines Bild entwarf und dasselbe gleichsam mit mächtigen Pinsel-
strichen im großen zeichnete. Die einzelnen Teile dieses Bildes zu
vervollständigen, zu ergänzen, dasselbe bis ins kleinste auszumalen,
dies wurde dem Menschengeschlecht als Aufgabe gelassen, welche dessen
forschender Geist lösen sollte. Die Geologie nun ist die Wissenschaft,
welche sich einen Hauptanteil dieser Aufgabe zur Lösung vorgesetzt hat.
Jetzt ist noch vieles, was sie aufstellt, Vermutung, manches ist höchst
zweifelhaft, und über sehr vielen Punkten liegt noch ein undurchdring-
liches Dunkel ausgebreitet. Eben deshalb wird aber auch der nach
Wahrheit ringende Geist des Menschen unablässig fortfahren in seiner
Forschung nach den Worten der Schrift: „Prüfet alles und das beste
behaltet." Denn jede neue Wahrheit, die er entdeckt, bringt ihn seinem
Schöpfer näher. Das höchste Ziel aller Forschung aber wird erreicht
sein, wenn für den denkenden Geist kein Widerspruch mehr besteht
zwischen dem, was die Wissenschaft als Wahrheit erkannt hat, und
dem, was als ewige Wahrheit uns in dem göttlichen Worte gcoffen-
baret ist. Tutschek.
58. Die Erde als Wohnsitz der Menschen.
Der Mensch allein ist unter allen Geschöpfen ein Bürger der g a n z e n
Erde. Sowohl die Beschaffenheit seines Körpers, als auch die ihm inne
wohnenden geistigen Kräfte, durch welche er sich die Naturgewalten bis
zu einem gewissen Grade Unterthan zu machen vermag, setzen ihn in
stand, alle Klimagürtel der Erde zu bewohnen. Weiter und immer weiter
hat er im Laufe der Jahrhunderte die Erde seiner Herrschaft unterworfen:
Wüsteneien verwandelte er in blühende Landschaften; mächtige Ströme
dämmte er in ihr Bett ein; über hohe Gebirgsketten bahnte er sich sichere
Wege; Flüsse und Meere verband
er durch Kanäle; den Wasserdampf,
die Winde und die Strömungen des
Meeres nahm er in seinen Dienst.
Die Zahl aller auf Erden leben-
den Menschen beträgt über 1450
Millionen. Davon hat A s i e n, der
größte Erdteil, über 800,E uro p a,
derzivilisierteste, über 300, Afrika,
der noch am meisten unbekannte,
über 200, Amerika, nächstAsien
der größte, 96 und Australien,
der kleinste, nur 4^ Millionen Ein-
wohner. Alle Menschen bilden nur
eine Gattung; sie teilen sich aber
je nach ihren körperlichen Merkmalen in fünf verschiedene Gruppen oder
Rassen: in die Australier, die Neger, die amerikanischen Völker
58. Die Erde als Wohnsitz der Menschen.
363
(Indianer), die mongolenähnlichen Völker und die mittel-
ländische Rasse (Kaukasier).
Die Australier wohnen auf dem neuholländischen Festlande und
auf Tasmanien, haben stark gedunkelte, bisweilen schwarze Hautfarbe,
einen unförmlichen und ge-
öffneten Mund und schwarzes,
nie wolliges Haar. Die
Neger finden sich in Afrika,
vom Südrande der Sahara
bis zum Gebiete der Hotten-
totten und Buschmänner. Sie
haben vortretende Oberkiefer
und schief gestellte Zähne. Die
Hautfarbe fit dunkel und
durchläuft die verschiedenen
Schattierungen von der Eben-
holzschwärze bis zur Mulat-
tenfarbe. Das Haar ist kurz
und stark gekräuselt, der
Bartwuchs ist spärlich. Die
Hottentotten und Buschmänner (siehe Abbildung auf Seite 320) in
Südafrika, mit ledergelber oder lederbrauner Farbe, verfilztem Haar,
vollen Lippen, schmal geschlitzten, aber nicht schiefgestellten Augen, werden
neuerdings als besondere Rasse behandelt. Die amerikanische Bevölke-
rung umfaßt die ursprünglichen Einwohner Amerikas, die Indianer, auch
Ottoe-Jnvianer. _ ,
Rothäute genannt. Ihre Hautfarbe ist fast zimmetfarben, die Stirn ist
kurz, die Backenknochen sind hervortretend. Die mongolenähnliehen
Völker bewohnen die Mitte und den Osten Asiens und die Polarländer.
Es gehören dazu die Chinesen und JapanesKss? Äie Türken,?'
fjür w: . ■•( 's
Schulbi'.:.- ; ng
Braunschweig
Schulbuohbibüothek
364
58. Die Erde als Wohnsitz der Menschen.
Finnen, Samojeden und Tunguscn und die Behringsvölker, u. a.
die Kamtschadalen, Tschuktschen und Eskimo. Die Hautfarbe dieser
Menschenrasse ist getrübt, ledergelb bis braun, zuweilen ins rötliche
spielend. Das Gesicht ist Platt, die Augen sind schief gestellt, der
Bartwuchs ist mangelhaft.
Japaner.
Armenierin.
Zu der mittelländischen Rasse gehören die Völker Europas, des
westlichen und südwestlichen Asiens und Nordafrikas. Die Hautfarbe ist
im nördlichen Europa hell, trübt
sich aber nach Süden zu, wird gelb,
rot und braun in Nordafrika und
Arabien. Die Mala Yen auf den
australischen und südostasiatischen
Inseln bilden eine Übergangsrasse
zwischen den Kaukasiern und Mon-
golen.
Nicht weniger als durch ihre Kör-
perbildung sind die Menschen auch
durch ihre Sprache verschieden.
Man teilt alle bis jetzt bekannten
Sprachen in drei Klassen. Die
unterste Stufe nehmen diejenigen
Sprachen ein, in denen, wie in der
Malaye au» Siaur. II" Kindersprache,alleWorteeinsilbig
sind, und wo die Beziehung dieser gar nicht durch Laute, sondern durch
Betonung und Gebärden, wohl auch durch ihre Stellung ausgedrückt wird.
Hierher gehört z. B. das Chinesische. Zu der mittleren Sprachklasse
rechnet man u. a. die finnischen Sprachen z. B. das Ungarische. Die
Beziehung des Wortes wird hier dadurch ausgedrückt, daß man ihm in
58. Die Erde als Wohnsitz des Menschen.
365
der Regel am Ende ein anderes Wort anfügt, es wohl auch in seine
Mitte hinein einverleibt. In den Sprachen der oberen Klasse wird die
Beziehung des Wortes durch die Flexion (Deklination und Konjugation)
ausgedrückt. Diese Klasse ist die vornehmste, ihr gehören die meisten der
europäischen Sprachen an. Die Sprachklassen zerfallen wieder in S p r a ch-
stämme, diese in Sprachen, bei denen man tote (solche, die nicht
mehr gesprochen werden) und lebende unterscheidet, und die Sprachen
endlich in Dialekte oder Mundarten.
Mit bezug auf ihre Religion unterscheidet man die Menschen
zunächst in 2 Hauptklassen, in Bekenner eines Gottes und solche, die
viele Götter anbeten; letztere nennt man Heiden. Zu den Verehrern
eines Gottes (Monotheisten) gehören die C h r i st e n mit 400, die I u de n
mit 7 und die Muhamedaner mit 170 Millionen Menschen. Auf der
untersten Stufe der Heiden (Polytheisten) stehen die Fetisch-(Götzen-)
Anbeter. Die Christen unterscheiden sich in p r o t e st a n t i s ch e, römisch-
und griechisch-katholische. Die Zahl der Römisch-Katholischen
umfaßt die größere Hälfte der Christen, die protestantische Kirche hat
etwa 100 Millionen Bekenner.
Nach ihrer verschiedenen Lebensweise zerfallen die Menschen in
wilde Völker, herumziehende Jäger und Fischer, in Hirtenvölker
oder Nomaden, auch diese haben keine festen Wohnplätze, und in
ansäßige oder zivilisierte Völker. Die wilden Völker bewohnen
die Gegenden am Pol, die Steppen und Urwälder am Äquator. Zu
ihnen zählen beispielsweise viele Neger Afrikas und die eingeborenen
Amerikaner, die Indianer. Die Hirten oder Nomaden haben schon
einigen Besitz, ihre Herden; aber die Weideplätze sind noch Gemeingut.
Die einzelnen Familien vereinigen sich zu Horden und Stämmen, über
welche letztere ein Häuptling gebietet. Hierher gehören die Hirten von
Arabien, Persien, der Tatarei und dem mongolischen Hochlande. Die
zivilisierten Völker haben eine Heimat, ein festes Eigentum. Zu
dem Ackerbau, der ersten Bedingung für die Gründung fester
Wohnsitze, gesellen sich Bergbau, Handel, Schiffahrt, Gewerbe aller
Art, Wissenschaft und Künste. Es bilden sich Stände: der Bauern-
stand, Gewerbsstand, Handelsstand, Wehrstand, Beamten- und Gelehrten-
stand. Das Zusammenleben ist durch staatliche Einrichtungen ge-
ordnet. Bezüglich dieser unterscheidet man Einherrschasten (Monarchieen)
und Vielherrschaften (Republiken). Gilt in der Monarchie der Wille
des Einzelherrschers als alleiniges Gesetz, so ist es eine unum-
schränkte Monarchie; eine beschränkte oder konstitutionelle
nennt man sie, wenn darin einzelnen Ständen oder dem ganzen Volke
durch seine Vertreter eine Mitwirkung an der Gesetzgebung und Ver-
waltung zusteht. Das Staatsgrundgesetz, welches die Befugnisse der
Krone und der Volksvertretung feststellt, ist die Verfassung oder
Konstitution. Nach Schilling und Seydlitz.
366
Verzeichnis
-er in den Tert gedruckten Abbildungen.
Tiere.
. Seite
Eintagsfliege.............97
Ameisen...................98
Kiefernspinner............99
Pirol . . -...............99
Nachtschwalbe............100
Forleule.................100
Lachmöwe.................264
Kiebitz..................264
Reiher...................265
Stör.....................301
Trampeltier..............304
Königstiger..............308
Orang-Utang..............309
Büffel...................312
Gnu......................321
Hyäne....................321
Nashorn..................322
Nilpferd.................322
I. Zur Naturgeschichte.
Kolibri..................340
Termiten.................340
Vampyr...................340
Laternenträger...........340
Ameisenfresser...........341
Gürteltier...............341
Lama.....................341
Kondor...................342
Fettgans.................343
Albatros.................343
Seesckwalbe..............344
Edelkoralle..............349
Skelett vom Riesenfaul.
tier.................353
Mastodon u. Mammut . ■ 354
Mammut...................354
Pflanzen.
Affenbrotbaum............103
Arten von Schimmel . . 134
Dattelpalme.............290
Kokospalme..............307
Theestrauch.............313
Kautschuk-Baum .... 325
Mineralien.
Bergkristall............106
Druse von Bergkristallen 109
Verschiedene Kristailfor-
men .... 109 u. 110
Versteinerte Muscheln 111 u 355
Versteinerter Schachtelhalm 111
Adelsberger Tropfstein-
höhle bei Triest . .113
Quadersandstein der
Adersbacher Felsen . 114
Korallen, Haarsterne u. s.
w. im Kalk .... 352
Giraffe 323 Zellgewebe 104 Belemnit . 355
Zebra 324 Querdurchschnitt eines Gediegen-Silber . . . . 355
Nordamerik. Büffel . . 329 Baumstammes . . . 104 Steinschichlungen. 356 u. 359
Jaguar Stück einer Blattfläche . 105 Gneis . 360
Pfefferfrefser 339 Zellen und Gefäße . . . 105 Feldsteinporphyr . . . . 360
Faultier 339 Baumartiges Farrenkraut 111 Basalt . 361
II. Zur Naturkunde.
DaS Nordlicht .... . 152
III. Zur Ntzystk.
Oberfläche einer Flüssigkeit 121 6amsra odsours. .... 128 Stereoskop . 131
IV. Zur Heschichte.
Rudolf von Habsburg . . 176 Washington 232 Schilt . 241
Teil und sein Knabe . . 184 Franklin 233 Freiherr v. Stein . . . 242
Huß 198 Ludwig XVI 235 Lützow . 247
Wallenstein 218 Königin Luise 237 Turnvater Iahn . . .
Peter der Große . . . 220 Andreas Hofer 239 Friedrich Wilhelm IV. . 256
Karl XII 221
Alexander von Humboldt. 141
Geliert.................223
Dom zu Köln............
Eine Sennhütte in den bay-
rischen Hvchalpen . .
Kehrtunnel im Thale des
Tessin.................
Zur Keschichle der deutschen -Litteratur.
Theodor Körner.......... 246 I E. M. Arndt...............249
VI. Zur Hrd- und Völkerkunde.
171 Nordkap . . 295 Neger von der Guineaknste 363
Sinai . . 314 Ottoe-Jndianer. . . . 363
267 Wüsten-Karawane. . . . 316 Chinese . . 363
Hottentottenkral. . . . . 320 Japane
275 Niagarafall . . 336 Armenierin.... . . 364
277 Krater auf derJnselHawaii 350 Malaye aus Siam . . 364
285 Neu-Holländer . . . . . 362
367
Üb ersi cht
der in dem vorliegenden Lesebuche enthaltenen Gedichte.
Nach den Verfassern geordnet.
Seite
Arndt, E. M.
Deutscher Trost.................. 84
Wer ist ein Mann?. ............... 84
Bernhardt. Der Löwe von Florenz. 5
Badenstedt, Friedr. Frühlingsmahnung 85
Brentano, Cl. Abendlied................. 45
Thamisto, Adalb. v. Abdallah.... 27
Claudius, Matth.
Bei dem Grabe meines Vaters. 78
Droste-Kiilshoff, Annette v.
Für die armen Seelen.............. 28
Freiligrath, Ferd. Löwenritt......... 320
Gerbet, Eman. v.
Des Deutschritters Ave............ 10
Hoffnung.......................... 47
Gellert. Der Maler................... 22'S
Gerok, K. Fr. v.
Der schönste Baum.................. 7
Der Ring des Polykrates....... 12
Zum Jahresschluß.................. 17
Osterlied......................... 29
Giesrbrecht, Ludw. Der Lotse......... 280
Görres. Der Todesengel.................. 27
Goethe, Joh. Woifg. v.
Erlkönig.......................... 13
Aus Hermann und Dorothea
(Schicksal und Anteil)..... 57
Der Sänger.................... 173
Grimme. Heimat....................... 46
Grimmelshausen, H. I. Christ, v.
Schall der Nacht (Aus dem Simpli-
cissimus) ........................ 48
Heine, Heinr. Sehnen................... 297
Kenset, L.
Die Bäume......................... 46
Jenseits!......................... 28
Hkche, P. Über ein Stündlein.... 86
Herder, Joh. Gottfr. v.
Die wiedergefundenen Söhne.. 56
Hoffmann von Fallersleben, Aug. Hein.
Mein Lieben ..................... 258
Kerner, Just.
Kaiser Rudolfs Ritt zum Grabe 177
Preis der Tanne.................. 274
Kinkel, G. Petrus....................... 20
Kopislh, Aug. Blücher am Rhein.. 248
Körner, Theod. Lützows wilde Jagd 247
Krummacher, F. A.
Trost............................. 86
Alpenlied........................ 272
Seite
Lenau (Nik. Niembsch v. Strehlenau).
Der Postillon.................. 74
WoskN, Jul. Andreas Hofer........... 240
Üovalis (Frhr. v. Hardenberg). Treue 89
Platen-Kallermiinde, Graf Aug. v.
Das Grab im Busento............ 75
Der Pilgrim von St. Just . . . 209
Gvandt. Barbarossa.................... 257
Kedwib, O. v. Zwei Schwestern .. 22
Kultiert, Joh. Fr.
Aus der Jugendzeit................. 1
Des fremden Kindes heil. Christ 6
Lebensregeln ..................... 12
Parabel........................... 44
Zwei Sprüche...................... 45
Die hohle Weide.................. 251
Geharnischtes Sonett............. 252
Die Eintagsfliege am Johannis-
tage ............................. 97
Salis-Sewis, I. G. Frhr. v.
Lied eines Landmanns in der
Fremde........................ 328
Schenkendorf, Max v.
Muttersprache...................... 2
Frühlingsgruß an das Vaterland. 83
Scherenberg, Chr. Fried.
Der güldene Ring.................. 77
Schiller, Fr. v.
Häusliches Leben (Aus der Glocke) 3
Der Alpenjäger.................... 61
Der Kampf mit dem Drachen.. 61
Die Kraniche des Jbykus .... 66
Die Bürgschaft.................... 68
Rätsel ........................ 129
Drei Rätsel...................... 156
Aus Wilhelm Tel!................. 182
Aus der Jungfrau von Orleans 200
Der Taucher...................... 286
Schlegel, A. W. v. Arion............ 53
Schmidt, W. Die Opfer von Wesel. 240
Wand, Ludw.
Der blinde König............... 71
DaS Glück von Edenhall .... 72
Des Sängers Fluch'................ 73
Die Rache........................ 175
Graf Eberhard der Rauschebart 190
M, I. H-
Der siebzigste Geburtstag...... 20
Weber.
Du sonnige, wonnige Welt! .. 47
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