— 998— Seele über seine beiden Kinder, die der Allmächtige zu Werkzeugen seiner wunderbaren Rettung erkor, einen heiligen, kräftigen Segen aus und flehte den Himmel an, sie zum Lohne für ihre Treue vor den andern Geschöpfen seiner Erde zu verherrlichen! Gestärkt und erquickt ließ er sich von Marien hierauf zu ihrer Wohnung leiten, wo er so lange verharrte, bis er die einsame Hütte wieder beziehen konnte. Als Marie in Unschuld und Schönheit aufgeblüht und ein glück— liches Weib geworden war, hatte man den Einfiedler längst begraben. Seine Hütte war eingesunken, die schöne Eiche unter den Hieben der Ärte gefallen und zu großen Weinfäfsern verarbeitel worden, welche Mariens Vater gekauft hatte. Eins dieser Fässer war leer geworden und wurde, als die Weinlese wieder nahe war, hinauf und an die Vorlaube des Hauses gewälzt, damit neue Reifen aufgeschlagen werden möchten. Um den Morgen zu genießen, der eben in frischer Schönheit uͤber die Berge heraufstieg, setzte sich Marie, welche Mutter zweier Knaben geworden war, in die Laube und schaute, den Säugling liebkosend, indes der ältere Knabe zu ihren Füßen spielte, gerührt nach dem Thale hin, welches der Einsiedler vormals bewohnt hatte, und meinte: der Segen, den er ihr verheißen, sei durch ihre Kinder wohl schon in Erfüllung gegangen. Da wandelte, in stille Träume versunken, ein Jüngling vorüber. Es war Raphael Sanzio, der größte Maler aller Zeiten. Vor seiner Seele schwebte lange schon ein Bild der Mutter Gottes mit dem Jesuskinde; aber noch vermochte er die Gestalten nicht würdig genug zu erfassen und hatte diesen frühen, einsamen Gang unternommen, um seinen Geist zu sammeln. Mit freundlichen Woͤrten grüßt ihn Maria. Er schaut auf, und als er die Mutiter mit ihren Kindern erhlickt, wird es ihm, als erschiene ihm hier, was er solange ver— geblich ersehnt. Hier war ja die Mutter, auͤs deren himmlischen Zügen die reinste, seligste Liebe strahlte; hier ruhte ja das engelschöne Kind an ihrem Busen, das mit seinen milden, großen Augen freundlich und ahnungsvoll seine Welt begrüßte; hier nahte ja der ältere Knabe, freudig ein Stäbchen bringend, an welches er ein Kreuzchen befestigt hatte. Der Künstler verlangt in höchster Begeisterung, das lebende himmlische Bild festzuhalten und es auf der Stelle zu entwerfen; aber er hat nichts zur Hand als den Zeichenstift. Da glänzt in den ersten Strahlen der Morgensonne der große glatte Boden des nahen Fasses, und Raphael säumt nicht und tritt rüstig hinzu, und nachdem er die holde Marie mit ihren Kindern treu daärauf entworfen hat, nimmt er den Boden heraus und trägt ihn heim und läßt sich keine Rast, bis er das göttliche Bild der heiligen Mutter Gottes mit dem Jesuskinde und dem kleinen Johannes, der ein Kreuzchen bringt, als wolle er den Christusknaben schon im Spiele damit vertraut machen, darauf herrlich vollendet hat. Rapyhael Sanzio aus Urbino starb 1520, also schon vor 370 Jahren.