I. W. v. Goethe: Das Abendmahl Leonardos da Vinci. 339 überwältigend bahnte sich die neue Lehre ihren Weg gen Norden und erfrischte und belebte die geistige Öde allenthalben. Das schöne Apenninenland, das in jenen Zeiten der Mittelpunkt des Völker¬ verkehrs uub das lockende Ziel nordischer Eroberer war, das von jeher als Sitz geistiger Bildung und feiner Kultur gegolten, wo Diplomaten und Kriegsmänner, Handelsleute und Geistliche, Studenten und lernbegierige Fremdlinge aller Art zusammenströniten, war ein trefflicher Vermittler fruchtbringender Jdeeen. Je mehr die schöpferische Geistesthätigkeit allerorten einer Erfrischung und Verjüngung be¬ durfte, um so freudiger nahm man die Lehre aus. Doch erst als sie der überspannten Schwärmerei und übertriebenen Bewunderung der Italiener entrückt und in die ruhigeren Bahnen gerechter Würdigung und maßvoller Anerkennung gelenkt worden war, konnte sie ein Ge¬ meingut der bildungsbedürstigen Menschheit und eine bleibende Er¬ rungenschaft für alle Zeiten werden. 25. Das Abendmahl Leonardos da Vinci. Von I. W. v. Goethe. Werke; die Einleitung und der Schluß nach W. Lübke. Grundriß der Kunstgeschichte. Leonardo da Vinci, 1452 in der Nähe von Florenz auf dem Schlosse Vinci geboren, war eine jener seltenen Erscheinungen, in welchen die Natur alle denkbaren menschlichen Vollkommenheiten zu vereinigen liebt, von ebenso anmutiger als würdevoller Schönheit, von kaum glaublicher körperlicher Kraft, geistig aber von so vielseitiger Begabung, wie sie fast nie in derselben Persönlichkeit sich zu verbinden pflegt. Denn nicht bloß in der Skulptur und Malerei glänzt er unter den ersten Künstlern seiner Zeit, nicht bloß begründete er durch scharf¬ sinnige wissenschaftliche Untersuchungen über Anatomie und Perspektive die Theorie seiner Kunst, sondern in allen andern Zweigen der praktischen und mechanischen Kenntnisse war er dem Wissen seiner Zeit weit vorausgeeilt. Er erforschte die Gesetze der Geometrie, der Physik und der Chemie, er war als Ingenieur und Architekt thätig, baute Kanäle, Schleusen und Festungen, erfand Maschinen und mechanische Kunstwerke aller Art und war nebenbei ein eifriger Pfleger der Musik und ein geistvoller Dichter und Improvisator. Der Trieb nach Er¬ kenntnis führte ihn in seinem rastlosen Leben unablässig zu neuen Studien und Erfindungen, und obwohl er der Malerei nur einen kleinen Teil seiner Zeit und Kraft gewidmet hat, verdankt sie doch ihm vornehmlich ihre Vollendung. Sein Meisterwerk auf dein Gebiete der Malerei ist das welt¬ berühmte Abendmahl, welches im Kloster delle Grazie zu Mailand auf die Wand gemalt war. Möchten unsere Leser Morghens Kupfer¬ 22*