55 Mißachtung ihrer eigenen Tätigkeit; daraus ergibt sich oft der Nachteil, daß wohlwollende oder kurzsichtige Eltern ihren Kindern den väterlichen Beruf verleiden. Manchmal aber auch sind wir geneigt, zumal wenn der fremde Beruf mit einer weniger „vornehmen" Rrbeit verbunden ist, auf diesen herabzusehen. Demgegenüber sollten wir trachten, aus der Kenntnis der Anforderungen des eigenen Berufes gleichzeitig dessen gerechte Ein¬ schätzung und die Rchtung vor anderen Berufen zu gewinnen. Durch die moderne Arbeitsteilung wird endlich auch das innere Wesen jeder Berufstätigkeit umgewandelt. In kaum vergangenen Tagen lag noch die berufliche Bedeutung des einzelnen in seiner Vielseitigkeit: der Arzt beherrschte die ganze Heilkunde, der Techniker überblickte das Ge¬ samtgebiet der Maschinen, der Kaufmann handelte mit allen möglichen waren, der Landwirt war zugleich Handwerker usw. heute sind wir alle Zpezialisten in unserem Fache geworden, ein jeder ist in eine beruf¬ liche Enge eingezwängt, auf die Beschränkung seines Wissens und Könnens und Tuns in einer streng abgegrenzten Richtung und in größerer ein¬ seitiger Vertiefung angewiesen. Der rasche Umschwung läßt uns diese veränderten Anforderungen des Berufes gegenüber den früheren als größer erscheinen, bis wir uns erst an die neuen Methoden gewöhnt haben. Daher stammt das Lied von der „guten alten Zeit". Jede Zeit ist gut, weil sie, aus der früheren notwendig herausgewachsen, ihren eigenen Anforderungen entspricht, und die Zeit, die heute jung ist, wird morgen auch schon wieder alt sein. 5o hat unsere Gegenwart auf allen Gebieten die Berufsorganisationen geschaffen und mit ihnen die Gelegenheit, unser Ltreben aus dem enger gewordenen eigenen Berufskreise hinaus auf die Gesamtheit des verwandten Berufsgebietes zu lenken, Anregung daraus zu empfangen und Einwirkung darauf zu üben. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, daß das heutige Berufsleben keine Zeit dazu mehr übrig lasse: die Neigungen der meisten Menschen gehen nämlich nach einer ungeeigneten, oberflächlich zerstreuenden, oft ab¬ spannenden Ausfüllung der freien Zeit. Für die Mehrheit der Menschen jedoch ist die von ihrer gewöhnlichen Tätigkeit ablenkende Arbeit, auch die geistige, die beste Esuelle der Erholung. Wahrhaft berufstüchtige und berufsfreudige Leute sind in der Regel auch außerhalb ihres nächsten Wirkungskreises strebsame und bildungsbedürftige Menschen. Dasjenige Volk, in dem auf jedem Felde dank einer verständigen Erziehung durch Zchule und Haus ein jeder an der rechten Stelle richtig tätig sein wird, wird berufen sein, an der Spitze der Kulturvölker zu stehen, weil es die vollkommenste Gesamtwirkung seiner Kraft erzielt. Und eben darum sollte ein jeder, soweit es ihm seine Fähigkeiten ge-