195 denke sich ein Stämmchen wie eine vertrocknete Schlange, deren Wirbel¬ säule kantig durch die fest anliegende haut sticht, das sich unter mancherlei Windungen hinab und hinauf verzweigt. Uußer winzigen Stacheln trägt es dünne, strohhalmähnliche Hautanhänge, Luftwurzeln. Die Wurzeln sind so eingerichtet, daß sie durch dürren Sand tief bis auf eine feuchte Schicht hinabstreben können, aus der sie die paar Tröpfchen saugen, die das durch seine harte haut gegen Verdunstung geschützte Gewächs für die Blütezeit aufspeichern wird. Ich denke mir es aus seinem irdenen Topfe heraus in das Tal einer Sanddüne, die an eine mexikanische Vasaltklippe angeweht ist. Weißer Zand, bräunlicher Stein und ungetrübter blauer bteppenhimmel: so denke ich mir die ursprüngliche Umwelt der Königin der Nacht. Die Farbe des Steines ist in ihrem Stämmchen, das Zweig und Blatt zugleich ist, die Farbe des Schnees ist in der Blüte, das Gold der Sonne in den Staubfäden, die sich in einem leuchtenden Strom aus der Blüte ergießen,' die Sonne selbst aber ist in der Strahlenform der Blüte, die aus zahlreichen schmalen Blumenblättern besteht, deren Weiß etwas Durchschimmerndes hat, das du nur mit zartem Papierporzellan ver¬ gleichen magst. Wenn man das Vergrößerungsglas anwendet, sieht man, daß der eigentümliche bleiche Glanz dieser Blüten von der körnigen Be¬ schaffenheit der Oberfläche der einzelnen Blumenblätter kommt. Ich kenne Kaktusblüten von bläulichem Purpurrot und reinem Weiß der zarten Staubfädenbüschel, die glänzender sind, aber keine, die an stiller Majestät mit diesen großen blassen Sternen wetteifern könnten. Da ist wirklich elwas Königinnenhaftes, eine Mischung von Wehmut und von Lust, und die stille Frage scheint aus jedem Blumenkelchlein heroorzuhauchen: Warum blühe ich hier in dieser fremden Welt? Und warum ist der Weg so klein von der Blüte zum Welken? Buch der Gegensatz zwischen der pslanzen- gestalt und dieser Blüte ist ergreifend. Bei anderen Kakteen ruft der Gegensatz zwischen der kristallinischen Starrheit der höchst regelmäßig gekanteten, gefurchten und bedornten Pflanze zu ihrer zarten Blüte, die wie ein Schmetterling auf einem Kristall sitzt, unser Staunen wach. hier ist es Urmut und Ueichtum, Bettlergewand und Strahlenkrone. Wahrlich, es ist ein Märchen, das uns diese vergängliche Blüte erzählt. Und wenn man bedenkt, daß sich in ihrer Heimat Tausende von diesen Blüten öffnen, ohne daß ein menschliches Buge sie sieht, so scheint der Ueichtum und die bchaffenssreude der fruchtbaren Mutter Natur vernehmbar aus ihr zu sprechen. Für jahrelanges Mühen und Kargen im Uufbau des dürren btengel- und Blättergerüstes siehe hier den Lohn in der überraschenden Blütenschönheit, der nur ein Ulter von einigen Stunden beschieden ist. Bei uns war zum Glück kein Zweckmäßigkeitsfanatiker in der Stunde voll Weihe, in der wir das schöne Gebilde betrachteten. Sonst hätte er 13*