256 H Von Goethes Tode bis zur Gründung des Deutschen Reiches. Theodor Ltorm. Geb. 1817 zu Husum, studierte in Kiel die Rechte; wurde zuerst Advokat in Husum, darauf Justizbeamter in Berlin, kehrte später in seine Heimat zurück, starb 1888. Die Stadt. 1. Am grauen Strand, am grauen Meer Und seitab liegt die Stadt; Der Nebel drückt die Dächer schwer, Und durch die Stille braust das Meer Eintönig um die Stadt. 2. Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai Kein Vogel ohn' Unterlaß; Die Wandergans mit hartem Schrei Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei, Am Strande weht das Gras. 3. Doch hängt mein ganzes Herz an dir, Du graue Stadt am Meer; Der Jugend Zauber für und für Ruht lächelnd noch aus dir, aus dir, Du graue Stadt am Meer. Ostern. 1. Es war daheim aus unserm Meeresdeich; Ich ließ den Blick am Horizonte gleiten. Zu mir herüber scholl verheißungsreich Mit vollem Klang das Osterglockenläuten. 2. Wie brennend Silber funkelte das Meer, Die Inseln schwammen aus dem hohen Spiegel, Die Möwen schossen blendend hin und her, Eintauchend in die Flut die weißen Flügel. 3. Im tiefen Koge bis zum Deichesrand War sammetgrün die Wiese aufgegangen; Der Frühling zog prophetisch über Land, Die Lerchen jauchzten, und die Knospen sprangen. — 4. Entfesselt ist die urgewalt'ge Kraft, Die Erde quillt, die jungen Säfte tropfen. Und alles treibt, und alles webt und schafft, Des Lebens vollste Pulse hör' ich klopfen. 5. Der Flut entsteigt der frische Meeresduft, Vom Himmel strömt die goldne Sonnenfülle; Der Frühlingswind geht klingend durch die Luft Und sprengt im Flug des Schlummers letzte Hülle.